bwp@ 25 - Dezember 2013

Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, Sandra Bohlinger & Tade Tramm

Zur Weiterentwicklung der Durchlässigkeit in der beruflichen Bildung in Deutschland zwischen den Impulsen einer Europäischen Berufsbildungspolitik und nationalen Traditionen. Überlegungen und Befunde am Beispiel der DECVET-Pilotinitiative

Beitrag von Dietmar Frommberger & Holger Reinisch

Die Weiterentwicklung und Modernisierung der Berufsbildung in Deutschland wird nicht unwesentlich durch die berufsbildungspolitischen Impulse der Organe der Europäischen Union beeinflusst. Konkrete Ansätze des Brügge-Kopenhagen-Prozesses werden hinsichtlich der Integration in das nationale System überprüft. Ein Beispiel hierfür stellt der Kreditpunkteansatz dar, der durch die Transparenzschaffung von erbrachten Lernleistungen sowie Vertrauensbildung zwischen den verschiedenen Akteuren zur Mobilität und Durchlässigkeit zwischen und innerhalb der nationalen Systeme beitragen soll.

Berufsbildungspolitisch erfreut sich die Strategie „Durchlässigkeit zwischen Teilsegmenten des Berufsbildungssystems durch Anrechnung von Vorleistungen erhöhen“ insbesondere an den Schnittstellen innerhalb der Berufsbildung und zwischen der Berufsbildung und der Hochschulbildung ausgesprochen hoher Anerkennung und ist mit entsprechenden Erfolgserwartungen verknüpft. Auf der Basis der Ergebnisse der seitens der beiden Autoren übernommenen wissenschaftlichen Begleitung der BMBF-Pilotinitiative zur Entwicklung eines Kreditpunktesystems für die Berufsbildung (DECVET) werden im Beitrag die Chancen und Hemmnisse der genannten Strategie diskutiert. Dazu werden zunächst die Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Struktur und Architektur der deutschen Berufsbildungslandschaft rekonstruiert, um vorhandene Kompetenzdomänen und damit verbundene Rechte zu identifizieren. Darauf folgend werden relevante Ergebnisse aus der Arbeit der an der Pilotinitiative beteiligten Projekte auf ordnungspolitischer und didaktisch-curricularer Ebene dargestellt und diskutiert.

The further development of permeability in vocational education and training in Germany in the interplay between the impulses of European vocational education policy and national traditions. Reflections and findings using the example of the DECVET pilot initiative

English Abstract

The further development and modernisation of vocational education and training in Germany is not inconsiderably influenced by the impulses in that field of the organs of the European Union. Concrete approaches of the Bruges-Copenhagen process are examined with regard to integration into the national system. One example of this is the credit point approach which, through the creation of transparency of acquired learning outcomes, as well as the building of trust between the various actors, should contribute to mobility and permeability between and within the national systems.

In terms of vocational education policy the strategy entitled “Permeability between partial segments of the vocational education system through increasing the accreditation of prior learning” benefits, particularly at the interfaces within vocational education and between vocational education and higher education, from extremely high recognition and is associated with corresponding expectations of success. On the basis of the results of the academic work undertaken by both the authors of this paper with regard to the BMBF pilot initiative on the development of a credit point system for vocational education (DECVET), this paper discusses the opportunities and obstacles of the strategy mentioned. To this end, firstly the development and the current status of the structure and architecture of the German vocational education landscape is reconstructed, in order to identify the competence domains that are present and the rights associated with them. Following this, relevant results from the work with projects involved in the pilot initiative at a regulatory and didactic and curricular level are presented and discussed.

1 Einleitung

Auch in der Berufsbildungspolitik nimmt der supranationale Einfluss zu, so vor allem durch die voranschreitende europäische Integration. Im Bereich der Berufsbildung gilt dies derzeit vor allem durch Maßnahmen, die im Zuge des „Brügge-Kopenhagen-Prozesses“ eingeleitet wurden und wesentlich durch den „Bologna-Prozess“ für den tertiären Sektor der nationalen Bildungssysteme inspiriert worden sind. Diese Maßnahmen stellen eine Herausforderung für die deutschen nationalen Traditionen im Bereich der Berufsbildung dar. Die Architektur und kulturelle Verankerung der Berufsbildung in Deutschland ist bekanntlich ein im Laufe von Jahrhunderten historisch gewachsenes Phänomen (vgl. dazu z.B. ZABECK 2009), wobei – begleitet von massiven Konflikten – eine Struktur hoher Komplexität und Differenzierung sowohl auf der institutionellen als auch auf der Akteursebene entstanden ist. Damit verbunden sind Kompetenzdomänen – im Sinne von abgegrenzten Zuständigkeits- und Verantwortungsbereichen – entstanden, wodurch Institutionen und die in deren Rahmen agierenden Personen mit Rechten ausgestattet wurden.

Da die aktuelle ordnungspolitische Konstellation der deutschen Berufsbildung zu erheblichen Problemen, insbesondere im Bereich der Übergänge zwischen verschiedenen Teilsegmenten der Berufsbildung, führt, ist zu prüfen, ob bzw. inwieweit mit Ansätzen der europäischen Berufsbildungspolitik Instrumente zur Verfügung stehen, die zu einer Weiterentwicklung der Anerkennungs- und Anrechnungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Berufsbildungsteilbereichen beitragen können.

Nachfolgend skizzieren wir zunächst in der gebotenen Kürze die aktuellen Instrumente der europäischen Berufsbildungspolitik (2.), speziell den Ansatz des „European Credit Systems for Vocational Education and Training (ECVET)“. Im dritten Abschnitt wenden wir uns dem Problem der mangelnden Durchlässigkeit zwischen den Teilbereichen der Berufsbildung in Deutschland zu. Dabei skizzieren wir zunächst knapp die historisch gewachsenen Strukturmerkmale der Berufsbildung in Deutschland (3.1), um dann näher auf die damit verbundenen Übergangsprobleme und -möglichkeiten zwischen den Teilbereichen einzugehen (3.2). Im vierten Schritt stellen wir ordnungspolitisch relevante Ergebnisse der BMBF-DECVET-Pilotinitiative dar, weil deren Ziele durch die Intention inspiriert waren, die Tauglichkeit von ECVET für die Lösung von Übergangsproblemen in der deutschen Berufsbildung zu erproben (4.). Anschließend diskutieren wir die Bedeutung der dargestellten Ergebnisse für die Weiterentwicklung der Berufsbildung in Deutschland (5.), bevor ein Fazit den Beitrag abschließt.

Die Ergebnisse, die hier ausschnittsweise vorgestellt und diskutiert werden, sind im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Pilotinitiative erarbeitet worden (vgl. www.decvet.com). Der wissenschaftlichen Begleitung oblag die Aufgabe zu prüfen, unter welchen Rahmenbedingungen der europapolitisch inspirierte ECVET-Ansatz in der beruflichen Bildung in Deutschland umgesetzt werden kann. Der Auftrag der wissenschaftlichen Begleitung lag in der projektübergreifenden Evaluation und projektbegleitenden Beratung, insbesondere mit dem Ziel, projektunabhängige Transfermöglichkeiten für die breite Umsetzung in der Praxis zu identifizieren.

2 Die Entwicklung der beruflichen Bildung im Kontext einer Europäischen Berufsbildungspolitik

Die Leitlinien der verschiedenen Politikbereiche der Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden im hohen Maße durch die Integrationsbemühungen der Organe der Europäischen Union geprägt, die im Kern auf die supranationale Freizügigkeit und Mobilität zielen. Innerhalb der Mitgliedstaaten finden strukturelle und rechtliche Entwicklungen ohne die Berücksichtigung dieser europapolitischen Perspektive kaum mehr statt. So erfahren alte Gewohnheiten ständig neue Impulse und werden auf den Prüfstand gestellt. Bewährte nationale Traditionen und Strukturen schwanken im Rahmen der europäischen Einigungspolitik zwischen Erhalt und Veränderung (vgl. MÜNCH 2009).

Während der europäische Integrationsprozess in einigen Politikbereichen weit vorangeschritten ist, so beispielsweise auf der Basis des Vertrages von Maastricht im Feld einer gemeinsamen Währungspolitik, erfolgen die Entwicklungen im Bereich von Bildung und Berufsbildung sehr viel langsamer. Alte und etwas naive „Harmonisierungsstrategien“ aus den 1960er und 1970er Jahren wurden durch indirekte politische Steuerungsmechanismen, insbesondere durch das Subsidiaritätsprinzip und die Koordinierungsmethode, ersetzt, um auch zwischen diesen nationalen Hoheitsgebieten Vergleichbarkeit herzustellen (vgl. MÜNK 2010).

Im Rahmen des Brügge-Kopenhagen-Prozesses wurden verschiedene Programme und berufsbildungspolitische Orientierungsgrößen aufgelegt und formuliert, die aufgrund der prinzipiellen europäischen Integrationsbereitschaften der legitimierten politischen Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten dort nicht nur zur Kenntnis genommen werden können, sondern aktiv hinsichtlich ihrer Nutzbarmachung oder gar nationalstaatlichen Implementierung erprobt werden. Dies ist auch der Fall für das Duale System der beruflichen Bildung in Deutschland. Einerseits handelt es sich um ein gesellschaftlich breit akzeptiertes System mit bewährten Strukturen und einer tief verwurzelten Ausbildungskultur, die erhalten bleiben sollen und derzeit auch im europapolitischen Diskurs als vorbildlich eingeordnet werden. Das spezifische Verständnis der beruflichen Bildung als ein Politikfeld zwischen Staat und Markt erfährt einen deutlichen Aufschwung und wird als ein relativ erfolgreiches Modell eingeschätzt. Andererseits werden die Merkmale und Prinzipien des Dualen Systems durch die Strategien und Instrumente der Organe der Europäischen Union herausgefordert. Dieser Überprüfungsprozess führt zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der beruflichen Bildung zwischen bewährter Tradition und notwendigen Innovationen.

Ein Beispiel für einen solchen Überprüfungs- und Entwicklungsprozess stellt der oben erwähnte europäische „ECVET-Ansatz“ dar. Das ECVET ist ein Produkt des Brügge-Kopenhagen-Prozesses, ebenso wie beispielsweise der Ansatz des Europäischen Qualifikationsrahmens (European Qualifications Framework; EQF) oder des Europäischen Referenzrahmens für die Qualitätsentwicklung in der beruflichen Bildung (European Quality Assurance Reference Framework for Vocational Education and Training; EQAVET).

Ähnlich zu EQR ist das ECVET ein Instrument, das die transparente Darstellung und darüber den europaweiten Vergleich von Qualifikationen und Qualifikationseinheiten ermöglichen soll. Daher sind für den Einsatz bestimmte Beschreibungs- und Strukturierungsgrundsätze hinterlegt, die die Vergleichbarkeit verschiedener Qualifikationen über interstaatliche und auch intrastaatliche Systemgrenzen vereinfachen sollen. Es handelt sich im Wesentlichen um die folgenden Merkmale:

Zunächst ist es auf der curricularen Ebene erforderlich, Qualifikationen und Bildungsgänge in einzelne Lernergebniseinheiten zu gliedern. Dafür werden die Inhalte und Lernziele von Bildungsgängen und Qualifikationen in kohärenten Lernergebniseinheiten gebündelt und outcomeorientiert formuliert; d.h. auch hier bleiben Inputfaktoren sekundär und es werden nur Aussagen darüber getroffen, „(…) was ein Lernender nach Abschluss eines Lernprozesses weiß, versteht und vermag (…).“ (EUROPÄISCHES PARLAMENT UND RAT 2009, Anhang I). Sowohl für die Bündelung der Lernergebniseinheiten als auch für ihre Beschreibung gibt es im ECVET eine Reihe von Gestaltungsempfehlungen. Auf der Verfahrensebene wird empfohlen, Vereinbarungen für die Anrechnung und Akkumulierung von Lernergebnissen im Rahmen von Bildungsprozessen zu treffen. Diese sind u.a. Partnerschaftsabkommen zwischen beteiligten Bildungseinrichtungen und zuständigen Einrichtungen und Lernvereinbarungen mit den Lernenden (vgl. EUROPÄISCHES PARLAMENT UND RAT 2009, Anhang I). So kann ECVET dazu beitragen, dass Mobilität/Auslandsaufenthalte besser anerkannt und in die individuellen Ausbildungswege integriert werden.

Dieser Entwicklungsansatz wurde für die Berufsbildungslandschaft in Deutschland im Rahmen der DECVET-Pilotinitiative erprobt (WWW.DECVET.COM). In dieser Initiative ging es vor allem um die Nutzung des ECVET-Ansatzes für die Förderung der Mobilität zwischen den verschiedenen Teilbereichen des deutschen Berufsbildungssystems. Intendiert war also eine erste Erprobung europapolitisch initiierter innovativer Gestaltungsansätze im deutschen Berufsbildungssystem. Die Möglichkeiten und Grenzen der Übernahme von bestimmten Strukturmechanismen wurden überprüft. Die grenzüberschreitende Mobilität wurde in diesem Rahmen nicht thematisiert. Die Ergebnisse werden nachfolgend erläutert und diskutiert.

3 Ausgangslage: Historisch verankerte Strukturmerkmale im deutschen Berufsbildungssystem sowie bisherige Möglichkeiten und Grenzen der Übergangsgestaltung zwischen verschiedenen Berufsbildungsteilbereichen

3.1 Historisch verankerte Strukturmerkmale der Berufsbildung in Deutschland

Zur Beantwortung der von uns verfolgten Fragen ist jedoch zunächst die Rekapitulation der gewachsenen Formen der Zuständigkeiten und rechtlichen Regelungen im Feld der beruflichen Bildung in Deutschland erforderlich. Schließlich bilden diese die Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Übergängen zwischen den verschiedenen Berufsbildungsteilbereichen mit dem Ziel der Verbesserung der Durchlässigkeit innerhalb der beruflichen Bildungsgänge.

Kennzeichnend für das deutsche Berufsbildungswesen sind drei institutionelle Normen, die sich in einem über Jahrhunderte erstreckenden Prozess herausgebildet haben und letztlich rechtlich im Berufsbildungsgesetz vom 14. August 1969 (BBiG) verankert wurden[1] :

  • Der Grundsatz der Vertragsfreiheit (Abschluss-, Inhalts- und Formfreiheit), der für die Begründung des Berufsausbildungsverhältnisses gilt, denn vorgeschrieben hierfür ist die Übereinkunft zwischen dem Ausbildenden und dem Auszubildenden bzw. im Falle der Minderjährigkeit des Auszubildenden dessen Eltern oder Vormund (§ 3 BBiG 1969).
  • Der Grundsatz der Öffentlichen Verantwortung für die Berufsbildung. Dieser kommt einerseits in Bestimmungen des BBiG 1969 mit öffentlich-rechtlichem Charakter zum Ausdruck. Dies gilt etwa für die Legaldefinition von Berufsbildung (§ 1 BBiG 1969), die Bestimmungen über den Geltungsbereich des Gesetzes (§ 2 BBiG 1969) und diejenigen über die Anerkennung von Ausbildungsberufen (§ 25 ff. BBiG 1969) und das Prüfungswesen (§ 34 ff. BBiG). Andererseits handelt es sich um Eingriffe in die Inhalts- und Formfreiheit bei der Begründung des Berufsausbildungsverhältnisses durch Vertrag. Dies gilt etwa für den Vergütungsanspruch (§ 10 BBiG 1969), die Probezeit (§ 13 BBiG 1969), die Berechtigung zum Einstellen und Ausbilden (§ 20 ff. BBiG 1969) und die „unechte“ Formvorschrift des § 4 BBiG 1969, die eine Niederschrift der wesentlichen Vertragsinhalte spätestens bis zum Beginn der Berufsausbildung verlangt.
  • Der Grundsatz der mittelbaren Staatsaufsicht, mit dem die Regelung und Überwachung der Berufsausbildung den „Zuständigen Stellen“, also insbesondere den Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern, übertragen wird (§ 44 BBiG 1969).

Die „Rechtsfigur“ der betrieblichen Seite der Berufsbildung beruht also auf drei Säulen: erstens auf der individuellen (Vertrag), zweitens der korporativen (Aufsicht durch die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft) und drittens der politischen (Berufsbildung als öffentliche Aufgabe).

Diese institutionellen Normen sind von der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes vom 23. März 2005 (BBiG 2005) unberührt geblieben. Dies gilt auch für jene Regelungen, mit denen ein umfassendes Mitbestimmungsrecht der Vertreter der Arbeitgeber und –nehmer/-innen in Fragen der Berufsbildung festgeschrieben wurde.[2]

Damit ist die institutionelle Komplexität der Berufsbildung in Deutschland hinsichtlich Normen und korporativen Akteuren jedoch erst teilweise beschrieben, denn das Berufsbildungsgesetz als Bundesgesetz gilt nur für den betrieblichen Teil der Berufsausbildung und für die berufliche Fortbildung soweit diese nicht in staatlichen Schulen stattfindet (siehe auch § 3 Abs. 1 BBiG 2005). Für das berufliche Schulwesen in Teil- uns Vollzeitform sind hingegen die Bundesländer zuständig und verantwortlich (vgl. Artikel 30 GG i. Verb. mit Artikel 70 GG). Dadurch ergibt sich in rechtlicher Hinsicht nur eine lockere Verbindung zwischen betrieblicher und schulischer Berufsausbildung durch das Zusammenwirkungsgebot der Lernorte der Berufsausbildung gemäß § 2 Abs. 2 BBiG 2005 und die Verpflichtung des Ausbildenden, die Auszubildenden für den Berufsschulbesuch freizustellen (§ 15 BBiG 2005). Weiterhin fällt das durch Staatsvertrag geregelte Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Entwicklung von Ordnungsmitteln für beide Teile der Berufsausbildung unter diesen Kooperationsaspekt.

Neben der Berufsschule und der damit verbundenen Berufsschulpflicht für Auszubildende haben die Länder aufgrund der Bestimmungen des Artikels 7 Abs. 1 GG u. a. das Recht, weitere Schulformen und Bildungsgänge zu errichten, die von ihrem didaktisch-curricularen Zuschnitt her auf die Vermittlung berufsbezogener Kenntnisse, Fertigkeiten, Einstellungen und Fähigkeiten ausgerichtet sind, bei deren Klientel es sich aber nicht um Auszubildende im Sinne des Berufsbildungsgesetzes bzw. der Handwerksordnung (HwO) handelt. Von diesen vollzeitschulischen Bildungsgängen der Sekundarstufe II sind für unser Thema insbesondere die verschiedenen Varianten der Berufsfachschule bzw. Höheren Berufsfachschule (BFS) von Interesse.[3]

Eine weitere Komplexitätssteigerung ist dadurch eingetreten, dass in die Legaldefinition von „Berufsbildung“ im § 1 Abs. 1 und 2 des BBiG 2005 – im Unterschied zum § 1 BBiG 1969 – auch die Berufsausbildungsvorbereitung zur Berufsbildung gerechnet wird, und zwar soweit diese außerhalb staatlicher Schulen, also dem Berufsvorbereitungsjahr, dem Berufsgrundbildungsjahr und den teilqualifizierenden Varianten der BFS, und damit vornehmlich in „sonstigen Berufsbildungseinrichtungen“ (§ 2 Abs. 1 Ziff. 3 BBiG 2005) durchgeführt wird. Da diese Maßnahmen der Berufsausbildungsvorbereitung überwiegend bei privat- oder gemeinwirtschaftlichen Bildungsträgern zumeist im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt werden (vgl. § 61 SGB III), sind weitere Organisationen und Akteure mit für die Frage der Durchlässigkeit zwischen den Teilsegmenten des Berufsbildungswesens eigenen Kompetenzdomänen und Verfügungsrechen ins Spiel gekommen.

3.2 Möglichkeiten und Grenzen der Übergangsgestaltung zwischen verschiedenen Berufsbildungsteilbereichen

Die heutige Berufsbildung erweist sich somit als ein komplexes Gefüge aus Teilsegmenten (Berufsausbildungsvorbereitung, Berufsausbildung gemäß BBG bzw. HwO, Berufsausbildung nach Länderrecht, berufliche Fortbildung). Diese sind voneinander abgegrenzt, wodurch Übergänge von einem Teilsegment zu einem anderen mit Friktionen verbunden sind. Schließlich werden die Teilsegmente ‑ wie dargestellt ‑ durch unterschiedliche, jeweils mit spezifischen Verfügungsrechten ausgestattete Organisationen und mit diesen verbundenen institutionellen Akteuren auf der Basis differenter institutioneller Normen reguliert und gesteuert. Die Existenz der geschaffenen Kompetenzdomänen (vgl. Tabelle 1) führt für die mit dem Instrument ECVET beabsichtigte Förderung von Durchlässigkeit durch Anrechnung von Leistungen, die in einem anderen beruflichen Bildungsgang generell zu schwierigen Rahmenbedingungen.

Tabelle 1:  Kompetenzdomänen, Institutionen und Verfügungsrechte in ausgewählten Berufsbildungsbereichen (Quelle: REINISCH/ MEERTEN, im Druck)

Institutionen

Ausgewählte Verfügungsrechte in Berufsbildungsbereichen

Organisationen/
Akteure

Institutionelle Normen

Berufsaus-bildungs-vorbereitung

Berufsausbildung

Berufliche Fortbildung

Bund

Öffentliche Verantwortung für die Berufsbildung

Regelungen über die Berufsausbildungs-vorbereitung im BBiG

Anerkennung und Ordnung von Ausbildungsberufen

Anerkennung und Ordnung von Fortbildungsberufen

Länder

Kulturhoheit

Einrichtung und Ordnung vollzeitschulischer Berufsausbildungs-vorbereitung (BVJ, BGJ, teilqualifizierende BFS)

Einrichtung und Ordnung der Berufsschule und vollqualifizierender beruflicher Bildungsgänge nach Landesrecht

Einrichtung und Ordnung schulischer beruflicher Fortbildung (Fachschulen)

Zuständige Stellen

Mittelbare Staatsaufsicht über die Berufsbildung

Überwachung der Durch-führung der Berufsausbildungs-vorbereitung

Überwachung der Durch-führung der Berufsausbildung, u.a. Abkürzung der Ausbildungszeit, Zulassung zur Abschlussprüfung, Gleichstellung von Prüfungszeug-nissen

Erlass von Fort-
bildungs-prüfungsregelungen, wenn keine bundes-einheitliche Regelung existiert

Spitzenverbände der Arbeitgeber und -nehmer

Mitbestim-mung in Fragen der Berufsbildung/ Selbstverwal-tung der Wirtschaft

 

Initiativrecht und Mitwirkung bei der Neuschaffung und Neuordnung von Ausbil-dungsberufen, Beteiligungs-rechte in Prüfungs-ausschüssen etc.

Initiativrecht und Mitwirkung bei der Neuschaffung und Neuordnung von Fortbildungs-berufen, Beteili-gungsrechte in Prüfungsaus-schüssen etc.

Ausbildende

Vertragsfreiheit, insbesondere Abschlussfrei-heit

 

Direktionsrecht, Zustimmung zur Verkürzung der Ausbildung und vorzeitige Zulassung zur Prüfung

 

Auszubildende

Vertragsfreiheit/ Schulpflicht

 

Recht auf vertragsgemäße Ausbildung und Freistellung, Recht auf Beantragung einer Verkürzung der Ausbildung oder vorzeitige Zulassung zur Prüfung

 

Schüler in der vollzeitschu-lischen Berufsaus-bildung

Schulpflicht

 

Recht auf ordnungsgemäßen Unterricht

 

Schüler in schulischen Maßnahmen der Berufsausbildungs-vorbereitung (BAV)

Schulpflicht

Recht auf ordnungsgemä-ßen Unterricht

   

Teilnehmer in außerschulischen Maßnahmen der BAV

Sozialrecht

Recht auf vertragsgemäße Durchführung der Maßnahme

   

Bundesagentur für Arbeit

Bildungs- und Arbeitsförderung als Teil der sozialen Rechte

Vergabe von Maßnahmen nach § 61 SGB III an Bildungsträger/ Überwachung der Maßnahmen

Förderung ausbildungsbeglei-tender Hilfen nach § 15 SGB III bzw. außerbetrieblicher Berufsausbildung gemäß § 243 SGB III

 

Allerdings existieren im institutionellen Gefüge der deutschen Berufsbildung einige Normen, die auf die Schaffung möglichst friktionsloser Übergänge zwischen den Teilsegmenten der Berufsbildungslandschaft unter Anerkennung und Anrechnung von Vorleistungen bezogen werden können und damit prinzipiell der Förderung von Durchlässigkeit dienen könnten. Dies gilt für

  • die „Kann-Bestimmung“ des § 5 Abs. 2 Ziff. 4 BBiG 2005, dass auf eine durch Ausbildungsordnung geregelte Berufsausbildung eine andere, einschlägige Berufsausbildung angerechnet werden kann. Dabei sollen die institutionellen Akteure im Ordnungsverfahren stets prüfen, ob eine Anrechnung sinnvoll und möglich ist (siehe § 5, letzter Satz BBiG 2005);
  • die „Kann-Bestimmung“ des § 7 Abs. 1 BBiG 2005, wonach die Landesregierungen bestimmen können, „dass der Besuch eines Bildungsganges berufsbildender Schulen oder die Berufsausbildung in einer sonstigen Einrichtung ganz oder teilweise auf die Berufsausbildung angerechnet wird.“ Dabei bedarf eine Anrechnung nach dieser Vorschrift des gemeinsamen Antrags von Ausbildenden und Auszubildenden an die zuständige Stelle (§ 7 Abs. 2 BBiG 2005);
  • die Bestimmung des § 8 Abs. 1 BBiG 2005, die auf der Basis eines gemeinsamen Antrags von Ausbildenden und Auszubildenden der zuständigen Stelle auferlegt, die Ausbildungszeit zu verkürzen (Kürzung am Beginn der Ausbildung). Für die Entscheidung kann der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung Richtlinien erlassen (vgl. § 8 Abs. 3 BBiG 2005);
  • die Bestimmung des § 39 Abs. 2 BBiG 2005, wonach der Prüfungsausschuss zur Bewertung einzelner nicht mündlich zu erbringender Prüfungsleistungen gutachterliche Stellungnahmen Dritter einholen kann; im Rahmen der Abschlussprüfung können hiernach also außerhalb der Abschlussprüfung erbrachte in das Prüfungsergebnis einbezogen und faktisch angerechnet werden. Dort, wo diese Möglichkeit genutzt wird, insbesondere in den Kammerorganisationen im Bundesland Baden-Württemberg, handelt es sich um eine transparente Verfahrensweise, die den Akteuren im Vorfeld der Abschlussprüfungen bekannt ist.
  • die Regelung nach § 43 Abs. 2 BBiG 2005, dass Personen zur Abschlussprüfung zuzulassen sind, wenn sie in einer berufsbildenden Schule oder einer sonstigen Berufsbildungseinrichtung ausgebildet wurden und der von ihnen absolvierte Bildungsgang der Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf entspricht;
  • die Bestimmungen über die Zulassung zur Abschlussprüfung in besonderen Fällen nach § 45 Abs. 1 und 2 BBiG 2005, wonach erstens Auszubildende nach Anhörung des Ausbildenden und der Berufsschule vorzeitig zur Abschlussprüfung zugelassen werden können, wenn ihre Leistungen dies rechtfertigen (Verkürzung am Ende der Ausbildung). Zweitens sind Personen zur Abschlussprüfung zuzulassen, wenn sie mindestens das Eineinhalbfache der Ausbildungszeit in dem Beruf tätig gewesen sind, in dem die Abschlussprüfung abgelegt werden soll. Von der Auflage der gegenüber der Ausbildungsdauer erhöhten einschlägigen Berufstätigkeit kann abgesehen werden, wenn der Bewerber durch Vorlage von Zeugnissen oder auf andere Weise glaubhaft machen kann, dass er über die berufliche Handlungsfähigkeit verfügt, die eine Zulassung zur Prüfung rechtfertigt (vgl. § 45 Abs. 2 BBiG 2005; Stichwort „Externenprüfung“);
  • die Regelungen über die Gleichstellung von Prüfungszeugnissen, die außerhalb des Anwendungsbereiches des BBiG oder im Ausland erworben wurden, mit den Zeugnissen über das Bestehen einer Abschlussprüfung gemäß BBiG durch Rechtsverordnung der zuständigen Ministerien der Bundesregierung nach Anhörung des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (vgl. § 50 Abs. 1 und 2 BBiG 2005).
  • die Regelungen für bundeseinheitlich geregelten Fortbildungsordnungen, konkret § 55 BBiG zum Zwecke der Berücksichtigung ausländischer Vorqualifikationen im Rahmen der Prüfung etwaiger Zulassungsvoraussetzungen und § 56 Abs. 2 BBiG, Einzelfallentscheidungen der zuständigen Stelle auf Befreiung von einzelnen Prüfungsbestandteilen („Auffangnorm“).

Diese Bestimmungen tangieren die Möglichkeiten der Anerkennung und Anrechnung von Vorleistungen. Während die Anerkennung einer Vorleistung in der Regel zu einer Zulassung zu einem Bildungsgang oder einer Prüfung beiträgt, stellt die Anrechnung eine Form der Verzahnung dar, das heißt vorab erworbene Leistungen werden zum Zwecke der Verkürzung der Ausbildungszeiten oder zu erbringenden Ausbildungs- und Prüfungsleistungen mit der gewünschten Aus- und Fortbildung verrechnet. Die Anerkennung und Anrechnung kann prinzipiell im Vorfeld und im Verlauf einer Aus- oder Fortbildung vereinbart oder beantragt werden.

Bei diesen Normen handelt es sich allerdings erstens um recht „weiche Regelungen“, die zwar den Willen des Gesetzgebers Ausdruck verleihen, Anrechnungen zu fördern, aber – wie im Falle der „Kann-Bestimmungen“ der §§ 5 und 7 BBiG 2005 – nicht mit einem nennenswerten Durchsetzungssystem verbunden sind. Zweitens beziehen sich die Regelungen über die Zulassung zur Abschlussprüfung von „Externen“ (§ 45 Abs. 1 und 2 BBiG 2005) und bei schulischer bzw. außerbetrieblicher Berufsausbildung (§ 43 Abs. 2 BBiG 2005) sowie über die Gleichstellung von Prüfungszeugnissen (§ 50 Abs. 1 und 2 BBiG 2005) auf besonders gelagerte Fälle, da es sich bei den Antragsberechtigten nicht um Auszubildende in einem betrieblichen Ausbildungsverhältnis handelt. Insofern werden die Rechte der Ausbildenden durch diese Normen nicht berührt. Demgegenüber ist drittens aus der Sicht eines antragsberechtigten Auszubildenden, der prinzipiell über anrechenbare Vorleistungen verfügt, mit den Regelungen nach den §§ 7 Abs. 2 und 8 Abs. 1 sowie auch nach § 45 Abs. 1 und 2 BBiG 2005 der Nachteil verbunden, dass diese erst nach Abschluss des Ausbildungsvertrages greifen und der Zustimmung des Ausbildenden bedürfen. Damit ist Anrechnung für die Auszubildenden mit eingeschränkten Verfügungsrechten verbunden und wird so zu einem Risiko behafteten und kaum planbaren Aspekt ihrer Berufsausbildung. Im Unterschied dazu sind die genannten Normen für die Ausbildenden vorteilhaft, denn die Inhaltsfreiheit bei Vertragsabschluss wird durch diese nicht eingeschränkt und einer Anrechnung von Vorleistungen und der damit verbundenen Verkürzung der Ausbildungszeit nach Vertragsabschluss können sie sich entziehen, indem sie ihre Zustimmung verweigern.

Eine mögliche „Lösung“ im Sinne einer Verbesserung der Verfügungsrechte der Auszubildenden könnte darin bestehen, dass der Gesetzgeber die bestehenden Normen verändert und eine Anrechnungspflicht einführt, also die Inhaltsfreiheit bei Vertragsabschluss weiter einschränkt. Allerdings haben die Erfahrungen mit der am 4. Juli 1972 erlassenen Berufsbildungsjahr-Anrechnungs-Verordnung und der am gleichen Tag erlassenen Berufsfachschul-Anrechnungs-Verordnung gezeigt, dass sich die Ausbildenden einer Anrechnungsverpflichtung aufgrund ihrer Abschlussfreiheit entziehen können. Eine gesetzliche Anrechnungsverpflichtung könnte also dazu führen, dass es gar nicht erst zum Abschluss von Ausbildungsverträgen kommt. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob die Anerkennung bzw. Anrechnung von Vorleistungen überhaupt eine realistische Option zur Verbesserung der Durchlässigkeit in der deutschen (Berufs-)Bildung ist. Nicht zuletzt zu dem Zweck, der Beantwortung dieser Frage ein Stück weit näher zu kommen, hat das BMBF in den Jahren 2008 – 2012 eine Pilotinitiative initiiert und finanziert. Über deren Ergebnisse wird im Folgenden aus der Sicht der Wissenschaftlichen Begleitung der Pilotinitiative berichtet.

4 Ansätze zur Förderung der Durchlässigkeit im Berufsbildungssystem am Beispiel der Zielstellungen, der Vorgehensweise und ausgewählter Ergebnisse der DECVET-Pilotinitiative

Im Rahmen der Pilotinitiative DECVET stand die Frage im Vordergrund, wie die Durchlässigkeit an den vier zentralen Schnittstellen innerhalb des Gesamtbereichs der Berufsbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes von 2005 durch die Entwicklung und Anwendung von Anrechnungsverfahren in Anlehnung an das ECVET-Instrumentarium gefördert und verbessert werden könnten. Damit wurde der Wechsel von einem Berufsbildungsteilbereich in einen anderen in den Blick genommen, und zwar unter der Prämisse, dass Lern- und Ausbildungsleistungen, die in einem Berufsbildungsteilbereich erworben und bestätigt worden sind, in dem anderen bzw. nachfolgenden Berufsbildungsteilbereich angerechnet werden könnten.

Der Ansatz der Pilotinitiative DECVET war damit sehr ambitioniert, denn die Realisierung dieses Ansatzes tangiert sowohl die Idee ganzheitlicher Beruflichkeit als auch die Kompetenzdomänen und Verfügungsrechte der institutionellen Akteure im Bereich der Berufsbildung (vgl. oben 3.1). Schließlich ging es in DECVET notwendigerweise besonders um Fragen der didaktisch-curricularen Konfiguration beruflicher Bildungsgänge, denn Anrechnung im Sinne von ECVET und DECVET beinhaltet einen Transfer bereits erbrachter (gleichartiger und/oder gleichwertiger) Leistungen und die Verrechnung dieser mit weiteren, noch zu erbringenden Leistungen. Dies kann beispielsweise in Form einer Verkürzung der Ausbildungszeit geschehen („zeitliche Anrechnung“). Es wird in diesem Fall davon ausgegangen, dass die bereits erworbenen Kompetenzen nicht erneut vermittelt werden müssten. Es findet eine Verrechnung erreichter Lernergebnisse und Lernzeiten mit den noch zu erwerbenden Lernergebnissen und zu durchlaufenden Lernzeiten im Rahmen eines Bildungsganges statt. Insofern erfolgt eine Freistellung von einzelnen curricularen Abschnitten. Eine zweite Anrechnungsmöglichkeit liegt in der „inhaltlichen Anrechnung“, im Rahmen derer ebenfalls davon ausgegangen wird, dass die bereits erworbenen Kompetenzen nicht erneut vermittelt werden müssten, jedoch eine Verkürzung nicht erfolgen soll. Die zur Verfügung stehende zusätzliche Ausbildungszeit wird in diesem Fall für eine alternative Qualifizierung oder Vertiefung der Kompetenzentwicklung verwendet. Eine dritte prinzipielle Anrechnungsmöglichkeit stellt die Verrechnung von Prüfungsleistungen auf der Basis bereits abgelegter Prüfungsleistungen dar, was eine Befreiung von einzelnen Prüfungsbestandteilen mit sich bringt („Anrechnung auf Prüfung“). Eine Besonderheit stellt die Anrechnung informell erworbener Kompetenzen für die Voraussetzungen zur Zulassung von Ausbildungsabschluss- oder Fortbildungsprüfungen dar. Für die Zulassung zur Ausbildungsabschlussprüfung fällt diese Besonderheit in die so genannte „Externenprüfung“ (nach BBiG § 45 Abs. 2; vgl. SCHREIBER 2010), welche in DECVET nicht berührt wurde. Allerdings wurde die Frage der Zulassung zur Fortbildungsprüfung gemäß Berufsbildungsgesetz und die Bedeutung (und Anrechnungsmöglichkeit) der informell im beruflichen Erfahrungsraum erworbenen Kompetenzen behandelt, und zwar an der Schnittstelle zwischen Erstausbildung und Fortbildung.

Anrechnungen in diesem Sinne sind im Unterschied zur pauschalen Anerkennung von vorgängig erworbenen Bildungsabschlüssen – man denke etwa an die übliche Praxis der Verkürzung der Ausbildungsdauer für Auszubildende, die über die allgemeine Hochschulreife verfügen – in der deutschen Berufsbildung nicht üblich. Sie basieren zudem auf der Annahme, dass hinreichend große Schnittmengen zu erwerbender Kompetenzen zwischen den verschiedenen Berufsbildungsteilbereichen existieren, die für den individuellen weiteren Bildungsverlauf durch Anrechnung (also nicht allein durch Anerkennung) und damit im Sinne einer Verzahnung konstruktiv genutzt werden könnten. Diese Annahme ist durch die DECVET-Projekte an den untersuchten Schnittstellen zwischen den verschiedenen Teilbereichen der Berufsbildung bestätigt worden.

Die Zugangs- und auch Anrechnungsoptionen sind in den jeweiligen Teilsystemen der beruflichen Bildung unterschiedlich rechtlich normiert. Die aktuelle Situation an den untersuchten vier Schnittstellen skizzieren wir im Folgenden:

1. Übergang zwischen Berufsausbildungsvorbereitung und dualer Berufsausbildung: Laut Berufsbildungsgesetz zielt die Berufsausbildungsvorbereitung auf „lernbeeinträchtigte oder sozial benachteiligte Personen, deren Entwicklungsstand eine erfolgreiche Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder eine gleichwertige Berufsausbildung noch nicht erwarten lässt“ (§ 68 BBiG). Auch die betriebliche bzw. betriebsnahe Berufsausbildungsvorbereitung muss von daher nach Inhalt, Ziel und Dauer den besonderen Bedürfnissen der Zielgruppe entsprechen und durch eine umfassende sozialpädagogische Betreuung und Unterstützung begleitet werden (vgl. § 68 BBiG). Für diejenigen Personen, die ein Angebot der Berufsausbildungsvorbereitung absolvieren, ist die Frage von besonderer Relevanz, inwieweit eine Anerkennung und Anrechnung der erworbenen Kompetenzen und Teilabschlüsse für eine weiterführende Berufsausbildungsmaßnahme stattfinden könnte bzw. tatsächlich stattfindet. Die Anerkennung der erworbenen Kompetenzen in der Berufsausbildungsvorbereitung erfolgt auf der Basis der Berufsausbildungsvorbereitungs-Bescheinigungsverordnung (BAVBVO). Der Gesetzgeber hat mit dieser Verordnung bundesweit die Bescheinigung der Qualifizierung in der Ausbildungsvorbereitung ordnungspolitisch geregelt. Die BAVBVO konkretisiert auch die Definition von Qualifizierungsbausteinen und setzt Rahmenbedingungen für ihre Bescheinigung. Sie ist damit die Grundlage für die Zertifizierung der Inhalte der Berufsausbildungsvorbereitung sowie der ggf. angebotenen Qualifizierungsbausteine. Diese Zertifikate auf der Basis der BAVBVO sehen nicht zwingend eine Anrechnung auf die Erstausbildung vor. Die Frage der Anrechnung wird den Vereinbarungen zwischen den Vertragsparteien (Ausbildende Einrichtung und Auszubildender), in Abstimmung mit den zuständigen Stellen für die Berufsbildung, überlassen.

2. Wechsel von einem nach BBiG bzw. HwO anerkannten Ausbildungsberuf in einen anderen: Die Entwicklung von Ausbildungsberufen und der zugehörigen curricularen Grundlagen erfolgt nach fachlichen, pädagogischen und didaktischen Kriterien. Unbestritten ist, dass zwischen unterschiedlichen Ausbildungsberufen inhaltliche Überschneidungen existieren. Auszubildende erwerben also in verschiedenen Ausbildungsberufen zum Teil durchaus ähnliche, gleichartige oder ggf. gleichwertige Kompetenzen. Dies trifft insbesondere innerhalb eines Berufsfeldes zu. In der Curriculumforschung und curricularen Entwicklungsarbeit für die berufliche Bildung sind diese Überschneidungen hinlänglich bekannt und umfänglich diskutiert worden, so auch im Zusammenhang mit dem Ansatz der beruflichen Grundbildung (vgl. z. B. STRATMANN 1971; KELL 1992). Es gab und gibt eine Vielzahl von Curriculummodellen in der Geschichte der Berufsausbildung in Deutschland und in komparativer Perspektive, mit denen dieses Phänomen produktiv aufgegriffen und für die Lernenden nutzbar gemacht wird. Auch aktuell liegen für die deutsche Berufsausbildung Beispiele für die systematische curriculare Abstimmung der Ausbildung verschiedener Ausbildungsberufe vor, und zwar nicht nur in horizontaler, sondern auch in vertikaler Hinsicht. So kann nach § 5 Abs. 2 BBiG 2005 eine stufenartige Aufeinanderfolge unterschiedlicher Ausbildungsabschüsse vorgesehen werden, die curricular aufeinander abgestimmt sind. Auch kann nach § 5 Abs. 2 BBiG 2005 in Ausbildungsordnungen vorgesehen werden, dass auf die geregelte Berufsausbildung eine andere, einschlägige Berufsausbildung unter Berücksichtigung der hierbei erworbenen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten angerechnet werden kann. Diese sinnvolle systematische curriculare Abstimmung zwischen verschiedenen Ausbildungsrichtungen wird weiter diskutiert, etwa unter den Bezeichnungen „Berufsfamilien“ und „Kernqualifikationen“ (vgl. BRÖTZ/ SCHAPFEL-KAISER/ SCHWARZ 2008) und in der Ordnungsmittelarbeit teilweise genutzt.

3. Übergang zwischen vollzeitschulischer und dualer beruflicher Erstausbildung: Hierbei handelt es sich um den Wechsel zwischen zwei Teilsystemen der Berufsbildung, die unterschiedlichen curricularen Konstruktionsprinzipien, Lern- und Ausbildungskulturen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen folgen. Allerdings existieren - neben den traditionellen „Schulberufen“, die ausschließlich vollzeitschulisch nach Landesrecht (z.B. Medizinisch-technische(r) Assistent/-in, Erzieher/-in) ausgebildet werden - in den einzelnen Bundesländern eine Vielzahl vollzeitschulischer Berufsausbildungsgänge, die mehr oder minder große curriculare Ähnlichkeiten zu Ausbildungsberufen nach BBiG bzw. HwO aufweisen. Die Anerkennung dieser vollzeitschulischen Ausbildungsabschlüsse auf dem Arbeitsmarkt ist jedoch gering, so dass viele Absolventen dieser Berufsbildungsgänge anschließend eine betriebliche Berufsausbildung beginnen. Die Anerkennung ihrer Vorleistungen bleibt ihnen jedoch häufig versagt, u. a. weil die Bundesländer ihr Recht nach § 7 Abs. 1 BBiG, wonach die Landesregierungen nach Anhörung des Landesausschusses für Berufsbildung durch Rechtsverordnung bestimmen können, dass der Besuch eines Bildungsganges berufsbildender Schulen oder die Berufsausbildung in einer sonstigen Einrichtung ganz oder teilweise auf die Ausbildungszeit angerechnet wird, nur (sehr) selten in Anspruch nehmen. Eine weitere Möglichkeit bietet § 8 Abs. 1 BBiG, danach kann bei Anrechnung, hier der vollzeitschulischen Ausbildung, die duale Ausbildungszeit verkürzt werden.

4. Übergänge zwischen beruflicher Erstausbildung und beruflicher Fortbildung gemäß BBiG: Für die beruflichen Positionen, die durch eine Aufstiegsfortbildung angestrebt oder gefestigt werden sollen, ist Berufserfahrung – also die in früheren, gerade nicht-formalen und eher informellen Lernvorgängen erworbene Kompetenz – vielfach konstitutiv. Zu berücksichtigen ist auch, dass für die berufliche Fortbildung die Prüfungsdurchführung und die Prüfungszulassung in einer Ordnung bzw. Regelung kodifiziert ist und i.d.R. nicht der Fortbildungsgang. Für den Weg zur Fortbildungsprüfung gibt es daher lediglich Angebote, um freiwillig Vorbereitungskurse für die Fortbildungsprüfung zu besuchen, für die Zulassung zu Fortbildungsprüfungen ist der Besuch eines vorbereitenden Lehrgangs rechtlich jedoch nicht verpflichtend. Grundsätzlich lassen sich die Anrechnungsalternativen hier in die Anrechnung auf die Prüfungsvorbereitung (und damit „Anrechnung unterhalb der Ordnungsebene“), die Anrechnung im Rahmen der Prüfungszulassung und die Anrechnung in Form des Erlasses von Prüfungsteilen unterscheiden.

Deutlich wird aus dieser Darstellung, dass es erstens – ohne grundlegende Novellierung des Berufsbildungsgesetzes - kein einheitliches Anrechnungsverfahren für sämtliche untersuchte Schnittstellen geben kann, sondern nur singuläre Verfahren für jeweils eine Schnittstelle. Derartige Verfahren sind zweitens im Rahmen der DECVET-Pilotinitiative entwickelt und teilweise erprobt worden, wobei jeweils spezifische Probleme aufgetreten sind und entsprechende Lösungsansätze entwickelt wurden. Beides werden wir im Folgenden kurz darstellen:

1. Übergang zwischen Berufsausbildungsvorbereitung und dualer Berufsausbildung: In der DECVET-Pilotinitiative stand die Frage der Anrechnung der in der Berufsausbildungsvorbereitung gewonnenen Kompetenzen für die nachfolgende vollständige berufsqualifizierende Erstausbildung im dualen System im Vordergrund der Betrachtung. Es ging um die Entwicklung und Erprobung von Ansätzen, mit denen die Akzeptanz der in der Berufsausbildungsvorbereitung erworbenen Kompetenzen durch die nachfolgend potentiell anrechnenden Ausbildungseinrichtungen erhöht werden könnte. Im Rahmen der üblichen Praxis der Berufsausbildung gemäß Berufsbildungsgesetz erfolgt diese Anrechnung nur in seltenen Fällen. Das zentrale Hindernis für die systematische und transparente Anrechnung der Teilqualifikationen aus der Berufsausbildungsvorbereitung lag in der geringen curricularen Standardisierung und damit zusammenhängend in der Unübersichtlichkeit und Heterogenität und niedrigen qualitativen Sicherung der dort stattfindenden Maßnahmen. Die Frage, ob Leistungen, die in der Berufsausbildungsvorbereitung erbracht werden, einer in der Berufsausbildung zu erbringenden Leistung im Hinblick auf Inhalt und Niveau der Lernanforderungen äquivalent sein können, ist sehr umstritten. Entsprechend gering ist das Vertrauen der abnehmenden Institution in Kompetenzen bzw. Zertifikate, die dort erworben werden. Aus Sicht der DECVET-Pilotprojekte, die an der Frage der Anrechnung an dieser Schnittstelle arbeiteten, war daher zunächst zu prüfen, welche inhaltlichen Schnittmengen zwischen der Berufsausbildungsvorbereitung und der entsprechenden Erstausbildung, auf welche prinzipiell angerechnet werden könnte, vorhanden sind. Hierfür wurden vorhandene Curricula verglichen, Anforderungsanalysen durchgeführt und schließlich lernergebnisorientierte Curriculumbestandteile entworfen, welche die Grundlage für die Qualifizierung und nachfolgende Anrechnungsentscheidung darstellen sollten. Die Lernergebniseinheiten wurden sowohl mit Bezug auf die jeweils geltenden Ordnungsmittel der beiden Lernorte der dualen Berufsausbildung (Ausbildungsrahmenpläne, Rahmenlehrpläne, Prüfungsanforderungen und ggf. interne curriculare Materialien) als auch unter Berücksichtigung der konkreten Anforderungen des Beschäftigungssystems (betriebliche Ausbildungspläne, Arbeitsplatzanalysen, Expertengespräche) entwickelt. Die Lernergebniseinheiten deckten überwiegend zyklisch vollständige Arbeits- und Lernhandlungen ab. Die zu erzielenden Lernergebnisse wurden im Sinne der Begrifflichkeiten des EQF bzw. des DQR formuliert. Trotz der in den DECVET festgestellten bzw. entwickelten Schnittmengen zwischen ausgesuchten Berufsausbildungsvorbereitungsmaßnahmen und der beruflichen Erstausbildungsvarianten erfolgte selbst in den DECVET-Projekten, das heißt im Rahmen eines Modellversuchsprogramms, faktisch keine Anrechnung der erworbenen Kompetenzen auf die Erstausbildung. Mit diesem Ergebnis der Initiative an dieser Schnittstelle wurde in den Projekten die übliche Verhaltensweise der Akteure in der Berufsbildungspraxis, also eine zurückhaltende oder gar restriktive Anrechnungsbereitschaft, ausdrücklich bestätigt. Die Anwendung der gesetzlichen Möglichkeiten (siehe oben 3.2) stößt auf große Schwierigkeiten. Hilfreich für die Förderung der Anrechnungsbereitschaften sind aus den DECVET-Erfahrungen die folgenden Punkte: a) Lernergebniseinheiten sollten nach einem standardisierten bundeseinheitlichen Verfahren entwickelt werden, schulische und betriebliche Lernergebnisse umfassen (Lernortunabhängigkeit) und aus den Ordnungsmitteln anerkannter Ausbildungsberufe abgeleitet werden; b) für die Berufsausbildungsvorbereitung sollten je Berufsfeld einheitliche Curricula auf der Basis von Lernergebniseinheiten entwickelt werden; c) die Qualität und die Äquivalenz einer Berufsausbildungsvorbereitungsmaßnahme sollte mittels einer Akkreditierung durch die zuständige Stelle für die Berufsbildung nach Berufsbildungsgesetz bestätigt werden; d) Vertretungen der zuständigen Stellen bzw. der Prüfungsausschüsse erhalten das Recht, an Kompetenzfeststellungsverfahren im Rahmen der BAV jederzeit teilzunehmen; die Kompetenzfeststellungsverfahren in der BAV und der dualen Ausbildung sollten gleichwertig sein.

2. Wechsel von einem nach BBiG bzw. HwO anerkannten Ausbildungsberuf in einen anderen: Zwar werden bei einem Wechsel zwischen Ausbildungsberufen die Auszubildenden auf der Basis der Verständigung der Ausbildungsvertragsparteien häufig direkt in ein höheres Ausbildungsjahr eingestuft, aber Personen, die eine Berufsausbildung gemäß Berufsbildungsgesetz vorzeitig beenden (müssen) und eine alternative Ausbildungsberufsrichtung aufnehmen, stehen häufig noch vor dem Problem – so die Ausgangsüberlegung in DECVET –, dass die erworbenen Kompetenzen auf die alternative Ausbildung nicht angerechnet werden. Die Gründe dafür liegen auch darin, dass viele Ausbildungsordnungen inhaltlich nicht abgestimmt sind. In DECVET stand daher die Frage zur Disposition, wie die Voraussetzungen für die Anrechnungsmöglichkeiten an dieser Schnittstelle zwischen verschiedenen Ausbildungsberufen innerhalb eines Berufsfeldes, insbesondere in horizontaler Hinsicht (also nicht primär stufenartig) auf der Basis identifizierter inhaltlicher Äquivalenzen zwischen Ausbildungsberufen, weiterentwickelt werden könnten. In den an dieser Schnittstelle arbeitenden Modellversuchen konnte bestätigt werden, dass insbesondere hinsichtlich der vorgesehenen Ausbildung in den ersten achtzehn Monaten vielfältige Überschneidungen der zu erwerbenden Kompetenzen zwischen verschiedenen Ausbildungsrichtungen innerhalb der Berufsfelder vorliegen. An dieser Schnittstelle liegt der besondere Vorteil darin, dass die Schnittmengen meist nicht nur inhaltlicher Art sind, sondern auch das Ausmaß der kognitiven Anforderungen sowie die zugrundeliegenden meist erfahrungsgebundenen Lernarten betreffen. Daher ist die Absicht der Anrechnung an dieser Schnittstelle verhältnismäßig einfach zu bewältigen. Es wurden Verfahren entwickelt, mit denen auf der Basis der Überschneidungen der intendierten Ausbildungsinhalte Anrechnungsprozesse standardisiert werden könnten. Förderlich für einen transparenten und anwendbaren Anrechnungsprozess sind erkennbare abgeschlossene Lernergebniseinheiten, auf Basis derer die Kompetenzen der Lernenden erfasst und dokumentiert werden können, auch direkt an den betrieblichen Lernorten zur Einbindung dieser festgestellten und dokumentierten Kompetenzen in die formale Abschlussprüfung über eine gutachterliche Stellungnahme des Ausbildungsbetriebes. Die Erfahrungen auch an dieser Schnittstelle zeigen, dass für die Anrechnungspraxis die Interessen bzw. Nutzenerwägungen der Ausbildungsvertragsparteien entscheidend sind.

3. Übergang zwischen vollzeitschulischer und dualer beruflicher Erstausbildung: Wie für die Berufsausbildungsvorbereitung gilt auch für die vollzeitschulische Berufsausbildung, dass sie in der Regel seitens der Akteure der dualen Berufsausbildung weder hinsichtlich der Ausbildungsinhalte noch des kognitiven Anforderungsniveaus als der Ausbildung im Betrieb äquivalent eingeschätzt wird. Hinzu tritt die auf betrieblicher Seite verbreitete Annahme, dass die fehlende betriebliche Sozialisation gravierende negative Auswirkungen auf die Einstellungen und Verhaltensweisen von Personen hat, die ihre Berufsausbildung in rein schulischer Form durchlaufen. Während dieses Vorurteil durch didaktisch-curriculare Maßnahmen innerhalb vollzeitschulischer Berufsbildungsgänge nicht abgebaut werden kann, könnte im Hinblick auf die Äquivalenz der Ausbildungsinhalte und des Ausbildungsniveaus durch Ausrichtung der vollzeitschulischen Ordnungsmittel an denen der dualen Berufsausbildung viel gewonnen werden. Wie die beiden DECVET-Projekte zeigen, die an dieser Schnittstelle gearbeitet haben, kann die Anrechnung der vollzeitschulischen Leistungen auf die duale Berufsausbildung, hier in Form der Verkürzung, durch die Entwicklung bildungsgangübergreifender und lernortunabhängiger Lernergebniseinheiten, die eng auf die Ordnungsmittel der dualen Berufsausbildung bezogen sind, gefördert werden. Die Projekterfahrungen haben darüber hinaus gezeigt und bestätigt, dass die Bildung regionaler Netzwerke aus Kultusministerien, zuständigen Stellen nach BBiG/HwO, Sozialpartnern zur Entwicklung eines Kooperations- und Anrechnungsmodells und zugleich als „vertrauensbildende Maßnahme“ hilfreich ist; und ebenso die Entwicklung von Kompetenzfeststellungsverfahren, die sowohl in der dualen als auch in der vollzeitschulischen Berufsausbildung eingesetzt werden können.

4. Übergänge zwischen beruflicher Erstausbildung und beruflicher Fortbildung gemäß BBiG: Von den oben angeführten Anrechnungsalternativen ( Anrechnung auf die Prüfungsvorbereitung, Anrechnung im Rahmen der Prüfungszulassung und die Anrechnung in Form des Erlasses von Prüfungsteilen) wurde die Anrechnung auf die rechtlich nicht verbindlich vorgeschriebene Prüfungsvorbereitung seitens der DECVET-Projekten überwiegend als wenig problematisch eingeschätzt. Gleichwohl konnte die Anwendbarkeit der entwickelten Anrechnungsverfahren über tatsächliche Erprobungen nicht nachgewiesen werden. Bei den anderen beiden Varianten (siehe oben) werden hingegen Bestandteile der Prüfungsordnung berührt, womit sie auf der Ordnungsebene liegen und damit in die Kompetenzdomäne der zuständigen Stellen eingreifen. Dies macht deren Einbeziehung unumgänglich. Gut umsetzbar wäre aus den Erfahrungen der DECVET-Projekte heraus die Anrechnung auf die Zulassungsvoraussetzungen zur Prüfung, sofern in Abstimmung mit der zuständigen Stelle das Verfahren (Zulassungskriterien, Instrumente zum Nachweis) abgestimmt würde. Diese Anrechnungsmöglichkeit könnte die Prüfungszulassung öffnen und flexibilisieren, hätte aber keine Auswirkung auf die Prüfung als solche. Bezüglich der Anrechnung auf die Fortbildungsprüfung waren sowohl die beteiligten Kammervertretungen als auch zum großen Teil die Projektmitarbeiter äußerst kritisch eingestellt. Die Prüfung bestehe häufig aus integrierten Situationsaufgaben sowie situationsbezogenen Fachgesprächen. Eine Trennung der Prüfung in Prüfungseinheiten sei daher schwierig. Diese Anrechnungsvariante könnte also bedeuten, die bisherigen Prüfungsmodalitäten aufzulösen und der Struktur der entwickelten Lernergebniseinheiten anzupassen, so dass es dadurch erst möglich wäre, einzelne Prüfungsteile durch andere Nachweise zu ersetzen bzw. einzeln abzulegen. Hierfür käme insbesondere die Berücksichtigung bzw. Weiterentwicklung des § 56 Abs. 2 BBiG, also der Einzelfallentscheidungen der zuständigen Stelle auf Befreiung von einzelnen Prüfungsbestandteilen, in Betracht und erscheint für den Transfer der DECVET-Ergebnisse daher von besonderer Bedeutung. Die Projektbeiräte, welche die DECVET-Projekte an dieser Schnittstelle begleiteten, sprachen sich zwar überwiegend gegen die Anrechnung von festgestellten Kompetenzen auf die Fortbildungsprüfung aus. Aus didaktischer Perspektive erschließt sich diese Position jedoch nicht. Erfasste und transparent dokumentierte Kompetenzen aus der Berufserfahrung könnten für diese Möglichkeit der Anrechnung („Befreiung“) ebenfalls von Bedeutung sein. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll darüber nachzudenken, inwieweit auch durch alternative Instanzen (ggfs. über die Akkreditierung von Bildungsträgern) anrechnungsfähige Vorleistungen zertifiziert werden könnten

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die DECVET-Projekte, die sich mit dem Wechsel in die duale Berufsausbildung und dem Wechsel innerhalb der dualen Berufsausbildung befasst haben, belegen konnten, dass die oben im Punkt 3.2 angeführten gesetzlich normierten Anerkennungs- und Anrechnungsregelungen grundsätzlich in der Berufsbildungspraxis anwendbar sind. Voraussetzung dafür sind didaktisch-curriculare Maßnahmen, die die Äquivalenz des Kompetenzerwerbs im Hinblick auf Ausbildungsinhalte und Anforderungsniveau durch entsprechende Lernergebniseinheiten und Kompetenzfeststellungsverfahren sicherstellen. Diese Voraussetzungen haben die entsprechenden DECVET-Projekte erfüllt, um dann Verfahren zur Anrechnung der erworbenen Vorleistungen in Form einer zeitlichen und einer inhaltlichen Anrechnung zu entwickeln und teilweise zu erproben. Zeitliche Anrechnung führt über den Erlass von Ausbildungsstationen, deren Lernergebnisse bereits im vorherigen Berufsbildungsgang erworben wurden, zur Verkürzung der Ausbildungszeit. Die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit dieser Variante konnte durch die Erfahrungen in DECVET bestätigt werden. Allerdings sind zeitliche Anrechnungen mit organisatorischen Problemen behaftet, so beispielsweise im Hinblick auf die Abstimmung der betrieblichen mit den berufsschulischen Inhalten und aufgrund der inhaltlichen und zeitlichen Strukturierung des Prüfungswesens. Anrechnungen, die bestimmte Umfänge und Zeitfenster unterschreiten, werden in der Praxis wahrscheinlich schwierig umsetzbar sein. Im Rahmen der inhaltlichen Anrechnung wird hingegen die reguläre Ausbildungsdauer beibehalten. Es erfolgt jedoch eine Verrechnung im Vorfeld bereits erworbener Lernergebnisse mit einzelnen Ausbildungsstationen. Die resultierende Zeitersparnis kann dann für zusätzliche Qualifizierungsangebote genutzt werden, beispielsweise für den Erwerb (über)fachlicher Kompetenzen, diverser Zusatzqualifikationen oder die Ermöglichung von Auslandsaufenthalten. Auch diese Anrechnungsoption wurde in den DECVET-Projekten genutzt und umgesetzt.

Daneben stand der Übergang zwischen der Erstausbildung, der Facharbeitertätigkeit und der Aufstiegsfortbildung im Blickpunkt der Betrachtung. Auch hierfür sind im Berufsbildungsgesetz Regelungen bereits implementiert, und zwar die Regelungen für bundeseinheitlich normierte Fortbildungsordnungen, konkret § 55 BBiG zum Zwecke der Berücksichtigung ausländischer Vorqualifikationen im Rahmen der Prüfung etwaiger Zulassungsvoraussetzungen und § 56 Abs. 2 BBiG, Einzelfallentscheidungen der zuständigen Stelle auf Befreiung von einzelnen Prüfungsbestandteilen. Diese Regelungen wurden in den DECVET–Projekten an der Schnittstelle zwischen Aus- und Fortbildung nicht genutzt. Im Vordergrund der Entwicklung und Erprobung stand vielmehr die Anerkennung von informell erworbenen Kompetenzen aus der Facharbeitertätigkeit und deren Anrechnung auf die Lehrgänge zum Zwecke der Fortbildungsprüfungsvorbereitung. Insofern erfolgt eine Individualisierung der Prüfungsvorbereitung durch die Anrechnung erworbener Lernergebnisse auf Vorbereitungslehrgänge. Der Besuch der Lehrgänge ist zwar nicht verpflichtend, wird aber i. d. R. von den Prüfungsteilnehmern als erforderlich erachtet, um die Prüfung zu bestehen. Hierbei handelt es sich um eine Anrechnung ohne formale Konsequenzen, da unterhalb der Ordnungsebene angerechnet wird. Diese Anrechnungsoption wurde in DECVET bestätigt und präferiert. Zusätzlich wurde in DECVET die Anerkennung und Anrechnung zum Zwecke der Fortbildungsprüfungszulassung bestätigt: Im Fall der Nichterfüllung der formalen Voraussetzungen für die Prüfungsanmeldung (z.B. zu kurze Dauer an Berufserfahrung) können bei dieser Form der Anrechnung die erforderlichen berufspraktischen Qualifikationen über ein Feststellungsverfahren nachgewiesen werden und so die Prüfungszulassung empfohlen werden. Abgelehnt wurde durch die Akteure in den DECVET-Projekten die Entwicklung und Erprobung von Modellen, die auf die Anrechnung von erworbenen Leistungen auf die Fortbildungsprüfung zielen.

Trotz der vorhandenen gesetzlich geregelten Optionen gibt es in der Praxis der Berufsbildung offensichtlich große Vorbehalte gegenüber der Nutzung der genannten Kannbestimmungen des Berufsbildungsgesetzes. Diese Vorbehalte wurden in den DECVET-Projekten nachhaltig bestätigt. Zwar wurden auch in DECVET verschiedene Modelle zur Realisierung der Anrechnung entwickelt, die tatsächlichen Anrechnungsfälle fielen insgesamt gesehen jedoch ausgesprochen gering aus. Es steht zu vermuten, dass der Eingriff in hergebrachte Kompetenzdomänen der deutschen Berufsbildung, der mit dem von ECVET und DECVET verfolgten Ansatz der Aufteilung der Ganzheit eines beruflichen Bildungsganges in einzeln zertifizierbare Teile verbunden ist, erhebliches Misstrauen bei den institutionellen Akteuren hervorruft und somit Widerstand evoziert, der einer sinnvollen Lösung von Anrechnungsfragen entgegen steht. Mithin verwundert es nicht, dass ein Ergebnis der DECVET-Pilotinitiative darin zu sehen ist, dass Anrechnung gegenwärtig immer noch als Einzelfall behandelt und entschieden wird und zugleich die Kriterien der Anerkennung und Anrechnung von mitgebrachten Leistungen häufig nicht transparent sind (vgl. zu den Gründen für diese wenig ausgeprägte Anrechnungspraxis FROMMBERGER 2012).

5 Diskussionen zur Weiterentwicklung der beruflichen Bildung in Deutschland

5.1 Entwicklung eines berufsbildungsbereichsübergreifenden curricularen Strukturmodells als transparente Grundlage für Anerkennungs- und Anrechnungsprozesse?

In DECVET wurde der Nachweis erbracht, dass an den einzelnen und untersuchten Schnittstellen unterschiedliche Situationen und damit Herausforderungen auf der didaktisch-curricularen und auf der berufsbildungspolitischen Ebene herrschen. Dabei sind die didaktisch-curricularen und berufsbildungspolitischen Herausforderungen im Hinblick auf Anrechnung von Vorleistungen bei vertikaler Durchlässigkeit größer als bei der horizontalen Durchlässigkeit. Im Ergebnis ist somit davon auszugehen, dass es zumindest unter den aktuell herrschenden Rahmenbedingungen kein einheitliches Verfahren zur Anrechnung von Vorleistungen geben kann, das schnittstellenübergreifende Gültigkeit besitzt. Allein ein allgemeines und berufsbildungs-bereichsübergreifendes curriculares Strukturmodell könnte die Anrechnungsprinzipien angleichen. Solche Modelle sind im Ausland teilweise zu finden. In der deutschen Berufsbildung gibt es Ansätze derartiger Modelle mit den Berufslaufbahnkonzepten. Für die gewachsene deutsche Form der beruflichen Bildung ist die top-down-Umsetzung einer solchen Reißbrettkonstruktion jedoch noch eher unrealistisch, langfristig und unter strikter Berücksichtigung der Interessen der handelnden und verantwortlichen Akteure jedoch empfehlenswert.

Daraus folgt, dass für die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung in Deutschland die Transparenz der verschiedenen beruflichen Bildungsgänge von großer Bedeutung ist. Auf der Basis transparenter curricularer Strukturen und Anerkennungs- und Anrechnungsmechanismen können die individuellen Lern- und Karrierepfade und damit die Übergänge zwischen verschiedenen Berufsrichtungen und Stufen gefördert werden, um einen strukturellen Beitrag für die Förderung des Lebenslangen Lernens zu leisten (vgl. im Detail dazu die Ausführungen in FROMMBERGER u.a. 2012). Im Vordergrund steht also nicht die Zusammenführung unterschiedlicher Berufsbildungsteilbereiche, die je historisch gewachsen sind und damit ihre Funktion und Zwecksetzung gewonnen haben, sondern die stärkere didaktisch-curriculare und berufsbildungspolitische Abstimmung. Mit einer Perspektive auf diese transparente Verzahnung und Struktur der beruflichen Bildung steigen die Möglichkeiten der Vergleichbarkeit von Lernleistungen aus unterschiedlichen Berufsbildungsbereichen. Zugleich sinkt damit die Abhängigkeit von kurzfristigen Interessen bestimmter Akteure und Institutionen in der beruflichen Bildung. Die Lernenden und ihre Bedarfe werden gestärkt.

5.2 Zur Weiterentwicklung der Vertrauensbeziehungen zwischen den sozialen Akteuren in der Berufsbildung

Die Möglichkeit und Bereitschaft zur Anrechnung seitens der anrechnenden Institutionen steht in hoher Abhängigkeit zum Vertrauen in die Qualität der erbrachten Vorleistungen. Anders als im rein staatlichen Bildungssystem, wo über das gewachsene Berechtigungssystem die Anerkennung und Anrechnung erworbener Zertifikate in nachfolgenden Einrichtungen relativ stark von den schulgesetzlichen Verordnungen abhängt, besteht im Rahmen der Ausbildungsvertragsschließung bezüglich der Frage der Anrechnung Vertragsfreiheit, so dass die Verwendung mitgebrachter Abschlüsse vom Einzelfall abhängt. Das Vertrauen wächst, sofern die für die Frage der Anrechnung von Vorleistungen primär zuständigen Unternehmen und Betriebe und die sekundär zuständigen Kammerorganisationen die Gültigkeit der von beruflichen Schulen oder Bildungsträgern ausgestellten Zertifikate über Vorleistungen im Hinblick auf die Breite und Tiefe der bestätigten Kompetenzen anerkennen. Voraussetzungen dafür sind zunächst die umfassenden Informationen der Unternehmen und der Lernenden über die Möglichkeiten der Anrechnung. Weiterhin müssen die ausgestellten und zur Anrechnung vorgelegten Zertifikate informationshaltig sein, also mindestens Auskunft über Inhalt und Niveau der erbrachten Leistungen sowie über die Art und Weise der Feststellung der bescheinigten Kompetenzen liefern. Zudem hat das Zertifikat eine Angabe darüber zu enthalten, auf welche Positionen der Ordnungsmittel sich die Vorleistung bezieht. Um die Glaubwürdigkeit des Zertifikats in den Augen der Unternehmen zu erhöhen, sollte es mit einem „Gütesiegel“ einer zuständigen Stelle im Sinne BBiG versehen sein.

Ein guter Ruf allein wirkt jedoch in der Regel nicht hinreichend vertrauensbildend. Die Entstehung von Vertrauen ist meist mit positiven Erfahrungen aus vertraglichen Beziehungen in der Vergangenheit verknüpft; diese können verhältnismäßig leicht auf regionaler Ebene entstehen. Es sollten also Maßnahmen zur Förderung dauerhafter oder langfristiger Vertragsbeziehungen ergriffen werden. Hierzu kommt insbesondere ein Ansatz in Betracht, der die Anrechnungsfrage aus dem Marktmechanismus löst und diese regionalen Netzwerken zur Bearbeitung überträgt. Damit sind in unserem Fall auf einen langen Zeitraum angelegte Kooperationen aus Bildungsträgern, zuständigen Stellen nach BBiG, Schulbehörden, ausbildenden Organisationen und Akteuren sowie regionalen Vertretungen der Bundesagentur für Arbeit gemeint. Die Erfahrungen einiger DECVET-Projekte haben gezeigt, dass die Bildung solcher Netzwerke durchaus gelingen und einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Arbeit leisten kann.

Das Vertrauen in die Abschlüsse und Teilabschlüsse steht in einem engen Zusammenhang zu der Qualität und Transparent der Kompetenzfeststellungspraxis und der Prüfungen. Durch die Gewichtsverschiebung der Curriculumelemente hin zu einer Outcomeorientierung wird die Notwendigkeit virulent, den tatsächlichen Stand der individuellen Entwicklungen auch zunehmend lernbegleitend zu diagnostizieren, das heißt also die tatsächlich erreichten Kompetenzen regelmäßig festzustellen und zu dokumentieren. Die Weiterentwicklung der Kompetenzfeststellungs- und Kompetenzbewertungsverfahren ist für die Vertrauenspflege also von hoher Relevanz. Die Rückmeldungen zum Stand der Lernergebnisse, möglichst weitgehend lernbegleitend, fördern die Lernprozesse, kontrollieren die Lernergebnisse und tragen damit zur Vertrauensbildung bei. Für die Frage der Anerkennung und Anrechnung individuell erworbener Kompetenzen durch andere bzw. „fremde“ Institutionen ist dieser Schritt der Erfassung und formalen Dokumentation der Lernergebnisse von sehr hoher Bedeutung. Zugleich werden die Abschlüsse und Zertifikate, die auf der Basis dieser Prüfungen vergeben werden, nur dann nachhaltig anerkannt, sofern die Kompetenzfeststellung selbst transparent, aussagekräftig und zuverlässig erfolgt. Qualitätssicherung im Berufsbildungswesen hängt also im hohen Maße von der Qualität der Prüfungen ab.

Die Qualitätssicherung auf der Basis von qualitativ hochwertigen Prüfungen hängt eng zusammen mit den Personen, die diese verantworten und durchführen. Da es sich hiermit um die Qualifikation des beruflichen Bildungspersonals handelt, wird die Inputdimension des Qualitätsbegriffs berührt. Prüferschulungen können sehr hilfreich sein. Bedingungslos vorauszusetzen ist die berufsfachliche Kompetenz der Prüfer; Prüferschulungen dienen primär der Schulung testtheoretischer Grundlagen und der Vermittlung didaktischer und methodische Aspekte, die der Qualitätssicherung der Prüfungsdurchführung dienen. Ein derartiger Schulungsbedarf besteht auch für die Mitglieder von Prüfungsausschüssen gemäß § 39 BBiG 2005, weil diese in zwei Fällen in die Frage der Anrechnung von Vorleistungen involviert sein können. Dabei handelt es sich erstens um die Zulassung zur Abschlussprüfung gemäß § 46 Abs. 1 BBiG 2005, denn im Falle der Ablehnung der Zulassung wegen nicht erfüllter Voraussetzungen durch die zuständige Stelle entscheidet der Prüfungsausschuss endgültig. Zweitens entscheidet der Prüfungsausschuss über die Anrechnung von nicht mündlichen Vorleistungen auf die Abschlussprüfung, und zwar unter Umständen auf der Basis von Gutachten Dritter (vgl. § 39 Abs. 2 BBiG 2005; siehe oben). Insofern müssten die Mitglieder von Prüfungsausschüssen über die sich durch diesen Paragraphen ergebenden Möglichkeiten für die Anrechnung von Vorleistungen auf die Abschlussprüfung (und nicht auf die Ausbildungszeit!) informiert werden.

5.3 Zur Anpassung gesetzlicher Regelungen

Die beteiligten Akteure sind weiterhin dazu zu bewegen, die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten tatsächlich zu nutzen. Hierfür können einige wenige Passagen des Berufsbildungsgesetzes präzisiert bzw. leicht verändert werden. Ein derartiger Präzisierungsbedarf besteht insbesondere für den letzten Satz des § 5 BBiG 2005, denn es ist den beteiligten Akteuren in Neuordnungsverfahren von Ausbildungsordnungen aufzugeben, den Aspekt der Anrechnung bei der Entwicklungsarbeit unbedingt zu berücksichtigen, und zwar möglichst zwischen den verschiedenen Stufen der Berufsbildung in Berufsausbildungsvorbereitung, Erstausbildung und Fortbildung sowie auch in horizontaler Hinsicht zwischen verschiedenen Ausbildungsrichtungen, insbesondere innerhalb einer Berufsgruppe oder eines Berufsfeldes. Die bisher mangelnde Nutzung gesetzlicher Grundlagen betrifft insbesondere die Regelung des § 7 Abs. 1 BBiG 2005. Die Bundesregierung sollte auf die Bundesländer, die bisher keine entsprechende Verordnung erlassen haben oder diese zwar erlassen haben, aber nicht für deren Umsetzung Sorge tragen, einwirken, ihren durch § 7 Abs. 1 BBiG 2005 gegebenen Handlungsspielraum auch tatsächlich auszuschöpfen. Angesichts der positiven Haltung der KMK zur Erhöhung der Durchlässigkeit in der beruflichen Bildung dürfte eine entsprechende Initiative von Bundesseite durchaus chancenreich sein.

Da die Anrechnung von in der Berufsausbildungsvorbereitung erbrachten Leistungen auf eine anschließende, adäquate Berufsausbildung nach BBiG bzw. HwO bisher kein kodifiziertes Ziel der Berufsausbildungsvorbereitung ist, sollte dieses Ziel in den § 1 Abs. 2 BBiG 2005 aufgenommen werden. Dies würde insbesondere die Ausrichtung der von der Bundesagentur für Arbeit in Auftrag gegebenen und von privat- bzw. gemeinwirtschaftlichen Bildungsträgern durchgeführten berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen gemäß § 61 SGB III auf den Anrechnungsaspekt erheblich erleichtern. Insbesondere betrifft dies die Dauer der Maßnahmen, die mit gegenwärtig neun Monaten zu kurz sind, um realistische Chancen auf den Erwerb von Vorleistungen zu eröffnen, die auch zu einer Verkürzung der Ausbildungszeit nach § 8 BBiG 2005 führen können.

Für die Modifikation der Bestimmungen über die Zulassung zur Abschlussprüfung in besonderen Fällen nach § 45 Abs. 1 und 2 BBiG 2005 („Externenprüfung“) sollten weiterhin die Ergebnisse laufender Forschungs- und Entwicklungsprojekte des Bundesinstituts für Berufsbildung abgewartet werden; aus DECVET sind hierzu keine relevanten Erkenntnisse erwachsen. Anders ist es mit dem § 39 Abs. 2 BBiG, also der Möglichkeit der Einholung gutachterlicher Stellungnahmen Dritter zur Bewertung einzelner nicht mündlich zu erbringender Prüfungsleistungen. Diese gesetzliche Regelung dient vornehmlich der Einbeziehung solcher Prüfungsleistungen, die in den Berufsbildenden Schulen im Rahmen der dualen Berufsausbildung erbracht werden. In der Abschlussprüfungspraxis der Berufsausbildung findet die Anwendung dieser Möglichkeit jedoch kaum statt. Eine Ausnahme stellen die Kammerorganisationen im Bundesland Baden-Württemberg dar, wo die in § 39 Abs. 2 BBiG normierte Regelung bereits seit vielen Jahren gängige Praxis ist. Im Rahmen der DECVET-Arbeiten wurden die Vorteile einer solchen Anrechnungsmöglichkeit bestätigt. Eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Bestimmung könnte darin liegen, die indirekte Beschränkung auf die Einbeziehung der Leistungen der Berufsbildenden Schulen aufzuheben und stattdessen eine Ausweitung über die Berufsbildenden Schulen hinaus auf die Ausbildungsleistungen und Kompetenzfeststellungsergebnisse der einzelnen Ausbildungsbetriebe vorzunehmen. In diesem Falle sollte die Anerkennung nicht auf die nicht mündlich zu erbringenden Prüfungsleistungen beschränkt bleiben, sondern explizit auch auf die Einbeziehung der praktischen Prüfungsleistungen bezogen werden.

Für die in DECVET thematisierte Frage der Anrechnung im Rahmen der über das Berufsbildungsgesetz geordneten beruflichen Fortbildung besitzen die Anerkennungs- bzw. Anrechnungsregelungen der §§ 55 und 56 BBiG, die so genannte Auffangnorm, eine besondere Bedeutung. Die Berücksichtigung bzw. Weiterentwicklung des § 56 Abs. 2 BBiG, also der Einzelfallentscheidungen der zuständigen Stelle auf Befreiung von einzelnen Prüfungsbestandteilen, erscheint für den Transfer der DECVET-Ergebnisse von besonderer Bedeutung. Für die beruflichen Positionen, die durch Fortbildung angestrebt oder gefestigt werden sollen, ist Berufserfahrung – also die in früheren, gerade nicht-formalen und informellen Lernvorgängen erworbene Kompetenz – vielfach konstitutiv. Die ursprüngliche Intention der Auffangnorm, vor allem Bewerbern und Bewerberinnen, die in früheren Lebensphasen die Teilnahme an formalen Bildungsprozessen versäumt, sich dann aber durch langjährige erfolgreiche Berufstätigkeit beruflich qualifiziert haben, einen beruflichen Aufstieg oder eine Festigung ihrer beruflichen Position durch den Erwerb von Zertifikaten zu ermöglichen, er-scheint somit aktueller denn je. Der § 55 BBiG ist auf die Berücksichtigung ausländischer Vorqualifikationen im Rahmen der Prüfung etwaiger Zulassungsvoraussetzungen gerichtet. Dieser Sachverhalt spielte in DECVET keine Rolle. Es wäre aber durchaus denkbar, diese Regelung auch für informell oder non-formal erworbene Kompetenzen aus der Berufserfahrung von ausgebildeten Fachkräften im Inland stärker zu institutionalisieren.

5.4 Attraktivitätssteigerung der Berufsbildung durch Anrechnung

Mit den genannten Veränderungen rechtlicher Art und hinsichtlich der Vertrauensgrundlagen könnte dem Aspekt der Anrechnung deutlich sichtbar ein höherer Status als bisher beigemessen werden. Dadurch allein wäre die Anrechnungsbereitschaft der zur Ausbildung bereiten Unternehmen und Betriebe jedoch nicht nachhaltig positiv zu beeinflussen. Vielmehr müssten hierfür zusätzlich Anreize erkennbar werden. Diese könnten etwa in der Erhöhung der Attraktivität einer betrieblichen Berufsausbildung durch Anrechnungsoptionen liegen. Damit stiegen die Chancen der Ausbildungsbetriebe, junge Erwachsene für eine Ausbildung in ihrem Unternehmen zu gewinnen. Zentral für den möglichen Erfolg der angeführten Anreizstrategien ist in jedem Fall, dass die Jugendlichen, deren Eltern und die potentiellen Ausbildenden umfassend über die Fragen und Möglichkeiten der Anrechnung von Vorleistungen informiert werden.

6 Fazit

Mit dieser Perspektive werden die Modernisierungsdiskurse und -entwicklungen in der beruflichen Bildung in Deutschland von den europäischen Ansätzen profitieren. Diejenigen Strukturmerkmale des Kreditpunktesystems, die zu einer vermehrten Transparenz der Lernergebnisse und Abschlüsse führen und auf dieser Basis Anerkennungs- und Anrechnungsoptionen anbieten, können zu einer Verbesserung der Abstimmungsprozesse zwischen den verschiedenen Berufsbildungsrichtungen und –stufen und den zuständigen Akteuren in Deutschland beitragen. Weitere Ansätze, die im Rahmen der Berufsbildungspolitik der Organe der Europäischen Union auf der aktuellen Agenda stehen, so vor allem der Qualifikationsrahmen, tragen zu einer stärkeren Profilierung und Positionierung der beruflichen Bildung im Gesamtbildungssystem bei und fördern damit die Aufwertung gegenüber anderen Bildungsteilsystemen und damit die Durchlässigkeit.

Zugleich ist es von elementarer Bedeutung für den Erhalt der beruflichen Bildung in Deutschland, dass die Ansätze und Maßnahmen der Weiterentwicklung von den Akteuren und Institutionen weitgehend mitgetragen werden. Fragen der Anerkennung und Anrechnung von Lernergebnissen und Abschlüssen aus anderen Teilbereichen tangieren Zuständigkeitsrechte und sind mit skeptischen Haltungen gegenüber der Qualität dieser Leistungen verbunden. Ebenso erfüllen Bildungssysteme und verschiedene Berufsbildungsgänge nicht allein Qualifizierungsfunktionen, sondern sind häufig mit Allokations- und Selektionsfunktionen verbunden. Das heißt, dass Maßnahmen zur Erhöhung der Vergleichbarkeit und der Schaffung von Übergängen eine Form der Nivellierung von Unterschieden darstellen, welche von den Akteuren häufig gar nicht gewünscht ist. Insofern ist mit der Weiterentwicklung der Durchlässigkeit sehr wahrscheinlich auch ein gleichzeitiger Ausbau der Differenzierung in der beruflichen Bildung verbunden. Wichtig wird sein, die Anschlüsse und Übergänge in diese Bildungsbereiche zu erhalten.

Literatur

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[1] Auf die historische Rekonstruktion dieses Prozesses wird hier aus Platzgründen verzichtet. Umfassende Informationen dazu finden sich beispielsweise in STRATMANN 1993, STRATMANN/ SCHLÖSSER 1990, ZABECK 2009, REINISCH/ GÖTZL 2011.

[2] Beteiligungsrechte in Prüfungsausschüssen (§§ 36 und 37 BBiG 1969), Landesausschüssen für Berufsbildung (§ 54 BBiG 1969) und Berufsbildungsausschüssen der zuständige Stellen (§ 56 BBiG 1969) sowie Mitbestimmungsrechte bei der Entwicklung von Ordnungsmitteln für die betriebliche Berufsausbildung, die im Berufsbildungsförderungsgesetz vom 23. Dezember 1981 (§§ 6 ff. BerBiFG) verankert wurden. Heute finden sich die entsprechenden Regelungen in den §§ 39, 77 ff., 82 ff. und 89 ff. BBiG 2005.

[3] Diese lassen sich grob in teil- und vollqualifizierende Bildungsgänge unterscheiden. Dabei dienen die teilqualifizierenden Varianten der BFS der Erfüllung der in den meisten Bundesländern festgelegten zwölf-jährigen Schulpflicht, der Erlangung eines höheren Schulabschlusses und der Vermittlung einer beruflichen Grundbildung in einem Berufsfeld in Verbindung mit der Weiterführung der nicht-beruflichen Bildung der Sekundarstufe I. Die vollqualifizierenden Varianten führen hingegen zu höheren schulischen Bildungsabschlüssen (z.B. Fachhochschulreife) oder/ und zu einem beruflichen Abschluss in einem Beruf, der nach Landesrecht und nicht nach BBiG oder Handwerksordnung geregelt ist (insbesondere so genannte „Assistenten-Berufe”) oder in eher seltenen Fällen zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfung in einem nach § 4 BBiG 2005 anerkannten Ausbildungsberuf.

 

Zitieren des Beitrags

FROMMBERGER, D./ REINISCH, H. (2013): Zur Weiterentwicklung der Durchlässigkeit in der beruflichen Bildung in Deutschland zwischen den Impulsen einer Europäischen Berufsbildungspolitik und nationalen Traditionen. Überlegungen und Befunde am Beispiel der DECVET-Pilotinitiative. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 25, 1-25. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe25/frommberger_reinisch_bwpat25.pdf (16-12-2013).