bwp@ 26 - Juni 2014

Berufliche Bildung aus der Perspektive des lernenden Subjekts

Hrsg.: Tade Tramm, Martin Fischer & Nicole Naeve-Stoß

Perspektiven der lernenden Subjekte und eine angemessene empirische Lernforschung

Beitrag von Peter Faulstich & Ulrike Rosa Bracker
bwp@-Format: Forschungsbeiträge

Wir berichten über Ansatz und Ergebnisse aus unserem DFG- Projekt „Biographizität und Kontextualität des Lernens“. Dabei identifizieren wir Lernperspektiven und Lernmuster. Vorab verweisen wir auf die zugrunde liegende „kritisch-pragmatistische Lerntheorie“(Faulstich 2013) und klären den methodischen Zugriff. Es geht uns um einen gegenstandsadäquaten Methodenansatz.

Unser Vorhaben steht in einer Sequenz von Projekten, welche bereits seit 2002 vom BMBF gefördert ihren Anfang nahm (Faulstich/Grell 2005; Grell 2006). Grundgedanke ist die ästhetische (sinnliche) und partizipatorische Erweiterung bisheriger Methodenkonzepte.

Perspectives of the learning subjects and an appropriate empirical learning research

English Abstract

This paper reports on the research approach and the results of our DFG (German Research Founda­tion) project entitled “Biographicity and contextuality of learning”. In so doing we identify learning perspectives and learning patterns. To begin with we refer to the underlying “critical-pragmatic learning theory” (Faulstich 2013) and clarify the methodological approach. We aim to use a method­ological approach that is appropriate to the subject matter.

Our project is part of a sequence of projects which began as early as 2002 when they were funded by the BMBF (Faulstich/Grell 2005; Grell 2006). The underlying principle is the aesthetic (sensory) and participatory extension of existing methodological concepts.

1 Forschungsfragen und Forschungsansätze

Unser Projekt zielt auf die empirische Fundierung einer kontextualen Lerntheorie und grenzt sich dabei gegenüber dem durch eine verhaltenswissenschaftliche Psychologie gekennzeichneten Mainstream ab. Im Rahmen einer kontextualen Lerntheorie geht es darum, Lernen sowohl mit zeitlichem (Biographizität) als auch mit gesellschaftlich-lebensweltlichem Bezug (Kontextualität) empirisch zu konkretisieren. Im Zentrum steht die Analyse der Bedeutsamkeit biographischer Erfahrungsaufschichtungen und gesellschaftsstruktureller Bedingungen für Lernhandlungen Erwachsener in ihrer Verwobenheit.

1.1 Verhältnis von Lerntheorie und empirischem Zugriff

Wir sind also auf der Suche, wie wir erfahrungsbegründet – das ist hier mit „empirisch“ gemeint – über Lernen forschen können und welche Theorie dabei angemessen ist. Es geht uns also um das Verhältnis von empirischer Forschung und Theorieentwicklung: Wie kann man von unterschiedlichen Theorieannahmen her empirische Untersuchung betreiben? Wie muss man Empirie fassen, um zu einer angemessenen Begrifflichkeit zu kommen und umgekehrt? Wie beziehen sich Theorie und Empirie auf die Praxis des Lernens? Was sind einem kontextual gefassten Begriff des Lernens als Handlungsform adäquate empirische Methoden? Welche Rolle spielen die Lernenden im Forschungsprozess?

Solche Fragen stellen sich im Forschungszusammenhang unerbittlich und es reicht nicht aus, nur Methoden und Resultate zu präsentieren. Wir müssen deshalb, gerade weil wir eine veränderte Sichtweise auf Lernen im Blick der Lernenden selbst stark machen wollen, unsere spezifische Art und Weise der Gegenstandskonstitution diskutieren.

Die Reichweite wissenschaftlicher Erkenntnisintentionen lässt sich differenzieren (vgl. zum Folgenden Faulstich 2013; Hodkinson/Macleod 2010):

Eingeschränktheit gilt zunächst für verhaltenswissenschaftliche Positionen, welche die Welt so wie sie ist (zu sein scheint) aus dem Beobachten und Beschreiben des Bestehenden heraus zu erklären versuchen.

Phänomenologie kritisiert zwar diesen objektivistischen Schein, der als gesetzmäßig sich darstellende Tatsachen vorspiegelt, verbleibt aber letztlich stehen beim Konstatieren und Verstehen eben dieser Phänomene.

Dagegen setzt sich Pragmatismus gegen eine als gegeben unterstellte Wahrheit der Abbilder ab und ersetzt das Beobachtungsmodell durch ein Handlungsmodell und Kritische Theorie verweist hartnäckig auf die Kategorie des Möglichen.

Lerntheorie

Erkenntnisintention

Verfahren

Methode

Verhaltenswissenschaft

Beschreiben

Erklären

Messen

Beobachten

Fragebogen

Test

Phänomenologie

Verstehen

Gespräch

Interview

Kritischer Pragmatismus

Begreifen

Bild- und Geschichtenerstellung

Gruppen- Lernwerkstätten

Die zugegebenermaßen holzschnittartige Systematik soll die Korrespondenz von unterliegender Lerntheorie und herangezogener Erhebungsmethode deutlich machen – mit der jeweilige Potenziale und Grenzen reflektiert werden können. Dabei ist zweifellos der methodische Rückgriff auf Fragebögen und auch auf Interviews aus der Perspektive einer kontextualen, hier kritisch-pragmatischen Lerntheorie sicherlich weiter sinnvoll. Die Rückbesinnung auf Erkenntnisintention ermöglicht jedoch Differenzierungen und bewahrt vor einer Engführung erfahrungsbezogener Forschung nach Maßgabe empirischer Designs: Oft wird nach dem geforscht, was erhoben werden kann. Es gibt jedoch eine eigene Potenz der Theorie, die bestehen bleibt, auch wenn ein empirischer Zugang nicht unmittelbar möglich ist. Genauso gilt umgekehrt eine Dignität der Empirie, wenn man empirische Phänomene entdeckt, die wir theoretisch noch nicht fassen können, die aber eine eigenständige Qualität besitzen. Gegenstandsbezogene Lerntheorien greifen der empirischen Forschung vor. Zugleich kann man theoretische Begriffsbildung erst ergänzen und weiterentwickeln, wenn man empirische Forschung ausgehend von den eigenen Erkenntnisintentionen stark macht. Für einen solchen Ansatz gelten veränderte Gütekriterien: Adäquanz, Plausibilität und Intersubjektivität, welche die Anforderungen, wie sie für quantitative Forschung entwickelt worden sind (Reliabilität, Variabilität und Objektivität) erweitern (Faulstich-Wieland/Faulstich 2006, 248/249).

Im Rahmen empirischer Forschung vor dem Hintergrundgrund kritisch-pragmatistischer Lerntheorie geht es somit nicht nur um deskriptives Beschreiben oder kausales Erklären und auch nicht lediglich um Verstehen. Ziel ist ein gegenstandsangemessenes Begreifen in dem objektive Bedingungen und subjektive Begründungen miteinander vermittelt werden: Nicht zufällig haben wir, in dem, wie wir empirisch forschen, ansatzweise andere Verfahren versucht, bspw. die Gruppenwerkstatt, Schreibwerkstatt, „forschende Lernwerkstatt“ (Faulstich/Grell 2005). Grund dafür ist, dass es, wenn man von Subjektorientierung redet, eine wesentliche Voraussetzung des Forschens ist, dass man die Subjekte ernst nehmen sollte, dass man also keine „Vampirforschung“ machen kann, die im dunklen Feld auftaucht, Daten absaugt und dann wieder verschwindet. Unter partizipativer Forschung verstehen wir eine Methodik, welche die Eigensinnigkeit und Eigenwilligkeit der Akteure im Feld aufnimmt (vgl. Bergold/Thomas 2012). Es geht darum, die Artikulationsmöglichkeiten der Personen, die im Forschungsprozess beteiligt sind, zu stärken.

1.2 Begreifen ‒ Rekonstruieren

Die verschiedenen Ansätze rekonstruktiver Methodologie geben die Richtung an, in der man adäquates empirisches Forschen zum Lernen verorten kann. Sie akzeptieren, dass es Rahmungen und Spielräume des Selbst gibt (Wittpoth 1994), innerhalb derer bedingt frei gehandelt, gelernt oder nicht gelernt wird (Faulstich 2013, 91).

Lernen ist nicht nur eine Frage bewussten Handelns und Gründe sind vernünftig, aber nicht instrumentell rational. Auch ein Pfadwechsel von einem Bedingungs- zu einem Begründungsdiskurs, wie ihn Klaus Holzkamp (1993) vorschlägt, führt auf einen schmalen Grat, von dem aus man in die Klippen willkürlicher Begründungsspekulation, über das was die Lernenden alle so meinen könnten, einerseits, oder aber vollständiger Bedingungsfesselung in angeblich kausal wirksame Variablenmuster andererseits abgleiten kann.

Forschungsstrategisch ist diese Gratwanderung sinnvoll angesichts der Vorherrschaft kausalistisch-deterministischer Denkweisen in der Lernforschung. Die methodologische Kopplung verweist darauf, in welcher Art man den Zugang finden kann, um Logiken bzw. Strategien der Lernenden zu rekonstruieren.

Jede Rekonstruktion ist ein Begreifen. Sie wird dann zwangsläufig immer wieder ein Problem der Sprache: etwas in einem Begriff fassen. Wir kommen unausweichlich in die Region der Wörter, die wir im Alltag verwenden, und deren Bedeutung immer mehrdeutig ist. Auch finden wir Bedeutungen, die zwischen den Wörtern und Sätzen schwingen. Und wir stoßen auf das Unausgesprochene zwischen den Menschen. Schon der Verstehensbegriff hat immer Doppelseiten: das Manifeste und das Latente; das Verbale und das Nichtsprachliche, das Kognitive und das Emotionale; das ist analytisch zu trennen, auch wenn es im Vollzug eine Einheit darstellt.

Literarische Sprache macht diesen Doppelcharakter sehr deutlich. Eine Geschichte erhält ihre Bedeutung nicht allein auf der Ebene ihres sprachlichen Inhaltes – die Form erzählt ebenso. In der Rekonstruktion von Begründungen und Handlungen geht es – zur Kontextualisierung von Lernen – somit auch darum latente Sinnstrukturen in ästhetischer Rationalität aufzuspüren.

Es geht dann darum, dass man auf der Basis von empirischem Material, z.B. von Texten, eine Logik bzw. Strategie zu rekonstruieren versucht, die zu bestimmten Handlungen führt. Das ist ein rekursiver Prozess: Man hat eine Nähe zu der handelnden Person, aber zugleich ist immer gezielt eine Fremdheit gegenüber dem Material, z. B. einem Text, herzustellen und zu betonen, um das Besondere, die spezifische Logik zu sehen.

Die Frage, wie man zu empirischer Forschung kommen kann, gilt es schärfen: „Empirische Bildungsforschung“, wie sie sich als Marke ausgebreitet hat (Reinders 2011), ist hauptsächlich soziologische oder psychologische Forschung, die einerseits Übergänge, Auslese, oder anderseits Unterrichtsvariablen und deren Effekte auf die lernenden Individuen usw. u. ä. untersucht, aber kaum Aneignungs- oder Vermittlungsprozesse. Die Begriffe des Lernens dagegen, wie sie subjektorientierte Theorien verwenden, sind schwieriger ‚empirisch‘ umzusetzen oder gar zu ‚operationalisieren‘. Gerade über die Reflexion des Lernbegriffs kann es jedoch möglich sein, eine Perspektive für eine gegenüber der reduktionistischen und instrumentalistischen Psycho-Soziometrie alternative Forschung zu öffnen, welche die Horizonte der Empirie kontextual öffnet und erweitert.

Vor diesem theoretischen und methodologischen Hintergrund orientierten wir uns an folgenden Fragen für die Kontextualisierung von Lernen im empirischen Vorgehen:  

  • Wie lassen sich die Verwobenheit von Subjekt, gesellschaftliche Bedingungen und Biographie in Bezug auf Lernen begreifen und welche Bedeutungen erhalten Begründungen bezogen auf Arbeitsbezug, Biographie und Identität?
  • Welche Ausprägungen erhält Bedeutsamkeit des Lernens bezogen auf mögliche Verfügungserweiterung im jeweiligen Kontext und welche Begründungsperspektiven lassen sich empirisch identifizieren?
  • Welche konkreten Begründungsmuster bündeln die divergierenden Perspektiven?
  • Welchen Stellenwert nimmt die konkrete Lernsituation/Lerninstitution in den Lernwerkstätten ein?

1.3 Methodischer Zugriff

Methodischer Kerngedanke des Vorhabens ist, die eigenen Erfahrungen der Lernenden mit Lernen zur Thematik Lernen und dessen Reflexion zum Gegenstand der Forschung zu machen.

  • Dazu sind die lernenden Subjekte möglichst weitgehend an der Ausgestaltung des Forschungsverlaufs zu beteiligen. Partizipation bedeutet für uns allerdings nicht sofort Handlungsforschung.
  • Als empirisches Material wird besonders auf ästhetische Produkte in Form von Lerngeschichten zurückgegriffen (Ein Zugang über Lernbilder wird in der parallel entstehenden Dissertation von Susanne Umbach verfolgt.). Um ein Etikett zu verwenden, geht es also um ein partizipativ-ästhetisches Methodenensemble.

Für unseren Forschungsansatz wurde das Erhebungsverfahren der 'forschenden Lernwerkstatt' (Faulstich/Grell 2005; Grell 2006) aufgenommen und von einem ‚data-overload‘ befreit. In diesem Ansatz steht nicht nur der Subjektstatus der Lernenden bereits während der Erhebung im Zentrum, sondern auch ein erweiterter Zugang zum Lernen (vgl. Bracker/Umbach 2014). Eine Schreibwerkstatt zu Lerngeschichten bildete den Mittelpunkt. Von den Lernenden selbst geschriebene Erzählungen ermöglichen sowohl die Schilderung konkreter Lernsituationen als auch die Darstellung biographischer Verläufe. Eine ‚forschende Lernwerkstätten‘ ist eine mehrstündige Erhebung mit Workshop-Charakter in Veranstaltungen der Erwachsenen-/Weiterbildung. Hierbei werden assoziative Verfahren, Gruppengespräche und eine Schreibwerkstatt miteinander verbunden:

  • Vorstellungsrunde (relevante biographische Bezüge der aktuellen Lernsituation)
  • Bildkartenrunde (prägnante Äußerungen zur Bedeutung von Lernen)
  • schriftliches gemeinsames Assoziationsverfahren (Benennen von bedeutsamen Aspekten des Lernens)
  • Selbst geschriebene Lerngeschichten (Objektivierung der Lernerfahrung und biographische Relevanz)
  • Auswertungsgespräch zu den Lerngeschichten (mehrperspektivische Auswertung)
  • Gruppendiskussion (Bedeutungsfelder von Lernen)
  • Sozialstatistischer Fragebogen der Habitushermeneutik (Charakterisierung der Gruppen als Fälle)

Aus der theoretischen Anlage und den methodologischen Überlegungen ergaben sich für die Auswahl des Samples verschiedene Bezugspunkte. Mit Blick auf die gesellschaftliche Situation spielt der Berufsbezug weiterhineine wichtige Rolle. Die Reichweite von Entgrenzungs- und Individualisierungsprozessen in der Entwicklung der (Arbeits-)Gesellschaft sind nicht abzusehen (vgl. Keupp/Dill 2010, 11). Beruflichkeit spielt jedoch als grundlegende Orientierung auch für die nicht-berufliche Identitätsentwicklung eine Rolle, ebenso wie für die Reflexion des Lernens. Kritische Lebensereignisse und damit einhergehend veränderte Lebenssituationen können zu Lernimpulsen werden (Alheit 1995, 280).

Das Sample der sechs durchgeführten ‚forschenden Lernwerkstätten‘ (FLW) umfasst deshalb Personen in unterschiedlichen Phasen der beruflichen Laufbahn, unterschiedlicher sozialer Hintergründe und unterschiedlichen Geschlechts sowie in unterschiedlichen Lernsituationen:

  • Vor dem Beruf stehende junge Erwachsene: Teilnehmende in ‚freiwilligen Jahren‘ und in Berufsvorbereitungsjahren (FLW1, FLW4).
  • Zwischen Berufen stehende Erwachsene: Teilnehmende in Institutionen der beruflichen Weiterbildung, die Programme nach SGB IX in unterschiedlichen Fachrichtungen (Kaufmännische Assistenz, Fachkraft Lagerlogistik, Speditionskaufleute, Großhandelskaufleute) durchführen (FLW2, FLW3).
  • Nach dem Beruf stehende ältere Erwachsene: Seniorenstudierende und Teilnehmende aus Kursen der (außeruniversitären) Seniorenbildung (FLW4, FLW6).

Die Auswertung der Gruppendiskussionen orientierte sich an Grundüberlegungen der grounded theory (Strauss 1994) und erfolgte in einem wechselseitigen und fortschreitendem Abgleich von empirischem Material und theoretischen Vorannahmen. Daraus wurden Kategorien zu Konzepten verdichtet und zugrundeliegende Begründungen (als Begründungsperspektiven und als Begründungsmuster) erarbeitet.

Für die Auswertung der Lerngeschichten wurde ein eigenes Auswertungsverfahren entwickelt (vgl. Bracker/Umbach 2014). Um der theoretischen Komplexität mit dem Anspruch einer Kontextualisierung von Lernen bereits in der Erhebung und Auswertung gerecht zu werden, wurden Methoden der literaturwissenschaftlichen Erzählanalyse (Genette 2010), sozial-wissenschaftlicher Identitätsrekonstruktion (Lucius-Höhne/Deppermann 2002) und erwachsenenbildnerischer Ästhetik (Faulstich 2012) kombiniert. Diese Art der Erhebung und Auswertung ist in der Erziehungswissenschaft weitgehend Neuland.

2 Ergebnisse

Bedeutsamkeit lässt sich als Schnittstelle von Subjekt und gesellschaftlicher Struktur verstehen (Bracker/Faulstich 2014). Sie beinhaltet als Begriff sowohl die gesellschaftlich-strukturelle Seite objektiver Bedingungen – vermittelt über die erfahrenen sozialen Bedeutungen (vgl. Holzkamp 1993, 22) –hin zur subjektiven Seite des Sinns, der sich in Begründungen konkretisiert. Bedeutung stellt somit eine Vermittlungskategorie zwischen Bedingungen und Begründungen dar (Bracker/Faulstich 2014).

Wenn wir nun in unserem empirischen Material der Frage nachgehen, wann Lernen für die Subjekte bedeutsam wird – und diese Frage in der Erhebung den Subjekten selbst mit auf den Weg gaben – kontextualisieren wir Lernen, indem wir die in deren Aussagen enthaltenen gesellschaftlichen Bezüge herausarbeiten. Es geht also um die Rekonstruktion von subjektivem Sinn und den darin enthaltenen Bedeutungen, die auf objektive Bedingungen verweisen. Die vorliegenden Lerngeschichten sind individuelle Strategien der Sinngebung. In den Gruppengesprächen wurden über systematisch-kategoriale, generelle Begründungsperspektiven hinaus typische Begründungsmuster herausgearbeitet.

2.1 Profile der Lernwerkstätten

Die Auswertung der Fragebögen der sechs Werkstätten zeigt, dass es gelungen ist heterogene Gruppenzusammensetzungen zu erreichen (Geschlecht, eigener Bildungsweg, Bildungsweg der Eltern, Einkommen, Berufe, Mitgliedschaften und Gewohnheiten).

Statuspassagenspezifische Themen zeigen sich bei den jungen Erwachsenen mit Bezug auf die mit Erwachsenwerden verbundene Eigenständigkeit, bei den älteren Erwachsenen mit Bezug auf das Entdecken weiterer Lern- und Lebensmöglichkeiten nach der Erwerbs- und Sorgearbeit und bei den Erwachsenen mittleren Alters mit Bezug auf die im ‚Lebensstundenplan‘ nicht vorgesehene Passage des Lernens.

Eine Betrachtung der Kommunikationsdynamik macht deutlich, dass gemeinsam geteilte Erfahrungen intensivere Reflexions- und Lernprozesse befördern. Vor allem die Thematisierung biographischer Herausforderungen mit Bezug auf den Entschluss an dieser Erwachsenen-/Weiterbildungsveranstaltung teilzunehmen und auch das Interesse die eigenen Erfahrungen in das Forschungsprojekt einzubringen, stellt eine Gemeinsamkeit zwischen den Teilnehmenden her. Die offene Einstiegsphase der Werkstatt mit der Möglichkeit, Lernen für sich selbst, jedoch noch nicht zwingend zusammenhängend zu thematisieren, eröffnet eine vertrauensvolle Atmosphäre, die weitere intensive Thematisierungen zu lies.

2.2 Lerngeschichten: Anerkennung als Grundmuster der Bedeutsamkeit von Lernerfahrungen

Insbesondere die vertiefte Auswertung der Lerngeschichten als Fokus unseres empirischen Materials zeigt, dass vor allem Anerkennung zentrale Bedeutung für die Lernenden hat. Sowohl in den Themen der Lerngeschichten, als auch in ihren Erzählstrukturen wird deutlich, wie Anerkennung als lernendes Subjekt zu erfolgreichem Lernen führt. Dabei sind die Themen durchaus unterschiedlich, ebenso die Settings.

Die Anerkennungsthematik setzt mit einer Diskrepanzerfahrung an und nimmt ihren Ausgang an einer darauf aufbauenden Defizitzuschreibung. Erfahrungen in anderen Situationen, in denen Anerkennung gewährt wurde, führen dann zu einem „Selbstwertgefühl“ für das Subjekt selbst. Zentral ist für den Aspekt der Anerkennung somit der konkrete soziale Rahmen.

2.3 Gruppengespräche: Begründungsperspektiven

Die Kategorien Erwerbsarbeit, Identität und Biographie zeigen sich in den Materialien als hauptsächliche Perspektiven auf Lernen. Sie wurden als Begründungsperspektiven für Lerninteressen herausgearbeitet, um sie im Anschluss zu Begründungsmustern zu verschränken. Die Darstellung der Begründungsperspektiven greift Auszüge aus dem Material auf, ergänzt diese theoretisch und fasst sie am Ende zusammen. Begründungsperspektiven lassen sich als Grundlinien für die sich anschließenden, verwobenen Begründungsmuster verstehen.

Erwerbsarbeit

Institutionelles und auf Erwerbsarbeit bezogenes Lernen spielt in den Lebensläufen und der Reflexion von Lernen in den Lernwerkstätten eine große Rolle. Diese Form zu Lernen ist selbstverständlich, Beruflichkeit und Erwerbsarbeit – auch deren Wechsel - zentrale Bezugspunkte. Es gibt Übergänge,

„zwischen, zwischen Berufen, äh. Derer habe ich mehrere. Also, äh, (-) Maschinenbauzeichner gelernt. Maschinenbaustudium gemacht. Also ich bin Ingenieurin. Äh, war lange im technischen Bereich tätig. Betriebswirtschaftlich bin ich, äh, Fachkauffrau. Äh, im Beschaffungsmanagement war ich tätig, allerdings auch technisch. Noch mehrere Fernstudiengänge. Also das zu meiner, äh, vierzigjährigen Berufstätigkeit.“ (FLW4b, 64).

Erwerbsarbeit und deren Wechsel spielen als Einkommensgrundlage auch in Bezug auf die konkrete Weiterbildung eine wichtige Rolle. Ziel dabei ist Teilhabe am Arbeitsmarkt zur Sicherung des eigenen Lebensstandards:

„Bloß man will ja dann auch wieder ins Arbeitsleben zu kommen, man möchte ja für vernünftig Geld arbeiten. Weils so ist, weil, ohne Geld läuft das ja nicht.“ (FLW2a, 472) –

auch wenn die Lernanstrengungen dies nicht garantieren können.

Erwerbsarbeit als Begründungsperspektive für Lernen beinhaltet dabei auch die Dimension von Leistungsdruck:
„Das fällt halt allen schwer, in der heutigen Zeit, dass man immer hundert Prozent, manchmal über hundertzwanzig Prozent Leistung erbringen muss. ((Räuspern)) Und dann verfällt man in so Gedankenrausch und sagt: "Oh Mist! Ich habe noch dreißig Jahre zu arbeiten. Wie mache ich das im Arbeit?" (FLW3a, 540).

Hierbei sind dann auch veränderte Formen von Erwerbsarbeit mit Perspektive auf zunehmende individuelle Verantwortung und Subjektivierung in den Blick zu nehmen (vgl. Pongratz/Voß 2003).

Die Begründungsperspektive Erwerbsarbeit kontextualisiert Lernen mit Bezug auf Teilhabe am Arbeitsmarkt, Lebensstandard, Leistung. Erwerbsbezug ist nach wie vor durchgängiger gesellschaftlicher Kontext.

Identität

Identität als Begründungsperspektive drängt sich aus dem Material auf. Insbesondere in der Reflexion der Lerngeschichten wird als wichtige Lernerfahrung seitens der Teilnehmenden thematisiert, sie selbst zu werden und dieses Selbst auch mit Vertrauen und Sicherheit handelnd weiter zu vertreten. Einige Titel von Lerngeschichten stehen hierfür: ‚Mein eigener Weg in die Unabhängigkeit‘ (FLW1_LG1), Der Weg zu mir‘ (FLW1_LG3), ‚Horst‘ (FLW4_LG2)‚ Den Weg zu mir selbst konnte ich erlernen und erfahren‘ (FLW4_LG3), ‚Dazu stehen, was man nicht kann‘ (FLW3_LG1). Dieser Lernprozess steht in der Spannung von Anpassung und Eigenständigkeit. Die von außen gesetzten Anforderungen (schulisch zu Lernen, ein Kind zu lieben, neue soziale Bindungen aufzubauen, Lernen zu wagen) werden nicht abgewiesen. Sie werden zu den eigenen Interessen ins Verhältnis gesetzt. Hierbei geht es um den „subjektiven Konstruktionsprozess …, in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen“ (Keupp et al. 2008, 7). Bei diesem Prozess lassen sich drei Syntheseleistungen unterscheiden: Kohärenz als ein Prozess der Herstellung eines „unterschiedlichen Inhalten zugeordnete[n] Gefühl[s] des Sinnhaften, des Verstehbaren und Gestaltbaren“ (Keupp et al. 2008, 267). Anerkennung steht in der Anspannung zur Autonomie und Authentizität ist der Prozess „Ambivalenzen und Veränderungen in einer Identitätsbiographie in ein für die Person ‚stimmiges‘, d.h. in ein im positiven Sinn akzeptables Spannungsverhältnis zu bringen“ (Keupp et al. 2008, 268). Identität als Begründungsperspektive für Lernen beinhaltet den Prozess, sich zu kennen, sich zu akzeptieren, sich zu entwickeln und zu sich zu stehen. Die dreifache Identitätsarbeit ist eine Herausforderung, verläuft nicht selbstverständlich. Die Aussage einer Teilnehmerin zur Bildkartenrunde pointiert dies deutlich:

„Ich hab die Karte genommen und da steht drauf "wenn ich will bin ich stark" und ich dachte mir, naja, das ist irgendwie so'ne Lebensweisheit die muss man auch erst mal lernen.“ (FLW5b, 70).

Für diese Perspektive typische Aussagen sind:

„als positiv empfunden zu reifen, Verantwortung zu übernehmen, erwachsen zu sein, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen zu lernen, dazu zu stehen, was man macht und sagt“ (FLW1a, 69)

„hab ich einfach gelernt, dass (.) man sich nicht dafür zu schämen braucht, wie man ist, wie man denkt, sondern wenn man dazu steht wer man ist, dass Leute einen auch eher akzeptieren, weil man nicht versucht, irgendjemand was Recht zu machen.“ (FLW1a, 59)

„(Du brauchst 'n ) Grund. Woran man sich festhalten kann. Äh, mir, mir fällt zu der Geschichte ein Satz ein, woran ich mich (/) den ich mir SELBST immer wieder sage: "Wenn ich bin, wie ich bin, bin ich gut". (--) Also (.) da halte ich mich so'n stückweit dran fest an diese Satz (.)“ (FLW1a, 668)

Die Begründungsperspektive Identität kontextualisiert Lernen mit Bezug auf das Verhältnis innerer und äußerer Realität, das Spannungsfeld Anerkennung und Autonomie, mit Bezug auf Authentizität und Selbstsicherheit.

Biographie

Biographie als Gegenstand von Lernen lässt sich aus den Werkstätten als ‚biographische Reflexion‘ entwickeln. Die eigenen Lebenserfahrungen, „das Leben zu verstehen“ ist eine „echte Lebensaufgabe“ (FLW4a, 219ff).

Lernen als Gegenstand der Biographie ist mit Bezug auf Erwerbsarbeit und in Statuspassagen relevant und kennzeichnet Neuorientierungsphasen:

„dass ich so beruflich eigentlich nochmal voll umgeschwenkt bin, was ich eigentlich danach (FSJ, RB) machen will“ (FLW5a, 435).

Auch lässt sich hierbei eine Abarbeitung an ‚Normalbiographien‘ erkennen, da durch die Veränderungen in der aktuellen Arbeitsgesellschaft eine „Entstandardisierung der Erwerbsbiographien“ stattfindet (Dill/Keupp 2010, 8).

Die Begründungsperspektive Biographie kontextualisiert Lernen mit Bezug auf vorangegangene (Lern-)Erfahrungen, Statuspassagen, Normalbiographie und Reflexionsprozesse.

2.4 Ergebnisse der Gruppengespräche: Begründungsmuster

Mit Bezug auf die weiterentwickelten Forschungsfragen wurden in der Verschränkung der Begründungsperspektiven acht typische Begründungsmuster rekonstruiert: Lebensstundenplan, Leistungsdruck, Lebensstandard, Neustart, Widerstand, Selbstgewähltes Lernen, Selbstreflektion und Sinnüberschuss. Ausgangspunkt bildeten die herausgearbeiteten Kategorien. In einer weiteren Verdichtung wurden diese vor dem Hintergrund des Paradigmas des Begründungsdiskurses (vgl. Holzkamp 1983, 952 ff.) als typische Begründungen rekonstruiert und in einer subjektwissenschaftlichen Variante des Codierparadigmas gefasst. Aus diesem Grund werden für jedes Begründungsmuster zu Beginn in der ersten Person Singular ‚je meine vernünftigen Gründe‘ (vgl. Holzkamp 1993, 23ff.) paraphrasiert (kursiv gesetzt). Auf eine detaillierte Darstellung anhand von Materialausschnitten muss an dieser Stelle verzichtet werden.

Lebensstundenplan/Lebenslanges Lernen

Ich habe in den letzten Jahren Arbeitserfahrungen gesammelt und will mich jetzt nochmal auf längeres institutionalisiertes Lernen einlassen. Irgendwie passt das in meinem Alter aber nicht mehr richtig. Diese Art von Lernen gehört eher in die Kindheit und Jugendzeit. Ich muss mich ganz neu darauf einlassen, weil ich mich vorher innerhalb der im Arbeitsleben geltenden Leistungsorientierung als beruflich-kompetente Person verstanden habe – ich konnte das, was ich gemacht habe. Jetzt muss ich mich wieder auf das 'noch-nicht-können' einstellen. Außerdem sind nun – im Gegensatz zur Kindheit/Jugend – andere Lebensbereiche hinzugekommen, die mit Lernen unter einen Hut zu bekommen sind. Auch bin ich ein bisschen aus der Übung. Ich muss also zusätzlich zu den institutionalisierten Lernanforderungen vernünftigerweise lernen, diese Situation in meine Biographie und Identität zu integrieren. Das ist eine ganz schöne Herausforderung.

Lernen im Lebensstundenplan ist Lernanforderung und -hemmnis zugleich. Lernen ist deutlich auf Erwerbsarbeit ausgerichtet – wenn auch explizit davon getrennt. Verfügungserweiterung besteht in der Möglichkeit, die Teilidentitäten auszuweiten und somit Handlungsfähigkeit zu erweitern. Die Lerngegenstände sind zum einen berufsgebunden. Zum anderen lässt sich die Integration in Biographie und Identität als Lerngegenstand verstehen. Defensives Lernen begründet sich in diesem Muster über die gesellschaftliche Nicht-Anerkennung im normalbiographischen Verlauf und in konkreten Lernsituationen über die Bedeutung der anderen Lebensbereiche, die Dominanz über die Lernsituation gewinnen können. Die Möglichkeit expansiven Lernen liegt in der (Wieder-)Aneignung der Teilidentität. Innerhalb des Begründungsmusters Lebensstundenplan scheint eine Spannung zwischen Kompetenz- und Mündigkeitsvorstellungen und der Anforderung lebenslangen Lernens auf: Lebenslanges Lernen soll Mündigkeit und Kompetenz (wieder-)herstellen. Mit dieser Zielbestimmung, die durch ein Defizit markiert ist, bleiben Lernen und Kompetenz, bzw. Mündigkeit desintegriert.

Leistungsdruck beim Lernen

Wenn ich unter Leistungsdruck lernen soll, verunsichert mich das. Alte Erinnerungen und Versagensängste kommen hoch. Das waren häufig Lernsituationen, in denen ich mich nicht akzeptiert gefühlt habe und auch nicht so recht handlungsfähig. Ich versuche nun vernünftigerweise die Lernsituationen unter Leistungsdruck irgendwie zu überstehen – es geht ja auch um die Leistung und weniger um die Inhalte des Lernens selbst.  

Leistungsdruck zeigt sich hier als Lernhemmnis, welches auf biographischen Vorerfahrungen aufbaut. Die Handlungsfähigkeit ist eingeschränkt. In resultierenden Lernwiderständen zeigt sich defensives Lernen, welches sich in den biographischen Vorerfahrungen mit Blick auf die erneute Bedrohung der eigenen Autonomie und mangelnde Anerkennung innerhalb der Lerninstitution/Lernsituation begründet. Das Subjekt sieht sich mit einer auf Anpassung ausgerichteten gesellschaftlichen Struktur in seiner Lebenswelt konfrontiert. Innerhalb dieses Begründungsmusters selbst zeigt sich keine Überwindung des Hemmnisses (nur in Kombination mit anderen Mustern). Zur Beruflichkeit steht dieses Lernen in einem ambivalenten Verhältnis. Innerhalb des Berufes sind gegenteilige Lernerfahrungen möglich. Leistungsdruck ist jedoch auch über eine leistungsorientierte Arbeitsgesellschaft begründet. Die konkreten Lerngegenstände treten bei diesem Lernen in den Hintergrund. Die Bewältigung der Drucksituation ist die dominante Qualität der Lernsituation.

Lebensstandard sichern

Ich habe mir in meinem Leben schon ein bisschen was aufgebaut. Das möchte ich auch weiterhin genießen können und eigentlich auch noch weiter ausbauen. Dafür brauche ich einen anständigen Job. Um den (wieder) zu bekommen, suche ich mir vernünftigerweise ein Lernarrangement, mit dem ich zumindest gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe. Ich will auch (weiterhin) auf eigenen Füßen stehen, schließlich bin ich erwachsen.

Verfügungserweiterung bezieht sich auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt, die der anerkannte Weg ist, seinen Lebensstandard zu sichern. Dieser Weg wird als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht problematisiert. Ziel ist zudem eine (Wider‑)Anerkennung als erwerbstätige Erwachsene, welche auch mit Autonomie verbunden wird. Lernhemmnisse entstehen in diesem Begründungsmuster durch die Notwendigkeit, die Lernsituation erfolgreich – im Sinne des Zertifikats – zu bestehen, da dies Voraussetzung für den Einstieg in den Arbeitsmarkt ist, wenn es ihn auch nicht sichert.

Die Lerngegenstände gewinnen über die sinnhafte Verwendung in der anvisierten Tätigkeit / dem Beruf eine Bedeutung. Diese ist jedoch über das Ziel „für vernünftig Geld zu arbeiten“ (FLW2a, 472) gebrochen, in dem den Lerngegenständen funktionale und nicht thematische Bedeutung zukommt. Die Lerninstitution muss eine formale Qualifizierung ermöglichen.

Neustart

Ich habe einige Wirren in meinem Leben hinter mir. Irgendwie habe ich es bisher nicht richtig geschafft am Arbeitsleben längerfristig erfolgreich teilzunehmen. Ich traue mir das aber grundsätzlich zu – manches konnte ich ja ganz gut. Ich suche mir also vernünftigerweise zum Lernen einen Rahmen, in dem ich noch einmal von vorn beginnen kann. Bereits diese Entscheidung fürs Lernen macht mir Mut für meinen Weg zu mehr Eigenständigkeit.

Bezugspunkt des Lernens sind sowohl die Teilhabe am Arbeitsmarkt wie auch das Überwinden negativer Erfahrungen. Mit Bezug zum Arbeitsmarkt, als die in dieser biographischen Phase anerkannte Form von Anerkennung und Autonomie, geht es um eine Wiederherstellung von Kohärenz und Authentizität. Lernen beim Beginn(en) eines biographischen Neustarts soll bisherige Lernhemmnisse (die sowohl in der eigenen Identität wie in der Lebenswelt verortet werden) überwinden helfen. Zunehmende Handlungsfähigkeit zeigt sich – in der Reflexion – bereits in der eigenständigen Entscheidung für diesen Lernweg. Für die Lernsituation ist bedeutsam, dass diese zum einen auf Erwerbsarbeit orientiert ist. Zum anderen muss sie so different zum Bekannten sein, dass Neues möglich ist, jedoch gleichzeitig an lebensweltliche Handlungsmuster anschließen, um für dieses Lernen in Frage zu kommen. Aufgrund der eigenständigen Entscheidung hat das Lernen expansiven Charakter – die Bedrohung von Verfügung soll über diesen Lernweg beendet werden.

Widerstand

Ich habe bereits einige negative Erfahrungen mit einer bestimmten Autoritätsperson gemacht. In denen habe ich zu wenig Verständnis für mich und meine Unsicherheit bekommen. Außerdem konnte ich kein gutes Verhältnis zwischen meinen und den Interessen der Autoritätsperson herstellen: Ich habe entweder deren Interessen einfach übernommen oder habe sie einfach nur abgewehrt. Meistens war das in Situationen, die ich mir nicht ausgesucht habe. Nun befinde ich mich in einer Krise, in der die Autoritätsperson mir eine bestimmte Handlung als Ausweg aus der Krise nicht zutraut. In dieser Situation ist es vernünftig, mich gegen diese Position zu stellen. Jahre später stelle ich fest, dass dies ein wichtiger Schritt war, selbständiger und selbstbewusster zu werden.

Widerstand als Begründungsmuster für Lernen zeigt sich erst in der Reflexion. In der konkreten Situation fußt es auf biographischen Vorerfahrungen, in denen die Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt war (bspw. Sucht, Gewalt, Schule) und keine Kohärenz hergestellt werden konnte. Ziel ist auch die Herstellung von Autonomie und Verfügungserweiterung mit Bezug zum Ausweg aus der Krise. Für die konkreten Handlungsziele gibt es mit inhaltlichem Bezug und innerhalb der Statuspassage gesellschaftliche Anerkennungsstrukturen auf die – implizit – zurückgegriffen wird. In diesem Begründungsmuster zeigt sich die Verwobenheit von Handlungsfähigkeit und Unterwerfung. Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse entsteht durch Widerstand gegen deren konkrete Ausprägung in der Situation. Lerngegenstand des Reflexionsprozesses sind die biographischen Wege und lebensweltlichen Ausschnitte eigener Handlungsfähigkeit.

Selbstgewähltes Lernen

Wenn ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich mehr über Dinge erfahre, die mich interessieren und davon ausgehe, dass ich die Lerninhalte hinterher verwenden kann, suche ich mir vernünftigerweise Möglichkeiten, in denen ich weiteres Interessantes lernen kann. Wichtig dabei ist mir, dass das Lernen auf Verstehen ausgerichtet ist und ich mich freiwillig dafür entschieden habe. So kann ich mich weiterentwickeln und bekomme immer mehr Lust weiter zu lernen.

Aufbauend auf vorangegangenen Erfahrungen, in denen Anerkennung und Autonomie merkbar waren, entwickelt sich weiteres Interessen an Lerngegenständen und am Lernen selbst. Freiwillige Teilnahme und die Abwesenheit von Leistungsdruck in der Lernsituation lenken weder vom Lerngegenstand ab, noch bedrohen sie die Handlungsfähigkeit, so dass Verfügungserweiterung sich auf die Gegenstände richten kann und darüber hinaus auf dem Boden gesicherter Authentizität Offenheit ermöglicht wird. Lerngegenstände können dabei auf den Beruf bezogen, aber auch in Abgrenzung hierzu charakterisiert sein. Möglichkeiten freiwilligen Lernens weisen über die Situation hinaus und können so Lernhemmnissen in der Biographie entgegenwirken. Als expansives Lernen begründet es sich entweder in vorherigen expansiven Lernerfahrungen, aber auch – als neue Erfahrung im Gegensatz zum Lernen unter Leistungsdruck – in der konkreten Situation, in der über die interessierenden Lerngegenstände und anerkennende Interaktion Handlungsfähigkeit im lebensweltlichen Kontext ermöglicht/angeeignet wird.

Biographische Reflexion/Selbstreflexion

Wenn Erwerbsarbeit als zentraler Bestandteil in meinem Leben noch nicht oder nicht mehr da ist, kommen mir die Fragen, wer ich bin, was ich tun mag und welchen Sinn ich meinem Leben geben möchte. Dafür gehe ich vernünftigerweise meinen anderen Lerninteressen nach. Die in diesem Lernkontext gemachten Erfahrungen/Überlegungen helfen mir beim Nachdenken über mich und mein Leben.

In den Statuspassagen zur Erwerbsarbeit und nach der Erwerbsarbeit erhält diese eine andere Bedeutung und Teilidentitäten müssen neu arrangiert werden, um Authentizität und Kohärenz wieder herzustellen. Die Lerngegenstände sind dabei an Themen/Bereichen ausgerichtet, an denen bereits Interesse entwickelt, jedoch noch nicht ausgebaut wurde. Das Setting des thematischen Lernens ist freiwillig. Biographische Reflexion wird notwendig, weil in diesen Statuspassagen keine vertrauten gesellschaftlichen Abläufe mehr existieren und eine individualisierte Umgangsweise gesellschaftlich dominant ist. Handlungsfähigkeit bezieht sich nicht nur auf die expliziten Lerngegenstände sondern auch auf weitere Konextaspekte. Biographische Reflexion ermöglicht durch zunehmende Authentizität auch Verfügungserweiterung zur Gestaltung der eigenen Biographie, so dass hier auch Lernhemmnisse überwunden werden können.

Sinnüberschuss des Lernens/ungelebtes Leben

Ich habe in meinem Leben einige Themen und Bereiche kennengelernt und Interesse an ihnen entwickelt, die aus meiner Perspektive nicht genügend in meiner Erwerbs- oder Sorgearbeit vorkamen. Zudem waren in dieser Zeit in meinem Leben andere Bereiche dominanter (Erwerbsarbeit/Familie). Wenn diese nun weniger wichtig werden oder weniger Aufmerksamkeit erfordern, entsteht die Möglichkeit, diesen Interessen stärker nachzugehen. Vernünftigerweise suche ich mir dann hierfür entsprechende Lernmöglichkeiten. Wichtig ist mir dabei, dass dieses Lernen nicht (mehr) unter Leistungsdruck steht. Ich kann nun Bereichen/Themen lernend nachgehen, die ich bisher nicht ausleben konnte und so Neues für mich und an mir entdecken.

Dieses Begründungsmuster tritt besonders in der Statuspassage nach der Erwerbs- und Sorgearbeit auf den Plan. Es wird an Lerngegenstände angeknüpft zu denen Erfahrungen vorliegen, welche jedoch nicht ausgebaut sind. Lernthemen und Lernsettings sind als biographische Spuren vorhanden, die nun aufgegriffen werden können. Lernschranken können so überwunden werden. Dies wird auch durch die Abwesenheit von Leistungsdruck ermöglicht. Die Lernsituationen sind institutionell eingebettet, durch freiwillige Teilnahme und eher individuelle Ausrichtung gekennzeichnet. Verfügungserweiterung bezieht sich in diesem Begründungsmuster auf den lernenden Aufschluss der jeweiligen Lerngegenstände, aber auch auf die Weiterentwicklung von bisher nicht-dominanten Teilidentitäten, so dass durch neue Erfahrungen von Autonomie und Authentizität Handlungsfähigkeit in biographischer und konkreter Perspektive ausgeweitet werden kann. Expansives Lernen als Realisierung von Sinnüberschüssen verweist auf eine lebensweltliche und biographische Struktur in der Spuren 'ungelebten Lebens' zu finden sind.

2.5 Diskussion im Hinblick auf den relevanten Forschungsstand

Mit dem Ansatz der Lerngeschichten verbunden mit den Gruppendiskussionen konnte der Ansatz einer partizipativ-ästhetisch erweiterten wissenschaftlichen Forschung weiterentwickelt werden. Bei diesem wird nicht nur in lerntheoretischer Perspektive eine Reduktion des menschlichen Subjektes auf kognitive Prozesse, wie sie sowohl in der traditionellen Lernforschung, vor dem Hintergrund subjektkritischer Diskussion aber auch in der Erziehungswissenschaft (vgl. Künkler 2011 und 2014; Grotlüschen 2014) aufzufinden ist, vermieden. Zudem ist auch eine Möglichkeit aufgezeigt, einem kognitiven Bias innerhalb der forschungsmethodischen Diskussion entgegenzuwirken – ohne damit dem Anspruch der Partizipation der Teilnehmenden und somit ihrem Subjektstatus zuwiderzulaufen.

Die intensiven Auseinandersetzungsprozesse in den Lernwerkstätten selbst lassen sich mit der Bedeutung der Wechselwirkung von Selbstreflexion, autobiographischem Schreiben und kommunikativer Auseinandersetzung für biographische Lernprozesse – insbesondere mit Blick auf deren Potenzialität für Handlungsfähigkeit – in Verbindung setzen, wie sie Nicole Justen (2011) für die Erwachsenenbildung herausgearbeitet hat.

Die Forschung mit geschriebenen Lerngeschichten ist in der Erziehungswissenschaft weitgehend Neuland (Ausnahme Neuß 2009). Häufig werden unter dem Stichwort 'Lerngeschichte' Interviews (bspw. Mandl/Reinmann-Rothmeier/Kroschel 1995) verstanden. Eine besondere Beachtung der Textform Erzählung/Geschichte findet entsprechend wenig statt (ebenso nicht bei Neuß 2009) und wird in der Dissertation von Rosa Bracker weitergehend verfolgt.

Die Bedeutsamkeit identitärer Lernprozesse im Kontext des ‚Lebensstundenplans’ zeigt die besondere Bedeutung von Lernen in arbeitsbiographischer Perspektive an. Forschungen zur Weiterbildungsbeteiligung nehmen diese besondere Bedeutung bisher wenig auf (vgl. AES 2012). Eine Verbindung biographischer und kontextueller Lernherausforderungen kann den Blick freilegen für erweitere Weiterbildungsbeteiligung, beziehen sich doch die markantesten Unterschiede in der Benennung von Weiterbildungsbarrieren von Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden auf Angst vor Misserfolg, eine Ablehnung schulischen Lernens und das eigene Alter (vgl. AES 2012, 223).

3 Zusammenfassung

Ziel des Forschungsprojektes war eine empirische Fundierung kontextualer Lerntheorie. Im Gegensatz zur klassischen Lernforschung sind bei diesem Ansatz die biographische wie gesellschaftliche Situiertheit des Subjekts ebenso relevant wie die Analyse von Bedeutungen – als Schnittstelle von subjektiven Begründungen und objektiven Bedingungen. Im Ergebnis zeigten sich acht Begründungsmuster für Lernen in denen sich biographische Erfahrungen (mit Bezug zu Statuspassagen, einer ‚Normalbiographie‘ und zu Reflexionsprozessen), Kontextualität (mit Bezug auf Teilhabe am Arbeitsmarkt, Lebensstandard und Leistung) und als Erweiterung der theoretischen Konzeption durch das empirische Material Identität (mit Bezug mit Bezug auf das Verhältnis innerer und äußerer Realität, das Spannungsfeld von Anerkennung und Autonomie und auf Authentizität und Selbstsicherheit) miteinander so verschränken, dass Lernen und Lernwiderstand begreifbar werden.

Literatur

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Zitieren des Beitrags

Faulstich, P./Bracker, R. (2014: Perspektiven der lernenden Subjekte und eine angemessene empirische Lernforschung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 26, 1-17. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe26/faulstich_bracker_bwpat26.pdf (20-06-2014).