bwp@ Spezial 10 - November 2015

Berufsbildungsforschung im Gesundheitsbereich

Hrsg.: Ulrike Weyland, Marisa Kaufhold, Annette Nauerth & Elke Rosowski

Der phänomenologische Zugang zu authentischen Handlungssituationen – ein Beitrag zur empirischen Fundierung von Curriculumentwicklungen

Der Beitrag befasst sich mit Curriculumforschung, wie sie im Rahmen von Prozessen der schulnahen Curriculumentwicklung vollzogen wurde. Vorgestellt wird eine phänomenologische Arbeitsweise, die primär in Schulen für Pflegeberufe umgesetzt wurde, jedoch auch in weitere Ausbildungen für Gesundheitsberufe diffundiert. Ebenso hat der Ansatz bereits Eingang in die hochschulische pflegebezogene Bildung gefunden. Über die Arbeit mit authentischen beruflichen und lebensweltlichen Handlungssituationen werden Curricula empirisch fundiert. Lehrende und Lernende erarbeiten sich bei Einübung in die phänomenologische Arbeitsweise eine Haltung, die für die Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung von Lern- respektive Pflegesituationen entscheidende Impulse zu geben vermag.

Unter Berufsbildungsforschung lassensich verschiedene Ansätze subsumieren. Die hier vorgestellte Handlungsforschung mit Beteiligung von Akteurinnen und Akteuren kann der Curriculumforschung zugeordnet werden, weil über sie das in authentischen beruflichen Handlungssituationen enthaltene (Aus)Bildungspotential offen gelegt wird. Die Ergebnisse können einer berufswissenschaftlich-didaktischenForschungsperspektive zugeordnetwerden, weil über die phänomenologische Betrachtung Ausbildungsgegenstände generiert werden, die das Berufsfeld Pflege konturieren bzw. dessen Spezifik aufzeigen. In gewisser Weise stellt die Vorgehensweise zudem eine Lehr-Lern-Forschung dar, da berufliche Situationen aus der Perspektive der Lernenden erhoben werden und somit über Lernprozesse im pflegeberuflichen Feld Auskunft geben.

1 Empirische Fundierung von Curricula in der Pflegeausbildung? – Eine Einführung

Die Novellierung der Berufsgesetze einschließlich der Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen für die Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege (GKP) 2004 führte zu einem enormen Schub in der Curriculumentwicklung an Schulen für Pflegeberufe. Die neuen Regelungen enthielten einige curriculare Herausforderungen wie z. B. den pflegewissenschaftlichen Bezug im Ausbildungsziel, die Neuordnung der Inhalte in Themenbereiche und das Ausbildungsziel berufliche Handlungskompetenz. Wenn auch das Lernfeldkonzept für die Ausbildung in der GKP nicht als verbindlich festgelegt wurde (weil die Schulen nicht im berufsbildenden System angesiedelt sind), erhielt es dennoch verstärkt Einzug in die curricularen Konstruktionen. Nach wie vor unterscheiden sich die Rezeptionen jedoch erheblich (vgl. Fichtmüller 2006), bspw. variiert die Einbindung pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse enorm. So wird der in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der GKP ausgewiesene Themenbereich Pflegerisches Handeln an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten in vielen Curricula in einer Lerneinheit „abgehandelt“, anstatt den Beitrag zu identifizieren, den pflegewissenschaftliche Erkenntnisse für die Ausgestaltung verschiedener Pflegesituationen leisten können. Ein Grund dafür ist in der Struktur mancher Rahmenrichtlinien zu finden, die diese Praktik nahelegt (vgl. Bögemann-Großheim et al. 2009). Die hauptsächliche Kritik an den zahlreichen lernfeldorientierten Curriculumprozessen in den Pflegeausbildungen ist jedoch, dass den Lernfeldern keine empirisch ermittelten Handlungsfelder zugrundeliegen, obwohl Wittneben eben diese Fundierung bereits 2003 einforderte. Auch Pätzold und Rauner (2006) wiesen darauf hin, dass die empirische Fundierung der Curriculumentwicklung in der Berufspädagogik vernachlässigt wird.

Hier wird ein phänomenologischer Ansatz begründet und illustriert, der von authentischen Handlungssituationen ausgeht, die zuvor empirisch ermittelt werden. Aus den generierten Handlungssituationen werden pflegedidaktisch begründete Lernsituationen entwickelt. In den diesem Aufsatz zugrundeliegenden Prozessen werden die Lernsituationen als Kernelemente eines schuleigenen Curriculums verstanden, stellen jedoch nicht das einzige Strukturelement dar. Dies resultiert aus der Tatsache, dass sich nicht alle didaktisch begründbaren (Aus)Bildungsinhalte in den Situationen abbilden. Vielmehr ermöglichen die erhobenen Situationen, traditionelle Ausbildungsinhalte zu hinterfragen, neue zu generieren und zu begründen. Darüberhinaus müssen zukunftsweisende Ausbildungsinhalte durch die Befragung von Expertinnen und Experten oder die Analyse aktueller Gesundheitsberichterstattungen generiert werden. Die Ebene der Handlungsfelder wird zunächst vernachlässigt, wenngleich es über eine gewisse Dauer mit dieser Vorgehensweise möglich sein sollte, Handlungsfelder zu erschließen. Sie ließen sich über die Phänomene beschreiben und benennen, die sich in pflegerischen Situationen zeigen.

Zunächst wird die traditionelle Logik in Curricula für die Pflegeausbildung problematisiert und vor dem Hintergrund eigener Forschungsergebnisse kritisiert. Die Notwendigkeit des Arbeitens mit authentischen Situationen wird aufgezeigt und begründet, ebenso der phänomenologische Ansatz. Einentsprechendes Bearbeitungsmodell für Handlungssituationen wird vorgestellt, ein Ergebnis in Form eines Modulzuschnitts für die Ausbildung in der GKP wird präsentiert. Abschließend erfolgen eine kritische Reflexion zur vorgelegten empirischen Fundierung der Curriculumentwicklung und ein Ausblick zur Berufsbildungsforschung in der Pflegebildung.

2 Die bisherige Logik in Curricula für die Pflegeausbildungen und die Folgen für Lernende

Traditionell findet sich in der Pflegeausbildung die Medizinlogik – genauer: Die Logik medizinischer Diagnosen. Die Inhalte der pflegerischen Ausbildung werden mit Verweis darauf angeordnet – bspw. „Pflege von Menschen mit Herzinfarkt“. In ihrer empirischen pflegedidaktischen Forschungsarbeit konnten Fichtmüller und Walter (2007) aufdecken, welche Folgen die Fokussierung auf eine medizinische Logik hat: Sie präformiert die Wahrnehmung der Lernenden auf die zu pflegenden Menschen, die lediglich als Symptom- und Informationsträger vorgestellt und betrachtet werden. Lernende äußern bspw., dass sie Patientinnen und Patienten nicht pflegen können, wenn sie deren Krankheitsbild nicht kennen. Demgegenüber steht die Ausbildungspraxis, die Lernende von Beginn der Ausbildung an mit Menschen konfrontiert, die verschiedene medizinische Diagnosen aufweisen, ohne dass die Lernenden die Details dazu bereits gelernt haben. Es müssen demnach noch andere Kriterien für die Ausgestaltung von Pflegesituationen gelten. Ebenso ist bekannt, dass sich die meisten Pflegebedürfnisse (insbesondere in derambulanten Pflege) nicht zwingend auf medizinische Diagnosen zurückführen lassen. Wird die Pflegeausbildung von der Medizinlogik beherrscht, wird der Blick auf die Pflegebedürfnisse verstellt, die sich daraus gar nicht oder nur ansatzweise herleiten und begründen lassen. Ebenso wurde die Fächerlogik kritisiert, die zu trägem Wissen führt, auf das in pflegerischen Situationen kein Rückgriff genommen wird (vgl. Fichtmüller/Walter 2007).

Vor diesem Hintergrund versprachen lernfeldorientierte Curricula zunächst eine pflegeoriginäre Struktur. Die Lernfelder wurden jedoch fiktiv (Wittneben 2003, 267) nach äußeren Merkmalen pflegerischen Handelns konstruiert. So erfolgte die Einteilung nach Orten von Pflege (bspw. ambulante Pflege, Pflege auf der internistischen Station), nach Arbeitsaufgaben (bspw. Beratung, Kernaufgaben) oder nach Zielgruppen (bspw. Pflege von Kindern, Pflege von behinderten Menschen) etc. Den originären Kern pflegerischen Handelns treffen solche Zuschnitte kaum. Weil die Suche nach einer geeigneten Logik mühselig erscheint, fällt bis heute – sozusagen unterhalb der Lernfelder – eine Fächerlogik auf, von der viele mein(t)en, sie sei überwunden.

In der ersten Phase der Rezeption des Lernfeldkonzeptes ab 2001 wurden – entsprechend des Vorgehens in der Berufspädagogik – Analysen von Arbeits- und Geschäftsprozessen und die Ableitung von vollständigen Handlungen an die Pflegebildung herangetragen (bspw. Schneider et al. 2001). Bei differenzierterer Betrachtung können diese allerdings nur einen Teil des pflegerischen Handelns abbilden. Mit Verweis auf nicht-intentionales, situatives und kreatives pflegerisches Handeln wurde dieser Ansatz kritisiert (vgl. Fichtmüller 2006). Wittneben konstatiert in diesem Zusammenhang, dass es in der Pflegebildung darum geht, die Erforschung eines „Beziehungsprozesswissens“ (Wittneben 2003, 264) voranzutreiben, das die Berührungs- und Beziehungskompetenzen von Pflegenden als Kernkompetenzen in den Mittelpunkt stellt.

Eine weitere Phase, die vor allem durch die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland ausgelöst wurde, betraf die Vorschläge, pflegewissenschaftliche Erkenntnisse als strukturgebend für Curricula zu wählen. Im Bereich primärqualifizierender Pflegestudiengänge ist dies gelungen (vgl. Walter 2010), für die berufliche Erstausbildung muss die Logik einer Wissenschaft jedoch in Frage gestellt werden.

Der gemeinsame Nenner vieler curricularer Überlegungen in der Pflegebildung ist das Situationsprinzip (zur Begründung vgl. weiter unten), das in Form konstruierter Fallbeispiele Eingang gefunden und auf der konkreten Unterrichtsebene eine lange Tradition in der Pflegeausbildung hat. In Fallbeispielen wird aus einer eher nüchternen Beobachterperspektive von Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten oder Bewohnerinnen und Bewohnern berichtet, die Probleme und Ressourcen aufweisen, die einen konstruierten Lernbereich abdecken. Möglichst viele Informationen werden in das Fallbeispiel „hineingelegt“, so dass für Lernende schnell durchschaubar ist, worauf die Lehrenden damit „hinauswollen“. Fichtmüller und Walter (2007) konnten zeigen, dass die Arbeit mit konstruierten Fallbeispielen die Annahme der Verfügbarkeit des Menschen befördert: Nur wenige Informationen und pflegerisches Regelwissen sind scheinbar nötig, um geeignete pflegerische Interventionen abzuleiten. Folge dieser Vorgehensweise ist, dass auch in der Pflegepraxis die sogenannten „Pflegeplanungen“ geschrieben werden, ohne mit den Menschen zu sprechen, um deren Pflege es geht. Des Weiteren werden die Fallbeispiele überwiegend so geschrieben, dass sich eine Handlungsaufforderung an eine ausgebildete Pflegende richtet. Die Perspektive des Lernsubjekts wird somit vernachlässigt, obwohl sich berufliche Situationen aus der Perspektive der Lernenden in anderer Weise darstellen. Oft sind die Lernenden bspw. sehr mit sich selbst, ihren Eindrücken und Gefühlen beschäftigt, wenn sie Situationen schildern oder sie ergreifen Partei für Patientinnen und Patienten, die in ihren Augen „unkorrekt“ behandelt werden. Erzählen die Lernenden die Situationen, bilden sich darin wertvolle Lernanlässe und Erkenntnisse zu den Lernprozessen ab.

3 Zwischenstopp: Curriculumforschung

Für Huisinga ist Curriculumforschung ein „wissenschaftliches Praxisfeld“ und bezieht sich „auf die Entstehung und die Verwendung von Curricula“ (2006, 350). Huisinga listet Fragen auf, die im Zusammenhang mit Curriculumforschung zu klären sind – bspw. „In welcher Weise kann die Identifizierung von Lernkomplexen der Subjektorientierung entsprechen?“ (ebd., 351). Der Deutsche Bildungsrat (1974) sprach sich ebenso für praxisnahe Formen der Curriculumentwicklung mit partizipativem Charakter aus. Huisinga konstatiert, dass es diese Form „im Feld der beruflichen Bildung wegen der korporativen Struktur des dualen Systems nicht gegeben“ (ebd., 353) hat und dass Curriculumtheorien für entsprechende Prozesse kaum vorliegen. Als eine Strukturierungstheorie benennt Huisinga die Strukturierung nach Situationen von Robinsohn, welche letztlich auch dem Lernfeldkonzept zugrunde liegt. Das Lernfeldkonzept hat jedoch keine Kriterien dafür geliefert, wie der laut dieser Theorie vorzunehmende Dreischritt – Situationsanalyse, Qualifikationsermittlung, Bestimmung der Curriculumelemente – zu vollziehen und zu begründen ist (ebd., 354). Für die Situationsanalyse fordert Huisinga im Anschluss an Reetz (1984), dass „die berufliche und allgemeine Lebensperspektive der Auszubildenden Hauptkriterium der Interpretation sein“ (ebd., 354) muss. Für curriculare Entwicklungen in der beruflichen Bildung wurden von Reetz (1984) drei Prinzipien benannt: das Wissenschafts-, das Persönlichkeits- und das Situationsprinzip. Auch diese Prinzipien spiegeln sich zwar im Lernfeldkonzept wider, aber wie sie konkret umgesetzt und verschränkt werden können, bleibt in vielen Ansätzen der Curriculumentwicklung offen (vgl. Busian 2011).

Vor diesem Hintergrund wurde in den hier zugrundeliegenden Curriculumprozessen für die Lernsituationsentwicklung ein Modell gesucht, das Folgendes zu leisten hat (vgl. Walter 2013):

  • Es vermag die Perspektiven der Beteiligten auf die situationsimmanenten Phänomene und den jeweiligen Bedeutungs- resp. Erlebenshorizont offenzulegen und dennoch deutungsoffen zu bleiben, ohne Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten oder Bewohnerinnen und Bewohner zu objektivieren;
  • es ermöglicht Lernenden, sich den Pflegesituationen so zu nähern, wie sie sind: komplex, mehrperspektivisch und in ihrem Ausgang offen;
  • es trägt Fragen an den Fall heran, über die der (Aus-)Bildungsgehalt offen gelegt wird;
  • es identifiziert den Beitrag, den wissenschaftliche Erkenntnisse zum Verstehen und Erklären der Phänomene leisten können;
  • es ermöglicht, konsequent in der situationslogischen Struktur zu verbleiben – sich also an dem zu orientieren, was sich im Fall zeigt.

Über entsprechende pflegedidaktische Vorarbeiten (bspw. Schwarz-Govaers/Mühlherr 2001) und schulnahe Prozesse der Curriculumentwicklung (Walter 2008; 2010; 2013) erschloss sich schließlich ein phänomenologisches Modell, in dem authentische berufliche und lebensweltliche Situationen im Mittelpunkt stehen.

4 Begründungen für das Arbeiten mit authentischen Situationen

Als Beitrag zur Fundierung des Lernfeldkonzeptes soll hier die Begründung für das Arbeiten mit empirisch ermittelten authentischen Situationen angerissen werden. Folgende Begründungsperspektiven werden knapp aufgegriffen:

  • Empirische Begründungen,
  • Professionstheoretische Begründungen sowie
  • Aktuelle (Lern-)Erfahrungen der Lernenden und lerntheoretische Begründungen.

4.1 Empirische Begründungen – was sich in authentischen Situationen zeigt

Über die phänomenologische Bearbeitung der Handlungssituationen können bisher bekannte Lerngegenstände der Pflegeausbildung aufgedeckt werden sowie Lerngegenstände, die sonst kaum in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Die Relevanz einiger Phänomene wurde bereits in der Forschungsarbeit von Fichtmüller und Walter (2007) belegt. Die Autorinnen erschlossen spezifische Phänomene des pflegeberuflichen Lehrens und Lernens in einer Grundlagenforschung, u. a. aus der Perspektive des Lernsubjekts. Weitere pflegedidaktische Studien bieten ebenso die Möglichkeit, die gefundenen Phänomene kritisch zu reflektieren (eine Übersicht zu pflegedidaktischen Arbeiten bieten Walter/Dütthorn/Arens 2013).

Pflegerische Phänomene, die aus verschiedenen Perspektiven erschlossen sein können und die bisher kaum oder wenig lernrelevant werden, sind bspw.:

  • Warten,
  • Sich bemerkbar machen,
  • Langeweile,
  • Heimweh,
  • Aufmerksam-Sein,
  • Urteile bilden (inkl. Kriterien für die Urteilsbildung),
  • Arbeitsablaufgestaltung,
  • Emotionen aller Beteiligten.

Desweiteren lassen sich vielfältige Phänomene identifizieren, die sich beziehen auf:

  • das Erleben des sogenannten „Theorie-Praxis-Verhältnisses“,
  • die Komponenten einer pflegerischen Einzelhandlung (interessant ist, dass die Technikkomponente in den authentischen Situationen nicht im Mittelpunkt steht) (vgl. Fichtmüller/Walter 2007),
  • die Wertigkeit pflegerischer Einzelhandlungen,
  • Antinomien und Paradoxien pflegerischen Handelns,
  • Aushandlungsprozesse zwischen Pflegenden/Lernenden und Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten oder Bewohnerinnen und Bewohnern,
  • Strategien der Lernenden im Umgang mit Brüchen und Widersprüchen,
  • subjektive Theorien der Pflegenden/Lernenden und der Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten oder Bewohnerinnen und Bewohner.

Hervorgehoben werden sollen noch zwei Befunde: Für die berufliche Bildung ist das Phänomen des trägen Wissens empirisch belegt (bspw. Renkl 2001; Fichtmüller/Walter 2007). Es ist Wissen, das nicht zur Anwendung kommt – also nicht gebraucht wird. Über die Arbeit mit authentischen Situationen kann der Erwerb handlungswirksamen Wissens unterstützt werden, das in die Situationen gleichsam „eingehängt“ wird sowie mit Emotionen und Gebrauchsbedingungen verbunden ist – es haftet eher an. Belegt ist ebenso die Bedeutung von Emotionen im Lernprozess (bspw. Gieseke 2008). Lernende in der Pflege erleben ihre eigenen und die Emotionen von Patientinnen und Patienten oder Bewohnerinnen und Bewohnern sowie von Angehörigen. Die Arbeit mit Situationen kann die Wahrnehmung und Reflexion eigener und fremder Gefühle bzw. Gefühlsmuster unterstützen, eine entwickelte eigene Emotionalität wird als Ziel von Bildung verstanden.

4.2 Professionstheoretische Begründungen

4.2.1 Die doppelte Handlungslogik

In der Pflegebildung geht es maßgeblich um Kompetenzen, die sich im pflegerischen Handeln zeigen. An professionelles pflegerisches Handeln werden zwei Ansprüche gestellt, die miteinander verschränkt sind (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1:  Die doppelte Handlungslogik pflegerischen Handelns (eigene Darstellung)Abbildung 1: Die doppelte Handlungslogik pflegerischen Handelns (eigene Darstellung)

Die Beherrschung wissenschaftlich fundierten Regelwissens reicht für professionelles pflegerisches Handeln nicht aus. Im pflegeberuflichen Handeln kommt es darauf an, sich auf die Beteiligten einzulassen, die Situationen von PatientInnen und Angehörigen zu erfassen, davon ausgehend geeignete Wissensbestände begründet auszuwählen und diese in Aushandlungsprozesse einzubringen. Diese als doppelte Handlungslogik bezeichnete Spezifik (vgl. Dewe/Ferchhoff/Radtke 1992; Remmers 2000) hat weitreichende Konsequenzen für das Lernen in der jeweiligen Profession. Die berufliche Praxis benötigt reflektierte Praktikerinnen und Praktiker, deren Ausbildung reflexive und fallverstehende Lernangebote erfordert.

Eine besondere Spezifik pflegerischen Handelns erwächst zudem aus dem Körper-/Leibbezug. Remmers formuliert dazu:

„Trotz der spezifischen Körpernähe des pflegerischen Handlungszusammenhangs gleicht dieser Körper als Leib, sofern er nicht im Spektrum instrumenteller Handlungslogiken erfasst wird, zuweilen doch einem ‚fremden Kontinent’ (Freud 1923). Die ethische Relevanz des Körpers muss deshalb auch als ein Problem beruflicher Bildungs- und Lernprozesse verstanden werden, überhaupt als Frage eines ebenso praktisch wie theoretisch zu erweiterndem Bildungsbegriffs, in dem die Bewusstwerdung eigener Leiblichkeit als persönlichkeitsbildendes Element von Professionalisierung fungiert“ (1997, 283).

Über die Arbeit mit authentischen Situationen und entsprechende pflegedidaktische Umsetzungen im Unterricht können Lernende ihre eigene Leiblichkeit erfahren und diese reflexiv in berufliche Situationen einbringen (zum Leibkonzept vgl. bspw. Uzarewicz/Uzarewicz2005).

In den authentischen Situationen werden zudem Merkmale eines pflegerischen Handlungsbegriffs in bestimmten Ausprägungen sichtbar. So lassen sich bspw. verschiedene Ausprägungen von Intentionalität identifizieren. Nicht jedes pflegerische Handeln ist zweckgerichtet, sondern es zeigt sich ebenso eine eher passive Intentionalität bspw. im kreativen pflegerischen Handeln. Ebenso lassen sich verschiedene konstituierende Handlungsdimensionen mit korrespondierenden handlungsrelevanten Wissensarten erkennen: Basieren kognitive Handlungen u. a. auf (eher explizitem) empirisch-systematischem Wissen, wird beim leiblichen Handeln auf (meist implizites) leib-körperliches Wissen zurückgegriffen (vgl. Fichtmüller 2006; Fichtmüller/Walter 2007).

4.2.2 Antinomien pflegerischen Handelns

Eine weitere professionstheoretische Begründung findet sich in den Antinomien, die professionelles soziales Handeln durchziehen (vgl. Helsper 2004; Oevermann 1996).In sozialem – und eben auch pflegerischem – Handeln identifizierbare Antinomien sind bspw.:

  • Entscheidungs- und Begründungsantinomie: Widerspruch zwischen dem Zwang zur Entscheidung und dem Gebot der Begründung, die jedoch oft nicht abgesichert ist,
  • Praxisantinomie: theoretisches Wissen ist nicht einfach in die Praxis zu transformieren, professionelles Handeln muss aber theoriegeleitet sein,
  • Subsumtionsantinomie: Einzelfälle müssen subsumtiv unter Kategorien geordnet werden, das Besondere darf jedoch nicht aus dem Blick geraten,
  • Vertrauensantinomie: Vertrauen wird unterstellt, muss aber erst hergestellt werden,
  • Autonomieantinomie: Aufforderung zur Autonomie im Rahmen heteronomer organisatorischer Strukturen.

Antinomien sind prinzipiell nicht aufhebbar, jedoch kann eine reflexive Erschließung und Handhabung angestrebt werden (vgl. Beck et al. 2000). Ziel der Auseinandersetzung ist die Sensibilisierung für die zentrale Bedeutung der Antinomien für die Professionalität, das Aufdecken und Reflektieren typischer individueller und kollektiver Reaktionsmuster auf Antinomien sowie das Entwerfen von Handlungsalternativen. In diesem Zusammenhang erhält ein kritisches Bildungsverständnis Bedeutung. Es drückt sich bspw. in dem Bildungsanspruch aus, dass die Lernenden gesellschaftliche und berufliche Realitäten – bspw. systemimmanente Widersprüche – kritisch reflektieren lernen (vgl. Greb 2003). Die Antinomien professionellen sozialen Handelns, die sich in authentischen Situationen zeigen, können Bezugspunkt für diese Reflexion sein.

4.3 Aktuelle (Lern-)Erfahrungen der Lernenden und lerntheoretische Begründungen

Lernende in pflegeberuflichen Ausbildungen eint erfahrungsgemäß, dass sie bereits über mehr oder weniger pflegerische Erfahrungen verfügen. Die Konsequenz ist, dass die schulischen Angebote zunächst an der beruflichen Realität gemessen werden: Wissenschaftliche Theorien konkurrieren mit rezeptartigen Praxislösungen. Dieser Abgleich fällt oft zu Ungunsten der „Theorie“ aus – u. a., weil die Lernenden (und viele Lehrende) über ein integratives Verständnis von „Theorie“ und „Praxis“ verfügen – d. h. schulisch Gelerntes soll in der aktuellen Berufspraxis unmittelbar anwendbar sein. Hier bedarf es einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Ziel, ein Differenzverständnis von „Theorie“ und „Praxis“ zu entwickeln, das es überhaupt erst ermöglicht, sich mit eher theoretischem Wissen reflexiv auseinanderzusetzen (vgl. Fichtmüller/Walter 2007). Das Lernen mit authentischen Situationen kann es Lernenden ermöglichen – von vertrautem Terrain ausgehend – neue Weltsichten zu erschließen. Die Lernenden erleben fortwährend reflexionsbedürftige berufliche Situationen – eben diese stehen im Mittelpunkt des Lernens.

Die Lernenden stehen in ihrer Berufspraxis oft vor konkreten Handlungsproblemen, die bewältigt werden müssen. Holzkamp (1993) hat das Konzept in seiner Lerntheorie entfaltet und beschreibt u. a. aufgrund der Situiertheit des Lernsubjekts verschiedene Umgangsweisen damit. Handlungsprobleme können als Lernanlass gedeutet werden und somit in Lernen münden. Das Lernsubjekt muss allerdings gute Gründe dafür haben bzw. ahnen, dass es hier etwas lernen kann. An Situationen, die ein authentisches Handlungsproblem enthalten, können die Lernenden demnach eigene (Lern)Strategien reflektieren, subjektive Lerngründe erforschen oder entwickeln und schließlich begründete Handlungsalternativen erschließen.

Neuweg (2001) greift in seiner lerntheoretischen Position die Bedeutung von implizitem Wissen und Lernen auf. Lernende in der Pflegeausbildung lernen im beruflichen Alltag fortlaufend implizit. Die Arbeit mit Situationen kann implizites Wissen verfügbar machen und implizit Gelerntes der Reflexion zuführen.

4.4 Zusammenfassung: Die Ziele der Arbeit mit authentischen Situationen

Die bisherigen Ausführungen implizieren, dass über die Arbeit mit authentischen Situationen Reflexions- und Deutungskompetenz angeeignet werden kann. Folgende Ziele lassen sich zusammenfassend differenzieren (vgl. Beck et al. 2000):

  • (wissenschaftliche) Wissensbestände kontextualisieren und in beruflichen Situationen zukünftig angemessen gebrauchen;
  • eine mehrperspektivische Sichtweise einüben;
  • Situationen resp. Handlungsprobleme analysieren, lernend verarbeiten und den Blick auf zukünftige Handlungsentwürfe richten;
  • implizite Lernprozesse reflektieren;
  • Deutungsmuster (im Hinblick auf Beziehungen, Emotionen, Reaktionsweisen, „Theorie-Praxis“ etc.) differenzieren, kritische Auseinandersetzung mit dem Beruf, seinen Widersprüchen und den sozialen Rahmungen;
  • berufliche Urteilskraft aneignen und Bewusstheit über die Konstruktivität des eigenen Urteilens und Handelns erlangen;
  • die Grenzen des eigenen Wissens reflektieren;
  • Methoden zur Reflexion von Situationen kennen lernen sowie
  • insgesamt die Entwicklung eines professionellen beruflichen Selbstverständnisses anregen.

5 Phänomenologisches Arbeiten mit authentischen Situationen

Phänomen bedeutet wörtlich Sichtbares, Erscheinung. Phänomenologie will zu den Sachen selbst vordringen. Schmitz (2009) weist als Vertreter der Neuen Phänomenologie[1] darauf hin, dass durch naturwissenschaftliche Theorien der Blick auf die Tatsachen der Lebenserfahrung verstellt sei. Durch phänomenologische Betrachtung rücken alltägliche Wahrnehmungen in den Blick, neue Erfahrungschancen werden freigelegt, eine ursprünglichere Haltung zur Wirklichkeit bildet sich heraus – jenseits von dem, was immer schon gewusst wurde. Zum Wesen der Dinge vorzudringen, kann jedoch nur ein Leitgedanke sein. Die Mannigfaltigkeit der Lebenserfahrungen und ihr jeweiliges Erleben und Deuten kann begrifflich immer nur im Lichte von etwas gefasst werden. Ein Phänomen ist für Schmitz „ein Sachverhalt für jemanden zu einer bestimmten Zeit, bei dem der Betreffende nicht im Ernst bestreiten kann, dass es sich um eine Tatsache handelt“ (2009, 20). Der Begriff lässt somit beliebige Dinge als Phänomene zu. Wenn bei der Bearbeitung der Handlungssituationen Phänomene identifiziert werden, so findet in Arbeitsgruppen ein Aushandlungsprozess darüber statt, der in einer intersubjektiven Wirklichkeit über die Benennung und Deutung mündet. Notwendig ist in dieser Phase, sich der Erzählung sehr offen zu nähern. Schmitz führt dazu aus:

„Die Methode, sich in einem eingeschränkten und vorläufigen Sinn an einen Fall heranzutasten, das ist der Versuch, beliebige Annahmen umzudenken und sehen, was übrig bleibt und was man gelten lassen muss. Das ist die phänomenologische Grundgegebenheit“ (2009, 20).

„Man kann sogar nie mit abschließender Sicherheit wissen, ob man ein Phänomen gefunden hat (…) Allerdings kann die Evidenz im Augenblick so überwältigend sein, dass sie alle Bedenken niederschlägt“ (2005, 27) .

Der phänomenologische Ansatz kann in der Pflegebildung neue Sichtweisen eröffnen. Pflegebedürfnisse entstehen vor allem aus der Art und Weise, in der eine Person sich erlebt und interpretiert bzw. erlebt und interpretiert wird. Entsprechende Phänomene oder auch Lebensäußerungen, die Anlass zum pflegerischen Handeln bieten, können benannt und relativ wertneutral beobachtet und beschrieben werden. Über die Einnahme einer ursprünglicheren, möglichst unvoreingenommenen Haltung zu den Dingen – jenseits von berufsspezifischen Deutungsmustern – wird es möglich, den Blick frei auf die Lebensäußerungen zu richten. Der phänomenologische Ansatz wird darüber hinaus vertreten, weil die weiter oben kritisierte Logik der medizinischen Diagnosen als strukturgebendes Element für Curricula resp. Pflegehandeln noch immer hartnäckig im Mittelpunkt steht. Der vorgestellte Ansatz ermöglicht eine pflegeoriginäre Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstruktur, die nicht nur curricular angelegt ist, sondern sich auch im beruflichen Alltagshandeln niederschlägt (vgl. Walter 2008).

Eine weitere Dimension bei der Entscheidung für einen phänomenologischen Ansatz betrifft die Leibbezogenheit pflegerischen Handelns. Der Leib ist bei Schmitz ein Gegenstand eigener Art, nicht der physische Körper. Der Leib ist spürbar über leibliche Regungen – bspw. Angst, Schmerz, Ekel, Müdigkeit und spontanes Ergriffensein von Gefühlen (Schmitz 2009, 22). All diese Regungen können als Phänomene bezeichnet werden. Bisher dafür in der Pflege verwendete Beschreibungsfolien lassen oft Lücken zwischen den Erfahrungen und den Worten klaffen – die Sprachlosigkeit Pflegender angesichts solcher Erfahrungen zeigt dies. Über den phänomenologischen Zugang wird es möglich, eigene Worte für das Erlebte zu kreieren. Somit geht es in diesem Ansatz auch darum, den „Menschen Gelegenheit zu geben, sich selbst und die Umgebung, in der sie sich faktisch finden, besser kennen zu lernen“ (Schmitz 2005, 28). Phänomenologisches Arbeiten ermöglicht eine Ausgestaltung des Zusammenhangs zwischen persönlicher Lebenserfahrung und Theoriewissen und unterstreicht die Bedeutung von Bildung für die Subjektentwicklung.

Schließlich ließe sich der phänomenologische Ansatz auch didaktisch in Anlehnung an Wagenscheins (1965) exemplarisches Lernen begründen. Für Wagenschein bildet ein gutes Exemplar das Wesen einer Sache ab – solche Musterbeispiele werden hier gesucht.

6 Die Situationsbearbeitung anhand eines phänomenologischen Modells

Für die curriculare Arbeit wurde ein umfangreicher Leitfaden (inklusive einer Anleitung für die Erhebung der Handlungssituationen) entwickelt – hier wird einphänomenologischesSituationsbearbeitungsmodell in den Grundzügen vorgestellt (vgl. Abb. 2), das durch Auseinandersetzung mit pflegewissenschaftlichen und (pflege)didaktischen Wissensbeständen sowie vor dem Hintergrund der eigenen Forschungsarbeit und den Erfahrungen der Beteiligten entstanden ist. Die Auswahl und Bearbeitung der Situationen vollzieht sich über Aushandlungsprozesse in einer Gruppe mit verschiedenen Beteiligten. An den hier zugrundeliegenden Curriculumprozessen wirk(t)en Lehrende und Praxisanleitende, z. T. Lernende, z. T. Angehörige verschiedener pflegerischer Praxisfelder und die Autorin als Pflegedidaktikerin mit. Ziel der so gestalteten Prozesse ist die Erarbeitung von Bausteinen für Curricula. Im Verlauf eignen sich die Lehrenden curriculare Konstruktionskompetenz im Hinblick auf Lernsituationen an.

6.1 Die Gewinnung und die Auswahl geeigneter Handlungssituationen

Die Erhebung der Situationen erfolgt, indem Lernende gebeten werden, berufliche und lebensweltliche Handlungssituationen aus verschiedenen Ausbildungsabschnitten bzw. Lebensphasen zu erzählen. Die Handlungssituationen stellen somit Narrative dar. Ergänzend werden Expertinnen und Expertenaus relevanten beruflichen Praxisfeldern befragt, was besonders für die Identifikation zukünftiger Anforderungen bedeutsam ist. Die Situationen können zudem empirischen Studien, autobiographischer Literatur oder Filmen entspringen. Soll curricular und im Unterricht damit gearbeitet werden, müssen sie das entsprechende (Aus-) Bildungspotential enthalten. Zur Auswahl geeigneter Situationen werden daher Kriterien verwendet, die über Auseinandersetzungen mit dem Lernfeldkonzept und weiterer Literatur entstanden sind. Es wurden Handlungssituationen ausgewählt:

  • die aus einer bestimmten Perspektive erzählt sind und somit Identifikationsmöglichkeiten für Lernende eröffnen sowie eine emotionale Bereitschaft zum Lernen befördern;
  • die durch Erwartungen, Gefühle, Motive etc. verschiedener Beteiligter charakterisiert sind (vgl. Holzkamp 1993; Gieseke 2008);
  • die in beruflichen, gesellschaftlichen und persönlichen Kontexten zu finden sind; die individuelle, institutionelle, berufliche und gesellschaftliche Dimensionen umfassen sowie anhand derer eben diese Dimensionen kritisch reflektiert werden können (vgl. Bader 2004);
  • die komplexe, exemplarisch bedeutsame Problemstellungen beinhalten; die für den Pflegeberuf sowie für die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung gegenwarts- und zukunftsbedeutsam sind (vgl. Klafki 1996);
  • die eine Anbahnung fachlicher, sozialer, personaler und methodischer Kompetenzen verbinden (vgl. KMK 2000);
  • die nicht auf eine Lösung orientiert sind, sondern Raum für differente Deutungen und Handlungsoptionen bieten (vgl. Dilger 2011);
  • die beratende, präventive, kurative, palliative und rehabilitative Anteile aufnehmen (vgl. BGBI 2003: Ausbildungs- und Prüfungsverordnung);
  • in denen Verläufe sichtbar bzw. rekonstruier- oder antizipierbar sind;
  • mit Hilfe derer das erlebte Pflegehandeln und eigenes Handeln reflektiert werden können (vgl. Fichtmüller/Walter 2007).

Nicht alle Handlungssituationen erfüllen diese Kriterien in gleichem Maße, in der Gesamtheit bilden sie jedoch den Maßstab. In dieser ersten Begegnung mit den Situationen tauschen sich die Beteiligten zudem zu folgender Frage aus: Was sind meine vordergründigen Gefühle und Gedanken zur Situation? Diese Einstimmung dient der inneren Freiwerdung vor der phänomenologischen Betrachtung, ein erstes Gefühl zur Situation stellt sich ein.

6.2 Der erste Schritt mit dem Modell

Nach der Erhebung und der Auswahl geeigneter Handlungssituationen erfolgt die didaktische Analyse resp. Bearbeitung der Handlungssituation zur Lernsituation. Kern der Analyse ist – entsprechend eines phänomenologisch-hermeneutischen Forschungsprozesses – diejenigen Phänomene zu identifizieren und zu deuten, die in der Situation aufscheinen (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2:  Ein phänomenologisches Bearbeitungsmodell (nach Walter 2013, 139)Abbildung 2: Ein phänomenologisches Bearbeitungsmodell (nach Walter 2013, 139)

Dazu werden an die Handlungssituation Zeile für Zeile folgende Fragen gestellt: Was ist das? Was scheint hier auf? Wie lässt sich das benennen? Die ausgewählten Handlungssituationen werden demnach zunächst ohne thematische Einschränkung diskursiv entfaltet. Es wird wahrgenommen, was die Situation „zu bieten“ hat, was sich in der Situation zeigt. Die weitere Bearbeitung folgt dann den Fragen:

  • Welche Selbstauslegungen und Deutungen lassen sich in Bezug auf die Phänomene finden bzw. vermuten? (z. B. über das Erleben, über Bedeutungen für die Personen, über Prozessverläufe, über Ressourcen)
  • In wie weit finden sich die Phänomene in der pflegewissenschaftlichen Literatur? (z. B. in Pflegekonzepten oder empirischen Untersuchungen)
  • Welches Wissen aus anderen Wissensbereichen lässt sich zum Beschreiben und Verstehen der Phänomene und Konzepte hinzuziehen?

Die Erarbeitung der Selbstauslegungen und Deutungen stellt sich als Verstehensschlüssel zu den Phänomenen dar. Die Beteiligten fragen sich zu den zentralen identifizierten Phänomenen: Wie könnte es aus der Perspektive der Beteiligten wahrgenommen und empfunden werden? Was könnten die Personen denken? Was erfahren wir in der Handlungssituation darüber? Die in der Ich-Form notierten Überlegungen legen inhaltliche Dimensionen offen, die ohne diesen Schritt unentdeckt blieben. Insbesondere durch widersprüchliche Deutungsmöglichkeiten innerhalb einer Perspektive erwächst durch das Vorgehen die Chance, Reflexions- und Deutungsfähigkeit zunächst mit den Beteiligten und später mit den Lernenden zu üben, wenn sie ggf. im Lehr-Lern-Arrangement einen ähnlichen Weg zur Offenlegung der Phänomene einschlagen. Über die Frage nach pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen zu den identifizierten Phänomenen finden Forschungsergebnisse Eingang in die Überlegungen der Lehrenden resp. Lernenden: Sie verwenden wissenschaftliche Erkenntnisse zur Ausdeutung der Handlungssituationen. Ergebnis dieses Schrittes ist eine Zusammenstellung und mehrperspektivische Beschreibung der vorliegenden Phänomene inklusive ihrer (pflege)wissenschaftlichen Deutung.

In der Regel sind durch diesen Schritt – Phänomene identifizieren, Deutungen und wissenschaftliche Wissensbestände erarbeiten – wesentliche Lerngegenstände herausgearbeitet. Weitere Lerngegenstände, Kontextbedingungen und Transferüberlegungen werden durch die Auseinandersetzung mit den vertiefenden Reflexionsfragen im Modell aufgedeckt und aufeinander bezogen; aus eher unstrukturierten Handlungssituationen werden somit bildungshaltige Lernsituationen. Grundsätzlich gilt: Die Bearbeitung der Fragen im Modell erfolgt zunächst durch Überlegungen in der Arbeitsgruppe und erst danach sukzessive unter Hinzuziehung von Literatur. Dabei wird nicht linear, sondern mit Rückgriffen auf und Bezügen zwischen den Aspekten vorgegangen. Im Folgenden werden die Schritte erläutert.

6.3 Die weitere Auseinandersetzung mit den Reflexionsfragen im Modell

Phänomene können sich auch auf Handlungsweisen, Interaktionen, Haltungen oder den Kontext beziehen. Im Hinblick auf die Beteiligten wird bspw. nach „versteckten“ Akteuren – gefragt – also indirekt Beteiligten, die Einfluss nehmen oder Erwartungen an die Bewältigung der Situation hegen. Ergebnis ist die Benennung der Beteiligten, die Offenlegung ihrer Perspektiven, Interessen und möglichen Beweggründe (soweit nicht schon im ersten Schritt geschehen).

Bei der Frage Wie wird auf die Phänomene reagiert? wird gesammelt, mit welchen Handlungsweisen bzw. Strategien die verschiedenen Beteiligten (bspw. Lernende, Pflegende, PatientInnen, BewohnerInnen, Angehörige, Angehörige verschiedener Berufsgruppen, die Institution, die Gesellschaft) den Phänomenen begegnen. Es wird identifiziert, welche Entscheidungen die Beteiligten treffen und vor welchem Hintergrund sie dies tun. Beschreibungsfolie dafür können bspw. auch Handlungsprozesse[2] sein. Zugleich wird offen gelegt, was die Handlungsweisen in der Situation beeinflusst, wie die Beteiligten diese erleben, welche Alternativen möglich wären, welche sich die Beteiligten (vermutlich) wünschen und welche erwartet werden (bspw. von der Institution, der Gesellschaft). Bedeutsam ist die Frage nach Differenzen zwischen den Erfahrungen der Lernenden und Lehrenden und einer wünschenswerten bzw. erwarteten Handlungsweise. Hier werden bspw. Antinomien und Paradoxien des professionellen Handelns sichtbar. Wie alle anderen Schritte dient dieser zur Identifikation von inhaltlichen Aspekten, die in der Umsetzung der Lernsituation mit den Lernenden bspw. als Differenzen zwischen schulisch gelernten und pflegepraktischen Handlungsweisen diskutiert werden können. Ergebnis ist die Beschreibung und kritische Reflexion der gefundenen Handlungsweisen sowie die Beschreibung und (wissenschaftliche) Begründung alternativer, wünschenswerter Handlungsweisen und deren Bedingungen.

Ähnlich wird mit den Fragen nach den Interaktionen und den emotionalen, ethischen und sozialpolitischen Haltungen verfahren. Zunächst wird beschrieben, wie diese sich in der Handlungssituation darstellen bzw. vermuten lassen. Auch hierbei helfen wieder (wissenschaftliche) Beschreibungsfolien. Es wird nach beeinflussenden Aspekten (bspw. Machtverhältnissen) gefragt, wie die Beteiligten die Interaktionen und die Haltungen erleben und nach Differenzen zwischen den Erfahrungen der Beteiligten und einer wünschenswerten bzw. erwarteten Interaktion und Haltung. Ergebnis ist die Beschreibung und kritische Reflexion der vorliegenden Interaktionen und vermuteten Haltungen der Beteiligten sowie die Beschreibung und (wissenschaftliche) Begründung wünschenswerter Interaktionen und Haltungen und deren Bedingungen.

Bezüglich des Kontextes wird gefragt, in welche beruflichen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen die Situation eingebettet ist. Personale, materielle, soziale, organisatorische, rechtliche und kulturelle Aspekte werden betrachtet. Die Wirkweise dieser Bedingungen wird analysiert, indem ihr ermöglichendes oder behinderndes Potenzial auf Handlungsalternativen identifiziert wird. Handlungsleitende Werte werden identifiziert und es wird offen gelegt, welche Deutungsangebote von wem gemacht werden und welche Spannungsfelder sich daraus ergeben. Ergebnis ist die Beschreibung und kritische Reflexion der gefundenen Bedingungen und deren Auswirkungen sowie die Beschreibung und (wissenschaftliche) Begründung wünschenswerter Bedingungen. Um Relevanz- und Begründungsfragen geht es bei der Frage danach, welche Phänomene zu Pflege- bzw. Lernanlässen werden (sollen).

Als Ergebnis liegt eine Auswahl und (pflege-)wissenschaftliche bzw. pflegedidaktische Begründung der Phänomene und Konzepte vor, die anhand einer konkreten beruflichen Handlungssituation thematisiert werden sollen. Das bisherige Gesamtergebnis ermöglicht nun die Formulierung der anzubahnenden Kompetenzen für die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Handlungssituation, die bspw. in einem fortlaufenden Prozess in ein Kompetenzprofil eingefügt werden können und die in Beziehung zu Lernvoraussetzungen gesetzt werden. Bedeutsam sind folgende Fragen: Welche Voraussetzungen sind zum Bearbeiten dieser Situation notwendig? Welche bringen die Lernenden vermutlich mit?

6.4 Das Lehr-Lern-Arrangement

Das Lehr-Lern-Arrangement steht in diesem Beitrag nicht im Mittelpunkt, soll aber dennoch erwähnt werden, weil damit aufgezeigt wird, wie sich der phänomenologische Zugang bis in den Unterricht und die pflegepraktische Ausbildung fortsetzt. Es geht hierbei um alle pflegedidaktischen Überlegungen zum Lehren und Lernen der Lerngegenstände, die als lernnotwendig bzw. lernmöglich identifiziert wurden – insbesondere methodische Empfehlungen. Besonderes Augenmerk liegt auf erfahrungsbezogenem Lernen. Varianten des szenischen Spiels (vgl. Oelke/Ruwe/Scheller 2000) bieten die Möglichkeit, Phänomene, Deutungen und Selbstauslegungen zu erarbeiten. Der leiblich-emotionale Zugang zu den beruflichen Handlungssituationen ermöglicht eine Arbeit an reflektierter Emotionalität als bedeutsames Bildungsziel im Pflegeberuf. Im weiteren Lernprozess wird auch problemorientiertes Lernen eingebunden – eine Sensibilisierung der Lehrenden für die Überbetonung kognitiver Aspekte und die Störanfälligkeit dieses Lernens ist allerdings angezeigt (vgl. Walter 2013). Teil dieser Überlegungen ist zudem, wie das Arrangement mit den Lernenden ausgehandelt werden kann. Diese Aushandlungen stehen modellhaft für die Aushandlungsprozesse zwischen Lernenden und zu Pflegenden.

Schließlich werden Formen der Lernortkooperation identifiziert, diezur Anbahnung der Kompetenzen notwendig sind – bspw. Lernaufgaben für das Skills lab und Praxisaufträge für die pflegepraktische Ausbildung. Solche Aufträge enthalten bspw. Beobachtungsaufträge oder spezielle Aufgaben im Zusammenhang mit Pflegesituationen, die von den Lernenden eigenverantwortlich oder gemeinsam mit Praxisanleitenden bearbeitet werden. Zur handlungsorientiertenLernerfolgsbewertung werden Formen gewählt, die es Lernenden ermöglichen, ihre Kompetenzen im Handeln zeigen zu können.

6.5 Von Handlungssituationen zu Handlungsfeldern oder empirische Fundierung im „luftleeren Raum“?

Im Laufe des Curriculumprozesses kommt es bestenfalls zur sukzessiven Auffüllung bzw. Sättigung in dem Sinne, dass sich über die phänomenologische Analyse Strukturen abheben, die eine Bündelung der Handlungs- bzw. Lernsituationen ergeben, die es rechtfertigen würde, von empirisch ermittelten Handlungs- resp. Lernfeldern zu sprechen. Diese Sättigung wird in derzeitigen Curriculumprozessen nicht erreicht. Damit die Beteiligten nicht den Eindruck gewinnen, die Curriculumentwicklung findet im „luftleeren Raum“ statt, vermag ein Rahmenlehrplan als Ordnungsmittel Sicherheit zu geben. Regelhaft wird in den Prozessen die Struktur der Rahmenlehrpläne jedoch aufgebrochen. Die Folge ist eine notwendige Neuzuordnung: Die Lehrenden müssen Tabellen erstellen, die aufzeigen, in welchen Lernsituationen resp. Modulen sich welche (oft fächerorientierten) Lerninhalte des Rahmenlehrplanes finden lassen.

7 Ein Ergebnis: Das Modul „Meine ersten Wochen – was mir nah geht und was ich brauche“

In der Einführung wurde betont, dass Lernsituationen als Kernelemente eines Curriculums verstanden werden, nicht aber das einzige Strukturelement darstellen. Beispielhaft soll gezeigt werden, wie im Curriculumprozess der Zuschnitt eines Moduls – verstanden als größerer Baustein eines Curriculums – empirisch generiert und begründet wurde.

In einem Curriculumprozess wurden verschiedene Akteurinnen und Akteure zu einer Berufsfeldanalyse eingeladen. Über die Methode des World-Cafés setzten sich die Beteiligten (Lehrende, Lernende, praxisanleitende Pflegende, Pflegedienstleitende aus verschiedenen Praxisfeldern, eine Pflegewissenschaftlerin und eine Pflegedidaktikerin) in mehreren Gesprächsrunden zu folgenden Fragen auseinander:

  • Welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie im Berufsfeld Pflege?
  • Welche zukünftigen Herausforderungen sehen Sie im Berufsfeld Pflege?
  • Welche konkreten Situationen fallen Ihnen dazu ein?

Diese erste Sammlung wurde im weiteren Verlauf mit Erzählungen von Lernenden über ihren Start in die Ausbildung und anhand von pflegewissenschaftlicher Literatur reflektiert. Phänomene, die immer wieder auftauchten waren: zu-nahe-kommen (mir kommt jemand oder etwas zu nahe), Unsicherheit über „erlaubte“/gewollte Nähe (bspw. in Bezug auf Patientinnen und Patienten und Angehörige, Teammitglieder, innerhalb der Lerngruppe).

Über Verdichtungsschritte und die Bearbeitung der gesammelten Situationen konturierte sich das Modul „Meine ersten Wochen – was mir nah geht und was ich brauche“. In diesem ersten Modul beschäftigen sich die Lernenden damit, was ihnen in ihren ersten Ausbildungswochen an allen Lernorten begegnet. Der Fokus wird im Titel deutlich: Es geht darum, was ihnen „nah“ geht und was sie benötigen, um dies zu verstehen und damit umzugehen. „Nah“ sind ihnen bspw. pflegerischeHandlungen, die sie entsprechend in diesem Modul lernen – es geht um körpernahes Arbeiten bei der Körperpflege und in Bewegungssituationen. Emotional „nah“ gehen ihnen Situationen, die sie in besonderer Weise als Personen herausfordern – bspw. wenn Menschen in Not geraten und sterben und sie dies zum ersten Mal in ihrem Leben erleben oder sich an diesbezügliche frühere familiäre Erfahrungen erinnern. Insgesamt soll durch das „Nähe-Augenmerk“ bei den Lernenden als Personen angeknüpft werden – sie sollen angeregt werden sowohl ihre Motivation und ihre Haltung, mit der sie die Ausbildung beginnen, zu reflektieren, als auch Nähe in pflegerischen Situationen austarieren lernen – sich demnach erstmalig mit der Beziehungsarbeit in der Pflege befassen. Auch im Pflegeteam und in der Lerngruppe gilt es, Nähe und Distanz zu reflektieren und zu balancieren.

Das Beispiel einer Handlungssituation, die bereits zur Lernsituation bearbeitet war (vgl. Walter 2011) und in das Modul integriert wurde, soll abschließend erahnen lassen, wie die Erzählperspektive ihre Wirkung entfaltet. Folgende Situation erzählt eine Altenpflegeschülerin aus dem ersten Semester:

„Im Praktikum im Altenheim hatte ich am Anfang Probleme und auch Schamgefühle gegenüber den nackten Bewohnern. Es war schwer für mich, den Menschen in die Augen zu sehen, denn ich hatte noch nie zuvor einen fremden nackten Menschen vor mir gehabt. Gleich am ersten Tag musste ich eine Bewohnerin allein waschen. Ich hatte das Gefühl, dass sie es nicht wollte, dass ausgerechnet ich ihr helfe, denn ich war ja neu, unerfahren und auch nicht sicher im Vorgehen. Aber ich musste die Körperpflege durchführen – vom Anfang bis zum Ende. Der Gedanke, dass ich mich vor einem fremden Menschen nackt ausziehen und von jemandem waschen lassen müsste, und das täglich und vielleicht auch bei wechselnder Personalbesetzung – das wäre für mich schon schwer zu akzeptieren. Ich weiß nicht, was ich mir da eigentlich wünschen würde“ (Walter 2011).

Erfahrungsbezogene Methodenals Unterrichtseinstieg ermöglichendieEntfaltung der Situation: Phänomene, Selbstauslegungen und Deutungen zu diesen Phänomenen aus verschiedenen Perspektiven werden erarbeitet. Varianten des szenischen Spiels bieten diese Möglichkeit (vgl. weiter oben). Aus dem Ergebnis können die LernendenihrenLernbedarfin Form von Fragenableiten. Bspw. zeigen sich folgende Phänomene in der Situation: Sich-schämen, Nackt-sein, Nackt-sein und Sich-in-die-Augen-blicken, Fremd-sein, Allein-sein mit einer neuen Aufgabe, Ablehnung spüren, Unerfahren-sein. Diese können mindestens aus den Perspektiven Lernende und Bewohnerin gedeutet und weiterbearbeitet werden. Pflegewissenschaftliches Wissen kann helfen, bspw. Scham und Fremdheitsgefühle besser zu verstehen und Umgangsweisen damit zu entwickeln. Am Anfang steht jedoch das Wahr- und Ernstnehmen der Gefühle, die (fast) allen Lernenden vertraut sind. Über das Phänomen Allein-sein mit einer neuen Aufgabe können Bedingungen des Ausbildungsstartes thematisiert werden. Lernende können einüben, Begleitung bzw. Reflexion in der Pflegepraxis einzufordern.

8 Kritische Reflexion und weiterführende Fragen an die Berufsbildungsforschung aus Sicht der Pflegeberufe

Bei der Arbeit mit authentischen Situationen besteht die Gefahr der Verdinglichung und der Fokussierung auf den Status Quo. Umso konsequenter müssen sich Lehrende in Curriculumprozessen – extern unterstützt – an ein begründetes Instrument halten, das die Bildungshaltigkeit (bspw. die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutsamkeit sowie die institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen des pflegerischen Handelns) reflektieren hilft. Der hier vorgelegte pragmatische Ansatz muss noch weiter begründet werden. Bislang liegen zu wenige empirische Untersuchungen aus den Gesundheitsberufen darüber vor, welche Relevanz das Lernen mit authentischen Situationen – auch im Hinblick auf Bildungsprozesse – besitzt. Umsetzungserfahrungen verweisen z. B. darauf, dass implizit Gelerntes über die Arbeit mit Situationen der Reflexion stärker zugänglich wird (vgl. Fichtmüller/Walter 2007; Bohrer 2013).

Berufsbildungsforschung im Berufsfeld Pflege gilt insgesamt als entwicklungsbedürftig (Arens/Brinker-Meyendriesch 2013; Darmann/Keuchel 2006). Bündelnde Strategien zum Aufbau dieser Forschung sind derzeit in Deutschland nicht erkennbar, eine entsprechende Infrastruktur fehlt (vgl. Darmann-Finck 2010; Dieterich/Kreißl 2010). Ebenso liegen kaum Daten über die Pflegeausbildungen vor, der Berufsbildungsbericht streift diesen Sektor nur am Rande (Darmann-Finck/Foth 2011; Slotala/Evers 2012).

Fragen, die der Forschung zugeführt werden müssen, betreffen bspw. die Beziehung zwischen den Strukturlogiken der Wissenschaften und der Handlungslogik beruflicher Situationen sowie den subjektiven Theorien der Lernenden in der Pflege. Ebenso muss die Spannung zwischen lernfeldorientierten Curricula und „fallbasierten“ schriftlichen Prüfungen reflektiert werden. Weiterhin stellt sich die Frage, in wie weit in Curriculumforschungen die Lebensphase der Lernenden in Pflegeausbildungen mit ihren speziellen Entwicklungsaufgaben, den pflegespezifischen Lerngegenständen gegenübergestellt wird und welchen Einfluss die Lebensphase auf ideologiekritische Aspekte hat (Arens/Brinker-Meyendriesch 2013).

Aktuell stehen die Pflegeausbildungen an einer Schwelle. Diskutiert wird ein neues Berufsgesetz, das die Pflegeausbildungen (Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und Altenpflege) zusammenführt und eine neue berufliche Identität zur Folge haben sollte. An dieser Schwelle ist es möglich, berufs- und ordnungspolitisch einzugreifen, um der zunehmenden Ökonomisierung in der Pflege aus der Bildungsperspektive etwas entgegenzusetzen. Über die empirische Fundierung von Curricula mit authentischen Handlungssituationen kann aufgezeigt werden, wie vielgestaltig pflegerisches Handeln ist. Offenkundig wird, welche Kompetenzen Pflegende aktuell und in Zukunft benötigen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden undum sich bedenklichen Entwicklungen im Interesse der Patientinnen und Patienten oder Bewohnerinnen und Bewohnernsowie um ihrer eigenen Integrität willen, widerständig entgegenzustellen.

Literatur

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[1] Die Neue Phänomenologie ist in Medizin und Pflege bereits aufgegriffen worden (vgl. Schmoll/Kuhlmann 2005; Uzarewicz/Uzarewicz 2005).

[2] z. B.: Pflegeprozess als methodisches Instrument, Entscheidungsfindungs-, Beratungs- und Anleitungsprozesse, Beziehungsprozesse, Organisations- und Qualitätsprozesse, diagnostische und therapeutische Prozesse, gesellschaftliche/soziologische Prozesse

Zitieren des Beitrags

Walter, A. (2015):Der phänomenologische Zugang zu authentischen Handlungssituationen – ein Beitrag zur empirischen Fundierung von Curriculumentwicklungen.In: bwp@ Spezial 10 – Berufsbildungsforschung im Gesundheitsbereich, hrsg. v. Weyland, U./Kaufhold, M./Nauerth, A./Rosowski, E., 1-22. Online: http://www.bwpat.de/spezial10/walter_gesundheitsbereich-2015.pdf  (19.11.2015).