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ARMIN SEHRER (Lernende Region Bodensee, Claude-Dornier-Schule Friedrichshafen)

Die berufliche Schule in der Lernenden Region Bodensee: Regionale Funktion des Beraters, Knotenpunkts, Netzwerkers und Unterstützers im Übergang Schule-Ausbildung-Beruf

Inhalt:
1 Schulische Situationsanalyse
2 Lernende Regionen am Beispiel der Lernenden Region Bodensee mit dem Modellprojekt Schulnetzwerk Region Bodensee
2.1 Lernnetz Bodensee
2.2 Das Modellprojekt Schulnetzwerk Region Bodensee
2.2.1 Beispiele, wie Schule reagieren kann
2.2.2 Weitere Tätigkeitsfelder des Schulnetzwerkers
3 Fazit

 

1 Schulische Situationsanalyse

Bis in die 1970er-Jahre, teils auch noch weit darüber hinaus, waren die Lebenswege im Vergleich zu heute relativ einfach planbar. Es gab so etwas wie Sicherheit und Orientierung. Betriebe hatten neben den Ausbildungsplätzen noch ein großes Angebot an Einfacharbeitsplätzen. Jobhopping, Phasen der Arbeitslosigkeit, Umschulungen, die Notwendigkeit der Weiterbildung, die Möglichkeit eines Studiums ohne Abitur etc. waren eher selten anzutreffen. Schulaufträge waren relativ klar. Lehrer sein war mit einem hohen Sozialprestige verbunden.
Wie sieht es heute aus?

· Betriebe stellen statistisch zu wenig Ausbildungsplätze zur Verfügung,
· nahezu alle Jugendlichen (ob mit oder ohne Ausbildungsplatz) münden in irgendeiner Form in die berufliche Schule, wobei der Anteil der Auszubildenden in vielen Branchen rückläufig ist,
· die Zahl der Ausbildungsabbrüche ist hoch,
· freie Ausbildungsplätze werden teils nicht besetzt,
· die Zahl der schulischen "Falschparker" und Studienabbrecher ist ebenfalls hoch;
· viele Menschen, nicht nur Jugendliche, wissen nicht, welche Fähigkeiten sie haben und welche Möglichkeiten schulischer oder beruflicher Art sich daraus ergeben,
· SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern sind in zunehmenden Maß überfordert.

Deutschlands (Aus)Bildung ist nicht optimal. Die beiden anerkannten Wege beruflicher Integration, Schule und Ausbildung, sind für eine steigende Zahl von Jugendlichen sehr uneben und häufig blockiert. "Der Berufseinstiegsprozess gestaltet sich für große Teile der jungen Generation zunehmend schwieriger und langwieriger" (LEX 1997, 311). Ganz abgesehen von einem Optimierungsbedarf in der Ausbildungsbereitschaft und deren Qualität bei einer Anzahl von Betrieben wird ein Dilemma deutlich, nämlich, dass Schule in ihrem starren Korsett der letzten Jahrzehnte aus heutiger Sicht wichtige Aufgaben noch nicht erfüllt hat und teilweise vielleicht auch nicht erfüllen konnte. Diese Aufgaben, die es nach wie vor anzupacken gilt, sind:

· Zu einer flächendeckenden Orientierung der Jugendlichen über ihr eigenes Können, ihre Ziele, über spätere Lebens-, Bildungs-, Ausbildungs- und berufliche Möglichkeiten zu führen,
· die Lust und Bereitschaft zum lebenslangen/lebensbegleitenden selbstgesteuerten Lernen bei den SchülerInnen zu wecken,
· im Wissenstransfer der SchülerInnen international konkurrenzfähig zu sein/zu werden,
· den seit langem erklingenden Vorwurf mangelnder grundlegender Kultur- und Sozialkompetenzen der SchülerInnen zu entkräften,
· eine befriedigende Positionierung im Spannungsfeld zwischen Bildungs-, Erziehungs-, Förderungs- und Selektionsauftrag zu finden und
· die Öffnung und Kooperation mit Jugendhilfe, Eltern, Betrieben, Orten des nicht formalen oder informellen Lernens etc. zu suchen, bzw. zu verbessern.

Schule war oftmals ein relativ isolierter Raum mit isolierten Lehrern, die ihre Arbeit zuhause im stillen Kämmerchen planen und dabei SchülerInnen zum Teil mit veralteten Materialien auf eine Zukunft vorbereiten, die nicht jedem Jugendlichen und nicht unbedingt den betrieblichen Realitäten entspricht. Natürlich gibt es dabei auch immer rühmliche Ausnahmen. Und, um nicht falsch verstanden zu werden: Dies ist kein Vorwurf an einzelne Lehrer oder einzelne Schulen, sondern eine Bestandsaufnahme aus heutiger Sicht, in Zeiten der Individualisierung, der Massenarbeitslosigkeit, des technologischen, ökonomischen und strukturellen Wandels mit neuartigen gesellschaftlichen Anforderungen. Mit anderen Rahmenbedingungen gäbe es auch andere Erwartungen an die Schule bzw. die Lehrer.
"Alle Bildungs- und Erziehungsbemühungen von Schule, all ihre Lerninhalte, alle Verhaltensnormen, die sie in der Vergangenheit auch gegen die Schüler durchsetzen konnte, lebten traditionell von dem Verweis auf die Notwendigkeit und Anforderungen des späteren Lebens. Schule konnte nie Selbstzweck sein, sondern war immer Mittel zum Zweck und nur dadurch allen Beteiligten plausibel zu machen. Indem dieser Zweck, nämlich die Vorbereitung aufs spätere Leben, nun unter Individualisierungsbedingungen nicht mehr so klar ist wie früher, verlieren auch die Veranstaltungen der Schule, die sich auf die notwendige Einübung jener Ordnungen berufen, ihre Glaubwürdigkeit" (BRATER 1997, 157). Lehrer sein bedeutet nach einer aktuellen Studie von Prof. Joachim Bauer (Fachbereich Psychologie der Universität Freiburg) Schwerstarbeit zu leisten; mehr als ein Drittel der Lehrer leidet am Burnout-Syndrom (SÜDKURIER 20.5.2003). Mögliche Gründe dafür sind:

· der Mangel an Unterstützung durch viele Eltern,
· Kinder und Jugendliche, die zuhause oft zu wenig Zuneigung bekommen und
· eine Beeinträchtigung des Gesundheitszustands der SchülerInnen, vor allem im psychosomatischen Bereich, bei rund 50 Prozent. (ebd.)

Wir leben in einer Informations- und Wissensgesellschaft, deren Regeln und Anforderungen erkannt und umgesetzt werden müssen. Die Tragweite der Orientierungsschwierigkeiten in einer sich wandelnden Gesellschaft ist seit Mitte der 1980er-Jahre vor allem von BECK ausreichend beschrieben worden. Offene Lernformen in Netzwerken und Kooperationen, Kompetenzorientierung mit entsprechenden Formen der Erfassung und Bewertung, Ausbildungsvorbereitung, mögliche sinnstiftende Beschäftigungsformen außerhalb der Erwerbsarbeit, herkunftsunabhängige Chancengleichheit, Beschaffung von und Umgang mit Informationen, Übergänge und Förderung des lebenslangen Lernens, Lernen lernen, Lust am Lernen, Reflexionskompetenz, Standortbestimmung, Planungsvermögen, Präsentation, Soft Skills sind die Themen, denen sich die Schule aktuell stellen muss und soll. Was fehlt, ist die didaktische Anpassung. Schulische Leistungen und Prüfungen müssen sich anpassen.

WINTER vertritt die These, dass didaktische Reformen heute durch die traditionellen Muster schulischer Leistungsbewertung (praktisch und konzeptionell) stark behindert werden (2002, 129). ULICH weist auf die Bedeutung der impliziten Persönlichkeitstheorien hin. Soziale Schichten der SchülerInnenherkunft werden bei Beurteilungs- und Selektionsentscheidungen nicht berücksichtigt; LehrerInnen konstruieren sich mit mittelschichttypischen Maßstäben Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und Schulabschlussmöglichkeiten. Kinder aus der oberen Mittelschicht sind daher die geeigneteren Gymnasiasten. Implizite Persönlichkeitstheorien "bergen (...) die Gefahr in sich, eine letztlich ungerechte und wenig objektive Auslesepraxis festzuschreiben. Deshalb besteht der erste und entscheidende Schritt zu einer Änderung darin, sich diese Wahrnehmungs- und Beurteilungsmechanismen bewusst zu machen und die eigenen Urteile - nicht nur, aber gerade - bei Übertrittsempfehlungen sorgfältig zu überdenken." (ULICH 2001, 170)
Bezogen auf Leistung und Versagen, Beurteilung und Auslese hat ULICH zwei Forderungen an die zukünftige Schule:

· " Wir müssen dringend "unser Konzept von Schulleistung neu fassen und Leistung als etwas sehr viel Breiteres anschauen, als dies heute der Fall ist". Die immer größere (auch kulturelle) Heterogenität der Schüler/innen verlangt von der zukünftigen Schule ein differenzierteres Lern- und Förderungsangebot. - Es liegt auf der Hand, dass dies bei den heute üblichen Klassengrößen kaum zu realisieren ist.

· Die Schule der Zukunft muss "dringend einen neuen Umgang mit der Selektion finden (...) und sie muss von ihrer Bewertungssucht geheilt werden, will sie ihren Wert steigern.

Kein einziger Erwachsener würde so viel permanente Bewertung ertragen, wie wir sie Kindern zumuten. Selbstverständlich wird auch die kommende Schule die Paradoxie ihres gesellschaftlichen Auftrags nicht auflösen können, zugleich fördern und auslesen zu müssen." Dabei ist nach meiner Überzeugung die Rangfolge entscheidend: erst fördern und dann auslesen." (ebd., 171, nach KELLER/WIRTH 1999)
Neue Lern- und Leistungsformen in einer neuen Lern- und Bildungskultur sollen erreicht werden. Ausbildungsvorbereitung soll in diesem Zusammenhang ebenso ein stärkeres Gewicht bekommen und regional koordiniert werden. "Praktika in schulischen und außerschulischen berufsvorbereitenden Maßnahmen sowie im Rahmen des Faches Arbeitslehre an allgemeinbildenden Schulen sollten mit dem Ziel der Integration in die Arbeitswelt flächendeckend mit dem Einsatz von Integrationsberatern und regionalen Leitstellen kombiniert werden." (RÜTZEL, SEHRER, ZIEHM 2000, 189) Es bedarf also eines koordinierten Lernortverbunds. Das Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik INBAS versteht darunter "einen fortgeschrittenen Prozess der Zusammenarbeit, in dem verschiedene Partner auf horizontaler und vertikaler Ebene kooperieren und ihre Maßnahmen bzw. ihren Unterricht sinnvoll miteinander koordinieren." (Bundesministerium für Bildung und Forschung 1998, 222) Der dazu nötige Dialog findet auf drei Ebenen statt,

1. auf der administrativen Ebene,
2. auf der Leitungs- bzw. Geschäftsführungsebene,
3. auf der Ebene des Ausbildungs- und Lehrpersonals. (ebd., 223)
Hinzu kommt die gesamte gleichfalls horizontale und vertikale Vernetzung im Sinne eines umfassenden lebenslangen Lernens.

2 Lernende Regionen am Beispiel der Lernenden Region Bodensee mit dem Modellprojekt Schulnetzwerk Region Bodensee

Für die genannten Ziele bedarf es der Achtung und Beachtung, der Kommunikation und Kooperation aller aktiv wirkenden Kräfte eines Dorfes, einer Stadt, eines Landkreises und einer Region. Die Subsysteme des Erziehungs- und Bildungssystems, die unterschiedlichen Lernorte, Betriebe, Beratungsstellen, Vereine, ehrenamtliche Helfer, LehrerInnen, ErzieherInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen/-pädagogInnen etc. sollten sich ihrer Einzelziele und der gemeinsamen Ziele bewusst werden und an einem Strang ziehen. Darin eingeschlossen sind auch Organisationen wie Jugend-, Sozial-/ Arbeitsämter, Verbände, Stiftungen, Kammern/Innungen, Aus- und Fortbildungsinstitute für ErzieherInnen-/LehrerInnen-/AusbilderInnen, Bibliotheken, Mediotheken, Schulen und Schulbehörden der unterschiedlichen Schularten. Um entsprechende kooperative Lösungen in den unterschiedlichen Regionen zu suchen und diese erfolgreich umzusetzen gibt es das Bundesprojekt Lernende Regionen, das durch den europäischen Sozialfonds mit finanziert wird. Bezogen auf die Bodenseeregion gibt es im Vergleich zu anderen Lernenden Regionen folgende Besonderheit: Die Projektpartnerschaft bezieht sich in der ersten Durchführungsphase auf drei Landkreise (Konstanz, Bodenseekreis und Lindau) aus zwei Bundesländern (Baden-Württemberg und Bayern) und soll künftig durch die stärkere Einbeziehung der Bodenseeanrainergebiete Österreichs, Liechtensteins und der Schweiz internationale Ausmaße annehmen. Die Menschen rund um den Bodensee sollen sich als eine Region verstehen mit einem vielseitigen transparenten Angebot an Lern-, Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Die regionalen Ziele sind:

· Unterstützung des formellen und informellen lebenslangen/lebensbegleitenden Lernens und damit die Erhöhung der Lernchancen aller BürgerInnen und aller Gäste der Region,
· Förderung und Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit der BürgerInnen der Region,
· Abbau von Lernbenachteiligung und Vermeidung von Ausgrenzungen,
· Entwicklung und Erprobung von erweiterten Lernmöglichkeiten und Lernformen,
· Schaffung von Transparenz im Bildungsbereich und eine
· möglichst umfassende (vertikale und horizontale) Vernetzung.
· Der Nutzen sollte darin liegen:
· die Region zu einem attraktiven Bildungsstandort zu entwickeln und als innovativen Wirtschaftsstandort zu sichern,
· bisher unerschlossene Kompetenzen zu erkennen und gezielt zu fördern,
· zur größeren Transparenz und breiterem Bekanntwerden der regionalen Bildungsangebote beizutragen und
· die Bürgerinnen und Bürger der Region zu befähigen, sich in der modernen Lebens- und Arbeitswelt besser zurecht zu finden und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Zur aktuell gehaltenen Transparenz der formellen und informellen Lern- und Lernserviceangebote in der Region soll die (Weiter-)Bildungsdatenbank und direkte Information und Beratung beitragen. Es entsteht derzeit ein Netzwerk an motivierend-beratend-vermittelnd unterstützenden Lernservice-/Lernberatungsstellen (L-Punkte), das die jeweils anderen Kompetenzen (sowohl der Rat suchenden als auch der anderen Akteure) nicht nur respektiert, sondern auch nutzt. Ergänzend gibt es spezifische Modellprojekte zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, zum Abbau von Lernbenachteiligung und zur Entwicklung und Erprobung erweiterter Lernmöglichkeiten und Lernformen.

2.1 Lernnetz Bodensee

Das Lern-Netz-Bodensee ist ein trägerübergreifendes offenes Netzwerk, das dazu beitragen soll, die Lernchancen aller Bürger und Bürgerinnen sowie aller Gäste der Region zu erhöhen und die Beschäftigungsfähigkeit in der Region zu fördern.

Bestehende regionale Strukturen und Netzwerke werden in das Lern-Netz-Bodensee mit eingebunden.

2.2 Das Modellprojekt Schulnetzwerk Region Bodensee

Schulen müssen sich in diesem Lernnetz ihrer Kompetenzen und Verantwortung als kommunale und regionale Bildungsakteure, Begleiter der Jugend und als Wegbereiter des lebenslangen selbstgesteuerten Lernens und möglicher Karrieren stärker bewusst werden. Dazu gibt es auch oder gerade in Zeiten leerer öffentlicher Kassen gute Ansätze in Einzelschulen oder in Netzwerkinitiativen, wie der Lernenden Region Bodensee. Im Bereich der Übergänge Schule - Ausbildung - Beruf ist das Modellprojekt Schulnetzwerk Region Bodensee an einer beruflichen Schule (Claude-Dornier-Schule Friedrichshafen) angesiedelt. In enger Verbindung mit den weiteren Modellprojekten der Lernenden Region Bodensee "Prävention und Elterntraining", "Erkundendes Lernen im Lernfeld Natur", "Schulnetzwerk Konstanz", "Bildungslotse für zugewanderte junge Menschen", "Stärkung von Lernorten in kleinen Gemeinden" und "Förderung der Beschäftigungspotentiale von KMU durch übergreifenden Bildungsservice" trägt der Autor als Schulnetzwerker seit Februar 2003 in allen drei Landkreisen dazu bei, die Kompetenzen der gewerblich beruflichen Schule (Aus- und Weiterbildungsinstitution und Partner der Betriebe, Kammern und Innungen) gewinnbringend in die Suche neuer Netzwerkpartnerschaften und in das Angebot neuer Begleitungs- und Unterstützungsoptionen einfließen zu lassen. Die Berufliche Schule erhält durch dieses Projekt die Möglichkeit als eine Art regionale Leitstelle Prozesse der Zusammenarbeit verschiedener Partner auf horizontaler und vertikaler Ebene zu unterstützen, zu initiieren und zu koordinieren. Der regionale Arbeitskreis Schule-Ausbildung-Beruf dient dem dafür notwendigen Dialog und Informationsfluss. Aus der Schnittstelle Schule-Beruf soll eine Nahtstelle werden. Gute schulische Praxis soll dabei gestärkt und verbreitet werden. Vom hochbegabten bis zum schwächeren Schüler soll eine individuellere begleitende Förderung ermöglicht werden. Schüler aus allen sozialen Schichten brauchen Bildungsprogramme, die Talente, Hoffnungen, Sorgen und Probleme gegenseitig respektvoll einbeziehen und den jungen Menschen begleitend unterstützen, um ernst genommen zu werden, Fortschritte zu erzielen und einen individuellen Lebensweg zu finden. Jugendliche sollen nicht nach einer negativen Schulkarriere in ein Nachbesserungssystem rutschen müssen. Die Nachbesserung soll so früh wie möglich in Form von Förderung, gezielter Informationen für SchülerInnen und LehrerInnen, Kompetenzansatz etc. erfolgen. Schüler, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen über viele Jahre ihrer Schulzeit nicht erreicht wurden, denen keine angemessenen Angebote gemacht wurden und denen keine tatsächlich erfüllbaren Leistungen abverlangt wurden und später ohne Schulabschluss oder mit einem schlechten ins Berufsvorbereitungsjahr oder in Arbeitsamtsmaßnahmen münden sind für HILLER zurecht "mehrheitlich bildungsbetrogene Jugendliche" (HILLER 2003). Selektion durch "Sitzenbleiben" mit allen negativen Folgen sollte nur noch in absoluten Ausnahmen praktiziert werden und durch eine frühe individuelle Förderung nach finnischem Vorbild ersetzt werden. So sieht es derzeit auch der baden-württembergische SPD-Bildungsexperte Norbert Zeller im Einklang mit der Gewerkschaft GEW (SÜDKURIER, 12.08.2003). Dieser Ansatz ist im Hinblick auf fatale Ergebnisse von späteren nachschulischen Reparaturmaßnahmen als richtig anzusehen. HAUNERT/LANG (1994, 14) zeigen auf, dass viele junge Menschen aus Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, Bewerbungs- und Motivationskursen, ausbildungsbegleitenden Hilfen, berufsvorbereitenden Maßnahmen etc. wieder in die Arbeitslosigkeit oder in weitere Maßnahmen münden und dabei die Projekte wachsen und ihre Ausstattung verbessern. Auch die Bundesanstalt für Arbeit hat diese Entwicklung kritisiert und den Markt dieser Angebote querbeet zurzeit stark verunsichert. Dennoch muss man sehen, dass diese Angebote auch für viele Jugendliche einen individuellen Nutzen (kompetenzentwickelndes Lernen) bringen können und auch eine sinnvolle Warteschleife noch sinnvoll bleibt, wenn keine besseren Alternativen (Ausbildungsplätze oder die Aufnahme an weiterführenden Schularten) möglich sind.

2.2.1 Beispiele, wie Schule reagieren kann

Praxisklassen in Bayern und Kooperationsklassen (kooperatives BVJ) in Baden-Württemberg setzen für leistungsschwächere Hauptschüler auf berufspraktischen und berufsorientierenden Unterricht außerhalb der gewohnten Schule mit betrieblichen Praktika. Noch offener ist Schule, wenn sie die ganze Stadt als Schulort sieht, wie es beim Berliner Modell "Stadt als Schule" der Fall ist. Dort besteht der Unterricht für Schüler, die in ihrer Herkunftsschule nicht klar kommen oder die Schule verweigern, schon seit ca. 11 Jahren aus Aufträgen und Projekten, die in öffentlichen Einrichtungen und Betrieben zu erledigen sind. Produktionsschulen nach dänischem Vorbild sind in den letzten Jahren in ganz Hessen aufgebaut worden.
Das Arrangieren von Lernmöglichkeiten und Lernortkombinationen wird in der Regel noch zu wenig genutzt, könnte aber entlastend wirken. Fächerübergreifende Projekte waren bislang für viele LehrerInnen Zusatzarbeit, da sie mit ihrem Lehrplan oder mit Prüfungsvorbereitungen gebunden waren. Kombiniert mit Projektprüfungen (derzeit möglich in Hauptschulen, Förderschulen und im BVJ), fällt die Zusatzbelastung weg. Die nötige Flexibilität wird durch den Bildungsplan 2004 mit seinen Bildungsstandards begünstigt. Den zeitlichen Rahmen für Projektarbeit schaffen sich viele Schulen derzeit durch den Antrag auf Umstellung zu einer Ganztagsschule. "Modellschulen" im Oberschulamtsbezirk Tübingen (darunter auch die Claude-Dornier-Schule Friedrichshafen) versuchen aktuell in dem Programm "Weiterentwicklung schulischer Abschlussprüfungen" WESA ökonomische Inhalte in Fächerverbünde zu integrieren und neue schulische Organisationsstrukturen zu schaffen, die positiv auf die Förderung und Forderung der Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz der SchülerInnen wirken (WESA-Erklärung der teilnehmenden Grund- und Hauptschule mit Werkrealschule Bergatreute). Die Portfolio-Methode spielt hier eine sehr wichtige Rolle. Auch andere Schulen suchen derzeit Wege, diese Methode in neuen Unterrichtsmodellen umzusetzen. Die Förderung eines Dialogs hilft dabei, dass das Rad nicht ständig neu erfunden werden muss.

2.2.2 Weitere Tätigkeitsfelder des Schulnetzwerkers

Ein weiterer wichtiger Punkt, dem sich der Schulnetzwerker zuwendet, ist die Kompetenzentwicklung/ -bewusstmachung. Durch die Förderung des Qualipasses (baden-württembergisches Kompetenzbuch für Jugendliche im Alter von etwa 14 bis 25 Jahren) sollen Schüler ein Instrument an die Hand bekommen, mit Hilfe dessen Lernleistungen und Engagement außerhalb (möglicherweise auch innerhalb) der Schule dokumentiert werden sollen. Die Auseinandersetzung mit dem Qualipass und mit den eigenen Leistungen und Kompetenzen kann mit dazu beitragen, sich im Leben zu verorten, zu wissen, wo man steht und wohin man weiter gehen möchte. Durch die Besonderheit, dass sich jeder Jugendliche dazu einen erwachsenen Coach suchen soll, dem er genügend Kompetenz zutraut und Vertrauen schenkt, erfährt der Jugendliche Unterstützung durch Erfahrungen und Lebenswege eines anderen Menschen. Der Qualipass kann ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Jugendlichen und dem jeweils selbstgewählten Coach der älteren Generation, Schule, Vereinen, Kirchen, Verbänden, Initiativen, Betrieben u.ä. sein.
Der Netzwerker ermittelt auch außerschulische Lernangebote im Bereich "Persönlichkeitsentwicklung", "persönliche Standortbestimmung", "Schulung sozialer Kompetenzen" und "Lernmotivation" und baut entsprechende Partnerschaften mit den Schulen auf. Diese können sowohl von professionellen Bildungsanbietern als auch von Krankenkassen, Vereinen, Verbänden, Betrieben, Hochschulinitiativen, Bürgerbüros, etc. angeboten werden. Im Bereich der Lebens-/Berufsplanung und der Auseinandersetzung mit persönlichen Kompetenzen/ Ressourcen sollten dringend neue Wege gefunden werden.
Schulen sollen auch motiviert und befähigt werden, Anlaufstellen für SchülerInnen einzurichten bzw. feste Kooperationsstrukturen mit Lernservice-Punkten (L-Punkten) aufzubauen, um deren Angebote zu nutzen. So soll für Schulen und SchülerInnen ein Beratungs-/Unterstützungsangebot beim lebensbegleitenden selbstgesteuerten Lernen geleistet werden. Ein L-Punkt, der den Schulen zugute kommt, wurde am 08. Oktober 2003 in der Jugendinformation des Jugendzentrums Molke in Friedrichshafen offiziell eröffnet Der erste schulische L-Punkt soll möglichst bald folgen. Zu den Themenfeldern Lernen (formal und informell), Kompetenzen, Qualipass, Schule, Ausbildung, Weiterbildung, Bewerbung und artverwandten Themen können dort Jugendliche, LehrerInnen, Eltern und Interessierte Beratung finden oder Unterstützungsangebote anbieten (z.B. als Lernpartner, Mentor, Nachhilfelehrer etc.). Als verbindender Knotenpunkt, wissend über die Kompetenzen anderer, werden hier einfache Fragen beantwortet, komplexe Anliegen geklärt, geeignete Wege gemeinsam erarbeitet, formale und informelle Lernorte abgestimmt und Rat Suchende an geeignete (Aus-) Bildungsanbieter oder andere Beratungsstellen weitervermittelt. Das Schulnetzwerk Region Bodensee stärkt den Austausch über bewährte und neue Möglichkeiten, unterstützt oder initiiert kooperative schulische Projekte oder Initiativen, die der Orientierung/Beratung oder den Übergängen der SchülerInnen in betriebliche oder schulische Ausbildungsangebote dienen sowie Kompetenzen der Jugendlichen feststellen.
Beispiele bisheriger Aktivitäten sind neben permanenter Netzwerkarbeit (Kontaktaufbau und -pflege) die Unterstützung der Einführung des zweijährigen kooperativen Berufsvorbereitungsjahres mit einer Haupt- und einer Förderschule, ein Ausbildungsworkshop für SchülerInnen mit Ausbildern und der Beruflichen Schule, Unterstützung/Mitwirkung eines Lebens- und Berufswegeplanungsprojekts an einer Hauptschule, das Vermitteln von Elternkursen, die Gewinnung neuer Lernservicepartner und Experten, die Förderung des Qualipasses, die Mitwirkung am Aufbau der Jugendagentur im Bodenseekreis sowie Orientierungs- und Kompetenzberatungen. Außerdem wurde im April 2003 durch die Unterstützung des erfolgreichen internationalen Weltrekordversuchs der größten synchronen Unterrichtsstunde zum Thema 'Bildung für alle' ein Beitrag zur positiven Öffentlichkeitsarbeit für Schule, Lernen und Bildung geleistet. In näherer Zukunft entsteht mit dem staatlichen Schulamt Tettnang ein regionaler Hilfekompass für den Bodenseekreis. Sowohl im Berufsschulzentrum Friedrichshafen, als auch in anderen Schulen läuft bereits die Planung der L-Punkte. Für das Internetportal www.lernsee.de übernimmt das Projekt Schulnetzwerk Region Bodensee ab Ende Oktober 2003 die redaktionelle Patenschaft für den Themenbereich Schule-Ausbildung. Eine Tagung zu innovativen Lehr- und Lernmethoden an Schulen der Bodenseeregion wird ebenfalls vorbereitet.

3 Fazit

Schule sucht neue Wege. Vielerorts ist sie nicht "die lieblose Lehranstalt", wie sie in einem schweizer Artikel von GÜNTNER geschildert wird. Schule braucht jedoch Unterstützung und Öffnung. SchülerInnen und LehrerInnen dürfen nicht weiterhin trotz all ihrer Leistungen Gefahr laufen, psychosomatisch zu erkranken. Lernen und Lehren sollten wieder Spaß machen. Erziehung und Bildung sollten generell alle Aufwertung und Unterstützung aller gesellschaftlicher Kräfte erfahren, statt ein schlechtes Image zu erzeugen. Selektion sollte vernachlässigt werden und eher als Differenzierung und Individualisierung des Unterrichtens verstanden werden. Kreative Lösungen sind machbar. Die Lernende Region Bodensee ist eine gute Plattform um Unterstützung zu finden und den Dialog aller zu ermöglichen. Offene Situationen, Zeiten der Unsicherheit müssen durch Leben gefüllt werden. Dazu braucht es Diskussionen, Anregungen, innovative Ansätze, "good practice" und den guten Willen jedes einzelnen Menschen. Die neue Situation ist eine Chance, ein Netzwerk ist eine Bündelung der Möglichkeiten und des Know-Hows - das Netzwerk ist offen für alle, denn nur wenn Lernen und Bildung ein Thema aller ist, ist die Nachhaltigkeit des jetzt entstehenden kooperativen Begleitungs- und Unterstützungssystems gesichert. Die Claude-Dornier-Schule hat als Berufliche Schule und Know-how-Träger der beruflichen Vorbereitung und beruflicher Aus- und Weiterbildung gute Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung, die sie als Wegbereiter in die Region einbringt. Andere Institutionen sollten sich diesem Denken anschließen und sich in irgendeiner Form, beispielsweise als Lernservice-Punkt (L-Punkt) dem Netzwerk anschließen. Gute, innovative, motivierende, beratende, begleitende, offene und vernetzte Schule soll Schule machen.

 

Literatur:

BRATER, M. (1997): Schule und Ausbildung im Zeichen der Individualisierung. In: BECK, U. (Hrsg.): Kinder der Freiheit. Frankfurt a.M.

BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (Hg.) (1998): Berufliche Qualifizierung benachteiligter Jugendlicher. 2. überarb. Auflage. Bonn.

GÜNTNER, J. (2003): Die lieblose Lehranstalt. Deutschland, deine Staatsschulen - ein eher dunkles Panorama. In: Neue Zürcher Zeitung vom 7.7.2003.

HAUNERT, F./ LANG, R. (1994): Arbeit und Integration. Zur Bedeutung von Arbeit in der Jugendsozialarbeit am Beispiel von Projekten freier Träger. Frankfurt a.M.

HILLER, G.G. (2003): Nachschulische Lebensverläufe von bildungsbetrogenen Jugendlichen erkunden und begleiten - und aus den Befunden und Erfahrungen die Konsequenzen ziehen. In: VERBAND DEUTSCHER SONDERSCHULEN -

LANDESVERBAND BADEN-WÜRTTEMBERG (Hrsg.): Chancen Schaffen für Beruf und Leben. Karlsruhe.

KELLER, H.-J./WIRTH, H. (1999): Zukunft der Schule - Schule der Zukunft. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.01.1999.

LEX, T. (1997): Berufswege Jugendlicher zwischen Integration und Ausgrenzung. Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit Band 3. Deutsches Jugendinstitut. München.

RÜTZEL, J./ SEHRER, A./ ZIEHM, S. (2000): Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. In: RÜTZEL, J./ SEHRER, A./ ZIEHM, S. (Hrsg.): Berufseignung und berufliche Anforderungen. Handlungsfelder der Berufsvorbereitung und Berufsausbildung. Alsbach/Bergstraße. 187-190.

SÜDKURIER vom 20.5.2003 und vom 12.08.2003.

ULICH, K. (2001): Einführung in die Sozialpsychologie der Schule. Weinheim und Basel.

WINTER, F. (2002): Zusammenarbeit an der Leistung - eine neue Lernkultur verändert die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer. In: BEETZ-RAHM, S./ DENNER, L./ RIECKE-BAULECKE, T. (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrerforschung und Bildungsarbeit Band 3. Weinheim und München.



 

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