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bwp@ Ausgabe 6
Hrsg. von Martin Kipp und Wolfgang Seyd

Manfred Eckert (Universität Erfurt)

Wohin entwickelt sich die Benachteiligtenförderung? Reflexionen im Horizont neuer Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik

1.  Die Berufsausbildung ist ein Teil des Bildungssystems, sie abzusichern heißt, das Recht auf Bildung für alle Jugendlichen zu gewährleisten

Die Förderung von benachteiligten Jugendlichen ist eine Daueraufgabe der Berufspädagogik. Sie ist so alt wie die Berufsschule selbst, denn diese Institution hat seit jeher ihr spezifisches Problem mit den "Jungarbeitern" (vgl. BIERMANN/KIPP 1989). Das sind jene Jugendlichen, die ohne einen Ausbildungsberuf und eine Lehrstelle gefunden zu haben, als "Ungelernte" einer Arbeit nachgehen oder arbeitslos sind. Gleichwohl müssen sie die Berufsschule besuchen, weil sie berufsschulpflichtig sind. Was aber kann eine strikt an Berufen orientierte Schule diesen Jugendlichen inhaltlich nahe bringen, wenn sie doch eigentlich keinen Beruf haben? Welche beruflichen Unterrichtsinhalte können das Interesse dieser jungen Menschen wecken? Wenn diese Fragen nicht geklärt werden können, dann ist Unterricht an einer Berufsschule für diese Schülergruppe kaum sinnvoll möglich. Weil eine berufliche Orientierung fehlt, ist eine Vielzahl von Ersatzkonstrukten erschaffen worden: die Entwicklung einer "Jungarbeiterschule", die auf allgemeine Arbeitstätigkeiten in einer modernen, technisierten Arbeitswelt vorbereiten soll, dann die Unterstellung mangelnder Berufswahlfähigkeit, mit der später die Einrichtung des Berufsvorbereitungsjahres legitimiert worden ist, weiter die Festlegung der jungen Menschen auf ein Berufsfeld statt auf einen Beruf, womit das vollzeitschulische Berufsgrundbildungsjahr zu einem angemessenen Angebot werden konnte. Analog dazu gab es Versuche, die Beschulung von Jungarbeiterinnen an ihrer zukünftigen Rolle als Hausfrau und Mutter zu orientieren (vgl. SCHLÜTER 1987). Das alles sind Notlösungen - nicht nur für die Unterrichtspraxis, sondern auch für das Selbstverständnis der Berufsschule. Hatte doch schon KERSCHENSTEINER klar erkannt, dass die älteren Schüler der Volksschule für die "allgemeinen" Bildungsinhalte nicht mehr zu interessieren sind, sondern dass sie über ihren Beruf dafür gewonnen werden müssen, sich mit Theorie auseinanderzusetzen. Das hatte ihn bewogen, die Münchner Fortbildungsschulen zu Berufsschulen umzugestalten, in denen der jeweilige Beruf des Jugendlichen das didaktische Zentrum bildet. Schon daraus lässt sich ablesen, dass für KERSCHENSTEINER und die älteren Berufsbildungstheoretiker eine richtige Berufswahl besonders bedeutungsvoll ist. Das lässt sich später auch in den umfangreichen Diskussionen um die Arbeitslehre wieder finden. Dabei ist die Berufswahl selbst ein eher mystisches Geschehen, es lässt sich kaum rational aufhellen. Sie ist ein hoch individualisierter Teil des Bildungsprozesses, und nicht zuletzt deshalb sind auch die rationalistischen Berufswahltheorien insgesamt eher unbefriedigend geblieben. KERSCHENSTEINER (1917) hätte hier vielleicht auf sein Grundaxiom verwiesen, nach dem die äußere Seite des Bildungsprozesses - die beruflichen Inhalte - der inneren Seite - dem "Seelenrelief" - zu entsprechen habe. Das mag intuitiv einleuchten, eine rationale Aufklärung über den individuellen Berufswahlprozess ist damit nicht zu erreichen. Außer Frage steht jedoch, dass der Berufswahl selbst eine ganz erhebliche Bedeutung zukommt. Diesen Prozess zu pädagogisieren heißt, die Berufseinmündung als eine Entwicklungsaufgabe zu verstehen, die sich über viele Stufen hinziehen kann: Berufswahl und -entscheidung, Berufsvorbereitung, Berufsgrundbildung und -ausbildung, und schließlich die Bewältigung der so genannten "zweiten Schwelle" - der Einmündung in Beschäftigung nach dem Abschluss der Berufsausbildung - sind Bestandteile dieses Prozesses. Alle diese Schritte sind mittlerweile pädagogisiert worden, d. h. sie werden systematisch begleitet und damit sehr ernst genommen. Anders formuliert: Heute geht niemand mehr davon aus, dass die Wahl und die Einmündung in den Beruf in traditionellen Schemata wie von selbst verläuft und dementsprechend unproblematisch wäre. Das Gegenteil ist der Fall, und die vielen Programme und Stufen der Benachteiligtenförderung bringen das klar zum Ausdruck.

Berufseinmündung ist nicht nur eine Entwicklungsaufgabe, sie ist auch Teil des Bildungsprozesses der Jugendlichen. Das steht völlig außer Frage, denn Berufsausbildung dient keineswegs nur der Brauchbarmachung des Menschen für Arbeitsprozesse (BLANKERTZ 1963). Die berufliche Bildung wird seit den Reformvorschlägen des Deutschen Bildungsrats als ein Teil der Sekundarstufe II verstanden, und zwar ebenso wie die gymnasiale Oberstufe. Damit sind Bildungsansprüche angemeldet, die bislang nicht wieder in Frage gestellt worden sind. Deswegen ist die Versorgung der jungen Menschen mit Ausbildungsstellen eben keineswegs nur ein Problem der Arbeitsmarktpolitik. Defizite auf diesem Markt berauben junge Menschen nicht nur ihrer Arbeitsmarkt- sondern auch und besonders ihrer Bildungschancen. Unter Gesichtspunkten der Arbeitsmarktförderung sind Investitionen in die Ausbildung von Jugendlichen, die nach der Ausbildung nicht in diesem Beruf arbeiten, möglicherweise Fehlinvestitionen, unter bildungspolitischen Gesichtspunkten sieht das völlig anders aus. Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass die Arbeitsmarktchancen für nicht Ausgebildete - die wir heute auch "Geringqualifizierte" nennen, allemal erheblich schlechter sind als die von Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung (vgl. FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG 2003). Schließlich könnte auch sozialisationstheoretisch argumentiert werden, und zwar mit Bezug auf die sozialökologische Sozialisationstheorie von BRONFENBRENNER (1981): Demjenigen, der die unterschiedlichen Ler norte der beruflichen Bildung kennen gelernt hat, bieten sich bessere Entwicklungschancen als dem, der im Zwischenfeld von ungesicherter Beschäftigung und einem "Lernort Arbeitslosigkeit" hin und her gependelt ist und immer in der Gefahr steht, in letzterem festzusitzen und alle negativen Folgen dieses Zustands ertragen muss.

2.  Die Benachteiligtenförderung ist eine Form der Ausdifferenzierung des Berufsbildungssystems

Der traditionelle Teil des Berufsbildungssystems, das Duale System, verliert immer deutlicher seine exklusive Stellung. Viele Jahrzehnte war gerade der betriebliche Teil der Ausbildung das institutionelle, organisatorische und berufserzieherische Zentrum der Berufsausbildung. Freilich enthielt diese Vorstellung von der "guten Ausbildung im Betrieb" viele Illusionen, was denn auch die ersten empirischen Lehrlingsstudien schnell gezeigt haben (z. B. LEMPERT/EBEL 1965). Die Vorstellung einer heilen Welt innerhalb des Ausbildungsbetriebes war (und ist) vielfach eine Wunschvorstellung. Wer jedoch daran festhielt, konnte allen Tendenzen einer pädagogischen Systematisierung der Ausbildung bestens entgegentreten. War folglich noch in den 70er Jahren eine Verschulung des Systems gerade von Seiten der Arbeitgeberverbände unvorstellbar - was sich am heftigen Widerstand gegen die "Markierungspunkte" zur Novellierung des Berufsbildungsgesetztes der damaligen Bundesregierung und gegen die flächendeckende Einführung des Berufsgrundschuljahres zeigte - so ist die Lage heute ganz anders geworden. Vollzeitschulische Ausbildungsgänge haben erheblich zugenommen, und die verschiedensten Angebote der Benachteiligtenförderung sind etabliert, wenngleich sie sowohl von Arbeitgeberverbänden als auch von einem Teil der Gewerkschaften nicht immer gern gesehen werden. Ohne diese Angebote wäre das Duale System jedoch längst in erheblichen Schwierigkeiten, weil seine kapazitäre Leistungsgrenze im bildungspolitischen Raum noch sehr viel schärfer hervortreten würde. Folglich leistet die Benachteiligtenförderung einen Beitrag zur politischen Stabilisierung des Dualen Systems, indem sie es ausdifferenziert.

3.  Das pädagogische Konzept der Benachteiligtenförderung könnte sich im Kontext der Arbeitsmarktreformen grundlegend ändern

Über viele Jahre ist die Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen auch als "Sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung" bezeichnet worden (BMBW 1985). Wenngleich heute zutreffender von "Beruflicher Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf" (BMBF 2002) die Rede ist, so zeigt der alte Begriff doch einen besonderen Anspruch: Berufsausbildung und sozialpädagogische Förderung gehören gleichermaßen zum Kern des Programms. Das hat sich in den entsprechenden Runderlassen der Bundesanstalt für Arbeit sehr deutlich niedergeschlagen. Darin wurde aber auch ein "weiter" Begriff von Sozialpädagogik (REYER 2002) vertreten, der nicht allein die Arbeit der sozialpädagogischen Fachkräfte, sondern auch das Konzept insgesamt als ein "sozialpädagogisches" ausgewiesen hat. Für das Selbstverständnis der berufspädagogisch qualifizierten Ausbilder hat das keine Probleme aufgeworfen, weil sie ihre Arbeit immer auch als eine sozial-integrative verstanden haben - und sei es auch nur in Bezug auf die sozialen Strukturen der Betriebe. Abgesehen davon gibt es die sehr robuste Einschätzung der Ausbilder, dass soziale Integration in ihrem innersten Kern ohnehin nur über eine erfolgreiche Berufsausbildung und einen guten Berufsabschluss möglich ist. Freilich resultiert aus diesem Verständnis auch eine etwas verwaschene Vorstellung über die Leistungen sozialpädagogischer Arbeit: Die Aufgaben oszillieren zwischen einer am Einzelereignis orientierten "Feuerwehrfunktion" und systematischen sozialpädagogischen Angeboten (vgl. ECKERT u.a. 2000). Beides ist auch in den entsprechenden Dienstblatt-Runderlassen der Bundesanstalt für Arbeit (siehe Literaturliste unten) angesprochen.

In dem impliziten Konsens aller Beteiligten der Benachteiligtenförderung herrscht die unbezweifelbare Überzeugung vor, dass Berufsintegration und Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen Hand in Hand gehen müssen. Angesichts der schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt werden aber auch jene Stimmen lauter, die einer persönlichkeitsstabilisierenden und -entwickelnden Sozialpädagogik den Vorrang einräumen, weil nämlich die langfristige Integration der Benachteiligten in den Arbeitsmarkt ohnehin immer weniger gesichert sei, und weil sich Phasen der Arbeit und der Nichtarbeit biographisch abwechseln würden (vgl. BECK 1986). Folglich sei die dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt ohnehin nicht mehr sicherzustellen (GALUSKE 1993, 1998). Diese Überlegungen lassen sich keinesfalls vorschnell von der Hand weisen. Eine Radikalisierung dieser Überlegungen könnte freilich zur Folge haben, dass auf Berufsvorbereitung und -ausbildung völlig verzichtet wird, weil die Beschäftigung im ausgebildeten Beruf heute ohnehin nur noch der Ausnahmefall sei. Allein die Förderung der persönlichen Entwicklung stünde dann noch im Vordergrund. In berufspädagogische Sprache übersetzt würde das heißen: Es wird wieder eine Jungarbeiterschule oder -maßnahme eingerichtet. Sie betreibt berufsvorbereitende Bildung ohne Beruf und bereitet auf das Arbeitsleben vor, indem sie soziale und personale Kompetenzen vermittelt. Darauf wird noch einzugehen sein.

Die sozialpädagogische Arbeit in der Benachteiligtenförderung wird auch von der Vorstellung getragen, dass die jungen Menschen im Alter von ca. 16 - 20 Jahren in diesem biographischen Zeitabschnitt erhebliche persönliche Entwicklungen durchlaufen, die mit dem "Erwachsenwerden" zu tun haben. Für Pädagogen, die mit Menschen in dieser Altersgruppe arbeiten, sind diese Entwicklungen so offensichtlich, dass sie gleichsam "mit Händen zu greifen" sind. Gute sozialpädagogische Arbeit ist unablässig mit der Aufgabe konfrontiert, schwierige soziale Konstellationen aus der Alltagswelt Jugendlicher so umzukonfigurieren, dass daraus Entwicklungsaufgaben entstehen, die den Prozess des "Erwachsenwerdens" fördern. "Erwachsenwerden" ist hier freilich nur als eine emphatische Formel zu verstehen. Selbstverständlich geht heute niemand mehr davon aus, dass junge Menschen etwa in einem definierten Alter von 21 Jahren wirklich "erwachsen" sind. Der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter kann ein langer biographischer Prozess sein. Deshalb hat das Kinder- und Jugendhilfegesetz seine unterstützenden Leistungen auch bis zu einem Alter von 27 Jahren erweitert.

Dabei ist der von HAVIGHURST (1956) entwickelte und vielfach aufgegriffene Begriff der Entwicklungsaufgaben sehr hilfreich, beschreibt er doch Aufgabenstellungen, die Jugendliche selbst als Herausforderung annehmen können und die zugleich gesellschaftlich bedeutsame persönliche Entwicklungen markieren. Genau an diesem Schnittpunkt agiert insbesondere die Sozialpädagogik. Hinter ihrer Arbeit liegt ein Grundverständnis, das auch davon ausgeht, dass nicht vollzogene Entwicklungsschritte später immer schwieriger nachzuholen sind und dass es darauf ankommt, in der aktuellen pädagogischen Situation Entwicklungen als biographische Weichenstellungen einzuleiten. Das zeigt sich auch im pädagogischen Selbstverständnis: Gleichgültig, ob von Kompetenz, Qualifikation oder Bildung die Rede ist, immer geht es um persönliche Entwicklungen oder Aneignungen von Handlungspotentialen, die in der Zukunft wirksam werden sollen, indem sie dem einzelnen Menschen helfen, sein Leben immer wieder neu in eine positive Richtung zu lenken. Dabei wird h ier gerade nicht festgelegt, was eine "positive" Richtung ist. Am Ende bleibt diese Frage dem einzelnen Individuum gestellt. Ihm bei der Suche nach der Antwort darauf zu helfen, ist ein altes bildungstheoretisches Anliegen. Entwicklungsprozesse brauchen Zeit, sie müssen sich anbahnen, sie haben eine Verlaufsdynamik und sie müssen sich festigen, um dauerhaften Bestand zu haben. Alltagssprachlich heißt das, dafür zu sorgen, dass ein Mensch nicht auf die "schiefe Bahn" gerät. Angesichts der hohen biographischen Flexibilitätsanforderungen gibt es heute jedoch nichts weniger als ein Standardmodell, auf das eine Biographie in ihrem Verlauf und ihren Wertorientierungen ausgerichtet werden könnte. Das steht außer Frage und hat längst auch die sozialpädagogischen Methoden und Arbeitsformen grundlegend geprägt.

Zu den Grundelementen sozialpädagogischer Arbeit gehört auch die Verbindung von "Fördern und Fordern". Sie hat eine Wurzel in der Reformpädagogik. Diese Formel prägt aber auch das aktuelle HARTZ-Konzept, dort steht sie im Zentrum der Begründung aller vorgesehenen Maßnahmen zum Abbau von Arbeitslosigkeit. Hier hat sie aber nicht mehr die Bedeutung eines sozialpädagogischen Konzepts, vielmehr ist sie ein (sozial-)politisches Handlungsmodell geworden. Hinter der Formulierung "Fördern und Fordern" verbirgt sich jetzt ein anderer Inhalt, der hier genau herausgearbeitet werden muss. Im sozialpädagogischen Denken hat "fördern" auch etwas von "befördern", und zwar im guten Sinne: Befördern über Statuspassagen hinweg in neue soziale Stellungen, in Beschäftigung, in eine Ausgangsposition für neue berufliche und biographische Entwicklungen. Mobilität und Flexibilität zählen auch zu den Zielen dieser "Beförderung". Zu der Formel "Fördern und Fordern" gehört indes aber auch Sanktionierung. Das spitzt sich im HARTZ-Konzept in einem bisher nicht gekannten Maße zu. Wer bei der Stellensuche und der Einmündung in Arbeit nicht mitwirkt oder sich nicht an Eingliederungsvereinbarungen hält, hat mit Leistungskürzungen zu rechnen. Das war schon immer so, allerdings weitaus moderater. Zu befürchten ist, dass jetzt langfristig Leistungskürzungen auch unterhalb des Niveaus der Sozialhilfe möglich werden - das ist ein Vorgang, den es im Sozialsystem der Bundesrepublik so noch nicht gegeben hat. Sozialhilfe war bisher das Netz, das vor absoluter Verarmung schützte. Auf diesem minimalen Level hat der Staat darauf verzichtet, ein Verschulden für Armut festzustellen. Das könnte jetzt anders werden. Besonders brisant daran wäre die Entwicklung, dass auch der minimale Schutz vor Verarmung noch von persönlicher Leistungsbereitschaft abhängig gemacht wird, dass Institutionen des Staates darüber zu urteilen berufen sein sollen, und dass Armut als persönliches Versagen und Verschulden deklariert werden kann. Sozialstaatlichkeit und gesellschaftliche Solidarität mit sozial Schwachen könnten schnell zur Disposition gestellt werden.

4.  Was die "Neue Förderstruktur" in der Berufsvorbereitung verändern wird

Am 12. Januar 2004 hat die Bundesagentur einen neuen Runderlass mit einem "Neuen Fachkonzept" für die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen herausgebracht. Es konkretisiert die "neue Förderstruktur", die in verschiedenen Arbeitsmarktbezirken erprobt und von INBAS wissenschaftlich begleitet worden ist. Hier werden klare Strukturen erkennbar: In einer Eingangsphase wird jeder Teilnehmende - jetzt modernistisch "Kunde" genannt - einer Eignungsanalyse unterzogen, dabei werden möglichst genau die individuellen Förderbedarfe ermittelt. "Die Teilnehmer erhalten darin Unterstützung, ihren eigenen Entwicklungsstand zu erkennen und die Verantwortung für ihr Lern- und Arbeitsverhalten sowie ihre Persönlichkeitsentwicklung zu übernehmen", so heißt es in dem Erlass. Eine "Bildungsbegleitung" wird den Qualifizierungsprozess systematisch anleiten und kontrollieren/dokumentieren. Das Konzept selbst bietet zwei unterschiedliche, parallele Qualifizierungswege, entweder eine Grund- und Förderstufe (6 Monate/3-5 Monate) oder eine Übergangsqualifizierung (9 Monate, für junge Menschen mit Behinderungen, die ausschließlich das Ziel der Arbeitsaufnahme haben, max. 18 Monate). Die Grundstufe zielt auf Berufsorientierung und Berufswahl, die Förderstufe hat als Kernelement die Vermittlung beruflicher Grundfertigkeiten, die als Qualifizierungsbausteine (nach §§ 50 ff BBiG) in Anlehnung an Inhalte der Ausbildungsrahmenpläne möglichst in Betrieben vermittelt und dann prüf- und zertifizierbar sein sollen. Freilich gab es bisher bei Ausbildungsbetrieben erhebliche Vorbehalte, berufliche Vorleistungen bei einer Ausbildung anzurechnen. Das zeigt sich an der geringen Bereitschaft, die schulische Berufsgrundbildung als erstes Ausbildungsjahr anzurechnen.

Immerhin könnte denkbar sein, dass Jugendliche, die schon Qualifizierungsbausteine absolviert haben, als Lehrstellenbewerber bessere Chancen haben. Für "betriebs- aber (noch) nicht ausbildungsreife" Jugendliche besteht auch die Möglichkeit betrieblicher Einarbeitung. Noch deutlicher tritt diese Betriebsorientierung in der Übergangsqualifizierung hervor. Hier geht es um Jugendliche, "... denen die Aufnahme einer Ausbildung (noch) nicht gelungen ist". Durch Förderung beruflicher Handlungsfähigkeit sollen die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen erhöht werden. Folglich stehen "berufliche Grundfertigkeiten, betriebliche Qualifizierung und arbeitsplatzbezogene Einarbeitung" im Zentrum der Maßnahme.

Die kritische Analyse der Zielsetzungen des Konzepts zeigt, dass die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung und die unmittelbare Einmündung in Beschäftigung durch "arbeitsplatzbezogene Einarbeitung" nebeneinander stehen. Zu befürchten ist, dass die Vorbereitung auf Beschäftigung wenigstens für manche Zielgruppen in den Vordergrund treten wird. Damit ist die Jungarbeiterschule zurückgekehrt, und sie wird jetzt zum Programm erhoben! Weiter ist zu befürchten, dass über das neue Fachkonzept die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen deutlich eingeschränkt wird. Immerhin können Behinderte, "die ausschließlich das Ziel der Arbeitsaufnahme haben", eine Förderdauer von 18 Monaten in der Berufsvorbereitung in Anspruch nehmen. Hier gewinnt nun die "arbeitsplatzbezogene Einarbeitung" besondere Bedeutung. Die traditionelle Maxime: "Ausbildung für alle" lässt sich sehr leicht dadurch demontieren, dass den "schwierigen" Zielgruppen schlicht die Ausbildungsfähigkeit abgesprochen wird. Warum sollte es dann nicht eine Förderung betrieblicher Einarbeitung für zukünftige Jungarbeiter geben? Die Antwort auf diese Frage muss hier nicht wiederholt werden.

Insgesamt geht es im neuen Fachkonzept um eine ausgeprägte Rationalisierung der Berufsvorbereitung. Grundsätzlich ist sicher positiv zu bewerten, dass sozialpädagogisches Handeln erheblich zielorientierter gestaltet werden kann. Genaue Kenntnisse von individuellen Defiziten ermöglichen ohne Frage einen zielgenaueren Einsatz von Handlungsstrategien und Ressourcen. In gewisser Weise wird hier die bisherige Förderplanarbeit zugespitzt und zugleich eine Objektivierung des Förder- und Handlungsbedarfs angestrebt. Freilich wird auch deutlich, was hier unter "Individualisierung" zu verstehen ist. Dass die Teilnehmer selbst Verantwortung für ihre persönliche Entwicklung übernehmen sollen, ist bereits angesprochen worden. Weiter heißt es in dem o. a. Runderlass: "Darüber hinaus sollen sie in die Lage versetzt werden, sich entsprechend ihren individuellen Fähigkeiten und Eignungen für eine Berufsorientierung bestimmten Berufsfeldern zuzuordnen bzw. sich für die Ausbildung in einem Berufsfeld zu entscheiden. Auf der Grundlage der vorhandenen Ergebnisse von Begutachtungen der Fachdienste und der Erkenntnisse der Eignungsanalyse wird vom Bildungsbegleiter ein Qualifizierungsplan erstellt, der nach Abstimmung mit den am Prozess beteiligten Personen durch den zuständigen Berater zu genehmigen ist". Die Sprengkraft dieser Regelung darf keinesfalls unterschätzt werden. Eignungsdiagnostische Verfahren, die mit einem Objektivitätsanspruch verbunden sind, können persönliche Defizite ohne Mitsprache der Betroffenen ausmachen, sie legen Menschen fest und sie können Entwicklungschancen verbauen. Das wäre in pädagogischer und in sozialpolitischer Sicht absolut verantwortungslos. Zudem wird der Jugendliche jetzt zum Objekt - zunächst im Test und dann im sozialpädagogischen Handeln, was mit einem sozialpädagogischen Handlungsanspruch völlig unvereinbar ist.

Objekte können mit versachlichten, instrumentalistischen Handlungsstrategien bearbeitet werden. "Test-Operation-Text-Exit" heißt es in dem sehr rationalistischen Handlungsmodell von MILLER/GALANTER /PRIBRAM (1973). Das jedoch ist ein Modell, dem sozialpädagogisches Handeln bislang keinesfalls folgen konnte. Hier geht es doch darum, das Subjekt selbst zu stärken und zu entwickeln, dabei immer an seinen Handlungspotentialen, seinen Kompetenzen anzusetzen und gerade nicht seine Defizite in den Vordergrund zu stellen. Das neue Fachkonzept könnte sehr schnell dazu führen, dass die Suche nach der je individuellen Entwicklungsdynamik und ihrer Förderung in den Hintergrund tritt - und die schnelle Einmündung in Arbeit zum Ziel aller Bemühungen und zum Erfolgskriterium wird. Das ist eine Form des instrumentalistischen Handelns, es erhält seinen Sinn aus seinem eigenen System- und Funktionszusammenhang. Es kommt darauf an, Ziele zu erreichen, hier: das Ziel der Einmündung in Ausbildung oder Beschäftigung. Ob dieses Ziel mit den aktuellen Wünschen und Potentialen des Jugendlichen übereinstimmt und erreicht werden kann, ist von nachrangiger Bedeutung. Ob es sich hier um eine anspruchsvolle, dauerhafte und lernfördernde Beschäftigung handelt, ist ebenfalls nicht von Interesse (und zudem auch höchst unwahrscheinlich). Der Bildungsanspruch der berufsvorbereitenden Maßnahmen in ihrer bisherigen Form wird auf Brauchbarmachung für den Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt eingeengt. Das ist auch aus berufspädagogischer Sicht ein problematischer Vorgang.

Berufsbildungstheoretisch ist die Engführung auf den "Beruf" immer auch dadurch abzufangen versucht worden, dass der Berufswahl als einer individuell "stimmigen" Entscheidung ganz besondere Wichtigkeit zugemessen worden ist. Auch bei der heutigen Berufsvorbereitung geht es um Berufswahl, also um ein hoch individualisiertes Geschehen. Insofern käme es darauf an, individuelle Defizite in bezug auf die individuellen Berufsinteressen und die Berufschancen auszumachen, was aber in der sehr zielorientierten neuen Berufsvorbereitung wahrscheinlich nur sehr begrenzt möglich ist. So fällt auf, dass Berufsvorbereitung zu einer verlängerten Allgemeinbildung werden könnte, und da die Klagen über die diesbezüglichen Defizite junger Menschen sehr weit verbreitet sind, scheint eine solche Form der Berufsvorbereitung einem allgemeinen Urteil zu folgen. Das jedoch ist kein isolierter Trend, und er entspricht einer zunehmenden Einschätzung, dass es gar kein Lehrstellenproblem gäbe, weil ohnehin ein Großteil der unversorgten Bewerber nicht ausbildungsfähig sei - ein höchst fragwürdiger Vorgang.

5.  Die neue Zielformel: "employability"

Der Rückblick auf die berufspädagogische Diskussion seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland hat gezeigt, dass das Berufskonzept immer wieder konkretisiert werden musste. War doch selbst älteren Berufsbildungstheoretikern wie SPRANGER (1951) schon bald nach dem zweiten Weltkrieg aufgefallen, dass die Erosion des Berufs begonnen hatte. Seine Frage "Werden wir in Zukunft noch Dauerberufe haben?" verweist auf das Dilemma des Berufswechsels, und die Antworten auf genau dieses Problem sind äußerst vielfältig. Sie reichen von SPRANGERS "Urberufen" (Handwerker, Kaufmann, Landmann) über die Berufsgrundbildungsdiskussion, das didaktische Konzept des wissenschaftsorientierten Lernens, die Schlüsselqualifikationen, die Kompetenzdebatten und die aktuelle Diskussion um die Modularisierung der Berufsausbildung (FAßHAUER u.a. 2001); und sie zeigen immer wieder das gleiche Bild: Unter dem Dach des "Berufs" werden neue Differenzierungs- und Konkretisierungsformen entwickelt, um "Beruf" zukunftsfähig zu halten. Erstmals wird indes mit dem neuen Begriff "employability" dieser Berufsbezug nicht mehr hergestellt, es geht nur noch um "Beschäftigungsfähigkeit". Dieser Begriff ist universell. War er zunächst zur Beschreibung des Wertes des neuen, nach sechs Semestern erreichbaren Bachelor-Abschlusses an den Hochschulen herangezogen worden, so schwebt er jetzt bereits deutlich über der Berufsbildung. Mit der Vokabel "Beschäftigungsfähigkeit" kann nun der ganze Wust des Berufes über Bord geworfen werden. Das gilt freilich auch für den Anspruch, über die Lebensphase der beruflichen Bildung berufliche Mündigkeit und Autonomie zu entwickeln. Vertiefte Allgemeinbildung, gute Fremdsprachenkenntnisse, Sozialkompetenz und vage arbeitsweltbezogene Fachkompetenzen, das sind die Elemente eines Modells, das vermutlich den amerikanischen Colleges abgeschaut worden ist (vgl. MÜNCH 1999). Es eröffnet eine wundervolle Flexibilität von Anfang des Berufslebens an, und es misst der Qualifizierung an Arbeitsplätzen besondere Bedeutung zu. Es senkt Ausbildungskosten und bringt Absolventen in jungem Alter auf den Arbeitsmarkt.

Wird alles das, was derzeit in den verschiedenen Diskussionsfeldern thematisiert wird, zu einem Schlagwort-Mosaik zusammen gelegt, so zeigt sich ein Bild, das zum Nachdenken anregt:

•  "Employability" und Vermittelbarkeit als Zielkategorie aller arbeitsmarktbezogenen Qualifizierungsmaßnahmen,

•  Arbeitsprozesswissen/Lernen am Kundenauftrag/Geschäftsprozessorientierung als didaktische Leitkategorien,

•  Ausbau des dezentralen Lernens und des Lernens am Arbeitsplatz,

•  Modularisierung der Ausbildung,

•  Zertifizierung des Abschlusses einzelner Ausbildungsmodule,

•  Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen als Alternative zu institutionell geregelter, systematischer Ausbildung,

•  Qualitätssicherung als Output-Qualität: Erfolgreich ist, was Absolventen in Beschäftigung vermittelt.

Freilich muss hier angemerkt werden, dass es absolut unzulässig ist, den Protagonisten der hier angesprochenen Reformmaßnahmen zu unterstellen, sie zielten auf die Demontage des Dualen Berufsbildungssystems. Die Art, wie hier schlagwortartig Begriffe aneinandergelegt und interpretiert werden, missachtet ausdrücklich (!) die Intention der Autoren, die diese Konzepte als Reformansätze des bestehenden Berufsbildungssystems in die Diskussion gebracht haben. Das ist zulässig, muss aber kenntlich gemacht werden. Das Bild, das durch dieses eigenwillige Mosaik entsteht, zeigt indes ein Ausbildungsmodell, das das bisherige Duale System völlig zerschlägt. Waren bislang die Tarifparteien federführend an der Planung und Steuerung d es Systems beteiligt, so wird über die Flexibilisierung die Ausbildung zu einem individuell zu verantwortenden Prozess. Das genau haben die Gewerkschaften immer verhindert, weil der Einzelne sonst der marktbeherrschenden Macht der Unternehmen schutzlos ausgeliefert ist. "Qualifizierung in Arbeitszusammenhängen" könnte sehr schnell darauf hinauslaufen, dass jeder einzelne selbst dafür sorgen muss, Arbeitsplätze zu finden, an denen solche informellen Qualifizierungsprozesse überhaupt möglich sind. Die jahrzehntelange Position der Gewerkschaften, dass ein Ausbildungsplatzsuchender nur und ausschließlich in anerkannten Ausbildungsberufen ausgebildet werden darf, steht möglicherweise schon bald zur Disposition. Die Hebel, mit denen diese Entwicklungen in Gang gesetzt werden können, sind u. a. die Benachteiligtenförderung und die Reformen am Arbeitsmarkt.

6.  Das Ende der Arbeitsmarktpolitik?

Wer die Leidensgeschichte des Arbeitsförderungsgesetzes verfolgt, findet eine kontinuierliche Kette von Einschnitten in die aktive Arbeitsmarktförderung. Weiterbildungsrechte sind stark zurückgeschnitten worden, die Vermittlungsfähigkeit ist ins Zentrum vieler arbeitsmarktbezogener Maßnahmen gerückt. Letzteres liest sich gut. Ohne Frage ist der Wunsch nach einer qualifizierten Beschäftigung auch das unbezweifelbare Interesse sehr vieler Arbeitsloser. Die "HARTZ-Gesetze" erweitern aber die Zumutbarkeit von Vermittlungsvorschlägen und von Arbeit in einer bisher nicht gekannten Weise. Berufsfremde und unterwertige Vermittlung könnten zum Regelfall werden. Was das für die Berufsausbildung selbst für Folgen haben wird, ist noch nicht absehbar. Als Qualifizierung findet Arbeitsmarktpolitik immer weniger statt. Das verwundert nicht, ist doch auch die Qualifikationsforschung mit ihren Prognosen weitgehend an ihr Ende gekommen. Qualifikationsprognosen werden immer offener und betonen zunehmend mehr die formalen Kompetenzen (vgl. DOSTAL 2000). Insofern ist auch eine Antwort auf die Frage abhanden gekommen, worauf Arbeitsmarktpolitik wirklich abzielen soll. Folgerichtig stehen jetzt nur noch kurzfristige Vermittlungserfolge im Vordergrund. Die wirklich zentrale, aber nicht mehr gestellte Frage ist indes, ob solide fachliche Qualifikationen in Zukunft obsolet werden, nur weil sie in ihrer Entwicklung nicht mehr verlässlich prognostiziert und ihrer Qualität nicht mehr eindeutig beschrieben werden können. Das ist mehr als zweifelhaft, und eine Politik, die aus diesen Gründen auf Qualifizierung oder fachliche Kompetenzentwicklung verzichtet, muss als verantwortungslos gelten. Unbedacht geblieben ist auch, dass die auf Berufspraxis bezogene Qualifikationsforschung einschließlich der Analysen zum Transfer von Qualifikationen eine Problematik eröffnet hat, der sich die Berufsschule nicht hätte anschließen müssen. Schule hat sich immer der Frage stellen müssen, in welchem Sinnzusammenhang das von ihr vermittelte Wissen mit den Lebenswelten steht. Sowohl das Kunde-Prinzip, das in der "Fachkunde" und in der "Bürger- und Gesellschaftskunde" seinen Niederschlag fand, als auch das wissenschaftsorientierte Lernen haben diesen Bezug explizit gewahrt. Handlungsorientiertes und selbstgesteuertes Lernen tendieren dazu, die Frage nach der Qualität des erlernten Wissens in konstruktivistischer Perspektive in den Privathorizont von Einzelpersonen zu verlagern. Das verhilft dem lernenden Subjekt endlich zu seinem Recht, aber in der Perspektive kategorialer Bildung (KLAFKI 1963, 43) kann dieses Recht nur an der didaktisch begründeten "Sache" gewahrt werden und nicht im Niemandsland privater Denkkonstrukte, - selbst, wenn sie den unmittelbaren Handlungserfolg sicherstellen.

7.  Die Kasse ist leer

Angesichts leerer Kassen war es ein unverhohlenes Ziel, den Bundeszuschuss an die Bundesagentur für Arbeit weit zurückzuschrauben. So verwundert es nicht, dass die Vermittelbarkeit von Arbeitslosen als oberstes und schnellstens zu erreichendes Ziel gilt. Dazu gehört auch die Herstellung straffer Konkurrenz der Anbieter von berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen. Die seit einigen Jahren gängige Ausschreibungspraxis nach der "Verdingungsordnung für Leistungen" und der mittlerweile immer umfassender durchgesetzte Zwang zur Einführung (teurer!) Qualitätssicherungsinstrumentarien sind Ausflüsse dieser Orientierung. Hinzu kommt, dass die Vermittlungsquote nach Abschluss der Maßnahme zunehmend mehr zum Qualitätskriterium wird. Damit wird eine Leistung, die bisher der Staat durch die Arbeitsvermittlung übernommen hat, an die Träger von Bildungsmaßnahmen delegiert. Die Folgen sind gravierend: Die Träger sind nicht nur gehalten, sich auf Maßnahmen zu konzentrieren, die unmittelbar am Arbeitsmarkt "verwertbar" sind (vgl. GERSTER 2003), sondern auch gezwungen, ein Akquisenetzwerk zur Vermittlung ihrer Absolventen aufzubauen. Vielleicht werden sie auch gezwungen sein, aus den Bewerbern die Besten herauszuselektieren.

Wenn aber die Träger selbst die Vermittlung sicherstellen müssen - was ist dann die Aufgabe der Arbeitsagenturen? Und warum ist dann eigentlich im Vorfeld noch aufwändige Aus- und Weiterbildung erforderlich? Wäre es nicht einfacher, gleich nur auf die Vermittlung abzuzielen und weitere Qualifizierungen am Arbeitsplatz ablaufen zu lassen? Übertragen auf die Berufsvorbereitung nach dem neuen Förderkonzept ist die Lage eindeutig: Wer in der Eignungsanalyse seine Ausbildungsfähigkeit nicht nachweisen konnte, wird "arbeitsplatzbezogen eingearbeitet". Die Träger werden Betriebe suchen müssen, die diese Einarbeitung leisten und den jungen Menschen dann auch in Beschäftigung übernehmen. Dazu wird es zukünftig wohl keine Alternativen geben, wenn Erfolg und Qualität einer Maßnahme an der Vermittlung gemessen werden. Folglich wird das neue Förderkonzept ein Erfolgsmodell werden. Immerhin kann ein solches Modell dauerhaft auf staatliche Zuschüsse hoffen. Die im HARTZ-Konzept verankerten Personalserviceagenturen weisen in die gleiche Richtung.

8.  Der Nachwuchs ist knapp und teuer - ob's nicht etwas billiger geht?

Angesichts der Probleme der Rentenversicherung und der vielen Diskussionen um die "Agenda 2010" ist mittlerweile wohl allgemein deutlich geworden, dass die Republik ein demographisches Problem hat. Debatten um Sparzwänge und um Zuwanderung bestimmen das Feld. Dass im gleichen Atemzug auch die Ressourcen der Arbeitsmarktförderung, insbesondere die Benachteiligtenförderung herunter gefahren werden, scheint wenig Aufregung zu verursachen. Dabei ist die Gesamtlage absolut widersprüchlich: Auf breiter Front werden Qualifizierungsprozesse immer inhaltsleerer, formaler und zeitökonomischer gestaltet ("employability"). Damit werden sie vor allem eines, sie werden billiger. Das gilt von der Benachteiligtenförderung bis zum Hochschulstudium. So werden die "breiten Studiengänge" als 6-semestrige Bachelor-Studiengänge angelegt, die Übergänge in Magister-Studiengänge über Leistungsselektion limitiert und aufbauende Promotionsstudiengänge eingeführt. Zugleich werden die Diskussionen um Studiengebühren und um Eliteuniversitäten forciert. Damit wird insgesamt das Selektionsfeld über das Bildungssystem erheblich verbreitert, wirklich anspruchsvolle Bildungsgänge werden ausgedünnt und kostenpflichtig. Über die employability-Ideologie wird eine groß angelegte cooling-out-Strategie von Bildungsambitionen realisiert und insgesamt Dequalifizierung in unvorstellbarem Umfang betrieben.

Ganz offensichtlich ist diese Bildungspolitik zu allererst Sparpolitik. Trotzdem erscheint sie in m ancherlei Hinsicht auch inhaltlich Sinnvolles zu enthalten. Qualifizierungsinhalte flexibler und offener anzulegen, sie als Kompetenzentwicklung zu verstehen und damit den Inhalten immer weniger Bedeutung zuzumessen, erscheint auf den ersten Blick angemessen. Das Fachliche allerdings hinter sozialer und personaler Kompetenz ganz verschwinden zu lassen, berufliche Qualifizierung auf vertiefte Allgemeinbildung zu reduzieren, ist ein Fehlschluss. So wenig zukunftsweisende Ergebnisse die Qualifikationsforschung derzeit bieten kann, so klar sind doch die Ergebnisse der Arbeitslosenforschung: Arbeitnehmer mit schlechten Qualifikationsvoraussetzungen sind erheblich mehr von Arbeitslosigkeit bedroht und betroffen als besser qualifizierte - und das sind Menschen, die eine anspruchsvolle Berufsausbildung durchlaufen haben. Hier zeigt sich, was ein formaler ökonomischer Rationalismus nicht erfassen kann, dass nämlich eine gute Berufsausbildung auch dann noch einen biographischen Sinn und Wert hat, wenn durch Berufswandel und -wechsel die erworbenen Qualifikationen in ihrer utilitaristischen Bedeutung längst relativiert worden sind. Qualifikationstheoretisch ist eben völlig unvorstellbar, dass etwas biographisch bedeutungsvoll bleibt, selbst wenn die erworbenen Qualifikationen längst obsolet geworden sind. Bildungstheoretisch betrachtet liegt darin keinerlei Widerspruch: Bildungsprozesse verlaufen an Bildungsinhalten, die veralten können. Trotzdem sind sie wegen ihres formalen Bildungswerts weit über ihre konkrete Inhaltlichkeit hinaus von Bedeutung. Wie sonst ließen sich die Inhalte der Schule und insbesondere des gymnasialen Lehrkanons überhaupt legitimieren? KERSCHENSTEINER (1917) hat den Berufspädagogen das nachhaltig ans Herz gelegt: Eines wirklich richtig, gründlich und selbständig zu erarbeiten bringe den Bildungsprozess viel weiter voran als das planlose und fahrige Herumtun in einer strukturlosen Vielheit von Lerninhalten. Berufspädagogen leuchtet diese Ansicht ein, weil ihnen klar ist, dass Bildung und persönliche biographische Entwicklung von ganz anderer Dauer sind als die Inhalte und die Situationen, an oder in denen sie entstanden sind.

9.  Fazit -Ausblick - Aufruf!

Bisher ist hier versucht worden, die Entwicklungen in der Benachteiligtenförderung in einen größeren bildungspolitischen Horizont einzuordnen, dabei Konturen deutlich zu überzeichnen, um mögliche Entwicklungslinien klar hervortreten zu lassen. Abschließend soll aus zwei Gründen eine andere Perspektive eröffnet werden. Erstens lässt sich den neuen Konzepten auch Positives abgewinnen, zweitens geht es um den Versuch einer zutreffenden Gesamteinschätzung der Entwicklung und der Reformkonzepte.

Die kritische Betrachtung der bisherigen Praxis zeigt, dass durchaus Reformbedarfe bestehen. Die sehr traditionelle Mentalität, Menschen mit ihren Problemen zuerst einmal in eine standardisierte "Maßnahme" zu schicken, ist allzu verbreitet und in der aktuellen Situation überholt. Richtig ist, dass individuelle Hilfsangebote immer die Individuen in ihren Besonderheiten, ihren Potentialen erfassen und bezüglich der für sie selbst hinderlichen Defizite fördern müssen. Dafür ist es durchaus sinnvoll, mit systematischen Verfahren, auch mit Tests, Assessments und Formen des "Profiling" zu arbeiten. Richtig ist auch, sozialpädagogische Arbeit klarer zu strukturieren und ihr einen eigenen Bildungsauftrag zu übertragen. Dann wäre "Sozialpädagogik" in den Maßnahmen immer weniger auf die "Feuerwehrfunktion" festgelegt. Statt dessen würde sie mit systematischen Methoden und Verfahren sehr viel besser zur Entwicklung sozialer und personaler Kompetenzen beitragen. Richtig ist schließlich auch, dass viele Jugendliche sehr daran interessiert sind, in betriebliche Ausbildung oder in Arbeit einzumünden. Diese Einmündung vorzubereiten, das Abbruchrisiko zu minimieren und den Prozess der betrieblichen Ausbildung sozialpädagogisch zu begleiten, ist allemal eine lohnende Aufgabe. Vorteilhaft ist sicher auch, die Maßnahmen von Bildungsträgern in eine möglichst große Nähe zu betrieblichen Erfahrungsräumen zu bringen - in den Praktika ist das ja bereits für gute Bildungsträger nichts Neues. Richtig ist schließlich auch, Bildungsträgern nahe zu legen, junge Menschen in Arbeit zu bringen, statt ihnen fortlaufende Schleifen von Maßnahmen anzubieten. Ebenso richtig ist es, die Didaktik der Berufsbildung zu modernisieren, arbeitsplatznahe Lernformen zu integrieren und nachgewiesene Kompetenzen in Modulen zu zertifizieren (statt Abbrecher mit völlig leeren Händen dastehen zu lassen) und vernünftige Formen der Qualitätssicherung zu praktizieren.

Das neue Fachkonzept ist jedoch in seinen Regelungen alles andere als eindeutig. Es hält viele Entwicklungswege offen. Sicher ist, dass sich alle denkbaren positiven Entwicklungstendenzen in ihr gefährliches Gegenteil verkehren werden, wenn sie allein unter der modernen Maxime "Geiz ist geil" und "just in time" zu Sparkonzepten instrumentalisiert werden. Die Sorge, dass genau das eintritt, ist sicher nicht unbegründet.

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