bwp@ Profil 3 - Mai 2014

Lehrerbildung und Unterrichts­entwicklung aus der Perspektive des lernenden Subjekts

Profil 3: Digitale Festschrift für TADE TRAMM zum 60. Geburtstag

Hrsg.: Nicole Naeve-Stoß, Susan Seeber & Willi Brand

Implizites Wissen (Tacit Knowing) als phänomenologische Theorie – Konsequenzen für eine kompetenzorientierte Lehrerausbildung

Beitrag von Burkhard Vollmers

Dieser Beitrag geht zunächst auf Tade TRAMMs Überlegungen zur kompetenzbasierten Lehrerausbildung ein, die er vor einigen Jahren in einem Aufsatz konzeptionell verdichtet hat (TRAMM 2006). Sie sind eingeflossen in die Umstellung des Studiums der Berufs- und Wirtschaftspädagogik auf die konsekutiven Studiengänge Bachelor und Master zum Lehramt an beruflichen Schulen am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Hamburg. Viele Modulbeschreibungen, mit den darin formulierten kompetenzorientierten Lehr-Lernzielen, tragen seine Handschrift (vgl. dazu TRAMM 2007 und 2012).

Danach spanne ich den Bogen zu meiner eigenen Habilitationsschrift (VOLLMERS 2011a). In deren Anfangsteil, der bildungswissenschaftlichen Rahmung, verglich ich phänomenologische Ansätze mit konstruktivistischer Erkenntnistheorie. In erster Linie war es ein Vergleich zwischen Michael POLANYI und Jean PIAGET in Bezug auf die gemeinsamen epistemologischen Prämissen für die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen. Sowohl die Phänomenologie als auch Jean PIAGETs genetischer Konstruktivismus haben ideengeschichtlich ihre Ursprünge in der Philosophie des Deutschen Idealismus, besonders in der Philosophie von Immanuel Kant, dem Ausgangspunkt des Deutschen Idealismus (vgl. VOLLMERS 2003).

Michael POLANYIs Konzept des Impliziten Wissens ist eine besondere Form der Phänomenologie. POLANYIs Bedeutung für die Wirtschaftsdidaktik liegt darin, dass sein Konzept sehr anschaulich die Grenzen der Steuerung von Lehr-Lernprozessen von außen, sei es durch curricular definierte Lehr- bzw. Lernziele oder Instruktionen von Lehrpersonen, demonstriert. Drei deutsche Habilitationen haben sich intensiv mit POLANYIs Bedeutung für die Lehr-Lern-Forschung beschäftigt, die von Georg Hans NEUWEG (2001), Martin FISCHER (2000) und Peter BAUMGARTNER (1993). Abschließend skizziere ich ganz kurz, warum Tade TRAMMs Modell der Kompetenzentwicklung angehender Lehrer um phänomenologische Überlegungen zum Kompetenzerwerb ergänzt werden sollte.

1 Tade TRAMMs Kompetenzmodelle der Lehrerausbildung

Tade TRAMM unterscheidet zwischen einem Kompetenzmodell und einem Kompetenzentwicklungsmodell zur Gestaltung der Lehrerausbildung und Lehrerprofessionalisierung (ausführlich in TRAMM 2006, 2007 und 2012). Die beiden aufeinander aufbauenden Modelle sind inspiriert durch Heinrich ROTHs (1971) klassische Beschreibung der von außen angeleiteten Formung von Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz als Bildungsauftrag sowie von Überlegungen zur Kompetenzentwicklung bzw. Professionalisierung von Experten (SCHOEN 1983, DREYFUS/ DREYFUS 1986). Mit dem Bezug auf diese amerikanischen Autoren enthält Tade TRAMMs Konzept schon Verweise auf die Phänomenologie. Donald SCHÖN übernimmt in seinen Überlegungen zum reflektierten, kompetenten Praktiker viele Aspekte von Michael POLANYI (SCHOEN 1983, 53f.). Hubert DREYFUS hat sein Konzept der Entwicklung vom Novizen zum Experten direkt auf Maurice MERLAU-PONTY bezogen (DREYFUS 2002). In seiner klassischen Kritik an der Forschung zur künstlichen Intelligenz vertritt er eine dezidiert phänomenologische Gegenposition und beruft sich dabei nicht nur auf MERLEAU-PONTY, sondern im gleichen Atemzug auf HUSSERL, die Berliner Gestaltpsychologen, HEIDEGGER und POLANYI (DREYFUS 1985, 183f.).

Tade TRAMMs Kompetenzmodell umfasst die Dimensionen der Orientierung, Handlung und Verantwortung, in denen sich die drei Aspekte der beruflichen Handlungskompetenz im Sinne Heinrich ROTHS entfalten. Dies geschieht in abwechselnden Phasen der Wahrnehmung und Problemlösung in verschiedenen beruflich relevanten Situationen. Im Verlauf der beruflichen Ausbildung und Entwicklung von Lehrern entwickeln die lernenden Subjekte selbst die Inhalte der Dimensionen des Kompetenzmodells, sowohl durch angeleitete Lehr-Lernprozesse als auch durch eigenständige Reflexion der individuellen Lernprozesse und Berufserfahrungen. Im Ergebnis können die Phasen der beruflichen Entwicklung von Lehrern als Kompetenzentwicklungsmodell abgebildet werden, das fünf Phasen umfasst (TRAMM 2007, 141):

  1. Das pädagogische Handlungs- und Problemfeld phänomenal wahrnehmen,
  2. Den Problemraum kognitiv strukturieren,
  3. Aneignen und Erproben konventioneller Problemlösungen und Handlungsoptionen,
  4. Forschendes Lernen: Praktische und theoretische Probleme bearbeiten und Technologien entwickeln und evaluieren,
  5. Reflexive Routinebildung: Stabilisierung und Weiterentwicklung konventioneller Handlungsstrategien.

Beide Modelle sind bezogen auf die gesamte Lernbiografie der Studierenden und Referendare. Sie sind nicht linear, sondern zyklisch zu verstehen. Alle Dimensionen und Phasen kommen in den Lern- und Arbeitssituationen von Studierenden und Lehrern immer wieder zur Anwendung. Tade TRAMM betont, dass in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um Produktions- und Entwicklungsmodelle von Kompetenzen sein Kompetenzentwicklungsmodell die Form einer „technologischen Hypothese“ (TRAMM 2012, 146) habe. Sie diente am Hamburger Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik dazu, das kompetenzorientierte Curriculum der Ausbildung von Berufsschullehrern im Bachelor- und Masterstudium auszuarbeiten. Über die realen Prozesse des Kompetenzerwerbs der Studierenden wird in beiden Modellen nichts ausgesagt. Das ist grundsätzlich unmöglich, da es bisher kein empirisch gesichertes Wissen über den realen Prozess des Kompetenzerwerbs in pädagogisch-didaktischen Arbeitsfeldern gibt, wie TRAMM (2006, 232) betont.

Aus meiner Sicht können phänomenologische Ansätze aus Psychologie und Philosophie gut zeigen, vor welchem Wahrnehmungs- und Bewusstseinshintergrund individuell Kompetenzen erworben und entwickelt werden. Entscheidend für das menschliche Wahrnehmen, Erkennen und Lernen sind innere Regulationsprozesse, die sich nicht in der Außenperspektive auf Menschen, weder durch theoretische Konzepte noch durch empirische Methoden, abbilden lassen, die sogar größtenteils dem lernenden Subjekt selbst unzugänglich sind. „Das Ich ist systematisch flüchtig, und zwar auch gerade für sich selbst“, schreibt NEUWEG (2010, 605) mit Bezug auf Gilbert RYLE (1969).

2 Phänomenologie setzt den Fokus auf innere Regulationsprozesse

Phänomenologische Studien dienen dazu, „über die Bedingungen der Möglichkeit von Lernen“ nachzudenken, schreibt der Wahrnehmungspsychologe Rainer MAUSFELD (2005, 218). Lernen heißt, Wahrgenommenes zu verinnerlichen. Jede Erfahrungsbildung setzt innere, integrativ wirkende Rezeptions- und Kategorisierungsschemata voraus, ohne die keine dauerhaft nachwirkende Erfahrung gebildet werden kann (MAUSFELD 2005, 228). Diesen Kategorisierungsschemata auf die Spur zu kommen, das gelingt nicht mit empirischen Methoden, die das Wahrnehmungsfeld des Individuums vorab eingrenzen und aus dem unmittelbar erlebten Kontext reißen. Mausfelds Überlegungen sind für die pädagogische Kompetenzforschung bedeutsam, denn jeder Erwerb von Kompetenzen ist an Wahrnehmungs- und Lernprozesse gebunden bzw. deren Resultat.

Im Unterschied zur Pädagogik arbeitet die Psychologie in großen Teilen mit der Methode des naturwissenschaftlichen Experiments. Mausfeld hat in einem Aufsatz (MAUSFELD 2012) eine Reihe visueller Reizkonfigurationen zusammengestellt, die für die Versuchsperson bzw. den Betrachter den Charakter eines Plausibilitätserlebnisses haben. Der den visuellen Reizen ausgesetzten Person wird deutlich, dass sie selbst die Reizsituation strukturiert und nicht allein der äußere Reiz ihre Wahrnehmung bestimmt, wie empiristische Annahmen nahelegen. Über die eigene visuelle Erfahrung werden so den Versuchspersonen zentrale Aspekte der Phänomenologie plausibel. Ein Beispiel zeigt die folgende Abbildung.

Abb. 1: Subjektive Integrationsprozesse in der visuellen Wahrnehmung nach MAUSFELD (2012, 194)Abb. 1: Subjektive Integrationsprozesse in der visuellen Wahrnehmung nach MAUSFELD (2012, 194)

Den Betrachtern dieser Reizkonfiguration wird bewusst, dass das von ihnen Wahrgenommene nicht eine Summe äußerer Merkmale ist, sondern dass „der Reiz nur als Stichwortgeber dient, der in unserem Geist etwas anregt, das weit über alles hinausgeht, was sich aus dem Reiz gewinnen lässt“ (MAUSFELD 2012, 194). Unverkennbar ist, dass bei der Konstruktion des inneren Dreiecks auf dieser Abbildung Prozesse der Gruppierung, Kategorisierung und ganzheitlichen Integration am Werk sind, deren Wurzeln in vorbewussten Prozessen liegen. Diese basieren auf früheren Erfahrungen. Personen haben im Laufe ihres Lebens die Erfahrung eines gleichschenkligen Dreiecks gemacht und einen abstrakten Begriff davon gebildet. Sie haben die Kategorie des gleichschenkligen Dreiecks gebildet und verinnerlicht. Deshalb wird in dieser Abbildung in der Mitte ein gleichschenkliges weißes Dreieck wahrgenommen.

Geht es um die Planung und Umsetzung von Lehr-Lern-Prozessen oder deren empirische Untersuchung, tritt die Bedeutung der subjektiven Phänomenologie der Personen, die etwas lernen oder unterrichtet werden, nicht so direkt hervor wie in der experimentellen Wahrnehmungspsychologie. Zudem blickt der Lehrer oder Forscher von außen auf den Lernprozess. In der Außenperspektive erschließt sich die Phänomenologie, das subjektive Vorwissen und die subjektive Wahrnehmung der Lernenden, am ehesten durch retrospektive Untersuchungen mit und an den lernenden Subjekten. Außerdem hilft Lehrern und Forschern auch ein Nachdenken über eigene Lernerfahrungen. Dies war der Ansatzpunkt von Michael POLANYI, der durch die Reflexion über seine eigene Arbeit als Naturwissenschaftler zur Phänomenologie stieß und sein Konzept des impliziten Wissens entwickelte. In seinen Erinnerungen an die Arbeit im Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie (heute das Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft) in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schreibt er: „If every anomaly observed in my laboratory were taken at its face value, research would instantly degenerate into a wild-goose chase after imaginary fundamental novelties” (POLANYI 1946, 31).

Zur Vermeidung dieser vergeblichen Jagd nach Wildgänsen greifen Naturwissenschaftler auf ihr, in Teilen implizites, lebensweltliches Vorwissen, das auch abstrakte naturwissenschaftliche Theorien enthält, zurück und erklären damit ihre experimentellen Befunde. Ihr Vorwissen bestimmt und strukturiert ihre Erkenntnis.

3 POLANYIs Tacit Knowing als phänomenologische Theorie

Jeder Lern- und Arbeitsvorgang eines Menschen basiert zu einem beträchtlichen Teil auf impliziten Wissensbeständen und ist in seinem Verlauf zugleich weitgehend implizit. Das berühmte Diktum von Michael POLANYI, dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen (POLANYI 1985, 14), drückt dies aus. Nach POLANYI besteht implizites Wissen in seinem Wahrnehmungsaspekt aus zwei Elementen, dem distalen und dem fokalen Term. Bei Leistungen des impliziten Wissens ist das Bewusstsein des Menschen in seinem distalen Term ganzheitlich-integrativ auf die Außenwelt gerichtet. Der distale Term basiert auf dem fokalen Term im Hintergrund. POLANYI hat seine Idee aus Überlegungen zum Wiedererkennen von Gesichtern entwickelt. Der distale Term führt zur integrierenden Erkenntnis. Das Gesicht wird als Ganzes wiedererkannt. Dies fußt indes auf dem fokalen, unbewussten Term, der die Einzelmerkmale des Gesichts aufnimmt (vgl. POLANYI 1985, 19).

POLANYIs Theorie habe ich in meiner Habilitation (VOLLMERS 2011a) ausführlich erläutert. Ebenso haben das Peter BAUMGARTNER (1993), Martin FISCHER (2000) und, dies sicher am besten und mit dem höchsten Systematisierungsgrad aller wissenschaftlichen Autoren, Georg Hans NEUWEG (2001) getan. Deshalb verzichte ich an dieser Stelle darauf. Stattdessen möchte ich POLANYIs Ansatz in einen größeren epistemologischen Kontext stellen.

POLANYIs Wissenstheorie ist eine zugleich phänomenologische und strukturalistische Erkenntnistheorie. POLANYIs Konzept erfüllt alle wesentlichen Kriterien phänomenologischer Theorien. Der Psychotherapeut Matthias WENKE (2008) spannt in seinem Buch „Im Gehirn gibt es keine Gedanken“ einen weiten Bogen von den Phänomenologien Edmund HUSSERLs und Maurice MERLAU-PONTYs hin zu buddhistischen Weltlehren und zur modernen Psychotherapie. Für WENKE (2008, 46f.) sind die folgenden Merkmale für alle Phänomenologien konstitutiv:

  1. Primat der Wahrnehmung als Zugang des Subjekts zur Welt,
  2. Berücksichtigung des gesamten Körpers bzw. Leibes des Menschen als Instrument der Wahrnehmung,
  3. Erkenntnisvorgänge als Einverleibung der Außenwelt durch das Subjekt,
  4. Aufhebung des Dualismus von Körper und Geist bzw. Aufhebung der Trennung von Biologie und Psychologie,
  5. Beschreibung des Erkenntnisvorganges in einer Sprache subjektiven Verstehens und Empfindens.

POLANYIs Konzept erfüllt außerdem alle drei wesentlichen Merkmale, die Eckart LEISER (1996), ebenfalls Psychotherapeut, für strukturalistische Ansätze in den Humanwissenschaften auflistet. Er bezieht sich auf die Psychoanalyse (vor allem auf Jacques LACAN) sowie die Linguistik (vor allem auf Ferdinand de SAUSSURE). Wesentlich für den Strukturalismus sind demnach (vgl. LEISER 1996, 23f.):

  1. Suche nach komplexen, gemeinsamen Formen, die hinter empirisch vorfindbaren Phänomenen verschiedener wissenschaftlicher Gegenstände vermutet werden und diese verbinden,
  2. Annahme von apriorischen, vor jeder bewussten Erkenntnis von Gegenständen im Menschen wirkenden biologisch-kognitiven Regulationsmustern, die in der Auseinandersetzung mit der Umwelt integrativ wirken,
  3. Annahme eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses der internen Regulationsmuster, der phylogenetisch und ontogenetisch bestimmt ist und sich in der Außenperspektive sinnvoll abstrakt zergliedern lässt, um Phasen oder Niveaus zu unterscheiden.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich im Übrigen der Zusammenhang zwischen Michael POLANYIs Phänomenologie und Jean PIAGETs Strukturalismus, auch wenn sich die beiden Autoren in ihren Veröffentlichungen nicht direkt aufeinander bezogen (vgl. VOLLMERS 2012).

4 Die Rezeption von POLANYI in drei erziehungswissenschaftlichen Habilitationen

Im Unterschied zur Wahrnehmungspsychologie lassen sich in den Erziehungswissenschaften Plausibilitätserlebnisse für die Richtigkeit einer phänomenologischen Weltsicht für Lernende und Lehrende nicht durch Demonstrationsexperimente herstellen. Besonderer Bedeutung kommen in den Erziehungswissenschaften Untersuchungen zu, in denen es um das Aufzeigen von Grenzen der Belehrbarkeit der Lernenden durch die Umwelt, durch Lernaufgaben oder durch Lehrende, geht. Alltagserlebnisse, in denen Menschen ganz ohne explizite Belehrung und/ oder Steuerung von außen kompetent handeln, dies oft vor dem Hintergrund eines immensen subjektiven Wissensvorrats, belegen die Bedeutung des Konzepts des Impliziten Wissens. Drei Habilitationen haben in der Rezeption POLANYIs in dieser Hinsicht Meilensteine gesetzt.

Peter BAUMGARTNERs Habilitation trägt den Titel: „Der Hintergrund des Wissens. Vorarbeiten zu einer Kritik der programmierten Vernunft“ (BAUMGARTNER 1993). Diese Arbeit ordnet das Wissenskonzept POLANYIs ein in die Sprachwissenschaft und Kommunikationstheorie. Die Unterscheidung eines explizierbaren Vordergrundes und eines nicht vollständig explizierbaren, schweigenden Hintergrundes kommunikativer Handlungen sieht Baumgartner nicht nur bei POLANYI, sondern auch in den Theorien von Ludwig WITTGENSTEIN, John SEARLE und Jürgen HABERMAS verwirklicht. Diese Autoren betonen, dass die Hintergrundebene menschlicher Sprache und Kommunikation nicht vollständig rational aufklärbar ist. Wenigstens Teile davon der wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen, das erfordert philosophische und sprachwissenschaftliche Methoden.

BAUMGARTNERs kommunikationstheoretische Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund des Wissens führt zu einem dualistischen Methodenkonzept bei der empirischen Untersuchung sprachlicher Interaktionen, beispielsweise bei Rollenspielen zur Diagnostik von sozialen Kompetenzen in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik (VOLLMERS 2009). Das Instrument, in dem die beobachteten Interaktionen der Personen bewertet werden, als Selbsteinschätzung oder Fremdeinschätzung, bezieht sich auf den Vordergrund des Wissens im Sinne BAUMGARTNERs. Zusätzlich sollten die Interaktionspartner retrospektiv in einem qualitativen Interview nach ihren Gedanken und Beweggründen während bestimmter Phasen des Rollenspiels befragt werden. Auf diese Weise werden Teile des Hintergrundes in den Vordergrund überführt und der wissenschaftlichen Analyse zugänglich (VOLLMERS 2011b).

Martin FISCHERs Habilitation „Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen“ (FISCHER 2000) wendet POLANYIs Konzept auf das Arbeitsprozesswissens von Facharbeitern an. Deren Arbeitsprozesswissen ist im Sinne FISCHERs ein Wissen über eigene, individuelle Arbeitshandlungen sowie allgemeine Zuständigkeiten und Abläufe am Arbeitsplatz. Es besteht aus abstrakten, theoretischen Wissensbereichen und demgegenüber deutlich kontextsensitiveren, in Teilen impliziten Wissensaspekten. FISCHERs Kategorie soll informelles Lernen am Arbeitsplatz besser als psychologische oder pädagogische Lerntheorien erklären, weil diese psychologische Experimente oder Unterrichtssituationen als Ausgangspunkt haben. FISCHERs Idee des Arbeitsprozesswissens macht es möglich, das individuell von den Facharbeitern im Arbeitsprozess erlangte Wissen mit qualitativen Interviews zu untersuchen. Dies ermöglicht den Befragten eine Aktualisierung und Explizierung der für sie in ihrem Arbeitshandeln relevanten Wissensbereiche. Anforderungen an die Qualifikation können so arbeitsplatzspezifisch und kontextsensitiv ermittelt und beschrieben werden (FISCHER/ RÖBEN 2004).

Georg NEUWEGs Habilitation „Könnerschaft und implizites Wissen“ (NEUWEG 2001) offeriert einen an POLANYI anknüpfenden Tacit Knowing View auf Lehr-Lern-Prozesse verschiedener Form. Expertentum auf einem Gebiet lässt sich nicht in formale Modelle deklarativen oder nomethetischen Wissens gießen. NEUWEG ordnet die klassischen kognitiven Lern- und Handlungstheorien der Psychologie und Pädagogik einem dazu gegenläufigen Cognitive View zu. Dieser konzipiert Lernen, Denken und Handeln als modellierbar und steuerbar. Bei der Ausbildung von Lehrern sollte der Tacit Knowing View vorgestellt werden, um die Studierenden für verborgene, schweigende Lernprozesse zu sensibilisieren.

NEUWEGs Ideen schaffen die Möglichkeit für eine Neubewertung des Theorie-Praxis-Verhältnisses in der Lehrerbildung. Das an der Universität gelernte theoretische Wissen wird in einen breiteren epistemologischen Kontext gestellt. Das theoretische Wissen dient der prospektiven oder retrospektiven Begründung von Lehrerhandeln im Unterricht. Im Wesentlichen ist Unterricht als Tätigkeit jedoch intuitiv und improvisatorisch und wird durch das schweigende Hintergrundwissen der Lehrer, den Experten für Unterricht und Lernen, geleitet (NEUWEG 2002).

5 Phänomenologische Ergänzungen zu Tade TRAMMs Kompetenzmodellen

Wie schon der Titel dieser Festschrift verrät, ging es Tade TRAMM immer um die Perspektive des lernenden Subjekts in seinen Ideen zur Lehrerausbildung und Lehrerbildung, also um die Lernperspektive der Studierenden, Referendare und ausgebildeten Lehrer. Er bezieht sich ausdrücklich auf den Ansatz der „Subjektiven Theorien“ (GROEBEN et al. 1988, vgl. TRAMM 2006, 235). Phänomenologische Ansätze, wie das Konzept des Impliziten Wissens, stellen dazu eine fruchtbare Ergänzung dar. Sie betonen den intuitiven, ganzheitlichen Charakter von Lehr-Lernprozessen. In Tade TRAMMs Modellen der kompetenzbasierten Lehrerausbildung (s.o.) wird auf dieses wesentliche Merkmal von Lernprozessen nicht detailliert eingegangen. Beide Modelle lassen aber Raum dafür. Sie sind damit gut vereinbar. Es ist der schweigende Hintergrund beider Kompetenzmodelle.

Aus pragmatischen Gründen plädiere ich für eine Ergänzung von Tade TRAMMs Kompetenzmodellen um phänomenologisch-strukturalistische Anteile im Sinne POLANYIs. Kompetenzmodelle, die sich auf die Lehrerausbildung beziehen, haben in erster Linie normative und kommunikative Funktionen. Für die Lehrenden an der Universität fungieren sie als Leitbild des Lehrens. Sie zeigen uns Lehrenden, woraufhin wir unsere Lehre ausrichten sollen, und sie dienen dazu, ins Gespräch zu kommen, als Lehrende untereinander und mit den Studierenden. Eine Explikation der phänomenologischen Bedingungen von Lernen in der Lehrerausbildung und der damit einhergehenden Kompetenzentwicklung der zukünftigen Lehrer würde alle Beteiligten für den subjektiven, vorbewussten Hintergrund des Lernens sensibilisieren. Das zu verstehen, wäre ein Gewinn für die Studierenden, nicht nur für ihr eigenes Lernen während der Studienzeit, sondern auch für ihre spätere Tätigkeit als Lehrer.

Literatur

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FISCHER, M. (2000): Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen. Rechnergestützte Facharbeit im Kontext beruflichen Lernens. Opladen.

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GROEBEN, N./ WAHL, D./ SCHLEE, J./ SCHEELE, B. (1988): Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen.

LEISER, E. (1996): Strukturalismen: Versuch einer Verdichtung. Psychologie und Gesellschaftskritik, 80, 21-37.

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MAUSFELD, R. (2012): Der Schein des Realen. Die empiristische Fehlkonzeption der Wahrnehmung und das Wahrnehmungsattribut „phänomenal real“. In: KLUCK, S./ VOLKE, S. (Hrsg.): Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens. Freiburg, 192-219.

NEUWEG, G. H. (2001): Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis. 2., korr. Auflage, Münster.

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POLANYI, M. (1985): Implizites Wissen. Übersetzt von Horst Brühmann. Frankfurt am Main. (Original: The Tacit Dimension, New York 1966).

ROTH, H. (1971): Entwicklung und Erziehung. Hannover.

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SCHOEN, D. A (1983): The Reflective Practitioner. How professionals think in action. London.

TRAMM, T. (1996): Lernprozesse in der Übungsfirma. Rekonstruktion und Weiterentwicklung schulischer Übungsfirmenarbeit als Anwendungsfall einer evaluativ-konstruktiven und handlungsorientierten Curriculumstrategie. Habilitationsschrift an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen.

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TRAMM, T. (2007): Bildungsstandards in der Lehrerbildung – Reform der Berufsschullehrerbildung zwischen Kerncurriculum und Modularisierung. In: HERTLE, E. M./ SLOANE, P. F. E. (Hrsg.): Portfolio – Kompetenzen – Standards. Neue Wege in der Lehrerbildung für berufsbildende Schulen. Paderborn, 133-151.

TRAMM, T. (2012): Kompetenzorientierung in der Lehrerbildung am Beispiel der Hamburger Lehrerbildungsreform. In: BECKER, M./ SPÖTTL, G./ VOLLMER, T. (Hrsg.): Lehrerbildung in Gewerblich-Technischen Fachrichtungen. Bielefeld, 119–138.

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VOLLMERS, B. (2009): Ein Instrument der pädagogischen Diagnostik sozialer Kompetenzen. Das Rollenspiel Verkauf aus dem Modellversuch VAmB. Wirtschaft und Berufserziehung, 61, 10, 18-23.

VOLLMERS, B. (2011a): Kompetenzforschung im Lichte impliziten Wissens Theoretische und empirische Studien zur Gestaltung und Evaluation von Kompetenzentwicklungen in konstruktivistischen Lernprozessen. Kumulative Habilitationsschrift im Fach Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg.

VOLLMERS, B. (2011b): Die Bedeutung impliziten Wissens bei der Diagnostik sozialer Kompetenzen im Kontext der beruflichen Bildung. Vortrag im Rahmen des Habilitationskolloquiums an der Universität Hamburg am 19. November 2011.

VOLLMERS, B. (2012): Tacit Knowing and Genetic Structuralism – Some striking similarities between the concepts of Michael Polanyi and Jean Piaget. Paper presented at 30th International Congress of Psychology, Cape Town, South Africa, 22th to 27th July 2012

WENKE, M. (2008): Im Gehirn gibt es keine Gedanken. Kritik des Reduktionismus. Phänomenologische Skizzen zu Biologie, Psychoanalyse, Yoga und Buddhismus. Würzburg.

Zitieren des Beitrags

VOLLMERS, B. (2014): Implizites Wissen (Tacit Knowing) als phänomenologische Theorie – Konsequenzen für eine kompetenzorientierte Lehrerausbildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Profil 3, 1-11. Online:     http://www.bwpat.de/profil3/vollmers_profil3.pdf  (23-05-2014).