bwp@ Profil 5 - Mai 2017

Entwicklung, Evaluation und Qualitätsmanagement von beruflichem Lehren und Lernen

Profil 5: Digitale Festschrift für HERMANN G. EBNER

Hrsg.: Sabine Matthäus, Carmela Aprea, Dirk Ifenthaler & Jürgen Seifried

Territorialverteidigung: Der Fall „Ebner“

Beitrag von Karlheinz Geißler

Die Welt, so Wittgenstein, ist alles, was der Fall ist. Mag sein, dass es so ist zumal Wittgenstein als eine durchaus glaubwürdige Referenz gelten kann. Man weiß es nicht so ganz genau, aber weiß man es nicht, weil es nicht leicht ist, die ganze Welt in den Blick zu nehmen. Sicher jedoch kann man sein, dass Hermann Ebner – doch nicht nur er – die Summe seiner Fälle ist. Mitbeteiligter war ich bei jener folgenreichen Episode, in der man den Beginn seiner akademischen Karriere sehen kann. Sie ist Gegenstand dieser Erinnerung, die wie alle Erinnerungen von den Spuren der Zeit und eines älter gewordenen Gedächtnisses gezeichnet sind.

Der Fall „Ebner“:  

Ort des Geschehens:

Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Zeit des Geschehens:

April 1972 – Woche in der im Bundestag der Oppositionsführer Rainer Barzel den damaligen Kanzler Willy Brandt mit einem Misstrauensvotum vergeblich zu stürzen versuchte. Dramatische Tage, die Hermann Ebner – lokal begrenzt – mit einem eigenen Beitrag noch ein wenig mehr dramatisierte.

Die Vorgeschichte:

Ich – der Berichterstatter des Falles – hatte mich mit Beginn des zweiten Jahres meines Referendariats zum Lehrer an kaufmännischen Berufsschulen in Bayern beurlauben lassen, um die mir angebotene Stelle eines dem Dekan zugeordneten Fachbereichsassistenten an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe ab Sommersemester 1972 zu übernehmen. Zu meinen Aufgaben gehörte die Planung, die Organisation und die Durchführung von Erstsemester-Lerngruppen, Thema: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaften. Die Gruppen wurden von Tutoren (Studierende höherer Semester) geleitet. Meine Aufgabe war es, die Tutoren auf ihre Leitungsfunktion vorzubereiten, sie inhaltlich und methodisch dafür zu qualifizieren und sie während der Durchführung zu beraten. Einer der Tutoren war Herman Ebner.

Das mit Abstand größte Problem bei der Durchführung der ambitionierten Lehr/Lernveranstaltung waren weder Inhalt noch Methode, die größte aller Schwierigkeiten war es, die für dieses Veranstaltungskonzept notwendigen Räume bereitzustellen. Die gibt es nämlich nicht, weil Tutorien als Lehr-/Lernkonzepte gar nicht vorgesehen sind. Es läuft annähernd überall gleich: Man bildet Gruppen, ordnet Tutoren zu und bittet diese, sich einen geeigneten Raum für die Veranstaltung zu suchen. So auch im April 1972 an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe geschehen.

Hermann Ebner hatte mit der Gruppe seiner Erstsemester einen ihm geeignet erscheinenden Raum gefunden. Seine Veranstaltung nahm daraufhin ihren geplanten Verlauf als unerwartet eine männliche Person mittleren Alters die Tür öffnete, den Raum betrat und sichtlich irritiert, einen besetzten Hörsaal vorzufinden, mit aggressivem Unterton den als Leiter der Veranstaltung erkennbaren Hermann Ebner mit den Worten anraunzte: „Wer sind Sie denn? Was machen Sie eigentlich hier?“ Dessen Reaktion: „Das sage ich Ihnen, wenn Sie zuvor sagen, wer Sie sind?“ Für einen von seiner lokalen Prominenz überzeugten Hochschullehrer zweifelsohne ein kränkender Affront, verstärkt durch die Anwesenheit von Zuschauern. Das beweist auch die Empörung mit der sich der „Eindringling“ umdrehte, die Tür zuknallte um sich anschließend sofort im Dekanat über diese Respektlosigkeit zu beschweren.

Hermann Ebner berichtete in der im Anschluss an die Tutorien durchgeführten Auswertung von diesem Ereignis. Daher war ich bereits informiert als mich der Dekan später dann mit den Worten: „Was war denn da los?“ darauf ansprach. Ich schilderte den Vorfall so, wie man ihn mir berichtet hatte und machte deutlich, dass ich die Reaktion von Hermann Ebner für situationsadäquat und souverän halten würde. Der Dekan sah das nicht anders. Für Hermann Ebner jedoch hatte dieser Vorfall Folgen. Er hatte sich als engagierter und mutiger Gruppenleiter sichtbar gemacht und zudem als eine Person gezeigt, die überraschende Zumutungen angstfrei abzuwehren weiß.

Hermann Ebner hat im April 1972 gezeigt, dass er ein – in diesem Fall sein – pädagogisches Territorium gegen professorale Eindringlinge zu verteidigen weiß. Die beste Voraussetzung für eine Hochschullehrerkarriere.

Über die Episode hinaus: Was lässt sich daraus lernen?

Geschildert wird eine Episode mit nicht intendierten Folgen aus dem Leben des Hermann Ebner. In dessen offiziellem Lebenslauf taucht sie jedoch nicht auf. Warum? Weil sie in dem, was gemeinhin „Normalbiographie“ heißt, keinen Platz hat. Der bürokratietaugliche Lebenslauf, im Aufbau dem zwanghaften „Eins-nach-dem-anderen“ Gang der Uhrzeiger abgeschaut, ist der in vielen Fällen willkürliche Versuch, Ordnung in die Unordnung, in die episodische Zerrissenheit des im Leben Widerfahrenen und Erlebten zu bringen, um dem Leben eine vermeintlich bruchlose Kontinuität zu verpassen. Lebensläufe spiegeln Ordnungsvorstellungen von Personalchefs wider, die sich die Anstrengung eines persönlichen Gespräches ersparen möchten. Entstanden sind die Vorstellungen einer Normalbiographie und die eines Lebens als Lebenslauf erst in der bereits fortgeschrittenen Moderne gegen Ende der Industriegesellschaft. So ist es denn auch nur konsequent, dass mit dem Ende der Industriegesellschaft schließlich auch der „Normalbiographie“ die Normalität abhandenkommt. Es ändert sich, und das zum wiederholten Male, die Ikonographie des Lebenslaufes. Von der vormodernen Darstellung der Lebensalter als Rad und der modernen als Lebensalter-Treppe wandeln sich die Bilder der biographischen Pfadentscheidungen zu einer episodenfreundlichen Zick-Zack Linie. In einer Welt, in der das Episodische zur Normalität wurde, wird die Normalität mehr und mehr zum Episodischen. Der Mensch wird sich selbst zum Rätsel und dies wird er auch für die Mehrzahl derer, denen er begegnet. In einer solchen Welt heißt es Abschied nehmen von der modernen Idee, man könne das Leben, die Zeit und das alltägliche Geschehen nach dem Verlaufsmodell der „Wäscheleine“ organisieren.

Biographien entfalten sich heutzutage erfahrungsgemäß weder in einer harmonisch ineinandergreifenden Erzählung noch in einer linearen Zeitreihe, wie die Zugfahrpläne, nicht aber die danach verkehrenden Züge tun. Recht betrachtet ist das Leben niemals so ordentlich verlaufen. Immer schon und heute mehr denn je, sahen Zeitgenossen sich gezwungen, sich selbst zu definieren und zu verorten, immer schon glich das Leben einem im Herbstwind hin und her und auf und ab gewirbelten welken Blatt eines Alleebaumes am Ende einer Sackgasse. Das, was wir mit einer schlechten Metapher „Lebenslauf“ nennen, hüpft in Wahrheit wie ein Kind über die Steine eines flachen Rinnsals, von einer Gegenwart zur anderen, von einem Fall zum nächsten. Hin und wieder kann ein solcher Fall auch mal der Start einer Hochschullehrerkarriere sein.

Zitieren des Beitrags

Geißler, Kh. (2017): Territorialverteidigung: Der Fall „Ebner“. In: bwp@ Be­rufs- und Wirtschaftspädago­gik – online, Profil 5: Entwicklung, Evaluation und Qualitätsmanagement von beruflichem Lehren und Lernen. Digi­tale Festschrift für HER­MANN G. EBNER, hrsg. v. Matthäus, S./ Aprea, C./Ifenthaler, D./Seifried, J., 1-3. Online: http://www.bwpat.de/profil5/geissler_profil5.pdf (23-05-2017).