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Beitrag von TADE TRAMM und LOTHAR REETZ (beide Universität Hamburg)

Berufliche Erstausbildung als Schlüssel zum lebenslangen Lernen. Reflexionen über die notwendige Fundierung eines bildungspolitischen Slogans

1. Lebenslanges Lernen als Zukunftsperspektive und Herausforderung
1.1 Lebenslanges Lernen als Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik

Der Slogan vom lebenslangen Lernen ist in aller Munde. Betrachtet man die Begründungen, die in der wissenschaftlichen Diskussion zur allgemeinen Bedeutsamkeit des lebenslangen Lernens angeführt werden, so werden dort - mit jeweils kurzem Hinweis auf globale ökologische, ökonomische und soziale "Herausforderungen" und "Umbrüche" - noch relativ abstrakt die Notwendigkeiten einer "Wissensgesellschaft" bzw. einer "integrativen Lerngesellschaft" beschworen (DOHMEN 1996, 27; BAUMERT u. a. 1997). Erst dort, wo die Art und die Qualität lebenslangen Lernens differenzierter behandelt werden, finden sich konkretere Begründungen So wird etwa im Zusammenhang mit der Erörterung von "selbstgesteuertem" lebenslangen Lernen auf ökonomische, technologische und soziale Strukturveränderungen im Beschäftigungssystem verwiesen, wie sie bereits seit längerem auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Bedingungsrahmen der curricularen Bildungsplanung eine wichtige Rolle spielen.
Bereits in den 1950er Jahren wurde prognostisch auf "Umbildungen im Berufsleben", also auf ökonomisch-gesellschaftliche Veränderungen verwiesen, die es geboten erscheinen ließen, Berufsbildung über die berufliche Tüchtigkeit hinaus an "Umstellungsfähigkeit" innerhalb der Berufe zu orientieren, weil dies "dem unentrinnbaren Diktat der Verhältnisse" am besten entspreche (SPRANGER 1951).
Seitdem unterliegen die "Verhältnisse", d. h. die Bedingungen beruflicher Existenz im Beschäftigungssystem einer ständig zunehmenden Veränderungsdynamik. Unter dem Einfluss von Informationalisierung, Globalisierung, zunehmendem Wettbewerbsdruck, Beschleunigung und Verdichtung von Arbeitsprozessen haben sich Organisationsformen und Inhalte von Erwerbsarbeit dramatisch verändert und mit Ihnen die Leistungs- und Qualifikationsanforderungen an die Menschen.
Einschlägige Untersuchungen wie z. B. die von KERN/ SCHUMANN (1984) und von BAETHGE/OBERBECK (1986) belegen Veränderungen der betrieblichen Arbeits- und Organisationsstrukturen weg von stark arbeitsteiligen hin zu mehr funktionsintegrativen und ganzheitlichen Formen. Eine Tendenz, die sich in den 90er Jahren verstärkt hat, (ISENHARDT/ GROBE 1997; REETZ 1997). Neue Produktionskonzepte sowie insgesamt Veränderungen aufgrund mehr systemischer statt tayloristischer Rationalisierungsmaßnahmen im technischen wie im kaufmännischen Sektor führten zu einem erhöhten Bedarf an flexibel denkenden und handelnden Menschen. Die Komplexität und die Dynamik dieser Veränderungsprozesse nehmen derartig zu, dass die Handlungs- und Lernfähigkeiten von Menschen und Sozialsystemen permanent auf die Probe gestellt sind.
Zusammenfassend lassen sich die globalen Veränderungen mit drei ineinandergreifenden Entwicklungstendenzen benennen. Sie betreffen:

1. die technologische Entwicklung vor allem bei den Informations- und Kommunikationsmedien. Sie eröffnet unbegrenzte Informationsquellen und zugleich die Möglichkeit, ohne und ohne Zeitverzug zu kommunizieren. Dies hat eine enorme Temposteigerung zur Folge und erhöht zugleich die Erkenntnismöglichkeiten und -notwendigkeiten in bezug auf die Vielfalt all dessen, was gleichzeitig passiert und was sich schnell ändern kann. Zugleich erhöht es die Unsicherheiten in Bezug auf die Qualität von Informationen und die Anforderungen an die sinnvolle Selektion, Bewertung und Integration dieser Informationen. Das bedeutet: Komplexität und Dynamik der wahrnehmbaren Umwelt und der Umfeldbedingungen von Individuen und Organisationen wachsen ständig.

2. Dies berührt vor allem auch die ökonomische Entwicklung, d. h. die Veränderungen der Marktstrukturen und die Bedingungen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Märkte beschleunigt den Übergang in die postindustrielle Erwerbsgesellschaft und die Zunahme der Erwerbsarbeit im tertiären Dienstleistungssektor. Der Anteil fragmentierter und diskontinuierlicher Arbeit wird sich erhöhen und in Form selbstständiger, vernetzter Projektarbeit mehr Selbstständigkeit von den erwerbstätig Arbeitenden verlangen, denn "diese Arbeit erfordert eigenständiges Denken, unternehmerisches Verhalten und eine Kultur der Selbstständigkeit" (BRAUN 1998, 102).

3. Eine dritte Entwicklung betrifft den gesellschaftlichen Wertewandel und das sich wandelnde Verhältnis des Individuums zu Traditionen und Institutionen. Die von INGLEHART Anfang der 70er Jahre konstatierte Abkehr der Menschen unseres Kulturkreises von materiellen hin zu postmateriellen Werten von Autonomie und Selbstverwirklichung kann auch gegenwärtig als ein Symptom der Individualisierung gegenüber der Bevormundung durch Traditionen und Institutionen gesehen werden (WILKINSON 1997, 90). Diese Tendenz, traditionelle Werte weniger zu respektieren und mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu verlangen, wird verstärkt durch die äußeren Bedingungen und Konsequenzen der Globalisierung. Denn Globalisierung bedeutet Enttraditionalisierung (GIDDENS 1996, 175 ff.) und beschleunigt die gesellschaftlichen Prozesse der Individualisierung. Zu den Konsequenzen gehört, dass traditionell und institutionell gestützte Verhaltensregeln aufgegeben werden und durch neue Ergebnisse permanenten Lernens und Entscheidens abgelöst werden müssen.
Mehr denn je gilt dabei das ökologische Gesetz: Die Lernfähigkeit des Menschen bzw. des sozialen Systems muss mindestens so groß sein wie die Veränderungsdynamik der Umwelt (REETZ 1997, 34).

1.2 Organisation des lebenslangen Lernens zwischen Institutionalisierung und Individualisierung

Das Lernen wird im Kontext der Überlegungen zum Lebenslangen Lernen als ein kontinuierlicher Prozess der Kompetenzentwicklung akzentuiert und zielt schwerpunktmäßig auf Fähigkeiten zu kreativer Problemlösung, auf Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit und moralische Urteilsfähigkeit.
Die Entwicklung und Aktualisierung dieser Fähigkeiten in lebenslangen Lernprozessen bedarf der motivationalen Grundlegung. Diese soll - wie der Deutsche Bildungsrat bereits 1970 (50) feststellte - möglichst früh beginnen und durch aktivierende problemorientierte Lernprozesse entfaltet werden, durch welche Selbstständigkeit, Eigeninitiative und kooperatives Verhalten gefördert werden können.

Auch in der gegenwärtigen Diskussion zum lebenslangen Lernen wird dem selbstständigen, selbstgesteuerten Lernen eine herausragende Rolle zugeschrieben. Da in der Gegenwartssituation ein selbstständiges, innovatives Denken und Handeln für besonders notwendig gehalten wird, sei lebenslanges Lernen auf die Entwicklung dieser Schlüsselkompetenzen auszurichten; denn: "Um mehr Selbstständigkeit zu lernen, müssen wir auch selbstständiger lernen" (DOHMEN 1997, 15).
Da dieses selbstgesteuerte Lernen als "individualisiertes Lernen" in der Programmatik des lebenslangen Lernens tendenziell stärker im Bereich des "informellen Lernens" angesiedelt sein soll, stellt sich die Frage nach dem Grad der Institutionalisierung lebenslangen Lernens, wovon zugleich auch die bisherigen Parameter institutionell organisierter Curricula betroffen wären.
Es entsprach den Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates 1970, dass das lebenslange Lernen einer grundlegenden Förderung der Lernfähigkeit und der Lernbereitschaft in den organisierten Lernprozessen der Schule und der beruflichen Ausbildung bedürfe. Lebenslanges Lernen verlange und bedeute darüber hinaus aber ständige Weiterbildung als Prinzip, da Schule und Ausbildung für immer mehr Menschen künftig nur die erste Phase im Bildungsgang sein würden. Deshalb sei die traditionelle Vorstellung von zwei Lebensphasen, die ausschließlich voneinander getrennt entweder mit der Aneignung oder der Anwendung von Bildung zusammenfallen, abzulösen durch die Auffassung, dass "organisiertes Lernen sich nicht auf eine Bildungsphase am Anfang beschränken kann" (DT. BILDUNGSRAT 1970, 51).
Vielmehr müsse gelten, dass der Begriff der ständigen Weiterbildung einschließe, dass das organisierte Lernen auf spätere Phasen des Lebens ausgedehnt werde.
Damit werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der gegenwärtigen Programmatik des lebenslangen Lernens und der Weiterbildungskonzeption des Deutschen Bildungsrates sichtbar.
Während der Deutsche Bildungsrat die Grundlegung und die spätere Fortsetzung des lebenslangen Lernens dem institutionell organisierten Lernens zuordnete, werden in der aktuellen Programmatik des lebenslangen Lernens dem "institutionellen Lernen" Defizite und Funktionsverluste bescheinigt, die die besondere Bedeutung eines "informellen Lernens" umso deutlicher in Erscheinung treten lassen sollen (DOHMEN 1996, 35f.).
"Informelles Lernen" bezeichnet ein Lernen, das in wechselnden Lebens- und Arbeitssituationen, also nicht in planmäßig geregelten Bildungsveranstaltungen (ebenda, 29), mithin "curricular nicht festgelegt" offen, selbstbestimmt und praxisnah als eine Art "natürliches Lernen" aus reflektierender Erfahrungsverarbeitung heraus stattfindet.
Demgegenüber wird von "formalem Lernen" gesprochen, wenn das Lernen institutionell veranlasst, planmäßig strukturiert und mit anerkanntem Abschluss versehen wird (ebenda).
Im Vergleich der beiden Lerntypen hält DOHMEN (1996) das informelle Lernen für "offensichtlich wirksamer" im Hinblick auf das Reformziel einer breiteren und intensiveren Kompetenzentwicklung" (ebenda, 35ff.), und zwar mit folgender Begründung:

- Es reduziere die Transferprobleme, die die Anwendung der in "praxisfernen schulischen Lernsituationen" erworbenen Kenntnisse so schwierig machten.
- Es schaffe eine stärkere primäre Lernmotivation als ein "fachsystematisches schulisches Lernen".
- Es habe eine große Nähe zu der "krisenhaften Umbruchsituation".
- Es könne schneller auf ad hoc auftauchende Probleme eingehen als ein "Lernen in verfestigten institutionalisierten Strukturen".
- Es bringe gegenüber einem mehr von "Interessen der Institutionen und ihren Trägern" mitbestimmtem Lernen stärker die Perspektive des Lerners in die Entwicklung ein.
- Von den Bedürfnissen der Lernenden her ergäben sich andere Fragen und Lernanlässe als "im Zusammenhang eines Lernens nach formellen Curricula". Zur Beantwortung derartiger Fragen seien Hilfen notwendig, zum Analysieren von Situationen, Verstehen von Wirkungszusammenhängen, Entwickeln von Problemlösungsmöglichkeiten, Ausdifferenzierung von Denkstrukturen u. a.
Die von DOHMEN vorgebrachten Kritikpunkte am formalen institutionellen Lernen sind einerseits dort seit längerem Ansatzpunkte von curricularen und unterrichtlichen Reformen, wie sie etwa - den Erkenntnissen konstruktivistischer Lehr- /Lernforschung folgend - im Konzept des problem- und handlungsorientierten Lernens in der Berufsbildung zur Geltung kommen. Andererseits sind die vermuteten Effekte informellen Lernens abhängig von der Fähigkeit des Individuums, die je eigenen existentiellen Lernanlässe reflexiv verarbeiten und in zielgerichtete Lernhandlungen überführen zu können. Folglich erhält das "selbstgesteuerte Lernen" in dieser Programmatik informellen lebenslangen Lernens einen hohen Stellenwert.

 

Im Prinzip geht es dabei um die Übertragung von Entscheidungen über Ziele, Inhalte, Stoffreduktion, Erfolgskontrolle u. a. auf die Person des Lernenden, was wiederum unter der Annahme erfolgt, dass dieser über ein entsprechendes Sach- und Strategiewissen verfügt, um diese Entscheidungen optimal treffen und realisieren zu können.
Offenbar soll diese Hilfe zum informellen selbstgesteuerten Lernen - vor allem auch unter Kostengesichtspunkten- eher medial als sozial "organisiert" werden. Die Übertragung von Lehrfunktionen auf ein elektronisches Trägermedium sowie die Anpassung der darin gespeicherten "Didaktik" an das Individuum durch eingebaute Mechanismen der Interaktivität sollen die Lehrenden im klassischen Sinne weitgehend ersetzen (vgl. ZIMMER 1991). Damit rückt ein Typus selbstgesteuerten Lernens in den Mittelpunkt, der dem Trend der gesellschaftlichen Individualisierung in radikaler Weise folgt. Soziale Kompetenzen sind in derartig selbstgesteuertem Lernen nicht erwerbbar, im Unterschied etwa zum Lerntypus des "selbstorganisierten Lernens", bei dem über die Form der Gruppenselbstorganisation in besonderem Maße auch soziale Kompetenzen gefördert werden können (NUISSL VON REIN 1997, 70; SEMBILL et. al. 1998).

Die Fähigkeit zu selbstständigem Lernen ist zweifellos die entscheidende Bedingung für erfolgreiches lebenslanges Lernen. Auch die curriculare Zielsetzung der beruflichen Handlungsfähigkeit hat zur Voraussetzung, dass Lehr-Lernprozesse durchlaufen werden, die einen wachsende selbstständige und selbstbestimmte Auseinandersetzung mit den Lerninhalten ermöglichen. Selbstständiges Lernen ist deshalb ein wesentliches Lernziel "formaler" institutionalisierter beruflicher Lehr- Lernprozesse (vgl. FLOTHOW 1991).
Auf dem Weg zur "Selbstständigkeit im Lernen" bedarf es kontinuierlicher Übergänge vom fremdgesteuerten über das vermittelnd-offene zum autonomen selbstständigen Lernen. Deshalb ist jeweils auch immer zu prüfen, inwieweit z. B. interaktives mediales Lernen eher als fremdbestimmtes denn als selbstbestimmtes Lernen anzusehen ist, wobei überdies Ziele, Inhalte und Methoden der curricularen Legitimationspflicht öffentlich-institutioneller Bildung entzogen wären.
Gerade die berufs- und wirtschaftspädagogische Curriculumforschung weist demgegenüber wichtige Ansätze zur Förderung selbstständigen Lernens auf, die dem Gedanken einer auf Autonomie gerichteten Persönlichkeitsentwicklung verpflichtet sind. Diese Ansätze suchen dem Bedürfnis und dem Anspruch des Individuums in bezug auf Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbsttätigkeit zu entsprechen(vgl. SEMBILL et. al. 1998; STRAKA 1998).

2. Problemfelder einer Programmatik lebenslangen Lernens aus der Sicht einer berufs- und wirtschaftspädagogisch akzentuierten Curriculumforschung
2.1 Die Konzeption der "Lerngesellschaft"

Als Ergebnis seiner Sichtung der internationalen Diskussion zum lebenslangen Lernen fügt DOHMEN (1996, 89ff.) "sechs Grundeinsichten" zur "bildungspolitischen Gesamtkonzeption" einer "Lerngesellschaft" zusammen:

(1) Zur breiten Entwicklung menschlicher Kompetenzen sei eine umfassende Mobilisierung eines "kompetenz-entwickelnden Lernens" möglichst vieler Menschen erforderlich.
(2) Unter der Zielsetzung, Kompetenzen zur Lebensbewältigung und Problemlösung zu erwerben, sei das "aufgabenbezogene Lernen in praktischen Herausforderungssituationen" zu stärken.
(3) Lebenslanges, kompetenzentwickelndes Lernen sei nicht in klassischen Unterrichtsformen realisierbar, sondern erfordere ein "aktiveres, lebensoffeneres selbstgesteuertes bzw. selbstorganisiertes Lernen".
(4) Lebenslanges Lernen in vielfältigen Lebenszusammenhängen bedürfe "der breiteren Anregung und offeneren Unterstützung in einer Lernumwelt mit vielen realen und virtuellen Lernorten".
(5) Die "klassischen Bildungsinstitutionen können in den sich entwickelnden Lern-Netzwerken zu stabilisierenden 'Knoten' mit wichtigen Ordnungs-, Orientierungs-, Fundierungs-, Beratungs- und Unterstützungsfunktionen für das lebenslange Lernen werden".
(6) Die wichtigste Veränderung müsse die Einstellung der Menschen zum Lernen betreffen. Erforderlich sei ein Wandel weg vom passiven Konsumenten von Bildungsangeboten und Bildungskarrieren und hin zum aktiven Gestalter eigener Lernbiographien unter Nutzung vielfältiger Lern- und Unterstützungsmöglichkeiten.

Ein deutlicher Grundtenor sowohl dieser Programmatik als auch der meisten hierin aufgenommenen Beiträge zum lebenslangen Lernen besteht in einer ausgesprochen schul-, institutionen- und zugleich staatskritischen Diktion, die in vielem an die Rhetorik der reformpädagogischen Bewegungen oder der Entschulungsdebatte der 1970er Jahre erinnert. Argumentativer Bezugspunkt ist hierbei allerdings weniger ein kulturkritischer bzw. emanzipatorischer Impetus, wie er jenen pädagogischen Zeitströmungen eigen war, sondern vielmehr eine vielschichtige Vision des Individualismus, die in durchaus widerspruchsvoller und spannungsreicher Weise gespeist wird von Ideen der Postmoderne und des ökonomischen Neoliberalismus mit seiner spezifischen Deregulierungsideologie, die getragen wird von erkenntnis-, entwicklungs- und lerntheoretischen Annahmen des Konstruktivismus und den korrespondierenden didaktischen Postulaten und die schließlich begünstigt werden dürfte durch unmittelbare Verwertungsinteressen der Wirtschaft in einer Zeit verschärften Konkurrenz- und Kostendrucks.
Kennzeichnend für diese Ablehnung tradierter Strukturen des Bildungssystems ist vor allem

· die Kritik an der Künstlichkeit und Lebensferne des Lernortes Schule unter Anwendungs- und Transfergesichtspunkten;
· die Kritik an einem vorwiegend begriffssystematischen, wissenschaftsorientierten Unterricht, konstruktiv gewendet im Postulat einer Stärkung des informellen Lernens in lebensweltlichen Anforderungssituationen;
· die Kritik an einer Kultur der Fremdsteuerung von Lernprozessen durch Lehrerdominanz im Unterricht, durch curriculare Vorgaben und den Druck von Prüfungen;
· die Kritik an normierten und standardisierten Bildungsgängen und einem starren Berechtigungswesen, kontrastiert mit dem Postulat individualisierter Lernwege und differenzierter bzw. modularisierter Abschlüsse und Zertifikate sowie schließlich
· die Kritik an der Selektions- und Platzierungsfunktion der Schule mit den damit verbundenen Demotivierungseffekten auf Seiten der Lernenden.
Auf der Folie dieser Kritik ist der systematische Ort bestehender Bildungsinstitutionen nicht nur im Sektor der Weiterbildung neu zu bestimmen; im umfassenden "Netzwerk verschiedener Lernorte, Lernformen und Lernhilfen in einer Lifelong-Learning-Gesellschaft" sieht DOHMEN (1996, 76f.) den neuen Schwerpunkt der Schule in der "Vermittlung einer Grundbildung und Grundmotivation für das lebenslange Lernen". Differenzierter:
· Im Sinne einer kognitiven Fundierung lebenslangen Lernens müssen sich die Jugendschulen primär "auf die Vermittlung grundlegender Kenntnisse, Fähigkeiten und Motivationen für lebenslanges Weiterlernen" konzentrieren. In diesem Kontext bringt DOHMEN den Begriff einer "neuen Elementarbildung" ins Spiel, die zur Klärung fundamentaler Sinn- und Verständniszusammenhänge, Grundgedanken, Grundformen, Hauptprinzipien, Deutungsmuster und Ordnungskategorien, Grundkompetenzen und Schlüsselqualifikationen" anzuregen habe.
· Durch die Ausprägung eines positiven Lernklimas müsse die Jugendschule zum lebenslangen, freiwilligen, selbstgesteuerten Weiterlernen motivieren.
· Die Jugendschule habe Methodenkompetenz im Sinne einer Hinführung zum selbstständigen, selbstgesteuerten bzw. selbstorganisierten Lernen auszubilden.

Um dies leisten zu können, müssten sich Schulen von Unterrichtsanstalten zu öffentlichen Lernzentren wandeln, die "stets für die vielfältigen Lerninteressen und Lerninteressenten und ihre flexible Förderung offen sind". Insbesondere müssten sie sich öffnen für die außerschulischen Lebens- und Medienerfahrungen der Schüler, müssten sie praxisbezogenes Lernen im Kontakt mit vielen anderen Lernorten ermöglichen und zu neuem Denken, zu innovativem Planen und Handeln im Rahmen problemlösungsbezogenen, fächerübergreifenden Lernens ermutigen (ebenda, 77).
Aus der Perspektive einer wirtschaftspädagogisch akzentuierten Curriculumforschung sind im Hinblick auf diese Programmatik lebenslangen Lernens vorrangig zwei Problemkomplexe zu diskutieren:

(1) Verbindet sich mit den Forderungen nach Individualisierung und Entinstitutionalisierung des Lernens, die ja keineswegs auf den Sektor der Weiterbildung beschränkt bleiben, nicht zugleich die Gefahr eines Rückfalls hinter Reflexions- und Rationalitätsstandards, die im Zuge der curriculumtheoretischen Diskussionen der vergangenen 30 Jahre gewonnen wurden (vgl. hierzu REETZ/ SEYD 1983; REETZ/ SEYD 1995; TRAMM 1996) und die gerade auch im Bereich der beruflichen Curriculumentwicklung in den zurückliegenden Jahren in erheblichem Maße praktische Resonanz gefunden haben? Über den curricularen Horizont hinaus gefragt: Werden mit der Idee individueller Qualifikationsprofile und Lernwege nicht sogar unter dem Diktat letztlich ökonomischer Partialinteressen Errungenschaften der bürgerlichen und demokratischen Emanzipationsbewegungen preisgegeben und die empfindliche Balance zwischen individuellem Bildungsanspruch, dem Tradieren kultureller Normen und Gehalte, den konkreten ökonomischen Verwertungsinteressen sowie gesellschaftlich-politischen Schutz- und Ausgleichsleistungen nachhaltig gestört?

(2) Stellen die Postulate lebenslangen Lernens nicht insbesondere das System der Berufsausbildung einschließlich seiner konstitutiven Kernidee der Beruflichkeit gesellschaftlicher Arbeit und Reproduktion grundlegend in Frage, wobei hiervon insbesondere die bildungspolitisch ohnehin in die Defensive geratene Berufsschule betroffen wäre?
Wir werden zu zeigen versuchen, dass dies keinesfalls notwendig zutrifft, dass vielmehr viele der in der Diskussion zum lebenslangen Lernen thematisierten Aspekte seit einer Reihe von Jahren in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik unter Schlagworten wie handlungsorientiertes Lernen und Vermittlung von Schlüsselqualifikationen intensiv diskutiert werden und dass gerade differenzierte und individualisierte Qualifizierungspfade in der Logik einer Strategie lebenslangen Lernens einer breiten, obligatorischen und curricular reflektierten Grundlegung bedürfen. Hierfür sind im Bereich der Berufs- und Wirtschaftspädagogik und im Praxisfeld der beruflichen Bildung wesentliche Vorarbeiten geleistet bzw. in Angriff genommen.

2.2 Zur Notwendigkeit der Rekonstruktion der curricularen Perspektive im Kontext einer Programmatik lebenslangen Lernens

Im Hinblick auf die institutions- und staatskritische Diktion zahlreicher Beiträge zum lebenslangen Lernen weist NUISSL VON REIN (1997, 76) sehr zu Recht darauf hin, dass unter historischem Aspekt der Gedanke an eine "Selbstlernwende" ohne die vorgängige Existenz von Bildungsinstitutionen gar nicht möglich gewesen wäre, und er argumentiert in diesem dialektischen Sinne weiter, dass das Selbstlernen ohne den Erhalt der Leistungen von Bildungsinstitutionen keinerlei Anspruch auf Modernität hätte, sondern einen Rückfall in vordemokratische und antiaufklärerische Strukturen darstellte. Historisch gesehen war natürlich "der Aufbau eines Bildungssystems mit Institutionen der wirkliche Fortschritt gegenüber dem bis dahin vorherrschenden 'individuellen Lernen'", sei es 'informell' im unmittelbaren Lebenszusammenhang der Familie, der Subsistenzwirtschaft und der früh begonnenen Erwerbsarbeit erfolgt oder sei es privilegierter etwa im Adel oder im gehobenen Bürgertum durch Haus- und Privatlehrer vermittelt. Bildungsinstitutionen - und mit ihnen der Staat bzw. die sich über ihn Geltung verschaffenden gesellschaftlichen Kräfte - haben "eigene Lernbemühungen gestützt, öffentlich eingefordert, überhaupt erst für gesellschaftlich relevant erklärt und Bildung demokratisch erlebbar gemacht" (ebenda). Die Kehrseite von bürokratischer Reglementierung , von Normierung und Kontrolle ist eben die Überwindung von Willkür, von Beliebigkeit und Dezisionismus; in diesem Sinne wohnt der bürokratischen Logik immer auch ein egalitärer, ja emanzipatorisch-aufklärerischer Geist inne.

Wohlverstanden darf das Argument NUISSL VON REINs nicht als strukturkonservativ fehlinterpretiert werden; es geht ihm nicht um den Erhalt der Institutionen, sondern um die Sicherung der durch sie realisierten Funktionen. Fasst man in den Blick, dass in der Konzeption der Lerngesellschaft ein pluralistisches Netzwerk von Lernorten konzipiert ist, in dem öffentlichen Schulen keine hervorgehobene Funktion mehr zuzukommen scheint, so muss natürlich die Frage gestellt werden, ob und wenn ja, in welchem Maße und in welcher Weise ordnend, strukturierend oder regulierend in diese Angebotsstruktur eingegriffen werden soll, oder aber, ob allein das Nachfrageverhalten am Bildungsmarkt ausschlaggebend sein soll.
In ähnlicher Weise lässt sich auch im Hinblick auf die curricularen Implikationen einer Programmatik lebenslangen Lernens argumentieren. Auch hier ist zu fordern, dass mit einer Individualisierung von Curricula im Sinne selbstgesteuerten Lernens kein Rückfall hinter den mit der Curriculumdiskussion erreichten Reflexionsstand erfolgen darf, weil andernfalls statt Entbürokratisierung, Individualisierung und Selbstverantwortung tatsächlich die Dominanz ökonomischer Utilitarität, inhaltlicher Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit angesichts einer unüberschaubaren Vielfalt an Lernangeboten resultieren könnten.
Was sind diese Standards curricularer Rationalität?

Die curriculare Programmatik, die im deutschen Sprachraum durch Saul B. ROBINSOHN (1967) prägnant formuliert wurde, greift zwei große Zeitströmungen des 1960er Jahre auf und bezieht sie auf die offenkundig drängende Aufgabe der Bildungsreform: Einerseits die Forderung nach Demokratisierung aller Lebensbereiche und nach demokratischer Teilhabe an allen wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen, wozu ROBINSOHN natürlich auch die "Entscheidung über Auswahl und Priorität der Bildungsinhalte" zählte (ebenda, 44). Das zweite Leitmotiv in den Vorschlägen Robinsohns ist der fortschrittsoptimistische Glaube an die Aufklärungs- und Gestaltungskraft neuzeitlicher, insbesondere empirischer Wissenschaft. Wissenschaftliche Rationalität der curricularen Produkte einerseits und Demokratisierung der curricularen Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse andererseits waren für ROBINSOHN und die sich an seinen Impuls anschließende Diskussion zentrale, spannungsreiche Bezugspunkte für die Legitimation curricularer Entscheidungen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die folgenden Kernelemente der curricularen Programmatik identifizieren und im Hinblick auf die aktuelle Diskussion um lebenslanges Lernen diskutieren:

(1) Unstrittig war für ROBINSOHN und im gesamten Kontext der Curriculumdiskussion zunächst der zentrale Ausgangs- und Bezugspunkt der Reflexion: Die Notwendigkeit und Existenz einheitlicher, für alle Betroffenen verbindlicher Lehrpläne und Leistungsanforderungen zur Normierung der Lehr-Lern-Prozesse und zur Orientierung der an ihnen Beteiligten. Auch wenn in der Diskussion um lebenslanges Lernen - wie derzeit schon in der Praxis der beruflichen Weiterbildung - immer stärker individualisierte Qualifikationsprofile diese einheitlichen Curricula ersetzen, wird doch davon auszugehen sein, dass es einerseits bestimmte Phasen in der Lernbiographie von Menschen geben wird, die weiterhin durch verbindliche und gemeinsame Curricula geprägt sind, und dass es andererseits auch auf den individualisierten Lernpfaden Kernbereiche als obligatorische Wegstrecken geben wird.

(2) Konstitutiv für die curriculare Thematik ist der Ansatz, eine Bildungsreform von den Inhalten her zu betreiben und damit die rational begründete Auswahl der Lerngegenstände im Hinblick auf angestrebte Qualifizierungsleistungen in den Mittelpunkt der Reformbemühungen zu stellen. Dabei entspricht es einer zeitgemäßen Interpretation dieses Ansatzes, Bildungsinhalte oder Lerngegenstände nicht etwa materiell-objektivistisch zu interpretieren, sondern hierunter komplexe individuelle Lernerfahrungen zu verstehen, die Schülern im Zuge ihres Lernhandelns ermöglicht werden sollten (vgl. z. B. TRAMM 1996). Lerngegenstände können damit auch authentische Situationen des Alltags- und Berufslebens sein, oder besser gesagt: Lern- und Erkenntnisgegenstände können in lebensweltlichen Kontexten situiert sein. Freilich wird es im Hinblick auf den angestrebten Kompetenzerwerb und im Hinblick auf den individuellen Erfahrungshintergrund natürlich nicht gleichgültig sein, mit welchen Lerngegenständen sich ein Lernender zu einem gegebenen Zeitpunkt in welcher Weise auseinandersetzt. Das hohe Lied des informellen Lernens, des Zusammenfallens von Arbeits- und Lernsituation, wie es in der Programmatik des lebenslangen Lernens unisono ertönt, ignoriert nicht nur die aus Arbeitspsychologie, Industriesoziologie und Berufsbildungsforschung bekannte Tatsache, dass Arbeitssituationen häufig keinesfalls so gestaltet sind, dass sie Lernprozesse begünstigen oder auch nur ermöglichen (vgl. z. B. GETSCH 1990; KECK 1995), sondern es übergeht auch die Notwendigkeit, dass aus einer Vielzahl denkbarer Situationen (und Lerngegenständen) nur solche kompetenzfördernd sind, die exemplarische Einsichten für gleichartige Situationen ermöglichen, die strukturelle Erkenntnisse eröffnen, kognitive Konflikte bzw. Probleme angemessenen Schwierigkeitsgrades enthalten oder den Erwerb übertragbarer Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglichen. Aus der Problemlöse- und Expertiseforschung ist bekannt, dass die Qualität individuellen Wissens in einer Domäne die zentrale Variable im Hinblick auf Orientierungs- und Handlungskompetenz ist (vgl. z. B. DÖRNER et al. 1983; FÜRSTENAU 1994). In dem von DOHMEN gewählten Begriff der "neuen Elementarbildung" scheint die Relevanz der Inhaltsdimension für Lernen aufgegriffen zu werden, zumal die curriculare Diktion vermuten lässt, dass damit die Frage nach grundlegenden Kategorien des Kompetenzerwerbs im Hinblick auf eine Grundbildung aufgeworfen wird. Es ist aber kaum nachvollziehbar, weshalb diese Frage dann suspendiert oder gar diskreditiert wird, wenn es um differenziertere und elaboriertere Lernprozesse im Zuge der Fach- und Weiterbildung geht.

(3) Zwei weitere zentrale Aspekte der curricularen Programmatik sind in dieser Argumentation bereits deutlich aufgeschienen: Einerseits der Anspruch auf eine umfassende Betrachtung des gesamten didaktischen Entscheidungsfeldes unter Einbeziehung intentionaler, thematischer, methodischer und medialer Aspekte und ihrer Wechselwirkungen sowie andererseits

(4) der Anspruch einer unverkürzten Rationalität curricularer Entscheidungen, konkretisiert in der Forderung, dass auch und gerade inhaltliche Entscheidungen in die Form eines "rationalen gesellschaftlichen Konsens gehoben werden müssen, der sich auf rationale Begründungen und objektive Erkenntnisse stützt (ROBINSOHN 1967, 31). Es ist offenkundig, dass in der Programmatik lebenslangen Lernens im curricularen Spannungsfeld von wissenschaftlicher Rationalität und demokratischer Legitimation curricularer Entscheidungen nicht eine - tatsächlich schwierig zu findende und zu erhaltende - Balance gesucht wurde, sondern dass unter dem zeitgemäßen Schlagwort der Individualisierung (und unter Nutzung aller Ressentiments gegen Curricula) letztlich die Rückkehr zu subjektiver Beliebigkeit nahegelegt wird.


Der wohl folgenreichste und nachhaltigste Impuls, der von der Curriculumdiskussion ausgegangen ist, dürfte sich mit der ROBINSOHNschen Formel verbinden, Entscheidungen über Curriculumelemente im Hinblick auf ihren Beitrag zur Vermittlung von Qualifikationen zur Bewältigung von Lebenssituationen zu begründen, d. h. letztlich das pragmatische Argument zur Begründung von Lerninhalten gegenüber bildungstheoretischen Begründungskomplexen zu rehabilitieren. Bei aller erklärter Distanz zur curricularen Programmatik wird dieser pragmatische Begründungsansatz von den Vertretern des lebenslangen Lernens ausgiebig in Anspruch genommen, wobei allerdings der Bezug auf berufliche Lebenssituationen, genauer noch: Auf betriebliche Anforderungssituationen, deutlich im Vordergrund zu stehen scheint. Genau an diesem Zusammenhang aber lässt sich auch zeigen, dass diese Begründungslinie weit hinter das - insbesondere auch in der wirtschaftsberuflichen Curriculumdiskussion erreichte Reflexionsniveau zurückfällt. So ist schon in den Ausführungen zur Begründung der ROBINSOHNschen Curriculumstrategie erkennbar, dass dieser keinesfalls einseitig nur Utilitarität im Sinne beruflicher Tüchtigkeit im Sinne hatte, sondern immer auch zugleich das pädagogisch und politisch zu rechtfertigende Interesse an der Mündigkeit des Individuums reflektierte. Folgerichtig stellte in der intendierten Curriculumstrategie das pragmatische Argument auch nur einen von drei Kriteriensätzen dar. ROBINSOHN (1967, 47) nannte als solche im Zusammenhang


· "... Bedeutung eines Gegenstandes im Gefüge der Wissenschaft, damit auch als Voraussetzung für weiteres Studium und weitere Ausbildung";


· ... Leistung eines Gegenstandes für Weltverstehen, d. h. für die Orientierung innerhalb einer Kultur und für die Interpretation ihrer Phänomene;


· ... Funktion eines Gegenstandes in spezifischen Verwendungssituationen des privaten und öffentlichen Lebens".

Der hiermit angedeutete Sinnhorizont von Bildungs- bzw. Lernprozessen wird mit den häufig rein funktionalistischen Verwertbarkeitsargumenten, wie sie DOHMEN (1996) referiert, im Kern verfehlt. Tatsächlich muss sich Lernen in jeder Lebensphase - soll es sich nicht in der Anpassung an enge, zeitlich befristete Arbeitsplatzanforderungen erschöpfen - auch daran messen lassen, inwieweit es zur verständigen Orientierung auch über unmittelbare Handlungsfelder hinausweisend beiträgt und ob es kognitive und affektive Zugänge zu weiterem - auch und gerade wissenschaftsorientiertem - Lernen eröffnet.
Es soll hier nicht pauschal unterstellt werden, dass Ansätze lebenslangen Lernens autonomieorientierte oder auf die Entwicklung der Persönlichkeit zielende Aspekte ignorieren oder auch nur generell vernachlässigten. Gerade die zahlreichen Diskussionsbeiträge zum selbstgesteuerten oder selbstorganisierten Lernen (als Überblick DOHMEN 1997) belegen ein starkes Engagement für diese Aspekte. Unsere Kritik geht vielmehr dahin,

· dass das spannungsreiche Verhältnis der unterschiedlichen Kompetenzdimensionen (so. z. B. Sachkompetenz, Sozialkompetenz und humane Selbstkompetenz sensu ROTH) nicht reflektiert, sondern der Begriff der "Kompetenzorientierung" vielmehr ausgesprochen plakativ in Anspruch genommen wird;

· dass theoretische und normative Referenzpunkte der curricularen Entscheidungen weder offengelegt noch diskutiert werden; dies betrifft insbesondere die im Kontext der beruflichen Curriculumforschung ausführlich erörterten Spannungsfelder

- von Qualifikation und Bildung als Sinnhorizont lebenslangen Lernens ,

- von Vergesellschaftung und Autonomie, Sozialisation und Individuation als Funktion

- von Befähigung zur Bewältigung/Anpassung und Gestaltung als Zieldimension,

- von Situationsbezug und Wissenschaftsbezug als Referenzpunkt und Begründungszusammenhang für Curriculumentscheidungen (vgl. REETZ 1984; REETZ/ SEYD 1983; 1995; TRAMM 1996; allgemeiner RÜLCKER 1976);

· dass weithin das angestrebte Ziel schlichtweg zugleich zum hinreichenden probaten Mittel erklärt und die Bearbeitung der Frage nach geeigneten, zieladäquaten Lernangeboten damit dispensiert wird;

· dass einem problematischen didaktischen Naturalismus im Hinblick auf die Lernwirksamkeit "natürlicher" Anforderungs- und Handlungssituationen, insbesondere im Kontext betrieblicher Erwerbstätigkeit - gefolgt wird und schließlich,

· dass durchaus angesprochene wichtige Einsichten, z. B. in die Relevanz systematischer Reflexion für nachhaltige Erfahrungsbildungsprozesse oder in die Notwendigkeit einer Elementarbildung als Vorbereitung auf lebenslanges Lernen, nicht systematisch weiter verfolgt, aufeinander bezogen und zur Identifikation und Strukturierung grundlegender Desiderate einer Theorie lebenslangen Lernens genutzt werden.


Unser Hinweis auf die Notwendigkeit der Rekonstruktion einer curricularen Perspektive im Kontext der Thematik lebenslangen Lernens intendiert nicht und impliziert auch nicht die Absicht einer Reglementierung oder Fremdsteuerung von Lernprozessen durch Staat, Wissenschaft oder wen auch immer, sondern er soll an die Notwendigkeit erinnern, bei der Gestaltung von Lernprozessen einen rationalen Zusammenhang zwischen begründeten und gerechtfertigten Zielen, Inhalten, Medien des Wirklichkeitszugangs und methodischen Handlungsformen des Lernens zu stiften. Diese Formulierung schließt natürlich auch den auch aus unserer Sicht anzustrebenden Fall ein, dass diese curriculare Perspektive den Lernenden auch im Zuge selbstgesteuerten oder selbstorganisierten Lernens hilft, sich in diesem Entscheidungsfeld zu orientieren und hierin zu vernünftigen Entscheidungen zu gelangen (vgl. hierzu auch TRAMM 1992, 35ff.).


Eine zentrale Voraussetzung für die Rekonstruktion der curricularen Perspektive dürfte nach unserer Überzeugung sein, das Konstrukt der "Kompetenzorientierung" differenzierter zu bestimmen. Hierfür bietet sich ein Rückgriff auf handlungs- und kognitionspsychologisch fundierte Konzeptualisierungen an, wie sie in der vergangenen Jahren gerade im Bereich der Berufs- und Wirtschaftspädagogik unter dem Schlagwort der Handlungsorientierung beruflichen Lernens in breitem Maße entwickelt und elaboriert worden sind.

2.3 Zum Konzept der Handlungsorientierung als theoretischem Bezugspunkt einer curricularen Reflexion lebenslangen Lernens

An dieser Stelle kann das Konstrukt der Handlungsorientierung mit seinen theoretischen Voraussetzungen, konzeptuellen Varianten und curricular-didaktischen Konsequenzen nicht ausführlich dargestellt werden (vgl. hierzu REETZ 1984; 1996; TRAMM 1992; 1994; 1996; ACHTENHAGEN/TRAMM u. a. 1992). Wir wollen uns statt dessen auf eine kurze Charakterisierung beschränken und versuchen, mit fünf Hinweisen knappe zusätzliche Akzente zu setzen. Zwei dienen der negativen Abgrenzung und drei der positiven Bestimmung handlungsorientierten Lernens.
Allgemein kann der Ansatz handlungsorientierten Lernens unter Bezugnahme auf Hans AEBLI (1980; 1981) dadurch gekennzeichnet werden, dass er die Annahme eines Dualismus, einer Wesensverschiedenheit von Handeln und Denken, zurückweist und demgegenüber betont, dass sich das Denken, das Wissen und das Können aus dem praktischen Handeln und dem Wahrnehmen heraus entwickeln und dass sich Denken und Wissen wiederum im praktischen Handeln und in der deutenden Wahrnehmung der Welt zu bewähren haben.

Handlungsorientierung liegt jedoch nicht schon dann vor - so die erste negative Abgrenzung -, wenn in irgendeiner Form etwas "praktisch" im Sinne von "handgreiflich" getan wird. Im Begriff des Handelns wird vielmehr die Tatsache betont, dass menschliches Tun meist absichtsvoll, zielgerichtet, planvoll und bewusst geschieht und in seiner Ausführung kognitiv reguliert wird, kurz: Dass zwischen Reiz und Reaktion ein Stückchen menschlicher Weisheit am Wirken ist (so MILLER/GALANTER/PRIBAM 1973). Entsprechend hängt das Attribut der Handlungsorientierung entscheidend daran, in welchem Maße auch die "Denkseite" (DEWEY 1915/1964, 186ff.) des praktischen Tuns und der praktischen Erfahrung berücksichtigt und gefordert wird.
Wo dies nicht der Fall ist, wo nur vorgegebene Arbeitsprogramme buchstabengetreu ausgeführt werden, mag dies dem Training technischer Fertigkeiten durchaus dienlich sein. Handlungsorientierung in unserem Sinne wäre es jedoch noch nicht.
Handlungsorientierung steht - so unsere zweite negative Abgrenzung - nicht im Widerspruch zur kritischen Wissenschaftsorientierung beruflichen Lernens. Sie zielt nicht auf die schnelle Einübung technischer Fertigkeiten und auf die unkritische Einpassung in bestehende Strukturen ab, sondern steht unter der Leitidee, den Lernenden zu eigenem Urteil und zu kompetentem und verantwortlichem Handeln zu befähigen.

Der Weg dorthin soll als ein kontinuierlicher Entwicklungs- und (Selbst-)Konstruktionsprozess des Subjekts angelegt werden, in dem die schon erworbenen Kompetenzen sich in praktischen Handlungs- und Problemzusammenhängen bewähren müssen, dabei immer wieder an ihre Grenzen stoßen werden und hieraus Impulse für weitere Lernprozesse erhalten.
Für die Lernenden heißt dies: Aus dem praktischen Zusammenhang heraus neue Problemlösungen finden und dabei bereits vorhandenes Wissen kreativ anwenden, sich kundig machen und beraten lassen und vor allem dann: Die eigenen Problemlösungen, das neue (noch hypothetische) Wissen im Handlungszusammenhang auf seine Bewährung hin erproben. Dies setzt natürlich die Fähigkeit zur Kritik - auch zur Selbstkritik - voraus. Und es stellt in dem Sinne eine neue Qualität von Wissenschaftsorientierung dar, als sich der Lernende selbst hypothesengenerierend und hypothesenprüfend in kritisch-experimenteller Haltung neues Können und Wissen im Handlungszusammenhang schafft.
Unsere erste positive Konkretisierung bezieht sich auf den Begriff der Handlungskompetenz. Wir verstehen hierunter - im Sinne der konstruktivistischen Diktion handlungsorientierter Konzepte - die Fähigkeit, auf der Grundlage wissensbasierter Situationswahrnehmungs-, Situationsbewertungs- und Zielbildungsprozesse adäquate - und dies heißt angesichts der Variabilität und Offenheit von Situationsmerkmalen letztendlich zugleich immer wieder neue - Handlungen zu generieren, d. h. sie zu planen, auszuführen und zu beurteilen. Derartige Handlungen können nicht oder allenfalls in sehr begrenzten Fällen "fertig" aus dem Gedächtnis abgerufen werden. So wie der Mensch keine Sätze lernt, sondern ein begrenztes Vokabular und eine Grammatik, aus denen heraus er eine unbegrenzte Vielfalt von Sätzen erzeugen kann, so erlernt er auch keine Handlungen, sondern ein Elementen- und Regelsystem, aus dem heraus er Handlungen - und natürlich auch innere Abbilder von Objekten, Strukturen, Prozessen oder Situationen - generieren kann (vgl. hierzu VOLPERT 1979, 27; AEBLI 1980). Zwei wesentliche Teilkomponenten dieser Handlungskompetenz sollen hier besonders herausgehoben werden (vgl. TRAMM 1992, 131ff.; 1996, 233ff.):

1. Die Fähigkeit zur angemessenen Situationswahrnehmung oder präziser formuliert: Die Fähigkeit zur angemessenen inneren Modellierung von Handlungssituationen und Systemzusammenhängen. Angemessen bezieht sich dabei einerseits auf die notwendige Vollständigkeit, Differenziertheit und Komplexität dieser inneren Abbildungen und andererseits auf ihre Strukturiertheit und Klarheit.

2. Die Fähigkeit, eine Situation zielgerichtet und schrittweise in Richtung auf eine neue Situation zu verändern; die Fähigkeit also zum gedanklichen Problemlösen, zur vorausschauenden Handlungsorganisation, schließlich auch die Fertigkeiten, die in die Handlungsausführungen einfließen und das Verfügen über Handlungsprogramme für Routinesituationen.

Die zweite positive Konkretisierung betrifft die Qualität des Lernhandelns, also der zielgerichteten Aktivität des Lernenden. Unter dem Aspekt der Handlungsorientierung sollten Lernangebote vorwiegend danach beurteilt und gestaltet werden, welche Erfahrungsmöglichkeiten sie den Lernenden eröffnen. Hierbei lassen sich drei Aspekte unterscheiden:

1. Welche inhaltlichen und sozial-kommunikativen Erfahrungen werden den Lernenden ermöglicht, d.h. welche Phänomene, Objekte, Vorgänge, Begriffe etc. werden den Lernenden in welcher Form und in welchem inhaltlichen Zusammenhang zugänglich gemacht?

2. Welche Erfahrungen kann der Lernende mit sich selbst, d. h. mit seinem Handeln, seiner Kompetenz und seinem Wissen machen. Anders gefragt: Wie anspruchsvoll sind die Anforderungen, die der Lernende im Zuge des Lernhandelns zu bewältigen hat?

* Wie vollständig oder ganzheitlich sind die Handlungen im Sinne der Einheit von Zielbildung, Handlungsplanung, Handlungsausführung sowie Handlungskontrolle und -bewertung?
* Wie ganzheitlich sind diese Handlungen im Sinne einer Verknüpfung kognitiver, affektiver und psychomotorischer Anforderungen und Erfahrungsgehalte?
* Wie problemhaltig sind die Handlungen, in welchem Maße enthalten sie "Barrieren" und kognitive Konflikte, wie stark wird es notwendig und möglich, neue Lösungen gedanklich zu entwerfen und (subjektiv) neues Wissen zu generieren?
* Wie komplex sind die Handlungen in dem Sinne, dass sie sich aus einer unterschiedlich langen Abfolge von Teilhandlungen zusammensetzen?

3. Wie ausgeprägt ist schließlich das Reflexions- und Systematisierungsniveau des Lernhandelns? In welchem Maße gelingt es, ein Wechselspiel von handlungs- und problembezogener Erfahrung und begrifflich-abstrakter Reflexion und Systematisierung zu verwirklichen?
Die dritte positive Bestimmung betrifft schließlich die Frage nach der Auswahl, Modellierung und Repräsentation der Lerngegenstände.
Wenn ein Lernhandeln im oben angesprochenen Sinne ermöglicht werden soll, so setzt dies voraus, dass die Lerngegenstände in anschaulicher, erfahrungsoffener, realistischer und kontinuierlicher Weise in den Lernprozess einbezogen werden. Was heißt dies im einzelnen?

* Anschaulichkeit ist mehr als nur "Bildhaftigkeit". Sie hebt vielmehr die Notwendigkeit hervor, dass die Inhalte und Strukturen der Lerngegenstände dem erkennenden Zugriff seitens der Lernenden zugänglich sein müssen, dass also die zu vermittelnde Struktur tatsächlich in der medialen Repräsentation enthalten ist und durch das Lernhandeln erschlossen werden kann.
* Über den Grad der Erfahrungsoffenheit wird festgelegt, inwieweit die Lernenden die Möglichkeit haben, den Umfang und die Art der zu berücksichtigenden Informationen selbst zu bestimmen; und hierdurch wird auch bestimmt, in welchem Maße sie die Chance erhalten, selbstständig Informationen zu beschaffen, zu erzeugen und zu verarbeiten.
* Realistisch bezieht sich auf den Aspekt, dass der Lernerfolg nur möglich ist, wenn die Lernobjekte auch tatsächlich die unter einer bestimmten Fragestellung wesentlichen materiellen und strukturellen Merkmale des Lerngegenstandes in einer Weise abbilden, die nicht im Widerspruch zu den Alltagserfahrungen der Lernenden steht.
* Mit dem Aspekt der Kontinuität schließlich soll darauf hingewiesen werden, dass wir es im Sinne handlungsorientierten Lernens für zweckmäßig halten, die Lernprozesse über längere Sequenzen hinweg auf möglichst konkrete, praktische oder praxisbezogene Handlungs- oder Problemfelder zu beziehen, die als geeignete Repräsentanten des jeweiligen Lerngegenstandes auszuwählen oder zu modellieren wären.

Aus dieser notwendigerweise verkürzenden Skizze sollte deutlich geworden sein, dass es sich beim Konzept handlungsorientierten Lernens, wie es in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion bei aller Differenziertheit im Detail doch relativ einheitlich vertreten wird (siehe z. B. KAISER 1987; PÄTZOLD 1992; DÖRIG 1994) , nicht etwa um eine mehr oder weniger neue methodische Variante des Unterrichts handelt, sondern vielmehr um eine grundlegend veränderte, umfassende curriculare Leitidee (beruflichen) Lernens. Sie hat als solche gleichermaßen Konsequenzen

· für die Zielebene des Unterrichts,
· für die Auswahl, Strukturierung und Sequenzierung der Lerngegenstände im Unterricht,
· für die Art der medialen Repräsentation der Lerngegenstände im Unterricht,
· für die Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die Lernenden geboten werden,
· für das Rollenverständnis von Lehrenden und Lernenden und schließlich auch
· für die Formen der Lernerfolgskontrolle und der Leistungsbewertung.

Die aus unserer Sicht folgenreichste Verkürzung in der aktuellen Diskussion, die auch in vielen Beiträgen zur Weiterbildung und zum lebenslangen Lernen aufscheint, sehen wir darin, dass häufig inhaltliche Aspekte ausgeblendet oder als nebensächlich behandelt werden. Hier erscheint "Handlungsorientierung" entweder als allgemeine Propagierung bestimmter "lerneraktiver" Methoden unter Nutzung neuer technischer und kommunikativer Möglichkeiten (Leittext, Moderationsmethode, Simulationsspiele, Computernetze) oder aber - etwa unter Schlagworten wie "Schülerorientierung", "Selbstorganisation", "offene Curricula" - als bewusster Verzicht auf curriculare Ziel- und Inhaltsfestlegungen zugunsten bestimmter Prozessmerkmale des Lernens.
Demgegenüber ist es kennzeichnend für die von uns angestrebte curriculare Perspektive, dass eine Veränderung des Lehrens und Lernens genau bei den inhaltlichen Fragen des Curriculum ansetzt, weil hierdurch die Qualität des Lernhandelns in inhaltlicher wie in formaler Hinsicht und darüber natürlich auch die Lerneffekte bestimmt werden. In einem solchen Verständnis geht es für ein kompetenzorientiertes Lernen wesentlich um die Fragen:

* Welche Wissensbasis liegt der angestrebten Orientierungs- und Handlungskompetenz zugrunde? Über welches deklarative, prozedurale und konditionale Wissen (vgl. hierzu DÖRIG 1994) muss ein Mensch verfügen, um sich etwa in ökonomischen Systemzusammenhängen zurechtzufinden und hierin kompetent und verantwortlich handeln zu können? (Die Frage nach der wissensstrukturellen Lernzieldefinition).
* Mit welchem Vorwissen, welchen Erfahrungen und welchen inhaltlichen Interessen sind die Menschen ausgestattet, die sich institutionalisierten Lernangeboten aussetzen oder selbstorganisierten Lernprozesse anstreben? (Die Frage der individuellen Lernvoraussetzungen).
* Mit welchen Gegenständen - Phänomenen, Sachverhalten, Systemen und Prozessen, welchen Ideen, Theorien und begrifflichen Konzepten, welchen Techniken und Verfahren der natürlichen, technischen, sozialen und kulturellen Welt sollen Menschen sich auseinandersetzen, um ihr Wissen, Verstehen und Können in der gewünschten Richtung zu entwickeln? (Die Fragen der Bestimmung der Lerngegenstände ).
* Wie können diese Lerngegenstände so in den Wahrnehmungs- und Handlungsbereich der Lernenden gestellt werden, dass diese sich mit ihnen aktiv lernend auseinandersetzen können und dass die zentralen Merkmale dieser Lerngegenstände erhalten bleiben? (Die Frage der strukturellen und medialen Repräsentation der Lerngegenstände).
* Wie sollte der Lernprozess zeitlich so strukturiert werden, dass die Komplexität und damit auch die Sinnhaftigkeit der Lerngegenstände erfahrbar wird, ohne die Lernenden durch übergroße Komplexität zu überfordern? (Die Frage der Sequenzierung des Lernhandelns).

Bei genauer Betrachtung handelt es sich hierbei um die Grundfragen bildungstheoretischer Didaktik, wie sie schon Wolfgang KLAFKI(1980) in seiner didaktischen Analyse dargestellt hat (vgl. hierzu auch DUBS 1996, 178). Es geht um die Herausforderung, auf einer inhaltlichen Ebene jene Gegenstände zu definieren und dem erkennenden Handeln der Lernenden zugänglich zu machen, die in exemplarischer Weise die Einsicht in Grundprobleme, Grundstrukturen und grundlegende Verständnismuster relevanter Lebensbereiche erlauben. Die Handlungsperspektive, vor allem der Rückgriff auf das theoretische Instrumentarium der Handlungs- und Kognitionspsychologie, eröffnet grundsätzlich neue konzeptuelle Möglichkeiten, in der Beantwortung dieser Fragen weiterzukommen, als es die bildungstheoretische Didaktik hat leisten können. Der Versuch, die Bearbeitung dieser inhaltlich akzentuierten Probleme zu umgehen oder definitorisch auszublenden, bedeutete nach unserem Verständnis eine unzulässige Verkürzung der pädagogischen Aufgabenstellung.

3. Berufsausbildung - Anachronismus oder Orientierungspunkt in Zeiten des lebenslangen Lernens?
3.1 "Importperspektive" versus "Exportperspektive"

Mit unseren Ausführungen zum Konzept der Handlungsorientierung im Kontext eines wirtschaftspädagogischen Problemverständnisses haben wir bereits den zweiten Problemkontext berührt, den wir unter der gegebenen Thematik ansprechen wollen: Die Frage nämlich, welche Auswirkungen die Programmatik lebenslangen Lernens auf den traditionellen Kernbereich berufs- und wirtschaftspädagogischer Reflexions- und Entwicklungsarbeit haben wird: Auf die berufliche Erstausbildung, insbesondere jene Form, die im Zusammenwirken von Betrieb und Berufsschule im dualen System stattfindet.
Zugespitzt lässt sich die zu diskutierende Frage so formulieren: Führt nicht die Programmatik des lebenslangen Lernens notwendig zu einer Aufgabe des traditionellen biographischen Verlaufsmodells, wonach auf eine Phase allgemeiner Schulbildung eine Phase der mehr oder weniger direkten Ausbildung bzw. Vorbereitung auf einen Beruf folgt und wonach dieser biographischen "Lern- und Ausbildungsphase" die Phase der Erwerbsarbeit folgt, in der die zuvor erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Anwendung kommen. Lernen und Arbeiten - so eine der Kernbotschaften der Programmatik lebenslangen Lernens, werden sich immer stärker durchdringen, immer mehr als komplementäre Aspekte menschlicher Existenz begriffen und auch im Zeitverlauf immer stärker miteinander verwoben. Verliert hiermit die berufliche Erstausbildung - und mit ihr deren Institutionen - nicht ihren Gegenstand, ihr Handlungs- und Problemfeld. Wird die Berufsausbildung unter dem Signum des lebenslangen Lernens zu einer Einstiegsphase in das System der Weiterbildung degenerieren und lassen sich ihre didaktischen Fragestellungen damit nicht jenen eines lebenslangen Lernens bzw. einer Weiterbildungsdidaktik subsumieren?

Mit unseren Ausführungen zur Handlungsorientierung haben wir eine alternative Deutung der sich abzeichnenden Situation vorgenommen, die sich in folgender Weise pointieren lässt. Stärker als vermutlich jeder andere Bereich der Bildungssystems hat die Berufsbildungspolitik, haben die Lernorte der beruflichen Bildung und hat schließlich auch die Theorie der Beruflichen Bildung - also primär die Berufs- und Wirtschaftspädagogik - sich in den vergangenen Jahren aus einer Perspektive der "Kompetenzorientierung" heraus mit den Dysfunktionalitäten vorgefundener Strukturen in ihrem Subsystem auseinandergesetzt (s. z. B. REETZ 1984; REETZ/SEYD 1983 oder ACHTENHAGEN/TRAMM u. a. 1992) und auf unterschiedlichsten Ebenen (Klassen, Schulen, Ministerien, Landesinstitute, Studienseminare und Universitäten) curriculare und didaktische Alternativen zum vorfindlichen System entwickelt und erprobt (s. z. B. ACHTENHAGEN/JOHN 1988; 1992). Eine Rezeption der hierbei entwickelten Problemsichten, Lösungsansätze und Handlungserfahrungen (etwa anhand der Denkschrift der Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Berufsbildungspolitik oder der Berichte aus dem DFG-Forschungsschwerpunkt zu Lehr-Lern-Prozessen in der kaufmännischen Erstausbildung, wie sie etwa in den Beiheften 13 und 14 der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik dokumentiert sind) böte die Chance, das Konzept des lebenslangen Lernens problemgerechter zu formulieren sowie die verwendeten Begriffe und Konstrukte besser zu fundieren und auf ihre Leistungsfähigkeit hin zu reflektieren ("neue Elementarbildung", "Schlüsselqualifikationen", "Kompetenzorientierung", "selbstorganisiertes Lernen" u. v. a. m.). Darüber hinaus bestünde auch die Gelegenheit, sehr unmittelbare curriculare und didaktisch-methodische Anleihen bei der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu machen, dabei viele der programmatischen Leerstellen in der Vision lebenslangen Lernens auszufüllen und so vor allem auch auf der Ebene der inhaltlichen Ausgestaltung der erforderlichen Lernprozesse weiterzukommen.

Wir gehen mithin aus der Sicht der Wirtschafts- und Berufspädagogik davon aus, dass die Berufsbildung und ihre Theorie sich bereits seit einer Reihe von Jahren intensiv und konstruktiv mit den Herausforderungen auseinandersetzen, wie sie im Themenkreis des lebenslangen Lernens etwa DOHMEN in seiner Programmschrift zusammenfasst. Die von DOHMEN vorgetragenen und zu bildungspolitischen Leitlinien verdichteten Postulate versprechen für die Berufsbildung und die Berufsbildungsforschung aufgrund ihrer Vagheit und Allgemeinheit wenig konkret-praktische Anregungen. Statt eines Imports der Problemsicht und der Gestaltungsideen aus dem Diskussionskontext lebenslanges Lernen scheint es uns mithin viel eher angebracht und aussichtsreich, Problemsichten, Konzeptualisierungen, curriculare und didaktische Modelle sowie auch Forschungs- und Entwicklungsansätze aus dem Feld der Berufsbildungsforschung in die Debatte um das lebenslange Lernen zu exportieren. Selbstkritisch gewendet bedeutet dies freilich zugleich auch, Fragen des Zusammenhangs von Aus- und Weiterbildung, von beruflichem und allgemeinem Lernen und schließlich auch von selbstorganisiertem Lernen unter Nutzung neuer technischer Optionen zukünftig in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung noch konsequenter zu verfolgen
Wir wollen im Folgenden abschließend diese noch recht summarische Aussage unter drei Schwerpunkten konkretisieren und pointieren.

3.2 Die Perspektive der Beruflichkeit von Arbeit und Ausbildung

Für das deutsche Berufsbildungssystem ist das Konstrukt der Beruflichkeit konstitutiv, das traditionell auch im Beschäftigungssystem als zentrales Ordnungsprinzip fungiert und das auch unter kulturell-ethischen Gesichtspunkten im deutschen Kulturkreis spätestens seit Luther eine hohe Wertigkeit genießt. Ausbildung ist in Deutschland Berufsausbildung. Orientiert am klassischen Handwerksmodell zielte sie traditionell - und zielt sie in der Wahrnehmung vieler Betroffener noch immer - darauf ab, auf einen lebenslang auszuübenden, in seinen Anforderungsmerkmalen weitgehend statischen Beruf vorzubereiten. Zugleich war mit dem Beruf nicht nur ein spezifisches Qualifikationspotential bezeichnet, sondern auch ein wesentlicher Referenzpunkt im Hinblick auf sozialen und (tarif-)rechtlichen Status und auf die persönliche Identität (vgl. dazu BECK/ BRATER/ DAHEIM 1980).
Aus der Sicht des lebenslangen Lernens könnte Beruflichkeit gesellschaftlicher Arbeit nur als ein Relikt einer ständischen oder kollektivistischen Gesellschaft verstanden werden, scheint sie doch durch die in den Ausbildungsordnungen allgemein und verbindlich festgelegten Berufsbilder nachdrücklich die Ausformung individueller Qualifikationsprofile zu behindern. Interessanter Weise setzt sich DOHMEN (1996) in seinen Leitlinien einer modernen Bildungspolitik - so der Untertitel seiner Expertise - weder mit dem Konzept der Beruflichkeit noch mit der beruflichen Erstausbildung auseinander, obwohl er etwa den Konsequenzen seiner Konzeption für die Schule, die Hochschule und die Weiterbildung jeweils ein eigenes Kapitel widmet. Beide Aspekte scheinen in der "offenen Lerngesellschaft" mit ihren individualisierten Lernpfaden und Kompetenzbündeln keinen Platz zu haben.
Eine solche Sicht ist hingegen keineswegs neu, sondern dominiert - in unterschiedlichen Ausprägungen - das Beschäftigungs- und Rekrutierungssystem in einer ganzen Reihe von Ländern, so paradigmatisch in den USA, in Großbritannien und in Japan. Schließlich ist auch die Weiterbildungslandschaft in Deutschland ausgesprochen heterogen und weitestgehend unabhängig von staatlichen Ordnungs- und Regelungsbemühungen gewachsen. Es ist eine verbreitete und auch in der Schrift von DOHMEN erkennbare Option, dieses Vorbild bis in den Ausbildungsbereich hinein zu übertragen.

Nach unserer Überzeugung muss, wer über Konzepte lebenslangen Lernens nachdenkt, zugleich die Frage nach der Beruflichkeit von Arbeit und Ausbildung sorgfältig reflektieren und zu einer überzeugenden Antwort gelangen. Dabei ist es in der berufsbildungspolitischen Diskussion unbestritten, dass ein modernes Konzept von Beruflichkeit nur ein dynamisches, für Differenzierungen und individuelle Akzentuierungen offenes Konzept sein kann. Damit wird jedoch zugleich deutlich, dass es einen breiten Konsens dahingehend gibt, in Bezug auf die Erstausbildung grundsätzlich am Konzept der Beruflichkeit festzuhalten und die damit verbundenen positiven Leistungen zu bewahren (Arbeitsmarkttransparenz, Komplexitätsreduktion, Orientierungssicherheit, berufliche Flexibilität). Im Hinblick auf die Weiterbildung hingegen konkurrieren Ideen einer stärkeren Formalisierung durch die staatliche Sanktionierung praktisch bewährter Weiterbildungscurricula in Form von Weiterbildungsordnungen mit Vorstellungen modularisierter Weiterbildungskonzepte nach britischem Vorbild. Beide Varianten jedoch bleiben deutlich entfernt von jenen der Beliebigkeit oder den spezifischen betrieblichen Anforderungen anheimgestellten Individualcurricula, die auf der Linie eines konsequent selbstgesteuerten lebenslangen Lernens lägen.

Aufgrund der sozial- und tarifpolitischen Konstellation, des ordnungspolitischen Grundkonsenses hinsichtlich der Zuständigkeits- und Verantwortungsbalance im Bereich der beruflichen Bildung und nicht zuletzt angesichts der erkennbaren Konvergenz politisch-pädagogischer Leitbilder, arbeitsmarktpolitischer Erfordernisse und betriebswirtschaftlicher Interessen im Hinblick auf anzustrebende Grundmuster beruflicher Kompetenz gehen wir davon aus, dass eine strikte Individualisierung beruflicher Qualifikationsprofile ebenso wenig zu erwarten ist wie eine eindimensionale Anbindung an kurzfristige betriebliche Erfordernisse.
Die besondere Herausforderung wird darin bestehen, eine Balance von relativ einheitlicher, eher breiter angelegter beruflicher Grund- und Fachbildung und sich zunehmend stärker ausdifferenzierender Profilbildung zu erreichen, wobei die Grenze zwischen diesen Bereichen nicht länger an jener von Erstausbildung und Weiterbildung liegen wird.
In diesem Feld bestehen insgesamt erhebliche Forschungsbedarfe und Gestaltungsaufgaben; beides ist durch die Adaptation programmatischer Formeln aus internationalen Programmen oder durch den Import ausländischer Modelle nicht zu ersetzen.

3.3 Die synchrone Perspektive: Zum Verhältnis allgemeinen und beruflichen Lernens

Die Grenzziehung zwischen beruflichem und allgemeinem Lernen, zwischen der Vorbereitung auf die Anforderungen des Berufes und dem Lernen für andere Orientierungs- und Handlungsfelder (Familie, Konsum, Freizeitgestaltung, gesellschaftliche/politische Mitwirkung) verwischt sich unter dem Signum pragmatisch orientierter Curricula zunehmend. Wo Bildung interpretiert wird als Befähigung zum kompetenten und verantwortlichen Handeln und zur sinnstiftenden Orientierung in komplexen Lebenszusammenhängen, dort ist eine grundsätzliche Überlegenheit oder auch nur Andersartigkeit allgemeiner gegenüber beruflicher Bildung nicht länger nachvollziehbar. Aus diesem Zusammenhang heraus gewinnt die alte Forderung nach Gleichwertigkeit beruflicher gegenüber allgemeiner Bildung ein starkes Argument; die alte KERSCHENSTEINERsche These (1904), dass die Berufsbildung "an der Pforte zur Menschenbildung" stehe, erhält einen modernen Sinn: Mit dem exemplarischen Erwerb von Handlungs- und Orientierungskompetenz in einer beruflichen Domäne verbindet sich zugleich die Möglichkeit einer umfassenden allgemeinen Förderung grundlegender pragmatischer Kompetenzen und Einsichten.
Vor diesem Hintergrund kann jedoch auch in umgekehrter Blickrichtung argumentiert werden, dass nämlich eine entspezialisierte Allgemeinbildung die berufliche Erstausbildung ersetzen könnte und die Erfüllung der besonderen betrieblichen Anforderungen dann über betriebliche Qualifizierungsmaßnahmen sicherzustellen wäre. Dies entspricht im wesentlichen der japanischen Qualifizierungsstrategie, lässt sich aber auch mit dem französischen Modell einer weitgehend schulisch akzentuierten Ausbildung verbinden.

Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass der hier vollzogene Umkehrschluss in dieser Form schon logisch nicht haltbar ist, und dieser Sachverhalt ist in der wirtschafts- und berufspädagogischen Diskussion spätestens seit der Diskussion über das Schlüsselqualifikationskonzept von MERTENS in den 70er Jahren Allgemeingut: Formale Fähigkeiten lassen sich einerseits nicht oder nur in äußerst begrenztem Maße inhaltsunspezifisch, abstrakt-allgemein vermitteln und andererseits setzt Urteils- und Handlungsfähigkeit in einer Domäne ein differenziertes und vielfältig vernetztes bereichsspezifisches Wissen voraus. Hieraus ergibt sich zunächst die Konsequenz, dass auf praktische Anwendung in Handlungs- und Problemsituationen gerichtete Lehr-Lernprozesse situiert, d. h. im Kontext realer oder realitätsbezogen simulierter (realitätsanaloger) Lernumwelten erfolgen sollten. Weiterhin ist auch im Hinblick auf die Transferwirkung beruflicher Lernprozesse anzumerken, dass dieser nicht voraussetzugslos zu erwarten ist, sondern dass der Transfer von Fähigkeiten und Wissen im Lernprozess systematisch angebahnt und geübt werden muss. Von entscheidender Bedeutung sind hierfür einerseits Prozesse der Dekontextualisierung, der begrifflichen Reflexion und Systematisierung situations- und fallbezogen erworbenen Wissens. Andererseits gilt es auch für die Handlungsfelder, in die hinein der Transfer geleistet werden soll, dass die für diese Domäne jeweils grundlegenden oder kategorialen Strukturen spezifisch erarbeitet werden müssen. Alle drei Lernebenen - Erfahrungsbildung in ausgewählten realen oder modellierten realitätsanalogen Lernumwelten, die begriffliche Reflexion und Systematisierung dieser Erfahrungen und schließlich die Übertragung in andere Domänen und deren ergänzende strukturelle Elaboration werden und können sich nicht zufällig und unvorbereitet ereignen, sondern bedürfen der sorgfältigen Anbahnung und Begleitung durch didaktische Experten und der vorherigen wissenschaftlichen Analyse der grundlegenden curricularen Strukturen.

Festzuhalten bleibt aus unserer Sicht, dass einerseits eine berufliche Grundbildung nicht durch eine abstrakt angelegte vertiefte Allgemeinbildung ersetzt werden kann und andererseits, dass anspruchsvolle berufsbezogene Lernprozesse immer auch geeignet sind, Lernprozesse für andere Domänen zu fördern und vorzubereiten, so dass auch die berufliche Erstausbildung als Schritt für ein lebenslanges Lernen über den beruflichen Bereich hinaus verstanden werden kann und profiliert werden sollte.

3.4 Die diachrone Perspektive: Zum Verhältnis von Aus- und Weiterbildung

Es ist vollkommen unbestritten, dass angesichts einer sich dynamisch verändernden Lebens- und Berufswelt Prozesse der Weiterbildung zunehmend an Bedeutung gewinnen, und es gibt Stimmen, die in einer Weiterbildungsgesellschaft die berufliche Erstausbildung für letztlich obsolet halten. Alle relevanten Fähigkeiten und Kenntnisse wären "on-the-job" zu erwerben, allgemeine Lernfähigkeiten und andere kognitive und motivationale Voraussetzungen wären in der Allgemeinbildung zu vermitteln. In diachroner Perspektive ist also nach dem Verhältnis von Erstausbildung und Weiterbildung zu fragen.
Lässt man die extreme Annahme einer vollständigen Substitution der beruflichen Erstausbildung durch Allgemeinbildung und Weiterbildung unter Hinweis auf die Argumente im vorigen Abschnitt außer Acht, so bleibt die Frage nach der spezifischen Funktion der Ausbildung im Verhältnis zur Weiterbildung sowie die Frage nach der angemessenen Breite bzw. Enge der Berufsausbildung.
Wir gehen von der These aus, dass die steigende Bedeutung der Weiterbildung vor allem anderen ein Indiz für den wachsenden Qualifikationsbedarf in breiten Bereichen des Beschäftigungssystems ist. Hierauf ist nicht mit einem Ersatz der Erstausbildung durch die Weiterbildung angemessen zu antworten, sondern viel eher mit der Frage, wie im Zuge einer Erstausbildung die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, dass die Bereitschaft und die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen und selbstgesteuerten Weiterentwicklung der eigenen Kompetenz gefördert werden und dass für diese Prozesse eine angemessene Wissensbasis geschaffen wird. Mit anderen Worten: Die Erstausbildung wird nicht verschwinden und sie wird vermutlich auch nicht wesentlich an Bedeutung verlieren, aber sie wird ihre Funktion ändern und damit auch ihr inhaltlich-methodisches Profil (vgl. auch DOSTAL 2000; BAETHGE 2001). Berufsfertigkeit wird kaum länger Ziel der Berufsausbildung sein können, sondern sie - und hierbei beziehen wir uns besonders auf die Berufsschule - wird sich stärker darauf konzentrieren müssen, systematisch in einen Beruf und die damit korrespondierende sachliche Domäne einzuführen, erste Berufserfahrungen zu eröffnen und zu reflektieren und schließlich u. a. auch die Fähigkeit und die Bereitschaft zur permanenten Weiterbildung zu gewinnen. All dies dürfte sich übrigens nur noch in wenigem von dem unterscheiden, was im Hinblick auf die Verleihung der Hochschulreife als allgemeine Studierfähigkeit bezeichnet wird.

Um nunmehr im Hinblick auf diese propädeutische Funktion der Erstausbildung für lebenslanges Lernen fundiertere Aussagen treffen zu können, wäre es erforderlich, zunächst weitere Klarheit über Ziele, Inhalte und Organisationsformen der Weiterbildung zu gewinnen. Wir stoßen hier wieder auf den unter dem Aspekt der Beruflichkeit behandelten Fragenkomplex, speziell auf die Frage, ob denn angesichts denkbarer oder gar zu erwartender stark individualisierter Weiterbildungscurricula nicht von vornherein jede Möglichkeit auszuschließen sei, hierauf im Zuge obligatorischer, einheitlicher Lernangebote vorzubereiten. Allenfalls allgemeinste Fähigkeiten und Fertigkeiten könnten als gemeinsamer Nenner bleiben und eben diese wären angemessener im allgemeinen Schulwesen zu vermitteln.

Wir halten diese Argumentation für falsch. Auch bei stark individualisierten beruflichen Weiterbildungspfaden wird es einerseits zumindest für eine überwiegende Gruppe der beruflich Tätigen strukturell vergleichbare Qualifikationsanforderungen auf Berufsfeldbreite geben: Orientierungsfähigkeit in wirtschaftlichen Systemzusammenhängen etwa als Grundlage selbstständiger, teamorientierter Aufgaben- oder Fallbearbeitung, weiterhin die Ausbildung grundlegender Einstellungen, Werthaltungen und Attitüden oder schließlich selbstorganisiertes Lernen unter Einbeziehung der neuen Informationsnetze als methodisches Prinzip. Komplementär dazu wird es zugleich auch domänenspezifisch weiterhin einen gemeinsamen inhaltlichen Kern beruflicher Kompetenz geben. Diesen zu identifizieren wäre eine zentrale Aufgabe (wirtschafts-)beruflicher Curriculumforschung, weil hierauf bezogen zum einen breit interessierende Weiterbildungsangebote zu konzipieren wären, zum anderen aber vor allem auch, weil auf dieser Grundlage inhaltliche Schwerpunkte der Erstausbildung zu definieren wären.
Beispiele für solche inhaltlichen Kerne ökonomischer Kompetenz (nicht nur im beruflichen Bereich) könnten sein:

· die Fähigkeit zum vernetzten Denken in ökonomischen Systemzusammenhängen unter Nutzung einer komplexen fachlichen Wissensbasis sowie methodischer Ansätze zur Systemanalyse und -modellierung;
· die Förderung der Bereitschaft und der Fähigkeit zum marktchancenorientierten Handeln unter kalkuliertem Risiko (Entrepreneurship);
· die Relativierung klassisch-ökonomischer Rationalitätskriterien unter Aspekten der langfristigen Systemstabilisierung, der sozialen Verantwortung und/oder des Prinzips der Nachhaltigkeit

Der Versuch einer Identifikation derartiger Kerne weist weitgehende Parallelen zur Frage nach der Substanz kategorialer Bildung auf; er ist jedoch nicht über allgemeine bildungstheoretische Reflexionen zu beantworten, sondern nur domänenspezifisch unter Berücksichtigung fachwissenschaftlicher Paradigmen, Theorien und Begriffssysteme sowie unter Beachtung des Normensystems und des Erfahrungswissens der beruflichen Praxis. In diesem Sinne wäre die Suche nach kategorialen Strukturen einer Praxisdomäne als ein im Kern zwar hermeneutischer, jedoch im Ablauf wesentlich auf empirische und ideologiekritische Methoden angewiesener Prozess zu verstehen und zu konzipieren.

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