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 bwp@ Ausgabe Nr. 14 | Juni 2008
Berufliche Lehr-/ Lernprozesse - Zur Vermessung der Berufsbildungslandschaft
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 14 sind H.-Hugo Kremer, Karin Büchter und Franz Gramlinger

Überzeugungen zu Wissen und Lernen als Merkmal beruflicher Lehr-Lernprozesse


   


1.   Einleitung

Das Thema der 14. Ausgabe der Zeitschrift bwp@ lautet „Berufliche Lehr-Lernprozesse – Zur Vermessung der Berufsbildungslandschaft“. Im vorliegenden Beitrag geht es um die subjektiven Theorien zu Wissen und Wissenserwerb, die Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen besitzen. Diese impliziten Persönlichkeitstheorien, die handlungsleitende und handlungssteuernde Funktionen besitzen, werden als Merkmal beruflicher Lehr-Lernprozesse genauer betrachtet. Dazu wurden im Rahmen einer Pilotstudie 185 Lehrende an berufsbildenden Schulen in Niedersachsen befragt. Die Verknüpfung von subjektiven Theorien zu Wissen und Wissenserwerb von Lehrenden und ihrem Lehr- bzw. Unterrichtshandeln soll auf Grundlage der Ergebnisse in weiteren Studien genauer beleuchtet werden. Bereits vorliegende Untersuchungen erbrachten zahlreiche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen diesen Konzepten. Nach einer kurzen Darstellung der theoretischen Grundlagen werden die empirische Studie im Kapitel 2 und ihre Ergebnisse und Interpretation im Kapitel 3 ausgeführt. Eine Zusammenfassung und einige weiterführende Überlegungen in Kapitel 4 schließen den Beitrag ab.

Individuelle Überzeugungen werden als subjektive Theorien bezeichnet. Sie können als ein Bündel von Annahmen, Motiven, Vermutungen, Vorstellungen und Kognitionen einer Person betrachtet werden, die sich inhaltlich auf ihre Selbst- und Weltsicht beziehen (vgl. CHRISTMANN/ GROEBEN/ SCHREIER 1999, 138). Dahinter steht die Vorstellung, dass jedes Individuum psychologisches Wissen und Annahmen entwickelt und auch selbst erfahren hat, wie andere Menschen handeln, was sie wahrnehmen, denken, fühlen und beabsichtigen, warum und mit welchen Folgen sie das tun (DANN 1994). Während subjektive Theorien allgemeine Überzeugungssysteme umfassen, lassen sich davon spezifische Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb abgrenzen. Diese Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb werden auch als epistemologische Überzeugungen bezeichnet.

Die meisten Theorien und Modelle zu Epistemologien stimmen mit der Beschreibung von epistemologischen Überzeugungen als subjektive Konzepte zu Wissen und Wissenserwerb überein. Gemeinsam nehmen sie an, dass sich die epistemologischen Überzeugungen von Personen im Verlauf der Zeit verändern und zunehmend differenzierter und komplexer werden können. Dabei wird angenommen, dass dieser Entwicklungsprozess beeinflusst wird durch persönliche Erfahrungen, schulische und berufliche Sozialisation und Enkulturation (ANDERSON 1984; JEHNG/ JOHNSON/ ANDERSON 1993; KING et al. 1983; PRATT 1992; SCHOMMER 1993). Dies belegen auch Studien zu subjektiven Theorien (DANN 1994; FÜGLISTER et al. 1983).

Neuere Studien zu epistemologischen Überzeugungen gehen von mehreren Dimensionen aus. Diese werden als mehr oder weniger unabhängig voneinander betrachtet, d. h. sie müssen sich nicht notwendigerweise gleichmäßig entwickeln. Es sind sogar rekursive Entwicklungen möglich (SCHOMMER-AIKINS 2002). Das erste so genannte mehrdimensionale Modell, das alle nachfolgenden Modelle beeinflusst hat, stammt von SCHOMMER (1990). Sie geht von einem System fünf unabhängiger Dimensionen epistemologischer Überzeugungen aus, die sich über die Zeit entwickeln. Für jede der fünf Dimensionen ist daher ein Kontinuum von einer naiven zu einer differenzierten bzw. weit entwickelten Überzeugung definiert. Die Dimensionen mit ihren Polen lauten wie folgt (DUELL/ SCHOMMER-AIKINS 2001):

•  Struktur von Wissen: erstreckt sich von „Wissen hat einfache Strukturen und besteht aus isolierten Teilen“ bis hin zu „Wissen ist vernetzt und als ganzheitliches Konzept zu verstehen“.

•  Sicherheit von Wissen: erstreckt sich von „Wissen ist absolut und unveränderbar“ bis hin zu „Wissen verändert sich kontinuierlich“.

•  Quelle von Wissen: erstreckt sich von „Wissen besitzen nur Autoritäten“ bis hin zu „Wissen wird durch subjektive und objektive Erfahrungen erworben“.

•  Kontrolle über Lernprozesse: erstreckt sich von „die Fähigkeit zu lernen ist bereits mit der Geburt festgelegt“ bis hin zu „die Fähigkeit zu Lernen entwickelt sich mit der Zeit und durch Erfahrung“.

•  Geschwindigkeit der Wissensaneignung: erstreckt sich von einer „schnellen Alles-oder-nichts-Wissensaneignung“ bis hin zu einer „allmählichen, prozesshaften Wissensaneignung“.

Zahlreiche empirische Studien zu subjektiven Theorien lassen auf einen Zusammenhang zwischen den individuellen Überzeugungen eines Lehrenden und seinem Lehrhandeln schließen. Man nimmt daher folgerichtig an, dass die epistemologischen Überzeugungen der Lehrenden – vielfach unbewusst – ihr Handeln im Unterricht steuern. Sie bilden folglich einen „didaktischen Referenzrahmen“, der die Lehrentscheidungen beeinflusst und damit den Unterrichtsverlauf prägt (vgl. HELMKE 2003, 52). Ausgehend von der unmittelbar handlungsleitenden und -steuernden Funktion epistemologischer Überzeugungen sind daher insbesondere die Überzeugungen der Lehrenden von großem Interesse. So konnte nachgewiesen werden, dass die individuellen Überzeugungen von Lernenden entscheidend geprägt werden vom Vermittlungsstil und den Überzeugungen der Lehrenden (z. B. BUELENS/ CLEMENT/ CLAREBOUT 2002; HOFER 2004; PRATT 1992, 217).

Doch nicht nur die epistemologischen Überzeugungen der Lehrenden selbst gilt es für ihr professionelles Handeln zu berücksichtigen, sondern auch die epistemologischen Überzeugungen der Lernenden. Das Wissen um die Überzeugungen von Lernenden sind sowohl für berufliche als auch schulische Lehr-Lernprozesse von großer Bedeutung, bietet es doch den Lehrenden die Möglichkeit, Einblicke in das Lernen und die Motivation der Lernenden zu erhalten (vgl. BUEHL/ ALEXANDER 2001, 385). Damit bilden epistemologische Überzeugungen von Lernenden für Lehrer/innen einen wichtigen Ansatzpunkt, um das Lernen der Schüler/innen zu befördern (vgl. KÖLLER/ BAUMERT/ NEUBRAND 2000, 232).

Die nachfolgende Abbildung 1 stellt ein mögliches Gesamtmodell von epistemologischen Überzeugungen im Kontext von Lehr-Lernprozessen dar.

 

Für weitergehende Informationen siehe auch MÜLLER/ PAECHTER/ REBMANN (2008) „Aktuelle Befunde zur Lehr-Lernforschung: Epistemologische Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb“ in dieser Ausgabe 14 der bwp@.

2.  Empirische Studie

2.1  Fragestellung

Festgehalten werden kann, dass die Untersuchung epistemologischer Überzeugungen von Lehrenden im Rahmen instruktionalen Lernens wichtig ist, „ to understand learners, to help teachers help learners, and to inform other theories of cognition and affect “ (SCHOMMER-AIKINS 2002, 108). Um effektiv zu lehren, ist es notwendig ein tiefes Verständnis über diejenigen Faktoren zu besitzen, die den Lernprozess fördern (können). Dies beinhaltet auch das Wissen über die individuellen Überzeugungen zu Wissen und Lernen (vgl. BOULTON-LEWIS 1994, 387 f.). Während die Epistemologien von Lernenden intensiv untersucht wurden, wurde die Frage, welche epistemologischen Überzeugungen Lehrer/innen entwickeln, bislang weitestgehend vernachlässigt. So liegen kaum Studien vor, die Auskunft über die Art und Anzahl der Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb von Lehrer(inne)n geben. Mit anderen Worten, welche epistemologischen Überzeugungen Lehrer/innen überhaupt besitzen und wie sie ausgeprägt sind. Ebenfalls ist die Frage ungeklärt, inwieweit die Epistemologien von Lehrer(inne)n abhängig sind von ihren soziodemografischen Daten. Dabei besteht in der scientific community durchaus Konsens über die Bedeutsamkeit dieser Forschungsfragen (BOULTOEN-LEWIS 1994; BRUCE/ GERBER 1995; BUEHL/ ALEXANDER 2001; KÖLLER/ BAUMERT/ NEUBRAND 2000).

In der vorliegenden Studie werden daher folgende Fragestellungen bearbeitet:

1. Welche Vorstellungen besitzen Lehrer/innen zu Wissen und Wissenserwerb?

2. Unterscheiden sich die Lehrer/innen hinsichtlich ihrer Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb in Abhängigkeit von ihren personenbezogenen Daten?

Anhand einer Pilotstudie zu den epistemologischen Überzeugungen von Lehrer(inne)n sollen im Folgenden erste Antworten auf diese Forschungsfragen gegeben werden.

2.2  Methodisches Vorgehen

2.2.1  Stichprobe

An der Studie nahmen 185 angehende Lehrende aus den Studienseminaren für das Lehramt an berufsbildenden Schulen in Oldenburg, Osnabrück und Hannover teil. Davon waren 82 Männer (44 %) und 103 Frauen (56 %). Das Alter der Lehrenden reichte von 27 bis 49 Jahren. Im Durchschnitt waren sie rund 34 Jahre alt (M = 34,21; SD = 4,95). Zwei Personen machten keine Angaben zu ihrem Alter. 96 (52 %) Teilnehmer/innen konnten einer kaufmännischen und 89 (48 %) einer nicht-kaufmännischen Fachrichtung zugeordnet werden. Eine Ausbildung abgeschlossen haben 140 Personen (75,68 %), 44 Personen (23,78 %) haben keine Ausbildung absolviert. Ein/e Teilnehmer/in machte keine Angaben zu einer vorangegangenen Berufsausbildung. Bei allen Proband(inn)en lag die fachbezogene bzw. allgemeine Hochschulreife vor.

2.2.2  Erhebungsinstrument und Vorgehensweise

Zur Erfassung der epistemologischen Überzeugungen der Lehrer(inne)n wurde der Fragebogen von SCHRAW, BENDIXEN und DUNKLE (2002) eingesetzt. Dieser EBI ( Epistemic Belief Inventory ) geht von einer mehrdimensionalen Struktur epistemologischer Überzeugungen aus. Mit Hilfe des Fragebogens sollen die fünf angenommen Dimensionen Struktur , Sicherheit und Quelle des Wissens sowie Kontrolle über Lernprozesse und Geschwindigkeit der Wissensaneignung abgebildet werden. Der EBI besteht aus 28 Items, die Aussagen zu Wissen und Wissenserwerb darstellen. Zum Zweck der Datenerhebung wurde der EBI ins Deutsche übersetzt. Alle Items wurden so übersetzt, dass ihre Bedeutung beibehalten wurde, auch wenn dazu ursprüngliche Formulierungen, die eng an das Original angelehnt, d. h. wörtlich übersetzt waren, abgeändert wurden. Analog zur Originalversion wurde eine 5-stufige Likert-Skala verwendet, auf der der individuelle Zustimmungsgrad zu den Aussagen zu Wissen und Wissenserwerb angekreuzt werden sollte. 1 steht für „stimme überhaupt nicht zu“ und 5 für „stimme voll und ganz zu“. Der deutsche Fragebogen wurde bereits in mehreren Studien eingesetzt und zeigte für den Bereich der epistemologischen Überzeugungen testtheoretisch zufrieden stellenden Ergebnisse (MÜLLER/ REBMANN/ LIEBSCH in Druck; PFENNICH 2007).

Die Datenerhebung fand vor Ort in den Studienseminaren für berufsbildende Schulen in Oldenburg, Osnabrück und Hannover statt. Sie erfolgte in zwei Teilstichproben: im Sommer 2006 sowie im Sommer 2007. Die Teilnahme der angehenden Lehrer/innen an der Befragung erfolgte freiwillig und ohne Aufwandsentschädigung. Die teilnehmenden Referendarinnen und Referendare erhielten von den Versuchsleiter(inne)n identische Instruktionen. Das Ausfüllen der Fragebögen benötigte ca. 15 Minuten, allerdings gab es keine zeitliche Beschränkung.

3.  Ergebnisse und Interpretation

3.1  Überzeugungen der Lehrenden zu Wissen und Wissenserwerb

Analog zu Forschungsarbeiten zu epistemologischen Überzeugungen und ausgehend von der Unabhängigkeit der Dimensionen wurden die empirischen Daten anhand einer Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation einer genaueren Betrachtung unterzogen. Der Screeplot gab erste Hinweise auf die Existenz von fünf Faktoren. Analog zu SCHRAW, BENDIXEN und DUNKLE (2002) sollten die absoluten Faktorladungen über ,30 liegen. Items ohne Ladungen und Items mit Mehrfachladungen wurden sukzessive entfernt. 18 Items gingen abschließend in die Faktorenlösung ein. Die Lösung mit fünf Faktoren wurde bestätigt (Eigenwert > 1,3). Sie erklären 55,12 % der Varianz. Da lediglich vier der fünf ermittelten Faktoren testtheoretisch zufrieden stellende Werte aufweisen, beziehen sich die folgenden Ausführungen nur noch auf diese vier Faktoren, die durch 15 Items abgebildet werden. Diese spiegeln vier Dimensionen zu Wissen und Wissenserwerb wider, die die von SCHOMMER (1990) proklamierten Dimensionen in Teilen widerspiegeln: Geschwindigkeit der Wissensaneignung ( a = ,42 ), Kontrolle über Lernprozesse ( a = ,64 ), Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb ( a = ,61 ) und Quelle des Wissens ( a = ,60 ).

Die Bezeichnung der Faktoren erfolgte in Anlehnung an SCHOMMERs Dimensionen:

Die Items des ersten Faktors sind bis auf ein Item, welches eher der Dimension Sicherheit zugeordnet werden kann, der Dimension Geschwindigkeit zuzuordnen. Da die ersten beiden Items mit den stärksten Faktorladungen auf die Dimension Geschwindigkeit der Wissensaneignung indizieren, wird der erste Faktor danach benannt.

Im zweiten bzw. vierten Faktor lassen sich alle Items jeweils eindeutig einer SCHOMMER'schen Dimension zuordnen: Kontrolle über Lernprozesse bzw. Quelle des Wissens.

Der dritte Faktor hingegen ist ein Mischfaktor. Er beinhaltet zwei Items, die sich auf die Begabungen und Talente von Personen beziehen, und bringt somit einerseits die individuellen Voraussetzungen eines Menschen zum Lernen zum Ausdruck. Andererseits laden auf diesem Faktor drei weitere Items, die sich auf den Abstraktionsgrad von Wissen beziehen und insbesondere die Struktur von Wissen, d. h. in diesem Fall Fakten vs. Theorien, betrachten. Keine der von SCHOMMER (1990) vorgeschlagenen Dimensionen berücksichtigt diese beiden Aspekte gleichzeitig. Daher erhält der dritte Faktor in der vorliegenden Studie eine neue Bezeichnung: Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb.

Die nachfolgende Tabelle 1 zeigt die vier Faktoren, die Faktorladungen der Items, Eigenwerte und Cronbach's alpha.

Mit Hilfe dieser Ergebnisse können erste Antworten auf die Forschungsfrage gegeben werden, welche Vorstellungen Lehrende zu Wissen und Wissenserwerb besitzen. Es konnten vier Dimensionen epistemologischer Überzeugungen identifiziert werden: Geschwindigkeit der Wissensaneignung, Kontrolle über Lernprozesse, Quelle des Wissens und die Mischdimension Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb. Anhand der Daten ist es weiter möglich festzustellen, wie weit diese Überzeugungen der angehenden Lehrenden entwickelt sind. Mit anderen Worten: Vertreten die Lehrenden eher eine naive Position oder sind ihre Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb weit entwickelt, d. h. differenziert? Für eine bessere Lesbarkeit wurden die Items umcodiert, so dass ein hoher Zustimmungsgrad eine weit entwickelte Überzeugung widerspiegelt. Die folgende Abbildung 2 zeigt die Boxplots für die vier ermittelten Dimensionen epistemologischer Überzeugungen.

Es wird deutlich, dass die Überzeugungen der Lehrenden zu Wissen und Wissenserwerb bei den Dimensionen Kontrolle über Lernprozesse und Quelle von Wissen im mittleren Bereich liegen. Für die Dimension Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb lassen sich eher naive Überzeugungen festmachen, während sich für die Dimension Geschwindigkeit des Lernprozesses eine eher differenzierte Position ergibt. Eine weit entwickelte Position in dieser Dimension Geschwindigkeit (M = 4,35; SD = ,52) bedeutet, dass die Lehrenden überwiegend der Meinung sind (81,1 %; M  >  4,0) Lernen sei ein allmählicher Prozess. Dieses Ergebnis verwundert insofern nicht, da die Befragten bereits durch ihr Studium auf intensive Lernerfahrungen zurückblicken können.

Hinsichtlich der Dimension Kontrolle über Lernprozesse erreichen die Lehrenden einen Durchschnittswert von M = 3,44 (SD = ,71). 22,1 % der Befragten erreichen einen Wert einschließlich des Durchschnitts (M  =  3) und 78,9 % liegen darüber. Die Überzeugung der meisten Proband(inn)en liegt damit im mittleren Bereich. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sie der Meinung sind, bestimmte Fähigkeiten und Talente seien angeboren, jedes Individuum aber doch die Möglichkeit hat, Lernprozesse aktiv mitzugestalten.

In Bezug auf die Dimension Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb lässt sich festhalten, dass sie am wenigsten ausgeprägt ist (M = 2,46; SD = ,59). Das Boxplotdiagramm zeigt, dass mehr als zwei Drittel der Lehrenden unterhalb des Durchschnitts liegen (86,4 %; M  =  3). Das bedeutet, dass die Lehrenden die Überzeugung besitzen, Wissen sei eher isoliert und bruchstückhaft als vernetzt und komplex. Betrachtet man den Aussageninhalt der Items genauer, so kann davon ausgegangen werden, dass sie vermehrt „Faktenwissen“ im Sinne von „theoriebasiertem Wissen“ Beachtung schenken.

Die vierte Dimension Quelle von Wissen weist überdurchschnittliche Werte auf (M  =  3,40; SD = ,62). Die Hälfte aller Proband(inn)en liegt im Intervall 3,00  = M = 3,67 (Box). Das bedeutet, dass ihre Überzeugungen in Bezug auf die Herkunft des Wissens eher weit entwickelt sind: Die Lehrenden besitzen überwiegend die Überzeugung, dass Wissen aus subjektiven wie objektiven Erfahrungen erworben werden kann und nicht nur Autoritäten vorbehalten ist.

3.2  Ausprägung der epistemologischen Überzeugungen in Abhängigkeit von den soziodemografischen Daten der Lehrenden

Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage wurde überprüft, ob sich die Lehrenden hinsichtlich ihrer epistemologischen Überzeugungen in Abhängigkeit von ihren soziodemografischen Daten (hier: Geschlecht, Altersgruppe, Ausbildung, berufliche Fachrichtung) unterscheiden. Dazu wurden mittels U-Test bzw. Kruskal-Wallis-Test die Mittelwerte der Dimensionen auf signifikante Unterschiede untersucht.

Die Ergebnisse zeigen, dass in Bezug auf die Dimension Geschwindigkeit des Lernprozesses signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen (p < 0,01). Geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf den Entwicklungsgrad der epistemologischen Überzeugungen konnten bereits in früheren Studien nachgewiesen werden (BELENKY et al. 1997; PERRY 1999). Für alle weiteren Dimensionen lassen sich keine signifikanten Unterschiede nachweisen. Die befragten Lehrenden zeigen also ähnlich ausgeprägte Dimensionen epistemologischer Überzeugungen unabhängig von ihrem Alter, ihrer beruflichen Fachrichtung und unabhängig davon, ob sie eine Berufsausbildung absolvierten haben.

Die nachfolgende Abbildung 3 zeigt die Boxplots für die Dimension Geschwindigkeit des Lernprozesses in Abhängigkeit vom Geschlecht.

Anhand der Mittelwerte ist zu erkennen, dass die Lehrerinnen (M = 4,46; SD = ,43) reifere epistemologische Überzeugungen besitzen als die Lehrer (M = 4,22; SD = ,60). Das Boxplotdiagramm zeigt weiter, dass der Interquartilabstand (Länge der Box; mittlere 50 % einer Stichprobe) der männlichen Befragten größer ist als der bei den weiblichen. Die Streuung der Werte dieser Gruppe ist also größer. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied in Bezug auf die Geschwindigkeit von Lernprozessen könnte sich durch die bei Frauen stärker ausgeprägten Eigenschaften Geduld und Einfühlungsvermögen – auch beim Lernen – erklären lassen. Eine solche Annahme gilt es jedoch in weiteren Studien zu prüfen.

4.  Zusammenfassung und Ausblick

Die Bedeutsamkeit epistemologischer Überzeugungen für Lehr-Lernprozesse wurde in zahlreichen empirischen Studien bestätigt. Bisherige Untersuchungen fokussierten allerdings überwiegend Schüler/innen und Studierende. Lehrende wurden bislang eher vernachlässigt. So liegen keine Studien vor, die Auskunft geben über die Art und Anzahl der Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb von Lehrer(inne)n. Bislang ist ungeklärt, welche epistemologischen Überzeugungen angehende Lehrende überhaupt besitzen und wie sie ausgeprägt sind.

In der vorliegenden Pilotstudie wurden mittels Fragebogen die Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb von 185 Lehrkräften an berufsbildenden Schulen erhoben. Hinsichtlich der anfangs formulierten Forschungsfragen lassen sich folgende Ergebnisse zusammenfassend festhalten:

1.  Welche Vorstellungen besitzen Lehrer/innen zu Wissen und Wissenserwerb?

•  Mittels Faktorenanalyse konnten vier Dimensionen epistemologischer Überzeugungen identifiziert werden: Geschwindigkeit der Wissensaneignung, Kontrolle über Lernprozesse, Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb und Quelle des Wissens. Dieses Ergebnis bestätigt die Annahme der Mehrdimensionalität bisheriger Studien.

•  Weiter ist festzuhalten, dass die epistemologischen Überzeugungen der befragten Lehrer/innen in den beiden Dimensionen Kontrolle über Lernprozesse und Quelle von Wissen im mittleren Entwicklungsbereich liegen. Die Dimension Geschwindigkeit ist dem gegenüber weiter ausgeprägt, d. h. die Lehrer/innen vertreten die differenzierte Überzeugung, dass Lernen ein allmählicher Prozess ist. Am wenigsten ausgeprägt ist die Dimension Beschaffenheit von Wissen bzw. Wissenserwerb, die aus den zwei Hauptkomponenten Begabungen/Talente und Struktur von Wissen besteht.

2.  Unterscheiden sich die Lehrer/innen hinsichtlich ihrer Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb in Abhängigkeit von ihren personenbezogenen Daten?

•  Die epistemologischen Überzeugungen der Lehrer/innen lassen sich als homogen bezeichnen. Lediglich hinsichtlich des Geschlechts lassen sich signifikante Unterschiede für die Dimension Geschwindigkeit des Lernprozesses feststellen. Im Hinblick auf die Ausprägung der weiteren Dimensionen epistemologischer Überzeugungen konnten in Abhängigkeit von den weiteren erhobenen personenbezogenen Daten (Alter, Berufsausbildung, berufliche Fachrichtung, Schulbildung) keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden.

Im Hinblick auf die theoretische Konzeption der epistemologischen Überzeugungen lassen sich aus den Ergebnissen dieser Pilotstudie folgende Aspekte zusammenfassen: Es lassen sich vier voneinander unabhängige Dimensionen epistemologischer Überzeugungen nachweisen, die unterschiedlich weit entwickelt sind (Bestätigung der Mehrdimensionalität). Die vier replizierten Dimensionen wurden in Anlehnung an SCHOMMER (1990) bezeichnet, jedoch konnten nicht alle von ihr proklamierten Dimensionen als unabhängige Facetten der individuellen Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb repliziert werden.

Für weitergehende Ergebnisse wäre es wünschenswert, nachfolgende Untersuchungen flächendeckender zu gestalten, so dass unmittelbar zwischen (angehenden) Lehrenden der kaufmännischen und nicht-kaufmännischen Fachrichtungen unterschieden werden kann. Dies könnte Aufschluss geben über einen möglichen domänenspezifischen Unterschied der epistemologischen Überzeugungen.

Neben Aspekten zur konzeptionellen Klärung des Konstrukts der epistemologischen Überzeugungen lassen sich aus der vorliegenden Studie Implikationen für die Ausbildung der angehenden Lehrer/innen ableiten. Wie bereits zu Beginn deutlich wurde, sind epistemologische Überzeugungen für die Lehr-Lernforschung von besonderer Relevanz, besitzen sie doch unmittelbare handlungsleitende und -steuernde Funktion. Insbesondere die Überzeugungen von Lehrer(inne)n sind dabei von großem Interesse, da in ersten empirischen Studien nachgewiesen werden konnte, dass die Überzeugungen von Lernenden zu Wissen und Lernen entscheidend geprägt werden vom Vermittlungsstil und den Überzeugungen der Lehrenden (z. B. BUELENS/ CLEMENT/ CLAREBOUT 2002; HOFER 2004). Für eine Professionalisierung der Lehrerbildung muss es also Ziel sein, die Überzeugungen der (angehenden) Lehrer/innen zu Wissen und Wissenserwerb zu befördern. So können beispielsweise entsprechend der Ergebnisse der Studie Ausbildungsmodule entwickelt und angeboten werden, die die Bedeutung von und Erkenntnisse über epistemologische Überzeugungen darstellen. Darüber hinaus kann ihre Bedeutung für die Gestaltung von schulischen Lehr-Lernprozessen thematisiert werden.

Abschließend ist zu sagen, dass noch erheblicher Forschungsbedarf besteht im Hinblick auf die epistemologischen Überzeugungen von Lehrer(inne)n. Die in der vorgestellten Pilotstudie erzielten Ergebnisse sind in weiteren Studien zu prüfen. Eine weitere Herausforderung für die empirische Forschung bleibt es, die Auswirkungen der epistemologischen Überzeugungen auf das Handeln der Lehrer/innen in der Unterrichtssituation zu untersuchen.

 

Literatur

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