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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
FT 11 Berufliche Förderpädagogik

Gelingen Habitustransformationen in der „Unterschicht“?

 

Abstract

Der folgende Beitrag verfolgt das Ziel, die Habitustheorie PIERRE BOURDIEUS als für den Kompetenzansatz in der beruflichen Benachteiligtenförderung nutzbar darzustellen. Dabei werden wesentliche Ergebnisse und Überlegungen aus dem laufenden durch das Land Niedersachen geförderten Forschungs- und Dissertationsprojekt „Verschüttetes Können“ wiedergegeben. Der Artikel knüpft an am aktuellen öffentlichen Diskurs um Benachteiligung und Unterschichtsmentalitäten und stellt dem eigene Erfahrungen aus der praktischen Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen entgegen. Diese Beobachtungen werden mit dem theoretischen Instrumentarium Pierre Bourdieus weitergedacht und in einem kurzen Überblick Forschungsdesiderata und Möglichkeiten zur strukturierten Kompetenzdiagnose hergeleitet. Anhand ausgewählter regionalhistorischer Forschungsergebnisse und ethnografischer Rekonstruktionen konkreter Förderverläufe wird das eigene Erhebungs- und Diagnoseinstrumentarium dargestellt. Abschließend wird anhand von zwei Fallbespielen erläutert, welche Kompetenzdiagnosen und Fördermöglichkeiten aus dem strukturierten Verstehen historisch basierter Habitusstrategien hervorgehen können.

1.  Einleitung

Mit der populistischen Überschrift dieses Beitrags beziehe ich mich auf die Zielgruppe benachteiligter Jugendlicher im Übergang Schule-Beruf, die im öffentlichen Diskurs zunehmend den Ruch jener Minderwertigkeit erhält, den der Begriff Unterschicht traditionell unterstellt. Ob es sich nun um Alkohol-, Fress- oder Gewaltexzesse handelt, es erscheint immer mehr, als wüchse da ein Konglomerat dissozialer Verhaltensweisen heran, das in Form mangelnder Ausbildungsreife, Verweigerungshaltungen und Delinquenz den Anforderungen einer sozialen Arbeitsgesellschaft in immer grundlegenderer Form widerspricht. Wenn ich hier also von Transformationen spreche, so stellt sich die Frage, ob das dahinter stehende Prinzip der modellierenden Entwicklung eines bereits bestehenden Materials nicht ein schon vorab aussichtsloses Unterfangen bezeichnet. Denn wie sollte aus einem so fundamental gegen Sitten und Anforderungen gerichteten Verhalten etwas umgekehrt Produktives erwachsen? Wäre es da nicht vielleicht besser, die kognitiven »Festplatten« dieser »verwahrlosten Jugendlichen« zu löschen und mit einem qualitativ anderen, anforderungsgemäßen Inhalt zu überspielen?

2.  Zum Habitusansatz Bourdieus

Diese Frage rührt zentral an der Legitimation einer beruflichen Förderpädagogik. Denn im eigentlichen Sinne Fördern kann ich nur etwas, was bereits vorhanden ist. Ist »ES« vorhanden, so kann ich seine anforderungsbezogene Entwicklung begleiten. Ist »ES« aber nicht oder in unbrauchbarer Weise vorhanden, so gibt es auch nichts zu fördern – allenfalls zu ersetzen.

Meine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen in vielen Jahren förderpädagogischer Praxis sind zwiespältig. Einerseits kenne ich wohl die heimliche Diagnose der Leere; das Gefühl, einem Vakuum schulischer, beruflicher und emotionaler Kompetenzen gegenüber zu stehen, das nicht die entfernteste Idee inspiriert, was der betreffende Jugendlichen aus sich selbst heraus leisten und können könnte. Andererseits weiß ich auch um die vielen Facetten dieses scheinbaren »Nichts«, weiß um die unterschiedlichen Sprachgebräuche, Bewegungsstile, Traurigkeiten und Enthusiasmen, die kollektiven, vereinzelten, aktiven, passiven, ablenkenden und unkonzentrierten Haltungen, mit denen dieses scheinbare Unvermögen aufgeführt wird. Und schließlich kenne ich auch das Phänomen des Kompetenzschubs – des urplötzlichen Aufblitzens von Fähigkeiten und Motivation, das Jugendliche aus einer Laune, einem Szenenwechsel oder einer veränderten Aufgabenstellung heraus zu beseelen und den Erfolg einer Förderung anzuzeigen vermag. Leider gelangen mir solche Förderungen meistens wie zufällig, so dass sie sich nur in Ausnahmefällen konzeptionell nachvollziehen und wiederholen ließen.

Ich habe lange über einen möglichen Zusammenhang dieser beiden letztgenannten Phänomene nachgedacht. Schließlich ereigneten sich derlei Kompetenzschübe wohl unerwartet, doch in ihrer Form nur bedingt überraschend. Denn wenngleich sich hier etwas bis eben offenbar Wahlloses in ein System zielgerichteter Motivation zu formieren schien, geschah dies doch nicht mit veränderten Mitteln. Es ereignete sich mit denselben noch eben resignierenden Gesten und eben der Art sich an Andere zu wenden, die gerade noch abwesend, nun aber zupackend umgesetzt wurde. Wenn Jugendliche sich also wie aus einem Nichts heraus zu entwickeln beginnen, dann, meine ich, ist eine solche Potenz nicht vom Himmel gefallen; sie muss schon vorher in den unterschiedlichen Ausdrücken von Unlust und scheinbaren Unfähigkeiten latent gewesen sein. Und umgekehrt hätte es vielleicht nur eines besonderen Anstoßes, einer pädagogischen Methode oder eines adäquaten Umgangs bedurft, um dieses offenbar wartende Potential zu entfalten.

Würden wir eine solche »passende« Förderung umsetzen können, so böte sich eine praktische Methode, benachteiligte Jugendliche jenseits bloßer Bekenntnisse als bereits vorhandene Persönlichkeiten zu fördern und schon existenten Ressourcen zur Entfaltung zu helfen. Dazu müssten wir aber schon vorab die Gestalt dieses »Verschütteten Könnens« verstehen. Worauf aber könnten solche Fähigkeiten, die ganz offensichtlich eng an vorhandene Eigenschaften geknüpft sind, zurückzuführen sein? Wie ließen sie sich erkennen und schließlich auch fördern?

An dieser Stelle bietet die Habitustheorie PIERRE BOURDIEUS einen Ansatz, mit dem sich Verhaltensweisen aus ihrer Entstehungsgeschichte und in ihrer eigenen Logik fassen und rekonstruieren lassen. Der Habitus bezeichnet die Art und Weise, mit der wir die Welt und uns selbst zu erleben und mit der wir uns in ihr zu verhalten gelernt haben: „Die Welt erfaßt mich, schließt mich als Ding unter Dingen ein, aber als Ding, für das es Dinge gibt, ja eine Welt, erfasse ich diese Welt; und dies, wie man hinzufügen muß, gerade weil sie mich umfängt und erfaßt “ (BOURDIEU 2001, 167). Ein Mensch ist also immer der Besondere, als der er die Welt erlebt und zu dem sie ihn in seiner Geschichte gemacht hat. Er agiert als derjenige, der zu sein er erfährt und gestaltet aus dieser, in jede seiner Bewegungen und Gedanken eingeschriebenen Rolle intuitiv jede Situation und jede daraus ersichtliche Zukunft. Dies geschieht immer auch wechselseitig. Der Habitus verkörpert die soziale Rolle, die wir einnehmen und die uns gegeben wird. Er ist gleichsam der Schuh, den wir uns anziehen, weil man ihn uns anzieht. Benachteiligte Jugendliche handeln und präsentieren sich demnach folgerichtig als Benachteiligte Jugendliche. Sie erlernen und übernehmen bestehende Positionen, die in sozialer Verhandlung gleich Spielkarten ausgeteilt werden. Sie repräsentieren mit ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen einen Standpunkt auf einer hierarchischen Landkarte, dem sozialen Raum (BOURDIEU 1993, 195ff), der unsere wie ihren eigenen Wahrnehmungen determiniert.

3.  Habitus und Kompetenz

Auf dieser Ebene stellen die Verhaltensweisen benachteiligter Jugendlicher nicht mehr als Ausdrücke gering geschätzter Unterschichtsmentalitäten dar, als die sie gesellschaftlich wahrgenommen und subjektiv reproduziert werden. Förderung könnte somit allein darin bestehen, Jugendliche in Positionen zu hieven, in denen ihnen höheres Ansehen und besser konvertierbare Verhaltensweisen zuteil werden. Genau dies ist die Facette BOURDIEUS Theorie, die im pädagogischen Diskurs bislang mehrheitlich rezipiert wird. Benachteiligung resultiert danach daraus, dass jenen, die die untersten Ränge einer sozial konstruierten Bildungshierarchie bekleiden, zu wenig an für berufliche und gesellschaftliche Konsolidierung notwendigem Kapital zur Verfügung gestellt wird. Ein solches Herangehen reproduziert jedoch zwangsläufig jene Klassifizierung von Eigenschaften, die es eigentlich anprangert. Es mündet in jene Stigmatisierung von Unbrauchbarkeit, die Erfahrungen und Verhalten von Unterschichten ohnehin zugeschrieben wird.

Damit geraten zwei Dimensionen in den Hintergrund, die aus meiner Sicht BOURDIEUS Habitustheorie zum Ausgangspunkt eines strukturierten Kompetenzansatzes prädestinieren. Es sind dies die Komponenten von Bewältigung und Erfahrung, die sich einer klassifizierenden Sichtweise entziehen und doch das eigentliche Potential jedes Habitus darstellen. Denn zum einen offenbart die Berufsbildungsstatistik, dass Benachteiligung aus einer spezifischen Angebots-Nachfrage-Relation auf dem Ausbildungsmarkt resultiert (BAETHGE et al. 2007, 25). Bei einem Großteil der Zielgruppen ist es allein einer zu späten Geburt geschuldet, dass sie nicht wie ihre Eltern und Großeltern in vorhandene Berufspositionen einmünden. Es ist darum zu vermuten, dass sie aus dieser Sozialisation berufsbezogene Handlungsstrategien verfolgen, die sich allein in der historischen Situation als nicht praktikabel erweisen. Zum anderen kann auch der Umgang mit einer deklassierenden Lebenssituation eine Form von Bewältigungshandeln verkörpern, in dem sich Konzepte systematischer Genialitäten verbergen, die ein psychisches und soziales Überleben jenseits gegebener Perspektiven ermöglichen. Würden wir diese Konzepte zu entschlüsseln vermögen, so böte sich damit die Chance, die dem Grunde nach ratlose Willkür ganzheitlicher Fördermaximen ebenso wie das Paradox von Kompetenzfeststellungen, mit der Definition die Messung vor das Verstehen zu setzen, zu überwinden.

Denn aus der Perspektive des Habitusansatzes erscheinen Kompetenzen als Möglichkeit innerhalb eines situativen Verhältnisses. Der Praktiker betritt die soziale Situation wie ein Tänzer die Bühne. Im Stil seines Tanzes äußert er die Gestalt seines bisherigen Lebens. Darin sind nicht nur die erlebte Erwartung der Anderen, sondern auch die Geschichte seiner Erfahrung, Figuren von Stolz und Ästhetik, Leistung, Zielstrebigkeit und einem Platz in einem möglichen Arbeitsverhältnis enthalten. Es ist die einzig mögliche Form von Empfindung, mit der er zu handeln und lernen vermag. Sie sticht in ihrer Vielfalt und Potenzialität durch nichts als den Rang ihrer Klassifizierung hervor. Er betritt diese Bühne aber niemals allein, sondern ist in seinem Ausdruck abhängig vom Raum der Entfaltung, der Beachtung, die ihm sein Tanzpartner zukommen lässt. Es ist somit das Resultat eines Machtverhältnisses, das den Grad der geäußerten Kompetenz definiert. Denn je mehr wir unseren Gegenüber zu schätzen, uns auf ihn einzustellen und ihn zu verstehen vermögen, desto mehr kann er sich in seiner Rolle entfalten. Habitustransformationen im Förderverhältnis stellen darum ebenso eine Anforderung an unsere Form des Bezugs wie an die Dispositionen der Jugendlichen dar.

4.  Habitusforschung in der Bundesrepublik

Im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Bourdieurezeption in der Bundesrepublik, wurde in Anlehnung an MAX WEBER eine Typologie sozialer Milieus entwickelt, die für das Verständnis unterschiedlicher Habitusformationen impulsgebend ist (vgl. auch VESTER et al., 2001). Für eine förderpädagogische Verwendung bietet diese Differenzierung jedoch nur wenige Ansatzpunkte. Einerseits bleibt sie zu grob. Wer je einen Blick in das Kaleidoskop der Zielgruppen der beruflichen Benachteiligtenförderung geworfen hat, wird in den drei wesentlichen Unterschichtsmilieus, die die gebräuchliche Typologie des Heidelberger SINUS-Instituts (www.sinus-sociovision.de) vorsieht, kaum eine Entsprechung vorfinden. Andererseits sind darin kaum tätigkeitsbezogene Einstellungskategorien zu finden. Schließlich bleibt sie von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. LANGE-VESTER 2003) auf Äußerungen in der unmittelbaren Gegenwart der Erhebung beschränkt. Eine historische Tradierung, die die habituellen Möglichkeiten jenseits der konkreten Situation gesellschaftlicher Benachteiligung verortet, kann mit dieser Methode kaum nachvollzogen werden - zumal sie die regionalen Besonderheiten vernachlässigt, die Verständnis und Ausprägung von Beruflichkeit zweifelsohne zu Grunde liegen.

5.  Erweiterte Fragestellung

Darum haben wir uns für eine historische Rekonstruktion der Herkunftsmilieus benachteiligter Jugendlicher in einer ländlichen Region Südniedersachsens entschieden. Wir wollen wissen, welche berufsbezogenen Traditionen den Verhaltensweisen der Jugendlichen vorangehen und ob sich auf dieser Grundlage verständnisleitende Kategorien für die Entwicklung differenzierter förderpädagogischer Zugänge herleiten lassen. Zu diesem Zweck haben wir zunächst versucht, die Traditionen von 200 mir selbst bekannter Jugendlichen anhand von Adressverzeichnissen mit Berufsangaben bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück zu verfolgen. Dieses Vorgehen kann zwar nur mit dem Prädikat einer »Eindrucksforschung« versehen werden. Zu ungewiss sind die Übereinstimmungen bloßer Namensangaben in Geschichte und Gegenwart. Immerhin lassen sich aber folgende Tendenzen benennen:

Im Gegensatz zu einer Vergleichsgruppe „namhafter Bürger“ ließ sich ein nur geringer Teil der Jugendlichen eindeutig einem Ort in der Vergangenheit zuordnen.

Hinsichtlich der Lebenssituation zum Förderzeitpunkt konnten die Berufsgenogramme Jugendlicher in prekären Lebenssituationen deutlich seltener zurückverfolgt werden.

Die mutmaßlichen Vorfahren differenzieren sich in handwerkliche Berufe (1), Angehörige der Arbeiterklasse (2) und traditionell prekär Beschäftige (3).

Damit lässt sich die Zielgruppe in Jugendliche aus Familien in tradiert deklassierten Lebensverhältnissen und solche gesellschaftlicher Absteiger, die als teilweise erste Generation von gesellschaftlicher Exklusion betroffen sind, differenzieren. Dabei erweist sich die erste Untergruppe als deutlich mobiler. Ihre Familien waren in offensichtlich geringerem Maße durch soziale und ökonomische Kapitale verwurzelt und vermitteln eine ausgeprägtere Notwendigkeit zur ortsunabhängigen Suche nach Arbeits- und Unterstützungsgelegenheiten. Damit bezieht sich unsere Untersuchung auf beides, die Ausprägung regional spezifischer Arbeitsidentitäten und die besonderer Rollen, die das institutionelle Gefüge traditionell zur „Einpassung“ (MEIER 2008) Benachteiligter vorhält.

6.  Vorgehensweise

Um untersuchungsleitende Kategorien bilden zu können, sind wir anhand zwei entgegengesetzter Methoden vorgegangen. Wir haben zunächst anhand der verfügbaren regionalhistorischen Literatur und von Quellen in den kommunalen Archiven die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in verschiedenen Perioden seit dem Jahr 1850 nachvollzogen und aus den unterschiedlichen Lebensumständen notwendige Handlungsstrategien abgeleitet. Der auf diese Weise generierten Typologie sind wir durch die diversen Modernisierungsprozesse bis in die Gegenwart gefolgt und haben ihr mittels ethnografischer Rekonstruktionen konkreter Förderverläufe Habitusformationen benachteiligter Jugendlichen entgegen gehalten.

Dabei stellte sich insbesondere für das 19. Jahrhundert zunächst das Problem einer bemerkenswerten Unübersichtlichkeit: Zwar gab es konturierte Berufsbilder. Sie lassen sich allerdings schwerlich einzelnen Personen zuordnen. Das Überleben in unterprivilegierten Lebenslagen erforderte ein filigranes Management. Es war keine Seltenheit, das junge Männer zunächst einige Jahre als Knechte verdingt wurden, später kleinste Parzellen zur Heuer bewirtschafteten, ein Handwerk im Nebenerwerb ausübten und zusätzliche Beschäftigungen als Tagelöhner oder Industriearbeiter mit teilweise beträchtlichen Reisewegen, auf denen sie als Landstreicher klassifiziert wurden, annehmen mussten. Überdies lassen sich die statusbezogenen Dispositionen von Frauen und Männern nur sehr bedingt miteinander vergleichen. Noch mehr als heute waren berufsbezogene Identitätsrelevanzen und Handlungserfordernisse geschlechtsspezifisch hoch differenziert. Dieser Diffusion haben wir durch die Konstruktion von Idealtypen im WEBERSCHEN Sinne und einer Beschränkung auf männliche Habitusfigurationen beizukommen versucht. Jedem dieser letztlich acht Typen haben wir je eine Kernstrategie, nach der sie ihr soziales und ökonomisches Überleben ausrichten und eine resultierende Identitätsdeterminante zugeschrieben (vgl. Tabelle 1).

Dies ist zum Beispiel bei einem besitzenden Typus, der sich über die Ansammlung von Grundbesitz und sozialem Kapital zu etablieren bestrebt ist, eine Akkumulationsstrategie, aus der die Determinante einer Identifikation mit über Besitz definiertem Status hervorgeht. Demgegenüber haben wir bei einem hierarchiegebundenen Typ, wie er in der Vergangenheit etwa durch einen Knecht oder Deputatisten verkörpert wurde, eine Gunststrategie ausgemacht, aus der die Determinante einer Identifikation mit einer als absolut angesehenen Autorität resultiert. Als letztes Beispiel nenne ich den deklassierten Typus, der als Vagabund oder Wanderarmer verunglimpft, für seine eigene Beschäftigungslosigkeit verantwortlich gemacht, ständig durch Sanktionierung in Verpflegungsstationen und Arbeitshäusern bedroht, mit einer Selbstverteidigungsstrategie reagiert. Ihm bieten moralische und soziale Institutionen keine Integrationsperspektive. Das für ihn vorgesehene Leben stellt keine gangbare Daseinsform dar. Er identifiziert sich anhand eigener Werte, die gegenüber bestehenden Regeln verteidigt werden müssen.

7.  Frankie & Angel

Diese Kategorien haben wir auf ihre Umsetzbarkeit im Förderalltag überprüft und durch wiederum wechselseitigen Bezug in Gegenwart und Vergangenheit jeweils insgesamt zehn Ausprägungsdimensionen entwickelt, die sich sowohl für die Diagnose im Förderalltag, als auch die Fundierung in historischen Quellen stichhaltig zeigten. Die Funktionsweise des resultierenden Erhebungs- und Diagnoseinstruments, will ich nun anhand zwei konkreter ethnografisch rekonstruierter Fallbeispiele und zwei ausgewählter Dimensionen verdeutlichen.

Die beiden Jugendlichen mit den fiktiven Namen Frankie und Angel haben zu Beginn der 2000er Jahre an einer Berufsvorbereitung für unter anderen nicht berufsschulfähige Jugendliche in der Untersuchungsregion teilgenommen. Frankie wurde mit nur notdürftig kaschierenden Worten als herausragend minderbemittelt, dabei aber überaus gutartig beschrieben. Tatsächlich präsentierte er sich brav und begriffsstutzig, war nahezu alles, was man ihm sagte zu tun bereit, scheiterte aber an jeglicher Aufgabenstellung, die ihm nur einen Hauch Eigenständigkeit abverlangte. Er hatte seine Förderschulkarriere an verschiedenen Standorten mit bemerkenswert geringen Erfolgen verbracht. Der Vater war bereits lange, die Mutter seit kürzerer Zeit unauffindbar. Er lebte bei deren früheren Partner, der ihn mehr oder weniger notgedrungen ertrug.

Angel dagegen galt als renitent. Er entsprach diesem Image, indem er dem zuständigen Funktionsträger schon bei der Zuweisung, ob der Wortwahl der Förderbedarfe Schläge androhte. Dabei war er feingliedrig, jungenhaft und orientierte sein Äußeres mit dezenter Stilsicherheit an antagonistischen Subkulturen. Sein bisheriges Leben hatte er in verschiedenen Heimen und Internaten verbracht und wohnte nun auf dem Land in einer gerüchteumwitterten Wohngemeinschaft mit bis auf ihn durchgehend erwachsenen Mietern.

Betrachten wir nun die internalisierten Arbeitsbeziehungen beider Protagonisten, so ging Frankie zunächst weit über bloßen Gehorsam hinaus. Er schien Erwartungen schon bevor sie geäußert wurden zu ahnen und verschaffte sich dadurch manche Sonderbehandlung, was dem pädagogischen Personal erst bei der nachträglichen Analyse auffiel. So wurde er ohne ersichtliche Notwendigkeit täglich von einem Mitarbeiter nach Hause gefahren. Als er seine Stellung auf diese Weise ausgebaut hatte, verfiel er in eine Phase überraschender Renitenz, mit der er sich Unmut, auf längere Sicht aber Handlungsspielräume zuzog. An geknüpften Beziehungen hielt er nachhaltig fest. Er meldete sich noch Jahre nach seiner Vermittlung in eine theoriereduzierte Ausbildung bei allen Bezugspädagogen dieser und anderer Einrichtungen.

Demgegenüber gestaltete Angel Arbeitsbeziehungen skeptisch wie fluide Projekte. Es war durchaus möglich kurzzeitig Nähe zu ihm zu entwickeln; jedoch nur, wenn sich damit keine Maßregelung wie das Diktieren von Förderbedarfen verband. Diese scheinbaren Einverständnisse waren aber kaum jemals nachhaltig. Sie konnten schon bei geringstem Anlass in Misstrauen und offene Konfrontationen umschlagen, was der ihm widerfahrenen Behandlung mitunter durchaus entsprach. So war er verschiedentlich mit unangekündigten Zwangsmaßnahmen durch vorgebliche Vertrauenspersonen konfrontiert, denen er sich durch spontanen Widerstand, Flucht oder Wohnortwechsel entzog. Entsprechend pflegte er wenig moralische Bindung an Regeln. Er sah sie als grundsätzlich gegen seine Person ausgerichtet und trachtete voller Kreativität danach, sein Leben vehement gegen sie zu verteidigen.

Es wird nicht überraschen, dass wir den Beziehungsstil Frankies als Akkumulations-, den von Angel dagegen als Selbstverteidigungsstrategie interpretieren. Denn während Frankie Beziehungen unabhängig von der Person wie Geldbesitz hortete und zu vermehren verstand, erachtete Angel pädagogische Interventionen als latente Bedrohungen seiner Person.

Bemerkenswert ist, dass wir diese beiden Grundfigurationen in den Potentialen und Anlagen beider Jugendlichen wiederentdecken. Denn Frankies vermeintliche Dummheit, verflüchtigte sich mit jedem Terrain, das er in Raum und Beziehungen einnahm. Je mehr er an Beachtung und Handlungsspielräumen gewann, desto mehr schien auch sein Geist eigenständig zu werden. Er getraute sich schließlich auch schwierige mathematische Aufgaben zu lösen und wechselte von einem schafshaften zu einem immer mehr pfiffigen Ausdruck. Die Parallele liegt in der flexiblen Annahme und dem zähen Ausbau von Rollen. Die Genialität liegt in der intuitiven Analyse von Möglichkeiten in Zukunft und Gegenwart. Denn seine ursprüngliche Lebenssituation, geduldet und mitleidsabhängig, ließ ihm neben Dummheit und Unterordnung tatsächlich keine weiteren Bewegungsfreiheiten.

Angel war seiner Lebensweise entsprechend hochintelligent. Seine Verfahrensweise, außerhalb von Gesetzen nach eigenen Regeln zu leben, äußerte sich in überbordender Kreativität. Er orientierte sich nicht an den Möglichkeiten einer gegebenen Situation. Wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, Visionen in einen unstrukturierten Raum zu entwerfen, arbeitete er wie in Trance – gestaltete Internetseiten oder philosophierte über alternative Lösungsmodelle. Auch hier erweist sich das kreative Talent als Kehrseite seiner skeptischen Flexibilität. Beziehungen und Assoziationen wurden gegen geltende Regeln mit dem Motiv der Verteidigung eigener Integrität ausgestaltet.

8.  Schlussfolgerungen

Es handelte sich um zwei Jugendliche in ähnlichen Lebenslagen, die die vorgefundenen Förderverhältnisse mittels divergierender Kernstrategien gestalteten. Dabei entspricht Angel dem Typus des Deklassierten in der Weise, dass er geltende Regeln als gegen seine Person ausgerichtet ansah und in ihren Strukturen keine Existenzmöglichkeit erkannte. Darin gleicht er dem historischen Vorläufer des Vagabunden, dessen bloße Existenz ihm zum Vorwurf und zum Auslöser von Bestrafungen wurde. Dagegen zeigte Frankie die Züge eines besitzenden Typs, wie er in der Vergangenheit in der Gestalt des Kleinststellenbewirtschafters auftaucht. Er bekleidete den untersten Rang eines graduierten Gemeinwesens und war bei seinem Aufstieg an entsprechende Demutsgesten gebunden.

Interessant ist dabei, dass beide Jugendlichen diese Rollen nicht nur selbst einnahmen, sondern ihnen gleichfalls entsprechend in allen relevanten Verhältnissen behandelt wurden. Angel wurde schon aufgrund seines Auftretens als Querulant wahrgenommen, dem Fürsorge nur in Gestalt von Sanktionen anstand und Frankie bereits vorab für seine Unterordnungen belohnt. Somit wurden Erfolg und Misserfolg beider Kernstrategien wechselseitig in der pädagogischen Interaktion durch ihre Unterschichtsklassifizierung reproduziert.

Augenscheinlich ist weiterhin, dass beider offenkundige Kompetenzen unmittelbar aus ihren Wahrnehmungen und Strategien hervorgingen und untrennbar auf sie verwiesen waren. Habitustransformationen im umfassenden Sinne stehen darum im Widerspruch zur Entwicklung von Kompetenz. Trotzdem führte die Förderung im Falle von Frankie zu einer erfolgreichen Entwicklung, während sich Angels Situation nicht veränderte und er so plötzlich wie er erschienen, nicht mehr auffindbar war. Dies heißt, dass sich Frankies Kernstrategie, obwohl sie dem pädagogischen Personal niemals bewusst wurde, als den Förderverhältnissen deutlich entsprechender zeigte, ja, auf eine Möglichkeit abzielte, die sie implizit bereits vorhielten. Es wird deutlich, wie stark die Optionen habitueller Strukturmuster von den Spielräumen vorhandener Rollenerwartungen der pädagogischen Regimes abhängig sind. Kompetenz erweist sich in diesem Zusammenhang als Möglichkeit innerhalb eines Machtverhältnisses, indem der Grad ihrer Umsetzung ebenso wie der Wahrnehmungsausschnitt einseitig durch die Erwartung des zu Messenden definiert wird. Denn auch Angel hätte auf der Basis seiner habitualisierten Kernstrategie in einer anderen Rolle gefördert werden können. Mit Sicherheit wäre seine Begabung jenseits des Unterschichtsstigmas in einem anderen Bildungsgang als solche geachtet und honorierend gefördert worden. Entscheidend wäre es darum gewesen, ihn in die souveräne Lage zu versetzen, sich unumgängliche Regeln zu Nutzen zu machen und mit ihnen spielen zu können. Dazu hätte er aus seiner Kreativität heraus Regeln entwerfen, ein Projekt planen und in Verhandlung mit bestehenden Bestimmungen umsetzen müssen.

Ich will abschließend festhalten: Die Transformation eines Habitus kann also solche nur um den Preis einer Aufgabe latenter Kompetenzen gelingen. Wohl aber möglich ist die Veränderung seiner Wahrnehmung und seines Bezugs. Dies setzt auf pädagogischer Seite die Bereitschaft zu seinem Verständnis und die Akzeptanz der ihn konturierenden Strategien voraus. Gleichzeitig bedeutet es den immerwährend reflektierten Versuch, gesellschaftliche Klassifizierungen in Förderverhältnissen außer Kraft zusetzen.

Damit gerät der Titel des Beitrags zum unauflösbaren Widerspruch: Habitustransformationen können aus förderpädagogischer Perspektive nicht als erfolgreich bezeichnet werden. Schon gar nicht vor dem Hintergrund einer Unterschichtstigmatisierung.

Literatur

BAETHGE, M./ SOLGA, S./ WIECK, M. (2007): Berufsbildung im Umbruch. Signale eines überfälligen Aufbruchs. Berlin.

BOURDIEU, P. (1993): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main.

BOURDIEU, P. (2001): Meditationen: Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am Main.

LANGE-VESTER, A. (2003): Die longue durée des Habitus. Tradierung und Veränderung sozialer Bewältigungsmuster in einem Familiennetzwerk seit dem 17. Jahrhundert. In: GEILING, H. (Hrsg.): Probleme sozialer Integration. Agis-Forschungen zum gesellschaftlichen Strukturwandel. Münster/Hamburg/London.

MEIER, L. (2008): Die Strategie des Einpassens – Deutsche Finanzmanager in London und Singapur, unveröffentlichte Dissertationsschrift. Darmstadt.

VESTER, M./ OERTZEN, P. VON/ GEILING, H./ HERMANN, T./ MÜLLER, D. (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt am Main.

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