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Beitrag von REINER EGGERER (Berufsförderungswerk Nürnberg)

Arbeit ist Lebensinhalt - Berufliche Rehabilitation unter veränderten Arbeitsmarktbedingungen


Einleitung

Arbeit ist Lebensinhalt - dies gilt zunächst einmal für alle oder mindestens für die meisten Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder einer Behinderung. Vorausgesetzt, diese These trifft so zu, ist eine wichtige Frage über die zu sprechen ist, die Zukunft der Arbeit, die wiederum - wer wollte dies bezweifeln - überlagert wird von der Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft und sozioökonomischer Ordnung.

Die Frage, welchen Wert die Arbeit hat, wurde im Verlauf der Menschheitsgeschichte unterschiedlich beantwortet; abhängig sowohl von kulturellem Hintergrund einer bestimmten Gesellschaft als auch von ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe.
Die Wandlung des Begriffs vom Wert der Arbeit ist aufschlussreich, um seinen Stellenwert in unserer heutigen Gesellschaft zu verstehen. Wie wir heute wissen, ist Arbeit mehr als nur das Mittel zur Wohlstandsschöpfung, wie noch die klassischen Ökonomen behaupteten. Arbeit erhält seinen Wert aus eigenem Antrieb und drückt bis zu einem gewissen Grad, das Wesen des Menschen aus:

- Wir sind, was wir produzieren.
- Unser Wert in der Gesellschaft wird bestimmt durch den Wert unserer Tätigkeiten, unserer Arbeit.

Doch was ist der Wert der Arbeit?
Um den Wert der Arbeit zu bestimmen, muss man die Arbeit selbst definieren. Die uns heute vertraute Vorstellung von Arbeit hängt davon ab, ob Tätigkeiten auf Produktion von Gütern oder Dienstleistungen ausgerichtet sind oder nicht. Von einem ökonomischen Standpunkt aus wird Arbeit heute daher meist definiert, als die Summe körperlicher und geistiger Tätigkeiten der Menschen zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Folglich hängt für die heutigen Ökonomen der Wert der Arbeit von ihrer Kapazität ab, Güter und Dienstleistungen zu produzieren.

Deutschland befindet sich wie zahlreiche andere Industriestaaten in einer elementaren Krise. Während fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch organisierte Erwerbsarbeit Gesellschaft konstruiert und stabilisiert hat, ist die Arbeit nun zu einem "Faktor der Desintegration" geworden, wie der Publizist Klaus Koch unlängst beschrieben hat. Immer mehr Menschen und Behinderte und Ältere im Besonderen werden langfristig aus dem Erwerbs- und Arbeitsprozess ausgegrenzt und damit oft irreversibel an die Peripherie der Gesellschaft gedrängt. Arbeit, von Marx noch als eine "von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen" beschrieben, schrumpft in weiten Teilen des Subsystems Wirtschaft unter den dort herrschenden Bedingungen von fortschreitender Substitution des Faktors "Humankapital" durch "High-Tech-Kapital" zur unbedeutenden Restgröße.

Die Folgen der Massenarbeitslosigkeit sind hinlänglich bekannt: Soziale Segregation auf der individuellen Seite, sinkende Steuereinnahmen und Erosion der sozialen Sicherungssysteme auf der gesamt-gesellschaftlichen Seite. Diese Negativentwicklung außer Acht zu lassen, bedeutet das gemeinsame Sozialwesen aufs Spiel zu setzen.
Die derzeit diskutierten Strategien und Rezepte zur Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit und das Sanieren unserer Sozialsysteme sind höchst unterschiedlich. Sie reichen von Ansätzen, die den Arbeitsmarkt durch Erwerbs-/Arbeitsumverteilung zu entlasten versuchen, über spezielle Programme und Maßnahmen für besonders benachteiligte Erwerbspersonen bis hin zu Modellen, die sich der Arbeit in ihrer Zukunft anders nähern und als Therapeutikum eine "Umprogrammierung der Gesellschaft von Arbeit auf Tätigkeit" (R. Münch) in einem umfassenden Sinn empfehlen.
Die politischen Aktivitäten, seien es die Ergebnisse der Hartz-Kommission sowie die Bemühungen konsensfähige Mehrheiten für Veränderungen im Gesundheits- und Rentensystem zu finden, zeigen, dass einerseits scheinbar die Probleme erkannt sind, andererseits aber der Mut der Verantwortlichen fehlt, Reformen nachhaltig durchzuführen und die tatsächlichen Bedingungen und deren Auswirkungen in unserer Gesellschaft offen an- und auszusprechen.

1. Zukunft der Arbeit

Arbeit und Arbeitsgesellschaft sind ja nicht deshalb in der Krise, weil es nicht genügend zu tun gäbe, sondern weil unter Arbeit nahezu ausschließlich Erwerbsarbeit verstanden wird. Der größere Teil der gesellschaftlich notwendigen Aufgaben tritt gar nicht als Arbeit in Erscheinung.
Es sind die unbezahlten Arbeiten in der Familie und in anderen Lebensformen, bei der Erziehung der Kinder, der Pflege der Alten, Behinderten und Hilfsbedürftigen, die Arbeit in der Nachbarschaftshilfe, im sozialen Ehrenamt usw. Diese Arbeiten gehen in unserer Gesellschaft ganz bestimmt nicht aus. Menschliche Arbeit ist mehr als nur Produktionsfaktor eines funktionierenden Wirtschaftssystems, Arbeit ist unentbehrlich für das Selbstwertgefühl. Mit dem Übergang von der klassischen Industriegesellschaft in die moderne Dienstleistungsgesellschaft ist es längst noch nicht getan.

Auch die Arbeit für die Familie und die Gemeinschaft muss gesehen und gewertet werden. Es müsste eine Vision entstehen, in deren Zentrum alle menschlichen Tätigkeiten ihren Wert und ihre Präferenzen haben. Das ist ökonomisch sinnvoll, anthropologisch unausweichlich und moralisch erstrebenswert.

Einstein hat einmal gesagt: "Die Probleme, die es in der Welt gibt, können nicht mit den gleichen Denkweisen gelöst werden, die sie erzeugt haben ." Dem ist, denke ich, schwerlich zu widersprechen. Dass wir uns aber dennoch nicht daran halten, dass es so wenig Bereitschaft gibt, sich auf neue Denkweisen einzulassen, ist eines unserer größten Probleme. Wir sind alle Gefangene unserer Standpunkte. Und die Kunst ist es zu lernen, unseren vermeintlich festen Stand so weit in Frage zu stellen, dass wir aufnahmefähig werden für neue Ideen.

2. Der Wandel der Arbeitsgesellschaft: Die Fakten

Wir alle kennen den Befund, der ist deprimierend und dramatisch: Massenarbeitslosigkeit seit vielen Jahren, kontinuierlich steigend. Die veröffentlichten Zahlen sprechen von rd. 4,5 Millionen Erwerbslosen, tatsächlich sind es wohl deutlich mehr. Und die Aussichten sind - trotz hin und wieder einer leichten Besserung auf dem Arbeitsmarkt - schlecht. Die seit Jahren laufenden Bemühungen von Politik und zahlreichen so genannten Expertenkommissionen zeigen kaum Wirkung.
Vielen Verantwortlichen in unserer Gesellschaft scheint es noch immer nicht klar zu sein, dass die Herabwürdigung der menschlichen Arbeit auf die bloße Funktion des ökonomischen Produktionsfaktors Schäden verursacht. Die rein marktförmige Verteilung teuerer Arbeit führte zu dieser hohen Arbeitslosigkeit. Hierin zeigt sich ein Verlust von Wohlstand und es ist nicht nur der materielle Wohlstand, der diesen Millionen von Menschen fehlt. Die Arbeitslosigkeit beraubt sie auch eines zentralen Elements der Selbstverwirklichung und verwehrt ihnen die aktive Teilnahme an der Gesellschaft.

Der bekannte Wirtschaftsberater Prof. Meinrad Miedl veranschlagte das gesamte Rationalisierungspotenzial in der deutschen Wirtschaft auf 30 %. Der Unternehmensberater Henzler und Lothar Späth haben für den Fall der Ausnützung dieses Rationalisierungspotenzials eine Erwerbslosigkeit von fast 40 % errechnet. Und der US-Amerikanische Beststeller-Autor Jeremy Rifkin, ein Spezialist auf diesem Gebiet der auch Vorschläge zur Abhilfe macht, hat in seinem Buch "Das Ende der Arbeit" vorausgesagt, dass in Folge der technologischen Entwicklung 20 % des Erwerbspotentials ausreichten, den gesellschaftlichen Reichtum an Gütern und Dienstleistungen zu erzeugen. Er ist nicht der Einzige, der das sagt.
Schon Anfang der 80er Jahre hat Oswald von Nell-Breuning seine Forderung nach drastischer Arbeitszeitverkürzung so begründet: "Ich stelle mir vor, dass wir dahin kommen werden, dass zur Deckung des gesamten Bedarfs an produzierten Gütern ein Tag in der Woche mehr als ausreicht."

Friedhelm Hengsbach, der Schülernachfolger von Nell-Breuning, folgerte aus den genannten Daten: "Der Produktionsfortschritt ist so rasant, dass der Trend, mit weniger Arbeitskräften das selbe oder ein besseres Produktionsergebnis zu erzielen, nicht zu stoppen ist. Vollbeschäftigung, wie in den 70er Jahren, wird es nicht mehr geben. Ich denke, dass die Industriegesellschaft an einer Wegmarke steht, wie vor 150 Jahren die Agrarwirtschaft. Damals waren 80 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, heute sind es ca. 3 %. Vielleicht schaffen es in 50 Jahren 10 % der Beschäftigten, die Gesellschaft mit allen Industrieprodukten zu versorgen."

Es gibt ein paar Mechanismen, welche einen hohen Druck im Sinne der Verminderung der menschlichen Arbeitskraft ausüben. Da ist einmal die in der globalen Wirtschaft herrschende unerbittliche Konkurrenz zu benennen, welche radikal auf Erhöhung von Gewinn und Senkung der Produktionskosten einwirkt. Die Folge ist tendenziell der Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch Maschinensysteme. Diese Entwicklung wird technologisch begünstigt durch die modernen Möglichkeiten der Rationalisierung. Gleichzeitig stellt man fest, dass diese ökonomische, technologische Entwicklung fast ohne ethische, soziale oder ökologische Kontrolle der Ordnung vor sich geht, weil es im Raum der globalisierten Wirtschaft keine - auf jeden Fall noch keine - Instanz gibt, welche verbindliche sozialpolitische Ordnungsvorstellungen durchsetzen kann.
Wir haben die soziale und ethische Ordnung mangels Instanzen weitgehend dem Markt überlassen, wohl wissend, dass der Markt diese Ordnung nicht autonom herstellen kann. Es ist das Fazit europäischer, ökonomischer Ideen und Theoriegeschichte, dass der Markt eine sozialpolitische Ordnung braucht, wenn er menschengerecht und sozial handeln soll. Diese Erkenntnis haben wir im Vorgang der Globalisierung der Wirtschaft über Bord geworfen.
Es ist also nicht absehbar, wie wir eine ethische und sozialbefriedigende Ordnung für die zukünftige Arbeitsgesellschaft erreichen können.

Andere Faktoren kommen hinzu: Zum Beispiel der teilweise Zerfall der Solidaritätsidee in der pluralistischen, individualisierten und multikulturellen Gesellschaft. Zur Moderne gehört die Auflösung von verschiedenen Solidaritätsstrukturen.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist auch die Wahrnehmung, dass wir an der Grenze der Leistungsfähigkeit des Staates angelangt sind. Der Staat kann nicht alles leisten. Die Frage ist dann, wer es denn sonst könne?
Unbestritten ist auch, dass der Bereich der freien Zeit in der Moderne anwächst. Allerdings für viele ist diese freie Zeit Arbeitslosigkeit und damit, wie André Krotz einmal gesagt hat: "eine perverse Form der freien Zeit". Aber so oder so gibt es sehr viel freie Zeit, die zu einem großen Teil für das verwendet wird, was wir Freizeitaktivitäten nennen.

Auf der anderen Seite nehmen wir auch war, dass wir Zeitknappheit haben; nicht nur in den Betrieben, wo wir von der heutigen "Hetzzeit" sprechen. Auch in der freien Zeit wird oft ein Mangel an Zeit wahrgenommen. Zum Teil, weil die freie Zeit gut ausgenutzt werden soll, aber auch deshalb, weil die Alltagsaufwendungen zum Teil kompliziert und zeitaufwendig geworden sind.
Bevor ich nun den nächsten Punkt betrachte möchte ich die wichtigsten Punkte, die mir als relevant erscheinen, für das Nachdenken über die Tätigkeitsgesellschaft der Zukunft kurz zusammenfassen. Es sind dies die

- Arbeitslosigkeit,
- fehlenden Dienstleistungen,
- Zerfall bzw. Ambivalenz der Solidarität,
- neue Armut,
- Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern bezüglich der unbezahlten und bezahlten Arbeit,
- Ausgrenzung von Leistungsgewandelten, behinderten Menschen und Älteren auf Kosten der Solidargemeinschaft und
- fehlendes Angebot an Aufgaben.

 

3. Die Chance der Krise: Erneuerung des Arbeitsbegriffes

Jede Krise birgt auch Chancen. Wir alle spüren und merken dies. Die Industriearbeit geht weitgehend aus. Sollten wir das nicht eigentlich feiern, statt es zu bejammern? Endlich ein Stück Befreiung vom Fluch der Fronarbeit, die wir "im Schweiße unseres Angesichtes" zu tun gezwungen sind. Endlich die Erfüllung jener alten Menschheitsutopie vom besseren Leben? Und das böse Wort von der "Freisetzung". Jenes Tarnwort für den Rausschmiss aus der Laufbahn bekäme einen positiven guten Sinn: nämlich Befreiung der Menschen zu sich selbst und zu den so wichtigen, sozialen und ökologischen Diensten unserer Gesellschaft?
Vielleicht können wir lernen, mit der erzwungenen Erwerbslosigkeit, die so viele Menschen kränkt, aus der Bahn wirft, ihnen den Lebenssinn zu rauben scheint, besser umzugehen, wenn wir unseren alteingesessenen Arbeitsbegriff kritisch hinterfragen. So könnte auch den Erwerbslosen, die manche, so genannte "Leistungsträger" im Managerberuf zynisch als überflüssiges "Menschenmaterial", als "Wohlstandsmüll", abtun, die Angst vor dem Absturz genommen werden. Sie könnten wieder eine neue Perspektive finden.

Das wird nicht leicht sein. Aber ohne Arbeit am bisherigen Arbeitsverständnis werden wir die Veränderungsbereitschaft, die notwendig ist, nicht wecken können.

Der Sozialexperte Ulf Fink hat die herrschende Denkweise auf einen knappen Nenner gebracht: "Der bestimmende Faktor unserer Gesellschaft ist Arbeit. Menschen schöpfen Selbstwertgefühl und Wohlbefinden aus ihrer Arbeit. Durch Arbeit vollzieht sich auch soziale Integration. Der Staat ist auf Arbeit hin konzipiert. Unser Sozialsystem wird über Arbeit finanziert."

Die geläufige Einstellung zur Erwerbsarbeit zu verändern und andere Verhaltensweisen zu ermöglichen, ist eine große Aufgabe. Der so genannte "freie Markt", der Götze der neoliberalen Konservativen, wird das nicht leisten können. Er kann und will es ja auch gar nicht; bei seinem strukturellen Defizit an Moral und sozialer Verantwortung. Gefordert ist die ganze Gestaltungskraft von Politik und Gesellschaft. Auf die ordnende "sichtbare Hand" des Staates kann dabei nicht verzichtet werden. Das zu sagen, ist freilich nicht populär, weil alle Welt die Forderung der Neoliberalen nach weniger Staat, nach Deregulierung und Eigenverantwortung im Munde führt. Aber wer denn sonst, wenn nicht die zur Gestaltung des Gemeinwesens Berufenen, die Politiker und deren organisatorisches Hilfsmittel Staat, könnte diese Ordnungsaufgabe erfüllen? Freilich braucht es dafür einen anderen Staat als bisher: nicht der bürokratische, alles bevormundende und die Menschen entmündigende, gleichsam autoritäre Staat ist zukunftsfähig, sondern der den Bürgerinnen und Bürgern Chancen zur Selbstgestaltung eröffnende und Voraussetzung dafür schaffende Staat. Das bedeutet, dass die Politik Räume für die Entfaltung des so genannten "Dritten Sektors" eröffnen muss. Der Dritte Sektor, das ist neben dem ersten Sektor der Wirtschaft und dem zweiten Sektor dem Staat der Bereich der Bürgergesellschaft, der in Deutschland noch große und weite Entfaltungsmöglichkeiten für neue Arbeit bietet. Einem entwickelnden Sozialstaat kommt dabei immer noch und von neuem - jedoch auf andere Weise als bisher - die wichtige Aufgabe des sozialen Ausgleichs zu. Das Argument, dass der Sozialstaat "nicht mehr zu bezahlen sein", ist fadenscheinig und interessengeleitet. Dazu gäbe es viele Beispiele.

In den letzten Jahrzehnten hat sich in Deutschland ein immenser Reichtum gebildet. Einige Zahlen dazu: Die Sparguthaben in Deutschland belaufen sich auf ca. 2,5 Mill. EUR. Es gibt 80 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von knapp 100 Mrd. EUR. Über die durch Steuerflucht mangelnde Kontrolle und legale Abschreibungen gehen den öffentlichen Haushalten jährlich ca. 150 Mrd. EUR verloren. Die Rede vom zu teueren Sozialstaat (und auch vom massenhaften Sozialbetrug) erscheint da vorsichtig ausgedrückt, nicht ganz redlich. Die Flucht des Reichtums aus der gesellschaftlichen Verantwortung (Artikel 14 Grundgesetz: "Eigentum verpflichtet") hat erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsgesellschaft. Wenn sich ein Teil dieses Reichtums, ohne dass dadurch jemand ärmer würde, der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, könnte viel neue Arbeit - nicht unbedingt nur Erwerbsarbeit - getan und bezahlt werden. Nur, wie die Verhältnisse bei uns sind, wird es nicht leicht sein, die Reichen und das Kapital in die Pflicht zu nehmen oder anders ausgedrückt, politisch nicht durchsetzbar ist dafür die Formel.

4. Ein neuer Gesellschaftsvertrag

Die "Krise der Arbeitsgesellschaft" ist nicht eine konjunkturelle Krise, eine Produktionskrise, eine Krise der tatsächlich zu teueren Arbeit, sondern eine Krise der Produktionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Steuerung des Marktes, eine Krise des bisherigen Gesellschaftsvertrages.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Es ist eine Krise des Denkens, nämlich der gemeinsam getragenen Überzeugungen, Werte und Normen über die verbindlichen Lebens- und Arbeitsformen. Der Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit ist sozusagen ausgelaufen, seine Grundlagen haben ihre Geltung verloren. Das traditionelle Wachstum und die Vollbeschäftigung gibt es nicht mehr. Auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, sozusagen die Normalbiografie - der Mann arbeitet, die Frau arbeitet nicht, sondern macht den Haushalt - eine wichtige Voraussetzung für die frühere Vollbeschäftigung, ist längst überholt. Im Gegenteil, wir können es uns gar nicht erlauben, gut ausgebildete Frauen aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen. Überdies gibt es auch die national-staatlich souveräne Politik, ein wichtiges Element des alten Gesellschaftsvertrages, nicht mehr so wie bisher.
Gibt es Alternativen dazu?

Es gibt viele neue Ansätze, viele Versuche, viele Modelle, vieles ist in der Diskussion und in der Erprobung. Die Umsetzungsfrage ist natürlich auch eine Machtfrage, denn wer vom jetzigen System profitiert, hat kein Interesse es zu ändern. Deshalb ist es wesentlich und wichtig, mit großer Beharrlichkeit und Anstrengung öffentliche Diskurse einzuleiten und fortzuführen und damit das einer offenen, demokratischen Gesellschaft angemessene Mittel - politische Teilnahme anzuwenden, das Bewusstsein zu schärfen und öffentlichen Druck - auszuüben.

5. Recht auf Arbeit - ein soziales Menschenrecht

Nicht nur der Einzelne ist zur Deckung seiner Lebensbedürfnisse auf Arbeit angewiesen, auch die Gemeinschaft der Menschen, die nur durch eine feingliedrige Arbeitsteilung ihren kulturelle Stand erhalten und verbessern kann, braucht den Beitrag der Arbeit jedes seiner Glieder. So ist Arbeit Pflicht und Recht zugleich.

Erwerbslosigkeit bedeutet so nicht nur für den Einzelnen eine schwere Einbuße an materieller Sicherheit wie an persönlicher Stellung in der Gesellschaft, sondern stellt zugleich auch einen erheblichen Schaden für das Gemeinwohl als Ganzes dar und zwar sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht.

Recht auf Arbeit als soziales Menschenrecht muss in Anbetracht seiner besonderen Bedeutung für die Sicherung des Gemeinwohls in einer allgemeinen Politik im Vergleich zu anderen Staatszielen eine hohe Priorität genießen. Zum Aufbruch einer so wichtigen Politik bedarf es freilich sowohl des Zusammenwirkens aller sozialen Kräfte, der Verbände, der Parteien, kurz der gesamten Politik als auch einer möglichst genauen Kenntnis der die Unterbeschäftigung bewirkenden Faktoren. Arbeitslosigkeitsstrukturen sind nämlich keineswegs immer identisch und bedürfen jeweils einer genauen Analyse.

Gerade auch für die Randgruppen in unserer Gesellschaft sind individuelle Maßnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf Arbeit vorzusehen. So müssen stützende Maßnahmen, wie z. B. auch geschützte Werkstätten oder durch eigens konzipierte Arbeitsplätze, deren Mehrkosten dann durch öffentliche Mittel zu bestreiten sind, bei individuellen Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit die Arbeitsmöglichkeit für den Einzelnen sichern helfen. Auch die Mittel für die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen dienen letzten Endes dazu, die Arbeitsfähigkeit dieses Personenkreises zu erhalten bzw. wieder herzustellen.
Es ließen sich noch viele weitere Beispiele benennen. Entscheidend ist jedoch, dass uns immer wieder bewusst ist, unsere sozialen Sicherungssysteme beruhen im Wesentlichen auf Arbeit. Die Stabilität und Verlässlichkeit der sozialen Sicherungssysteme ist bedroht, wenn die Erwerbsarbeit, so wie wir es zurzeit erleben, insgesamt zurückgeht und große Teile der Gesellschaft durch steigende Erwerbslosigkeit von ihr ausgeschlossen werden.

Je unproduktiver ein Mensch ist, um so weniger ist er noch einer von uns. Das ist die Wahrheit unserer Art, "human" zu sein. Sie legt die Grenzen unserer Solidarität fest. Was soll man mit den unvermittelbaren Erwerbslosen, den unumkehrbar Alten, den hoffnungslos Leistungsschwachen, den Behinderten und den Lustlosen machen? Wir rücken sie an den Rand unseres Solidaritätsspektrums, d. h. keineswegs, dass wir ihnen jede Unterstützung versagen. Solange die Wirtschaft nicht kollabiert, es nicht zu einer Neuauflage der "Ausgesteuerten" kommt, und "human" nicht zu einem Massenphänomen wird, solange wird auch das Prinzip der Basissolidarität Wirkung entfalten. Doch das ändert nichts daran, dass wir uns weigern, uns mit den Unproduktiven zu identifizieren, ihre Schmach, Wut und Resignation als Teil eines Lebenszusammenhanges zu begreifen, dem wir selbst angehören.
Entlang der Demarkationslinie von Leistung wird auf diese Weise eine relativ neue Form der Ausgrenzung etabliert. Mitten im Sozialstaat entstehen soziale Schichten für die gilt, dass wir ohne weiteres zu ihnen gehören könnten, wie im Falle des unspezifisch Erwerbslosen oder einer von Geburt an, durch Krankheit oder Unfall erworbenen Behinderung oder eines nicht allzu fernen Tages jedenfalls zu ihnen gehören werden, wie im Falle der "unproduktiv Alten". Solange wir aber noch nicht soweit sind, behandeln wir sie, als gehörten sie nicht zu uns - den Leistungsstarken. Dass sie nicht, wie "unsereiner" sind, zählt zu den Illusionen, die das System nährt. Denn es benötigt unsere Selbstausbeutung, unsere Geld- und Lebensgier, um - man weiß nicht zu welchem Ende - die weltweite Konzentration von Macht und Reichtum in immer weniger Hände zu ermöglichen.

6. Berufliche Rehabilitation vor dem Hintergrund des Arbeitsmarktes

Zuerst bleibt festzustellen, dass sich berufliche Rehabilitation behinderter Jugendlicher und erwachsener Menschen auch vor dem Hintergrund des bisher gesagten nicht nur bewährt hat, sondern wesentlicher Teil unserer sozial-staatlichen Ordnung ist. Berufliche Rehabilitation ist ein Paradebeispiel für eine moderne, emanzipative Sozialpolitik. Berufliche Rehabilitation verbindet Leistung mit Gegenleistung, eigene Anstrengung mit Solidarität, fördern mit fordern. Und das macht ihren eigentlichen und besonderen Wert aus. Berufliche Rehabilitation ist das Ergebnis eigener Anstrengungen und eigener Mühen.

Berufliche Rehabilitation hat sich nicht nur in Zeiten niedriger Erwerbslosigkeit bewährt, sondern - und dies beweisen die nach wie vor hohen Eingliederungsquoten - bewährt sich auch vor dem Hintergrund eines schwierigen Arbeitsmarktes. Berufliche Rehabilitation hat auch in schwierigen Zeiten Zukunft, denn sie ist ein zentrales Tätigkeitsfeld in unserem Sozialstaat. Daran ändert auch die seit langem anhaltende Diskussion um Kosten und Effizienz nichts. Allerdings müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass berufliche Rehabilitation nicht nur in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern dass wirtschaftliche, gesellschaftliche und sozialpolitische Einflüsse Spuren in unserer Arbeit hinterlassen. Dies müssen wir bei all unserem Tun berücksichtigen und uns immer wieder darüber klar werden, dass das erste und wichtigste Ziel die Eingliederung oder Wiedereingliederung in die Arbeit ist.
Die Unternehmen der beruflichen Rehabilitation haben sich in den letzten Jahren von Einrichtungen zu sozialen Dienstleistungsunternehmen weiterentwickelt. Diese Entwicklung ist eine fortwährende (lernendes Unternehmen), da sich die Bedingungen unter denen diese Aufgaben stattfinden, permanent verändern.

Die große Zahl von positiven Integrationsbemühungen in die Arbeitswelt ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich diese Unternehmen den Herausforderungen dieser Veränderungen gestellt haben und dass die Rehabilitationsträger in Deutschland, und dies wird durch das Sozialgesetzbuch IX politisch stark gestützt, die Sinnhaftigkeit beruflicher Rehabilitation als Voraussetzung für Integration in Arbeit nachhaltig unterstützen.

Wichtige Voraussetzungen für eine auch zukünftig erfolgreiche Rehabilitation wird von daher auf der einen Seite die solidarische Einstellung unserer Gesellschaft zu diesem Aufgabengebiet sein und andererseits die Bereitschaft der Unternehmen der beruflichen Rehabilitation, nachhaltig neue Wege zu beschreiten, Wege von der Prävention bis zur Integration. Neue Wege bedeutet auch, Weggefährten zu finden, mit denen wir in Kooperation vielfältige Angebote und Hilfen entwickeln. Wege, auf denen wir uns auch als aktive Partner der Wirtschaft verstehen. Berufliche Rehabilitation ist keine Einzelleistung, sie ist im Erfolgsfall das Zusammenspiel vieler Fähigkeiten, vieler Ressourcen, vieler Beteiligter. Dieses Zusammenspiel zu optimieren und zu verbessern, ist wesentliche Voraussetzung, um das wichtigste Ziel - die Integration von Menschen mit Behinderung in Arbeit - zu erreichen.
Menschen schöpfen Selbstwertgefühl und Wohlbefinden aus ihrer Arbeit und durch ihre Arbeit vollzieht sich auch ihre soziale Integration. Dieser Grundsatz gilt für alle Menschen, unabhängig davon, ob vollerwerbsfähig, leistungsgewandelt, behindert oder alt. Wenn dieser Grundsatz in unserer Gesellschaft gelebt wird, endet auch die Diskussion und die Ausgrenzung von Randgruppen. Die Tatsache, dass in unserem Land immer wieder Sonderprogramme für bestimmte Gruppen aufgelegt werden müssen, zeigt, dass der hohe Standard, den die Unternehmen der beruflichen Rehabilitation erreichen und überwiegend erfolgreich auch umsetzen können, nicht ausreicht, sondern wir uns verstärkt in die politischen Diskussionen und Auseinandersetzungen einschalten und bei der Umgestaltung des Sozialstaates aktiv beteiligen müssen.

7. Schlussbemerkungen

Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Regeln, um mit Fragen der sozialen Gleichheit umzugehen. Unbestritten dürfte sein, dass unsere Gesellschaft sich einer Reihe von Regeln verpflichtet fühlt, die den Aspekt der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen mit Gesichtspunkten der Leistung einerseits und des Ausgleichs für unverschuldete Nachteile andererseits in einen engen, normativen Zusammenhang bringt.

Zu sagen, dass alle Menschen gleich sind, bedeutet natürlich erst dann etwas, wenn man bereit ist anzugeben, welche Unterschiede keine Ungleichbehandlung rechtfertigen und welche Rechte für den Einzelnen daraus folgen.
Die gegenwärtige politische Diskussion in Deutschland und in Europa zeigt einerseits das Bemühen, die sozialstaatlichen Probleme zu bewältigen, andererseits sind auch Tendenzen erkennbar, dass ein wichtiges Prinzip unseres Sozialstaates gefährdet ist - ich nenne es das Prinzip der Basissolidarität. Gehen wir davon aus - was durchaus nicht realitätsfremd ist - dass in unserer Gesellschaft die Prinzipien Gleichheit, Chancengleichheit, Leistung und Basissolidarität normative Kraft entfalten und institutionell wirksam sind, dann ist es auch nicht falsch zu sagen, dass unsere Gesellschaft ein hohes Maß an Gerechtigkeit und Humanität entwickelt hat, ja so gerecht und human verfährt, wie noch keine der großen anonymen Gesellschaften vor ihr.

Erkennbare Negativtrends sind Symptome einer tiefsitzenden Krise oder wenn man will, Krankheit unserer Gesellschaft, die bei hohem Gerechtigkeits- und Humanitätsniveau sehr rasch wieder zur rabiaten Form der Ausgrenzung bestimmter Personengruppen zurückfinden könnte. Der zentrale Punkt ist - wie sollte es anders sein - ein ökonomischer. Jede ökonomische Betrachtungsweise muss in erkennbarem Zusammenhang mit Effizienz, mit erwünschten Effekten und Ergebnissen stehen. Es scheint, als ob alle Macht von Interessen sich gegenseitig blockieren und nichts auf schärfere Ablehnung stößt als unkonventionelle Ideen. Man könnte auch sagen ein Teufelskreis der Ängste und immer die anderen sind schuld am Elend.

Resignation ist nicht die einzig mögliche Perspektive. "Wir brauchen erst Visionen vom Leben, wenn wir Visionen vom Arbeiten entwickeln sollen", sagte einmal der Industriepfarrer Heinz Gerhard Koch. Visionen sind gewiss nicht alles, sie müssen auch praktisch werden, aber ohne Visionen ist alles nichts. Und überdies: Wir wissen nicht, ob die Geschichte gut ausgeht, aber solange noch nichts sicher ist, dass sie schlecht ausgeht, können wir das schlechte Ende noch verhindern versuchen.
Arbeit produziert Güter, aber auch Persönlichkeit.

 

Literatur:


DETTLING, W. (1998): Wirtschaftskummerland? Wege aus der Globalisierungsfalle. München.

EGGERER, R. (1992): 2,7 Mill. Arbeitslose - trotzdem berufliche Rehabilitation Schwerkörperbehinderter? In: Rehabilitation 31.

GIARINI, O./ LIEDTKE, P.M. (1997): Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome. München

HENGSBACH, F. (1998): Arbeit anders verteilen - eine ökonomische und gesellschaftspolitische kreative Idee. In: GLASER, H./

LINDEMANN, R. (Hrsg.): Arbeit in der Krise. Von der Notwendigkeit des Umdenkens. Cadolzburg

SCHWANITZ, D. (2002): Bildung. Alles, was man wissen muss. Eichborn

SPRENGER, R.K. (2000): Aufstand des Individuums. Warum wir Führung komplett neu denken müssen. Frankfurt am Main

WICKERT, U. (1995): Das Buch der Tugenden. Ausgewählte Texte aus Philosophie, Literatur, Recht, Soziologie und Politik. München