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 bwp@ Ausgabe Nr. 14 | Juni 2008
Berufliche Lehr-/ Lernprozesse - Zur Vermessung der Berufsbildungslandschaft
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 14 sind H.-Hugo Kremer, Karin Büchter und Franz Gramlinger

Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung – Pilotinitiative und berufs- und wirtschaftspädagogisch relevante Fragestellungen


               


1.   Die Pilotinitiative DECVET - Entwicklung eines Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung

Bildungspolitisches Ziel der BMBF-Pilotinitiative DECVET ist die systematische Entwicklung und Erprobung eines Leistungspunktesystems zur Erfassung, Übertragung und Anrechnung von Lernergebnissen von einem Teilbereich des beruflichen Bildungssystems in einen anderen. Konkret sollen Möglichkeiten geschaffen werden, in anderen Bildungskontexten erworbene Kompetenzen auf den angestrebten Bildungsabschluss anzurechnen. Im Hinblick auf die Ausbildungssituation in der Bundesrepublik wird hiermit vor allem eine Verbesserung der Zu- und Übergangsoptionen zwischen den Subsystemen des deutschen Bildungssystems, aber auch eine Flexibilisierung innerhalb der beruflichen Bildung angestrebt. Mit der Erhöhung der Durchlässigkeit und der Anrechnung von Lernergebnissen und Kompetenzen könnten nicht nur die Attraktivität beruflicher Qualifizierungswege erhöht, sondern vor allem auch Warteschleifen, redundante Qualifizierungen und „Bildungssackgassen" vermieden werden. Die Initiative soll außerdem dazu beitragen, unterschiedliche Lernformen miteinander zu verknüpfen und die Kooperation der Bildungsinstitutionen zu verbessern. Dazu ist es erforderlich, Verfahren zur Bestimmung, Bewertung und Anrechnung beruflicher Lernergebnisse und Kompetenzen zu entwickeln und ihre Anwendung in der Praxis exemplarisch zu erproben. Um ein praktikables und transferierbares Modell zu erarbeiten, erfolgt im Rahmen der BMBF-Initiative eine beispielhafte Erprobung durch insgesamt zehn Pilotprojekte. Die Projekte beschäftigen sich mit der Gestaltung der Durchlässigkeit an jeweils einer der folgenden vier Schnittstellen:

1. zwischen Berufsausbildungsvorbereitung und dualer Ausbildung,

2. innerhalb der dualen Berufsausbildung bzgl. gemeinsamer berufsbildübergreifender Qualifikationen in einem Berufsfeld,

3. zwischen dualer und vollzeitschulischer Berufsausbildung sowie

4. zwischen dualer Berufsausbildung und beruflicher Fortbildung (des Bundes nach §§ 53 und 54 BBiG).

Für die Entwicklung und Erprobung geeigneter Modelle wurden an jeder dieser Schnittstellen des deutschen Berufsbildungssystems zwei bis drei Projekte aus unterschiedlichen Regionen und Branchen bzw. Berufsgruppen ausgewählt. Im Folgenden soll ein knapper Überblick über die zehn Pilotvorhaben sowie die von ihnen bearbeiteten Branchen und Berufe gegeben werden.

1. Schnittstelle zwischen Berufsvorbereitung und dualer Berufsbildung

•  BWHW - Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft e.V., Frankfurt Forschungsstelle & INBAS GmbH – Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik; Bereich: Metall; Berufe aus dem Berufsfeld Metall, z.B. Anlagenmechaniker/in, Industriemechaniker/in, Konstruktionsmechaniker/in, Werkzeugmechaniker/in, Metallbauer/in

•  Deutsche Bahn AG, DB Training, Berlin / Frankfurt a.M.; Bereich: Logistik, Verkehrswirtschaft; Kaufmännisch-serviceorientierte Berufe, Berufe der Metall- und Elektrotechnik, Verkehrsberufe

•  ÜAG - Überbetriebliche Ausbildungsgesellschaft Berufs- und Arbeitsförderungsgesellschaft gGmbH Jena; Bereich: Metall; vordergründige Betrachtung der Metallberufe Industriemechaniker und Metallbauer, aber auch andere Ausbildungsberufe des Berufsfeldes Metall

2. Schnittstelle gemeinsamer berufsbildübergreifender Qualifikationen in einem Berufsfeld

•  SAZ - Schweriner Ausbildungszentrum e.V. Schwerin; Bereich: Kunststoffverarbeitung; Verfahrensmechaniker/in für Kunststoff- und Kautschuktechnik, Werkzeugmechaniker/in, Mechatroniker/in

•  f-bb - Forschungsinstitut Betriebliche Bildung gGmbH Nürnberg; Bereich: Metall; Maschinen- und Anlagenführer/in, Fertigungsmechaniker/in, Kfz-Mechatroniker/in, Karosserie- und Fahrzeugbaumechaniker/in, Mechatroniker/in, Elektroniker/in für Automatisierungstechnik, Industriemechaniker/in, Werkzeugmechaniker/in

3. Schnittstelle zwischen dualer und vollschulischer Berufsbildung

•  Arbeitsgemeinschaft des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelkammertages, des Baden-Württembergischen Handwerkstages und des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg; Bereich: Handel, Handwerk; Kaufmann/-frau im Groß- und Außenhandel, Anlagenmechaniker/in für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik

•  AfbB – Akademie für berufliche Bildung gGmbH Dresden; Bereich: Kaufmännische Berufe, Tourismus, Handel; Staatlich geprüfte/r Wirtschaftsassistent/in, Fachrichtung Informationsverarbeitung, Kaufmann/-frau für Bürokommunikation, Bürokaufmann/-frau, Internationale/r Touristikassistent/in, Reiseverkehrskaufmann/-frau

4. Schnittstelle zwischen dualer Berufsbildung und beruflicher Fortbildung

•  BAQ Forschungsinstitut für Beschäftigung Arbeit Qualifikation, Bremen; Bereich: Bauwirtschaft; Polier/in, Facharbeiter/in

•  BCM - Bremer Centrum für Mechatronik & aib - arbeitswissenschaftliches institut bremen, Universität Bremen; Bereich: Industrie; Geprüfte/r Industriemeister/in (Fachrichtung Mechatronik), Systemtechniker/in Mechatronik, Mechatroniker/in, Staatl. Geprüfte/r Mechatroniktechniker/in

•  QFC - Qualifizierungsförderwerk Chemie GmbH, Halle/Saale; Bereich: Chemische Industrie; Chemikant/in, Chemielaborant/in, Geprüfte/r Industriemeister/in (Fachrichtung Chemie)

Wissenschaftlich begleitet wird die DECVET-Pilotinitiative von einem Konsortium der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Lehrstuhl für Berufspädagogik) und der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik). Die Aufgabe der wissenschaftlichen Begleitung ist es, projektübergreifend und projektbegleitend zu arbeiten, die Zusammenarbeit zwischen den Einzelprojekten zu sichern, die Beteiligten zu beraten, Lösungen zusammenzuführen, Ergebnisse zu evaluieren sowie projektunabhängige Transfermöglichkeiten für die breite Umsetzung in der Praxis zu identifizieren. Die wissenschaftliche Begleitung arbeitet eng mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Mitgliedern des für die Initiative eingerichteten Beirats zusammen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung nimmt im DECVET-Projekt neben administrativen Funktionen sowohl fachliche (beratende) als auch koordinierende Aufgaben wahr. Der vom BMBF gebildete Beirat unterstützt und begleitet die Durchführung der Pilotinitiative. Er setzt sich aus Vertretern und Vertreterinnen der Bundesagentur für Arbeit, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, der IG Bergbau, Chemie, Energie, der IG Metall, des Kultusministeriums des Landes Sachsen-Anhalt, des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Arbeit und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks zusammen. Informationen über die Einzelprojekte der BMBF-Pilotinitiative sowie den Fortgang des DECVET-Projekts können zukünftig über die Webseite www.decvet.net abgerufen werden. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Struktur der DECVET-Pilotinitiative.

Entsprechend der deutschen Stellungnahme zu einem Europäischen Leistungspunktesystem für die berufliche Bildung orientiert sich die Initiative am „Dualen System der beruflichen Bildung“ als zentrale Form des beruflichen Kompetenzerwerbs. Das damit verbundene Berufskonzept und die Abschlussprüfung als Zertifikat der beruflichen Handlungsfähigkeit sollen als konstituierende Elemente des Systems bewahrt werden. Gemäß der Anforderungen aus dieser Stellungnahme soll ein Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung ausdrücklich systemkonform entwickelt werden, und zwar unter Berücksichtigung der entsprechenden institutionellen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen (vgl. BMBF/KMK 2007, 4).

In Bezug auf das deutsche duale System der Berufsausbildung stellt dies eine komplexe und facettenreiche Aufgabe dar. Auch aus berufsbildungspolitischer Sicht ergeben sich durch die Forderung nach Berücksichtigung europäischer und nationaler Bezugsrahmen hohe Ansprüche an die Pilotprojekte. Auf europäischer Ebene gilt es insbesondere, die Empfehlungen zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) und eines Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET) einzubeziehen.

2. Berufsbildungspolitischer Hintergrund der Pilotinitiative: Lebenslanges Lernen und der Brügge-Kopenhagen Prozess als Herausforderungen für die deutsche Berufsbildung

Erklärtes bildungspolitisches Ziel der EU ist die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes, der eine barrierefreie Mobilität bei den Übergängen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem ermöglichen soll. Um dies zu erreichen, sollen gemeinsame Kriterien und Grundsätze sowohl für die Bewertung formalisierter beruflicher Bildungsgänge als auch für die Validierung von non-formalem und informellem Lernen entwickelt werden. Im Fokus der aktuellen Aktivitäten steht die berufliche Bildung, welche aufgrund ihrer Schnittstellenfunktion zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem eine besondere Bedeutung zukommt.

Entscheidend ist, dass sich die Erklärung von Kopenhagen 2002 und die daran geknüpften Vorhaben in der beruflichen Bildung auf das lebenslange Lernen beziehen, wie es im Memorandum der Kommission über lebenslanges Lernen vom Oktober 2000 umrissen, in der Mitteilung „Einen europäischen Raum des Lebenslangen Lernens schaffen“ (November 2001) präzisiert und in der „Entschließung des Rates zum lebenslangen Lernen“ im Juni 2002 weiterführend operationalisiert wurde (vgl. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2000, EUROPÄISCHE KOMMISSION 2001, RAT DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION 2002).

Mit Veröffentlichung vom 05. September 2006 empfiehlt die EU-Kommission dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament die Einrichtung eines europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) (vgl. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2006b). Nach dem Abschluss der Konsultationsphase unterzeichneten das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union am 23. April 2008 die Empfehlung zur Einrichtung des Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen. Mit diesem Qualifikationsrahmen sollen nun gemeinsame Bezugsebenen definiert werden, über die eine schlüssige Hierarchie für die grenzübergreifende Einordnung von Qualifikationen aller Bildungsbereiche möglich wäre. Im Mittelpunkt des EQR stehen acht Referenzniveaus, die, basierend auf wie auch immer produzierten Lernergebnissen (learning outcomes), konkretisiert werden. Die Niveaus 6 bis 8 des EQR orientieren sich an den Bologna-Vorgaben der Hochschulen („Dublin Descriptors“); so soll die Durchlässigkeit zwischen Berufsbildung und Hochschulbildung ermöglicht werden (vgl. EUROPÄISCHES PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION 2008). Auch die Systeme der allgemeinen und der beruflichen Bildung werden nun ganzheitlich gesehen. Es steht außer Frage, dass dies zu konkreten Veränderungen der betroffenen nationalen Berufsbildungssysteme führen wird.

Zentral ist diesem Ansatz, die learning outcomes nicht mehr in der Gestalt von Abschlüssen, sondern als erreichte Kompetenzen zu messen. Entsprechend bietet sich nun die Möglichkeit, beruflich erworbene Kompetenzen bzw. Lernergebnisse zu bewerten und anzurechnen. Es ist daher wahrscheinlich, dass im traditionell abschlussorientierten deutschen System beruflicher Bildung zukünftig Bildungsangebote abschlussneutral definiert und dokumentiert sowie Lernergebnisse qualifikations- und bildungsbereichsübergreifend verrechenbar gestaltet werden.

Wie MÜNK (2008, 286 f.) feststellt, bildet der EQR nicht nur einen Rahmen für die jeweiligen nationalen Qualifikationen; er ist vielmehr auch ein „Meta-Rahmen“, der alle wesentlichen Ziele der Europäischen Bildungspolitik umfasst. Dazu zählt insbesondere die Förderung von Durchlässigkeit im Kontext des lebenslangen Lernens. Zudem impliziert der EQR zumindest eine moderate modulare curriculare Struktur der beruflichen Bildungsgänge. Dies ermöglicht den Einbezug non-formalen Lernens sowie die Etablierung eines Modells zur Definition von Standards und entsprechenden Instrumenten der Qualitätssicherung in der Berufsbildung.

Der EQR integriert kompatible nationale Qualifikationsrahmen (NQR), welche in der Mehrzahl der europäischen Staaten noch zu entwickeln sind. Ihr wesentliches Merkmal ist, dass sie alle formal anerkannten Abschlüsse eines Staates zueinander in Beziehung setzen. Wie sich die unterschiedlichen Abschlüsse zueinander verhalten, bleibt nationalen bzw. sektoralen Instanzen vorbehalten. Zum einen stellt dies eine Chance dar, die bisher als unangemessen angesehene Einordnung von Abschlüssen der Berufsausbildung, insbesondere der Abschlüsse des dualen Systems, zu korrigieren. Zum anderen bietet der NQR bei Neuordnungsverfahren die Möglichkeit, Abschlüsse des dualen Systems auf unterschiedlichen bzw. auch höheren Qualifikationsniveaus als bislang einzuordnen. Der NQR besitzt nach europäischer Lesart die Funktion, den NQR mit dem EQR abzustimmen, d. h. die „Übersetzungsarbeit“ in das nationale Bildungssystem zu gewährleisten. Weiter empfiehlt die EU für die Einführung der NQR, die Qualifikationsniveaus an nationalen Erfordernissen zu orientieren. Dabei wird es allerdings problematisch sein, die Balance zwischen der im EQR vorgesehenen Orientierung an kontextfreien Lernfortschritten und den im NQR garantierten nationalen Besonderheiten (grundsätzliche Systemeigenschaften) zu halten (vgl. HANF/REIN 2007).

Ein Konsens der „nationalen, relevanten Akteure“ ist insofern erkennbar, als dass die zentralen bildungspolitischen Entscheidungsträger ihre Mitwirkung an der Arbeit für den EQR und den NQR signalisiert haben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, das Kuratorium der deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung und Bund und Länder haben sich verpflichtet, an dem NQR, dem EQR und dem ECVET mitzuarbeiten. (Vgl. DGB (2005): Stellungnahme des DGB zum Konsultationsdokument: „Der Europäische Qualifikationsrahmen – Ein Transparenzinstrument zur Förderung von Mobilität und Durchlässigkeit“. Berlin. 6. Dezember 2005. KURATORIUM DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR BERUFSBILDUNG (2005): Berufliche Bildung für Europa. Europäischer Qualifikationsrahmen (EQR) und Leistungspunktesystem (ECVET). Bonn. HAUPTAUSSCHUSS DES BiBB (2006): Stellungnahme vom 23. März 2006 zum Entwurf des Berufsbildungsberichtes 2006 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Bonn/Berlin 23. März 2006. ) Gemäß einer Pressemitteilung des BMBF vom 26. Januar 2007 haben sich Bund und Länder auf die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines Deutschen Qualifikationsrahmens verpflichtet. Die Arbeitsgruppe ist bei der KMK angesiedelt und arbeitet „in Abstimmung mit relevanten Akteuren aus dem gesamten Bildungsbereich und der Wirtschaft“ (BMBF 2007). Bislang liegen seitens der DQR-Arbeitsgruppen verschiedene Diskussionsvorschläge, jedoch noch keine verbindlichen Lösungen vor.

Mit dem European Credit System for Vocational Education and Training (ECVET) soll das Ziel, in verschiedensten Bildungsbereichen oder Qualifikationssystemen erworbene Kompetenzen vergleichbar, übertragbar und verrechenbar zu machen, operationalisiert werden. Das ECVET bildet die Brücke zu aussagefähigen Niveaus der einzelnen Qualifikationen bzw. Lerneinheiten. Der Europäischen Kommission zufolge soll es die Übertragung und Akkumulierung der Lernergebnisse erleichtern, indem Qualifikationen über Lerneinheiten (Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen) beschrieben und diesen Leistungspunkte zugeordnet werden (vgl. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2008, 2006 a). Das ECVET für die Berufsbildung ist in Analogie zum ECTS (European Credit Transfer System), das im Hochschulbereich angewendet wird, zu betrachten. Beide Leistungspunktesysteme sind an den EQR gekoppelt und sollen der Förderung von lebenslangem Lernen dienen. Die Bestrebungen der europäischen Berufsbildungspolitik, wie die Anrechnung von Lernleistungen auf weiterführende Bildungsgänge und die Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung, entsprechen auch nationalen Prioritäten (Vgl. Koalitionsvereinbarung der CDU/CSU und SPD: „Wir wollen das Bildungssystem durchlässiger machen. Die Zulassung zu Fachhochschulen und Universitäten auf der Grundlage einer erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung soll im Hochschulrecht grundsätzlich geöffnet werden. Aus- und Weiterbildung sollen umfassend und systematisch miteinander verzahnt werden.“ (Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin 11.11.2005). ); wenngleich die föderalistischen Strukturen eine Umsetzung der Ziele erschweren.

Mit der Etablierung von Leistungspunktesystemen werden vielfältige Ziele verfolgt (vgl. LE MOUILLOUR 2005):

•  der Transfer der Lernergebnisse innerhalb und außerhalb der Bildungssysteme,

•  die Akkumulation und gegenseitige Anerkennung von Lernergebnissen bzw. Qualifikationsteilen bis zum Erwerb von Vollqualifikationen;

•  die Kooperation zwischen Berufsbildungsanbietern auf nationaler und internationaler Ebene,

•  die Transparenz von Lernprozessen und Lernergebnissen,

•  die Flexibilisierung von Lernzeiten, Lerninhalten und Lernprogrammen

•  sowie die Vereinfachung von Zertifizierungs- und Anerkennungsverfahren.

Für die Übertragung bzw. Anrechnung der Lernergebnisse werden ferner so genannte Partnerschaftsabkommen zwischen den „entsendenden“ und „aufnehmenden“ Bildungseinrichtungen empfohlen, um u. a. die Dauerhaftigkeit des Instruments, die wirksame Übertragung der Lernergebnisse und nicht zuletzt eine gemeinsame Vertrauensbasis zu gewährleisten. Solche Abkommen würden beispielsweise die Zuordnungen zwischen den Qualifikationen (Einheiten und Leistungspunkte), die Übertragung und die Validierung der Lernergebnisse sowie qualitätssichernde Maßnahmen umfassen (vgl. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2008).

Gleichwohl kollidieren die o. g. Ziele bzw. Funktionen des EQR wie die Förderung von Durchlässigkeit und Qualitätssicherung partiell miteinander. Die Möglichkeit, lebenslang zu lernen, erfordert ein Bildungssystem, das flexible Zu- und Übergänge bietet. Dem steht zum einen die Orientierung an klaren Standards und die angestrebte Qualitätssicherung sowie auch das Ziel der Bildungseinrichtungen an inhaltlich und zielgruppenspezifisch eindeutig unterscheidbaren Bildungsangeboten gegenüber (vgl. WEISS 2006, 29). Dieser Zielkonflikt kann jedoch durch die Herstellung von Transparenz und die Aneignung von Kenntnissen über die benachbarten Bildungsbereiche gemildert werden. In diesem Kontext kommen der Dokumentation der erworbenen Lernergebnisse und den Partnerschaftsabkommen hohe Bedeutungen zu.

Die Darstellung des ECVET-Leistungspunktesystems und die mit einer Einführung verbundenen Veränderungen der Berufsbildung machen deutlich, warum dieses Transparenzinstrument in der deutschen Diskussion heftiger umstritten ist als bisherige Standardisierungsbemühungen der EU. Die Aufsplittung von Gesamtqualifikationen in zertifizierbare Teilqualifikationen stellt zunächst eine Gefahr für einen der Eckpfeiler des dualen Systems dar: Das Berufsprinzip, das gesetzlich und auch ordnungspolitisch als übergeordnetes Ziel beruflicher (Aus-) Bildung verankert ist. Aber auch unter anderen Gesichtspunkten scheint das deutsche duale System wenig kompatibel zur hier dargestellten Philosophie des EQR und ECVET: Die Integration von Subsystemen der Berufsbildung (eine horizontale und vertikale Durchlässigkeit dualer Berufsausbildungen zur Hochschule und zu anderen Bildungsgängen oder systemische Übergänge von Aus- und Weiterbildung), Bewertungsstandards für non-formal und informell erworbene Kompetenzen, Differenzierungen in den Zugangsvoraussetzungen und Berufsabschlüssen sind dem dualen System fremd (vgl. FROMMBERGER 2006, 116 ff.; SEVERING 2006, 23 f.). Insgesamt werfen die Ziele und Funktionen des EQR und ECVET für den besonders komplexen Bereich der beruflichen Bildung unterschiedlichste System-, Verwertungs- und Anerkennungsfragen auf. Letztlich wird aber die erfolgreiche Einbettung des jeweiligen Subsystems ins Gesamtsystem von beruflicher und allgemeiner Bildung verantwortlich dafür sein, ob und inwieweit die Subsysteme miteinander kompatibel sind, spezifische Karrierewege eröffnen oder Ausschließungscharakter besitzen. In diesem Zusammenhang kommt der Förderung von Durchlässigkeit eine besondere Rolle zu.

Die bisherigen Lösungsansätze durch die Novelle des Berufsbildungsgesetzes von 2005 zur Erhöhung der Durchlässigkeit greifen für die hier skizzierten europäischen Herausforderungen zu kurz. Eine entscheidende Aufgabe ist es daher, mögliche Anrechnungspotenziale an den Schnittstellen rund um das duale System zu identifizieren und zu erproben. Für die Schnittstelle zwischen Berufsvorbereitung und dualem System hat dieses Vorhaben eine elementare Bedeutung, da die stetige Expansion des „Übergangssystems“ die Gefahr einer strukturellen Verfestigung birgt; ein Indiz dafür ist auch die steigende Zahl von Altbewerbern. Für viele Maßnahmen im Übergangssystem, die in den letzten Jahren expandiert sind, kann eine berufliche Integrationsleistung nicht unterstellt werden. An der Schnittstelle vollzeitschulischer und dualer Berufsausbildung bietet sich mit der Entwicklung des Leistungspunktesystems nun die Chance, das historisch überlieferte Defizit der mangelnden Abstimmung zwischen den beiden berufsqualifizierenden Bildungswegen zu überwinden.

Die besondere Herausforderung bei der Schaffung durchlässiger Strukturen mit Hilfe von Leistungspunkten für das Berufsbildungssystem in Deutschland liegt darin, dass es sich hier um ein sehr bewährtes System handelt, in welchem Kompetenzen, Einstellungen und Abschlüsse erworben werden, die mit einer ausgesprochen hohen (und im internationalen Vergleich kaum erreichten) Anerkennung auf dem Arbeitsmarkt einhergehen. Die Abschlüsse der Facharbeiter, Gesellen und Fachangestellten besitzen einen starken Gebrauchs- und Tauschwert, es handelt sich traditionell um eine „harte Währung“ im Beschäftigungssystem, die zum Teil konkurrenzfähig gegenüber akademischen Abschlüssen ist. Ein wesentlicher Grund für diese Stärke liegt in dem traditionell entwickelten und von den beteiligten Akteuren akzeptierten ganzheitlichen Ausbildungsberufskonzept, in welchem die unmittelbaren betrieblichen Arbeits- und Lernprozesse mit funktions- und betriebsübergreifenden Ausbildungsanteilen verknüpft werden, um Praxis und Theorie in der Berufsbildung aufeinander zu beziehen. Im Rahmen der Veränderung und notwendigen Differenzierung der bewährten Strukturen und Prinzipien ist also in besonderer Weise darauf zu achten, diese starken Alleinstellungsmerkmale des deutschen Berufsbildungssystems nicht zu verlieren. Durchlässige Strukturen zwischen den verschiedenen Angeboten der Berufsbildung sind daher mit dem Erhalt des Ausbildungsberufsprinzips zu verknüpfen. Dies kann nur durch zuvor erprobte und schließlich durchdachte Strukturentscheidungen sowie auf der Basis der Akzeptanz der Veränderungen gelingen.

3. Berufsbildungstheoretische Anknüpfungspunkte

Das Hauptziel der europäischen Bildungspolitik, die Förderung der Mobilität der Lernenden und Arbeitenden zwischen den Bildungs- und Beschäftigungssystemen in Deutschland und Europa, kann nur erreicht werden, wenn eine entsprechende Modernisierung der beruflichen Bildung erfolgt. Aber auch die weiteren Ziele, die Erhöhung der Attraktivität der beruflichen Bildung und der Chancengleichheit sowie die Förderung des Lebenslangen Lernens sind mit diesem Modernisierungsprozess auf das Engste verbunden. Leistungspunktesysteme, wie das European Credit Transfer System für die Hochschulen, gelten in der aktuellen nationalen und europäischen Debatte um die Modernisierung des Bildungswesens als adäquates Instrument zur Erreichung der o. g. Ziele. Das vielleicht stärkste Hindernis auf dem Weg zur Verwirklichung dieser Ziele besteht in der aktuellen Situation darin, dass Absolventen und Absolventinnen allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung Kompetenzen und Abschlüsse erwerben, die nicht aufeinander bezogen sind und wegen des Fehlens abgestimmter Kriterien kaum valide miteinander verglichen werden können. Es mangelt an einer Art gemeinsamer deutscher und europäischer „Währung“, die es erlauben würde, erworbene individuelle Kompetenzen und Leistungen aus dem Bildungs- und Berufsbildungssystem transparent auszuweisen und mit akzeptierten Anerkennungen in alternativen, weiterführenden in-, aber auch ausländischen Teilsystemen zu verknüpfen.

Der EQR bzw. der DQR als Referenzrahmen für die allgemeine und berufliche Bildung haben die Aufgabe, diese „Währung“ anzubieten. Im EQR werden Lernergebnisse mittels der Komponenten Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen beschrieben. Als Deskriptoren für die Komponente Kompetenz werden im Europäischen Qualifikationsrahmen der Grad an Selbstständigkeit und die Übernahme von Verantwortung herangezogen.

Die Beschreibung des Elementes Kompetenzen gestaltet sich alleine aufgrund verschiedener Konnotationen und unterschiedlicher Begriffsauffassungen deutlich problematischer als die der beiden anderen Elemente Kenntnisse und Fertigkeiten. Zudem greifen die beiden europäischen Kompetenzindikatoren nach deutschem Verständnis eindeutig zu kurz, um das Konstrukt der beruflichen Handlungskompetenz abzubilden. Im deutschen Diskurs wird im Gegensatz zum englischen oder europäischen Ansatz, der auf die Zertifizierung einer abgeschlossenen Teilqualifikation zielt, der Kompetenzbegriff an das Individuum gekoppelt. Mit diesem werden individuelle Dispositionsspielräume beschrieben. Zu dieser Begriffsproblematik kommt hinzu, dass in den Empfehlungen der Europäischen Organe weder auf vertikaler noch auf horizontaler Ebene trennscharfe Definitionen und Abgrenzungen der einzelnen Komponenten von Lerneinheiten (Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen) gegeben sind (vgl. HANF/ REIN 2007).

Für die Abbildung des Begriffes Kompetenzen muss ein bestimmtes Begriffsverständnis bzw. sogar ein konkretes Kompetenzmodell hinterlegt werden. Bei der Diskussion verschiedener Kompetenzmodelle spielen vor allem auch die Besonderheiten des deutschen Berufsbildungssystems und die Forderungen der Stakeholder eine wichtige Rolle: So hat sich in der Berufsausbildung insbesondere das Berufsprinzip über lange Jahre bewährt. Dieses zu erhalten, ist sowohl erklärte Absicht der Bundesregierung als auch Ziel der Sozialpartner. Vor allem die Gewerkschaftsseite betrachtet die angestrebte Outcome-Orientierung sehr kritisch, da sie eine funktionale Anpassung an rein betriebliche Bedürfnisse und eine Unterwanderung des Berufsprinzips befürchtet (vgl. DREXEL 2005). Hier ist besonders auf die Gefahr einer zu starken Ausrichtung auf die ökonomische Verwertbarkeit beruflicher Bildung unter dem Schlagwort Employability zu achten. Berufliche Handlungskompetenz bzw. Handlungsfähigkeit beinhaltet den Aspekt der Beschäftigungsfähigkeit, wohingegen die bloße Orientierung an Beschäftigungsfähigkeit die Beruflichkeit im deutschen Sinne ausgrenzt. Weiterhin sprechen sich die Sozialpartner z. B. für die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung aus. Dies bedeutet u. a., dass die Erreichung aller Qualifikationsstufen über verschiedene Bildungswege möglich ist, was eine eingrenzende Darstellung auf bestimmte Lernprozesse verbietet (vgl. KREMER, H. 2007).

Unter dem Vorzeichen, das Prinzip der beruflichen Handlungskompetenz beizubehalten, muss die Aufgabe gelöst werden, die Auffassung, dass „berufliche Handlungskompetenz mehr ist als die arbeitsprozessorientierte Beschreibung des beruflichen Handelns einer kompetenten Fachkraft“ (KREMER, M. 2007, 4), stringent in Curricula abzubilden und zu dokumentieren. Nach diesem Verständnis sind auch die nicht unmittelbar fassbaren Elemente bzw. Bedingungen kompetenten beruflichen Handels (fachliche, methodische, soziale und personale Kompetenzen) sichtbar zu machen.

Nach KLIEME/ HARTIG (2007, 14 f.) besitzt diese Auffassung beruflicher Handlungskompetenz allerdings einen normativen Charakter, da das dargestellte Berufsverständnis mit bestimmten Vorstellungen von Identitäts- und Wertbildung verbunden ist, was zu einem „Bedeutungsüberhang“ führt, deren Anspruch die bisherigen Kompetenzmessverfahren nicht gerecht werden. Auch REINISCH (2006, 268) spricht sich dafür aus, den Kompetenzbegriff von normativen Implikationen freizuhalten und nur zu verwenden, wenn es um die Erfassung des tatsächlichen Outcome von Lernprozessen geht. Davon grenzt er den Begriff Bildung als „gewünschte Ziele von Lernprozessen“ ab. Zudem sieht er ein Problem im didaktisch-curricularen Kontext: Das Kompetenzkonzept ist inhaltlich weiter zu präzisieren, da die Unterscheidung nach Fach-, Sozial- und Selbstkompetenz für curriculare Konstruktionen nicht „weit trägt“.

Im Zusammenhang mit der Auswahl von geeigneten Kompetenzmodellen bzw. der Zuordnung und Beschreibung von Kompetenzen ergeben sich für die Projekte der DECVET-Pilotinitiative verschiedenste Fragen hinsichtlich der Bestimmung und Zahl der Dimensionen, der Abgrenzung zwischen den einzelnen Stufen, des (ausgewogenen) Detaillierungsgrads der Beschreibungen und des Umgangs mit schwer oder nicht messbaren Kompetenzdomänen. Darüber hinaus können sich zudem schnittstellenspezifisch und in Abhängigkeit der zu Grunde liegenden Qualifikation oder Lerneinheit unterschiedlichen Gewichtungen für die einzelnen Kompetenzdimensionen ergeben.

Die Problematik, berufliche Handlungskompetenz abzubilden, zeigt sich insbesondere in den neuen Herausforderungen für die Curriculumentwicklung. Wie bereits dargestellt, sollen mit den Transparenzinstrumenten EQR und ECVET die Lernergebnisse (learning outcomes) nicht mehr in der Gestalt von Abschlüssen, sondern als erreichte Kompetenzen beschrieben, gemessen und bewertet werden, um so die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit zu ermöglichen. Im deutschen Bildungssystem überwiegt bislang hingegen der Ansatz, Ausbildungsbestandteile anhand zu vermittelnder Inhalte zu beschreiben. Dies entspricht einer eher input-orientierten Sichtweise. Bei der Beschreibung von Lerneinheiten im Sinne des ECVET-Vorschlages stehen die Performanzebene sowie die Formulierung erworbener beruflicher Kompetenzen im Vordergrund. Darüber hinaus muss im Sinne der geforderten Lernortunabhängigkeit die Trennung nach schulischen und betrieblichen Einheiten überwunden werden.

Wie STRAKA (2004) und BREUER (2006) feststellen, sind die Ordnungsmittel beruflicher Erstausbildung trotz des durch die KMK eingeleiteten Paradigmenwechsels in der Curriculumentwicklung vorrangig inputorientiert und weisen nur ein implizites Kompetenzverständnis im Sinne einer Outcome-Orientierung auf. Zudem sind sie logisch nicht konsistent und messbar beschrieben (vgl. STRAKA 2004) und verfolgen im Ausbildungsrahmenplan und im Rahmenlehrplan unterschiedliche Vorstellungen von Handlungskompetenz (vgl. BREUER 2006). Die Entwicklung eines Leistungspunktesystems beinhaltet somit auch eine Revision der inhaltlichen Grundlagen der Berufsausbildung; d. h. die Überprüfung der Aus- und Fortbildungsordnungen sowie auch der Prüfungsordnungen bzw. bestehender Prüfungsmodalitäten unter der Perspektive der Outcome-Orientierung.

Die Schwierigkeit der Umsteuerung von traditionell input-orientierten hin zu stärker outcome-orientierten Curricula ist auch bei einem Blick auf das Hochschulpunktesystem ECTS erkennbar, bei dem die gewünschte Outcomeorientierung in vielen Beispielen als nicht eindeutig fixiert angesehen werden kann. Die Modulbeschreibungen zahlreicher Hochschulen spiegeln in der Regel workload-basierte Einheiten und in den meisten Fällen inputorientierte Ansätze wieder. Im Hinblick auf die gewünschte Kompatibilität der beiden Systeme ECVET und ECTS muss dieser Aspekt kritisiert werden.

Ein weiteres Problem, das sich durch die dekontextualisierten Kompetenzbeschreibungen ergibt, ist das Risiko der reduzierten Aussagekraft von Qualifikationen. Die bloße Beschreibung von Lernergebnissen ohne Bezug zu Inhalten, Bildungsgängen und -strukturen erleichtert zwar die quantitative Erfassung der Lernergebnisse für die Anerkennung, erschwert aber die direkte Gegenüberstellung der Qualifikationen unter qualitativen Gesichtspunkten. Daher birgt die pauschale Forderung nach Anerkennung non-formalen und informellen Lernens das Risiko, dass Akkreditierungen zu großzügig eingesetzt werden und so zu Vertrauensverlust und unrealistischer Kompetenzdarstellung führen. Die korrekte Erfassung und Bewertung informell erworbener Kompetenzen stellt mitunter eine der anspruchsvollsten Aufgaben in der Umsetzung des EQR und ECVET dar (vgl. BOHLINGER 2006, 12).

Ein zusätzlicher wichtiger Aspekt liegt in der Bildung von Kompetenzbündeln bzw. Lerneinheiten. Dies impliziert die Untergliederung von (Gesamt)Qualifikationen in Teilqualifikationen. Wie bereits angesprochen, wird mit diesem Vorgehen einerseits die Gefahr einer möglichen Fragmentierung von Berufen gesehen und andererseits das Entstehen so genannter „Schmalspurberufe“ antizipiert (vgl. DREXEL 2005). Wie Erfahrungen aus dem europäischen Ausland zeigen, kann diesen Befürchtungen aber durch entsprechende Regelungen der verantwortlichen Akteure, z. B. tariflich vereinbarten Attraktivitätsgefällen zwischen Gesamt- und Teilqualifikationen, entgegen gewirkt werden.

Die Bildung der Lerneinheiten liegt in der nationalen bzw. sektoralen Verantwortung. Nach den Grundsätzen, die für die Einrichtung des ECVET formuliert wurden, gilt es, bei der Bestimmung der Anzahl bzw. des Umfangs von Lerneinheiten die Gesamtkohärenz und Integrität jeder Qualifikation zu erhalten. Die Anzahl und der Umfang der Lerneinheiten hängen unmittelbar von Qualifikationsmerkmalen wie Aufgabenkomplexität, Beherrschungsgrad der Tätigkeiten und der dafür notwendigen Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen ab. Eine übermäßige Fragmentierung der zu validierenden und anzuerkennenden Lernergebnisse soll hierbei verhindert werden (vgl. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2008, 7 und 9). BMBF und KMK (2007, 8 f.) schließen sich dieser Empfehlungen an. Sie fordern zudem, die Einheiten nicht zu klein zu gestalten und eine angemessene Mindestpunktzahl festzulegen, um eine Fragmentierung zu vermeiden.

4. Arbeits- und Forschungsperspektiven

Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, stellt die Entwicklung eines Leistungspunktesystems für die berufliche Bildung ein hochkomplexes Vorhaben dar, da insbesondere dieser Bildungsbereich sowohl auf institutioneller und struktureller als auch auf curricularer Ebene durch ein hohes Maß an Heterogenität gekennzeichnet ist. Daher sieht die wissenschaftliche Begleitung der DECVET-Pilotinitiative ihre zentrale inhaltliche Aufgabe darin, die Bedingungen herauszuarbeiten, die notwendig sind, um die Verbindung der oben beschriebenen Stärken der traditionellen Berufsbildung mit alternativen Strukturkonzepten zu gewährleisten. Die Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitung sind dabei auf unterschiedlichen Ebenen des Gesamtvorhabens mit dem Ziel angebunden, die Ergebnisse der Pilotprojekte zu einem kohärenten Gesamtsystems zusammenzuführen und unter der Berücksichtigung bzw. Weiterentwicklung vorhandener Transparenzinstrumente Transfermöglichkeiten für die Umsetzung in eine breite Praxis zu identifizieren. So kann ein Beitrag geleistet werden, grundlegende Fragen zur Modernisierung der Berufsbildung in Deutschland zu beantworten, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von Leistungspunktesystemen und den notwendigen Rahmenbedingungen stehen. Es ist u. a. zu fragen, inwieweit…

•  ein Leistungspunktesystem unter Wahrung des Berufsprinzips zur Flexibilisierung der Aus- und Weiterbildungsprozesse an den verschiedenen Lernorten beitragen kann. Welche qualitativen Vorteile ergeben sich? Können auf dieser Basis lokale oder regionale Verbünde zur Verbesserung der Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt gefördert werden?

•  ein Leistungspunktesystem unter Wahrung des Berufsprinzips zur Anerkennung der Aus- und Weiterbildungsprozesse auf unterschiedlichen Niveaustufen in der Berufsbildung beitragen kann.

•  ein Leistungspunktesystem die nachteiligen, selektierenden Effekte eines stark marktgesteuerten Ausbildungssystems kompensieren kann, indem Anschlussmöglichkeiten für benachteiligte junge Erwachsene strukturell ermöglicht werden.

•  ein Leistungspunktesystem zur angemessenen Differenzierung der Angebote in der Berufsbildung beitragen kann, um die Beziehung zwischen den individuellen Lernvoraussetzungen einerseits und den heterogenen Anforderungen andererseits zu verbessern.

•  mit einem Leistungspunktesystem vermieden werden kann, dass Kurzzeitausbildungen an die Stelle von vollständigen berufsqualifizierenden Abschlüssen treten.

•  in einem Leistungspunktesystem die Transparenz der identifizierten und zertifizierten Teilleistungen zu gewährleisten ist, sowohl für die Anbieter als auch für Nachfrager im System der Berufsbildung.

•  in einem Leistungspunktesystem die Lernprozesse zum Zwecke der Ausbildung einer ganzheitlichen beruflichen Handlungskompetenz gewährleistet werden können. Wie kann die Dominanz eines „heimlichen Lehrplans“ (der Prüfungen) für die Ausbildungsprozesse vermieden werden?

•  sich ein Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung auf die Entwicklung beruflicher Identität auswirkt.

Die Entwicklung eines Leistungspunktesystems für die berufliche Bildung bietet die Chance, strukturelle Schwächen des deutschen Bildungssystems, wie die unzureichende Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Subsystemen und den Mangel an etablierten Verfahren für die Anerkennung non-formalen und informellen Lernens, auszugleichen und zur Erhöhung individueller Bildungschancen beizutragen. Der eingeschlagene Weg, mittels Pilotprojekten die Chancen und Risiken der Verbindung von Leistungspunktesystemen mit dem Konzept der Beruflichkeit auszuloten, ist ein Erfolg versprechender Ansatz, um aus der gegenwärtig konfliktären zu einer kooperativen Konstellation in der Modernisierungsdebatte zu gelangen. Mit den Pilotprojekten können exemplarische Erfahrungen für die Übertragung von Lernergebnissen an den markanten Schnittstellen im deutschen System der Berufsbildung gewonnen werden. Die modellartige Aufbereitung dieser Erfahrungen in Verbindung mit den Ergebnissen weiterer Pilotprojekte kann als Grundlage für die Weiterentwicklung der Berufsbildung in Deutschland dienen.

 

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