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 bwp@ Ausgabe Nr. 8 | Juli 2005
Prüfungen und Standards in der beruflichen Bildung

Situierte Prüfungsaufgaben - Die Funktion von Situationsaufgaben in Abschlussprüfungen des Dualen Systems der Berufsausbildung


 

Erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten am 12. März 2005 auf dem Ver.di - Kongress für ErstellerInnen von Prüfungsaufgaben in Walsrode

1.  Zum Konzept der Beruflichen Handlungskompetenz

Die Berufsausbildung erfolgt in Deutschland im Zusammenwirken von Betrieb und Berufsschule (Duales System) und zielt auf die Fähigkeit zur Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit. Diese schließt – gemäß den neueren Ausbildungsordnungen – insbesondere selbständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren mit ein. Diese Befähigung ist auch in den Prüfungen nachzuweisen. Sie wird seit der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe 1987 zunehmend als Handlungskompetenz umschrieben.

Handlungskompetenz ist Ausdruck eines modernen ganzheitlichen, flexiblen und individualisierten sowie zukunftsoffenen Zielkonzeptes der Berufsausbildung, das sowohl den veränderten Anforderungen des Beschäftigungssystems wie den Gestaltungsbedürfnissen der Menschen Rechnung tragen soll.

Der Bedeutung dieser Zielsetzung entsprechend wurde der Begriff der „beruflichen Handlungsfähigkeit“ als zentraler Ziel- und Gegenstandsbegriff in das neue Berufsbildungsgesetz aufgenommen (BBiG 2005, §1; §38). Damit hat das neue Berufsbildungsgesetz zugleich jene innovativen Entwicklungen in der Berufsausbildung wie auch in der Prüfungspraxis nachvollzogen und bestätigt, die auf eine starke Annäherung von Ausbildungspraxis und Prüfungspraxis abzielen ( Frank 2005, 28).

Das neue Berufsbildungsgesetz verweist (in § 38) hinsichtlich der Erfassung von Handlungskompetenz bzw. Handlungsfähigkeit auf die Ordnungsmittel der Ausbildung, zu denen die Rahmenpläne mit ihrer differenzierten Darlegung des Handlungskompetenz-Begriffes gehören. Dem Konzept der lernfeldbezogenen Rahmenpläne entsprechend (KMK 1996; 1999) umfasst die Handlungskompetenz Fach- und Methodenkompetenz, personale Selbstkompetenz und Sozialkompetenz.

In pädagogischer Sicht zielt der Begriff der Kompetenz auf menschliche Fähigkeiten, die dem situationsgerechten Handeln zugrunde liegen und dieses erst ermöglichen. So wird mit beruflicher Handlungskompetenz das reife Potenzial beruflicher Fähigkeiten bezeichnet, das es dem Menschen erlaubt, den Leistungsanforderungen in konkreten beruflichen Situationen entsprechend zu handeln . Im Gefolge der PISA-Studie findet sich diese Betonung der Bewältigung von Situationen und Aufgaben z. B. auch in der Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ ( Klieme et. al. 2003, 58 u. 60).

Beim Umgang mit dem Begriff der Handlungskompetenz ist also zu unterscheiden zwischen der Kompetenz als dem internen Potenzial an Wissen und Können, auf dessen Grundlage und im Zusammenwirken mit motivationalen Kräften das erforderliche (externe) Verhalten jeweils aktuell situations- und anforderungsgerecht generiert (erzeugt) wird.

So z. B. wenn bei einer beruflichen Problemstellung alte und neue Informationen interpretiert und situations- und lösungsgerecht transformiert werden.(Vgl. Reetz 1999). Die vorgelegte Lösung wäre dann ein Indiz für die Kompetenz des Individuums in diesem Bereich. Das bedeutet also, dass wir bei der Erfassung von Handlungs kompetenz auf das zurückgreifen müssen, was das Individuum von seinem Wissen und Können als Verhalten (aktuelle Performanz ) äußert.

Gleichwohl ist Handlungskompetenz ein Zielkonzept, das seine Dimensionen Sach-, Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenz ganzheitlich vereinigt. Deshalb widerspricht es dem kompetenztheoretischen Ansatz, das ganzheitliche Zielkonzept der Handlungskompetenz in die Begriffe „Handlung“ und „Kompetenz“ zu trennen und mit separaten Begründungen eine einseitig reduzierte Handlungsorientierung beruflicher Prüfungen legitimieren zu wollen.

Diese Tendenz findet sich in den theoretischen Begründungen, die prüfungsrelevante Forschungs- und Pilotprojekte ( wie z.B. KoPrA ) dem Konzept der Handlungskompetenz angedeihen lassen. Hier werden Begründungen angeführt, die das einigende Zielkonzept der Handlungskompetenz so interpretieren, dass daraus zwei Zielaspekte werden, nämlich einer der „Handlungsorientierung“ und einer der „Kompetenzorientierung“. Demgemäß wird die Option der Handlungsorientierung als „ handlungsanalytischer Ansatz “ und die der Kompetenzorientierung als „ kompetenzanalytischer Ansatz “ bezeichnet und mit jeweils unterschiedlichen theoretischen Begründungen versehen ( Blum et.al. 1995; Hensgen/Blum/Krechting 1997; Hensgen/Korswind et al. 2000, 33 ff.).

Zur Begründung der Kompetenzorientierung wird auf „Schlüsselqualifikationen“ verwiesen. Zur Begründung der Handlungsorientierung wird die psychologische Handlungstheorie von Volpert (1983) und Hacker (1980) sowie der als „Handlungsschema-Theorie“ bezeichnete Teilaspekt von Aebli s kognitiver Theorie des problemlösenden „Denken(s) als Ordnen des Tuns“ ( Hensgen/Korswind et. al. 37 ff.).

Damit wird das Verfügen über Handlungsabläufe und Handlungsschemata zum Hauptbestandteil von Handlungskompetenz gemacht. Auf diese Weise wird aber die in der Prüfungspraxis wie auch in Modellversuchen erkennbare Tendenz verstärkt, mit den „Handlungen“ relativ leicht überschaubare Praxis zu imitieren und sie minutiös in kleine und kleinste Handlungselemente zu zergliedern bzw. additiv zu vervollständigen.

Dabei wird dann dem reduzierten „handlungsorientierten Ansatz“ die eindeutige Priorität eingeräumt. ( Hensgen/Blum/Krechting 1997, 138 f.)

Dazu auch folgende „Definition: „Als Handlungskompetenz bezeichnet man nach diesem Ansatz die Anzahl und die Güte der allgemeinen beruflichen Handlungsmuster (Handlungsschemata), die eine Person auf Abruf zur Verfügung hat und flexibel an die jeweiligen konkreten Erfordernisse anpassen kann“ (KoPrA-Leitfaden).

Der sogenannte kompetenzanalytische Ansatz unterscheidet die „Teilkomponenten“ Fach-. Methoden- und Sozialkompetenz. Dies zeigt, dass diese Zweiteilung allein schon deswegen sinnwidrig ist, weil „Methodenkompetenz“ ja ein umfassender Ausdruck für die Fähigkeiten ist, über Vorgehensweisen des Handelns (z. B. Handlungsschemata) zu verfügen, also für Fähigkeiten, die zuvor als „Handlungsorientierungs-Ansatz“ separiert wurden.

Eine derartige Zweiteilung widerspricht aber vor allem auch dem kompetenztheoretischen Grundgedanken, dass es ja gerade die wissensbasierte Problemlösekompetenz ist, aus der heraus zielgerichtetes Denken und Tun ( Aebli ) – nämlich Handeln – erzeugt wird (vgl. auch Klieme et al. 2001). Das Verfügenkönnen über Handlungswissen in Form von Schemata und Strategien ist integrativer Bestandteil der Handlungskompetenz. Ein dualistisches Nebeneinander führt letztlich dazu, dass der Umgang mit Handlungsschemata zum Hauptbestandteil von Handlungskompetenz in Prüfungen gemacht wird. Das widerspricht wiederum auch den KMK-Lernfeld-Lehrplänen, die ausdrücklich auf die Ganzheitlichkeit von Handlungskompetenz als Fach-, Methodenkompetenz, personale Selbstkompetenz und Sozialkompetenz hinweisen.

2.  Zur Rolle der Situationsaufgabe als (Arbeits-) und Lernaufgabe

Voraussetzung für Erwerb und Entwicklung von Handlungskompetenz ist eine entsprechende berufliche Sozialisation , in der man relevante Erfahrungen machen kann, und eine didaktische Gestaltung der betrieblichen und schulischen Lehr-Lern-Prozesse. Man kann beobachten, dass die drei wesentlichen didaktischen Gestaltungsprinzipien , das Wissenschafts-, das Situations- und das Persönlichkeits- bzw. Bildungs-Prinzip im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wechselnde Bedeutung erlangten. Die Geltung des Bildungsprinzips wurde – vor allem auch aus bildungspolitischen Gründen – in den 1970er Jahren durch das Wissenschaftsprinzip abgelöst. Dem entsprach eine Lernorganisation nach Fächern mit Betonung der begrifflichen Abstraktionshierarchien.

Der berechtigte Anspruch, in beruflichen Lehr- und Lernprozessen dem Wissenschaftsprinzip in didaktisch sinnvoller Weise zu entsprechen, wurde jedoch in der Praxis vielfach nicht erfüllt. Vielmehr folgte man hier vorwiegend einem didaktischen Konzept, das die Wissenschaftsorientierung durch didaktische Begriffs-Reduktion mit punktueller Veranschaulichung einzulösen suchte, wobei das Konzept eines „Lernens auf Vorrat“ maßgebend war. Dies begriffsbezogene Lernen verband sich dann mit einer behavioristischen Lernzielprogrammatik.

Dem entsprachen auch die zu dieser Zeit sich etablierenden „Programmierten Prüfungen“ ( Wölker 1968). Sie folgten oft dem Konzept der maximalen Zerlegung von Wissensbeständen, verbunden mit maximaler quantitativer Messbarkeit, Ausschluss von qualitativen Bewertungen sowie von Einflüssen der Prüfenden auf die Prüfungsgestaltung ( Livia 2000, 2 f.) Damit ergab sich ein unausgewogenes Verhältnis von Wissenschafts- und Situationsorientierung ( Reetz 1976). Im Gegenzug gewannen didaktische Argumente an Bedeutung, die auf die Vernachlässigung der situativen Basis induktiven beruflichen Lernens verwiesen. Diese Vernachlässigung war Ursache für die Entstehung „trägen Wissens“, also der Defizite beim Wissenstransfer und beim Umgang mit Handlungswissen.

Nachdem diese Argumente mit Fortentwicklung und Verbreitung der kognitiven Psychologie und der Handlungstheorie ihre lerntheoretische Fundierung erhalten hatten, gewann dann in den 1980er Jahren ein auf Handlungskompetenz gerichtetes handlungsorientiertes Lernen die didaktische Leitfunktion in der deutschen Berufsbildung . Im Spannungsfeld von Situations- und Wissenschaftsorientierung steht die Situationsaufgabe als Lernaufgabe für den Geltungsanspruch des Situationsprinzips. Die Situationsaufgabe als Lernaufgabe ist in den verschiedensten fachlichen Kontexten die induktive episodische Basis des Wissens- und Kompetenzerwerbs von Anfang an.

Aus heutiger Sicht steht sie hier in der Tradition der Fallstudiendidaktik (vgl. Trilling 2003), in der es darum geht, authentische exemplarische Fälle der beruflichen Praxis als Arbeits- und Lernaufgaben aufzubereiten ( Achtenhagen/Weber 2003). Derart situativ inszenierte Lehr-Lernprozesse zielen auf die Fähigkeit ihrer Absolventen, die beruflichen Situationen, vor die sie gestellt werden aus einer soliden Wissensbasis heraus denkend und handelnd zu bewältigen, d.h. sie sind auf den Erwerb von Handlungskompetenz in Arbeits- und Geschäftsprozessen wie darüber hinaus in den angrenzenden persönlichen, sozialen politischen Situationen gerichtet. Mithin kann der Situationsaufgabe als Arbeits- und Lernaufgabe im Hinblick auf den Erwerb von Handlungskompetenz eine zentrale didaktische Funktion zugeschrieben werden.

3. Zur Rolle der Situationsaufgabe als Prüfungsaufgabe

Wenn berufliche Abschlussprüfungen – wie im Zuge neuer und neugeordneter Berufe verstärkt gefordert wird – eine Gelenkstelle zwischen Berufsausbildung und anschließender erfolgreicher beruflicher Tätigkeit sein sollen, wenn also Prüfungsergebnisse eine gewisse Aussagekraft (prognostische Validität) für Berufstätigkeit haben sollen, dann muss für zweierlei Sorge getragen werden:

•  nämlich erstens , dass in den Lernaufgaben der Ausbildung die Anforderungen der künftigen beruflichen Tätigkeit antizipierend und exemplarisch berücksichtigt sind

•  und zweitens , dass zwischen der Struktur der Lernaufgaben der Ausbildung und der Struktur der Prüfungsaufgaben keine großen Unterschiede bestehen. Und am wenigsten Unterschiede bestehen bei Situationsaufgaben.

These : Ähnlich wie bei der Konstruktion von Lern-Aufgaben konkrete exemplarische Praxisfälle im Hinblick auf die zu erwerbenden Kompetenzen modelliert werden, wird auch im Prozess der Konstruktion von Prüfungsaufgaben auf Praxisfälle mit entsprechender Inhaltsstruktur zurückgegriffen (Vgl. Schott 1985, 163). Wesentliche Voraussetzung für deren inhaltliche Validität ist die Übereinstimmung mit den Kompetenz- und Lernzielvorgaben der jeweiligen Ordnungsmittel / Rahmenlehrpläne (und deren aktuellem Realitätsgehalt). Liegt diese Validität vor – und dafür muss letztlich die Expertise der Konstrukteure bürgen – so liegt es nahe, gleich- oder ähnlich strukturierte Situationsaufgaben sowohl bei Lern- wie bei (Über-) Prüfungsaufgaben heranzuziehen.

Dabei muss natürlich der Unterschied zwischen Kompetenzerwerb und Kompetenz-Prüfung berücksichtigt werden. Beim Kompetenzerwerb sind die Mittel zur Erreichung des Ziels nicht bekannt. Hier sind längerfristige Lernprozesse für den Erwerb der Basis an Begriffs- und Handlungswissen und den handlungsgerechten Umgang mit ihnen erforderlich. Vom Prüfling aber erwartet man, dass er die in den Aufgaben enthaltenen Probleme identifiziert und im Rückgriff auf vorhandenes Begriffs- und Handlungswissen schnell und sicher lösen kann.

Voraussetzung dafür ist die Anknüpfung an erlernte berufliche Praxis, und deshalb sollten Prüfungsaufgaben vorherrschend als praxisbezogene Stituationsaufgaben gestaltet werden und nicht als diagnostisch umgeformtes Surrogat.

Dem entspricht auch eine der Leitideen, die Ende der 1990er Jahre in der berufspädagogischen Prüfungsdidaktik zur Geltung kamen: nämlich der in Prüfungen zu beachtende Grundsatz der Individualisierung.

Kernthese : Individualisierung bedeutet Berücksichtigung der spezifischen Lern- und Arbeits erfahrungen in ihren Betrieben. Gemäß § 1 BBiG (2005) hat Berufsausbildung den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen. Erfahrungen führen zu implizitem Wissen, das man am besten aktivieren und damit auch überprüfbar machen kann, wenn man den Prüfling vor eine Problemsituation stellt, die die spezifischen Bedingungen des Ausbildungsbetriebes berücksichtigt (vgl. Bähr 2005, 21).

Exkurs: Beispiele für Situationsaufgaben in aktuellen Prüfungsformen der Berufsbildung

Prüfungsformen geben Antwort auf die Frage: Wie soll geprüft werden?

Es kann zwischen zwei Prüfungsformen der Berufsbildung unterschieden werden, nämlich

•  Durchführungsformen – auch bezeichnet als Prüfungsverfahren : schriftlich – mündlich praktisch; und

•  Bearbeitungsformen oder Aufgabentypen, traditionellerweise eingeteilt in gebundene und nicht gebundene Aufgaben, besser aber bezeichnet als Aufgaben, die die Auswahl vorgegebener Antworten betreffen oder solchen, bei denen die Antwort/ Lösung selbst zu erstellen ist ( Metzger/Nüesch 2004). Zu diesen gehört auch das hier vertretene Konzept der Situationsaufgabe.

In der neueren didaktischen Diskussion wird anstelle von „Situationsaufgaben“ der Begriff der „situierten Aufgaben“ bzw. Prüfungsaufgaben wohl in Anlehnung an das konstruktivistische Konzept des situierten Lernens verwendet. Das Konzept der Situationsaufgabe findet sich allerdings in aktuellen Aus- und Weiterbildungsverordnungen nicht nur unter dem Titel „Situationsaufgabe“, sondern es verbirgt sich in verschiedenen Prüfungsformen unter verwandten Bezeichnungen. Dagmar Lennartz erkennt hier eine Entwicklung der Aufgabenformen in Richtung „Situationsaufgabe“. Sie sagt dazu: „Festzustellen ist die zunehmende Tendenz, auch in Prüfungen reale berufliche Anforderungssituationen zu etablieren. Es charakterisiert die aktuelle Umbruchsituation, dass sich dieser Philosophiewechsel bei den Prüfungsanforderungen zur Zeit noch in einer Vielzahl von Begriffen ausdrückt“. (2004, 16). Gemeint sind Synonyme für Situationsaufgabe wie Fallbeispiel, Fallstudie usw., wie die folgende Übersicht zeigt:

Tabelle 1:   Neue Prüfungsformen seit 1997

Bei genauer Betrachtung der Liste erweist sich beispielhaft folgendes:

•  Sowohl bei der Projektarbeit wie auch bei der ganzheitlichen Aufgabe für IT-Berufe, wie auch

•  bei der Kreativaufgabe (Mediengestalter) im Rahmen der organisatorischen Abwicklung eines fachpraktischen Medienprojektes, wie auch

•  bei der praktischen Planungs- und Fertigungsaufgabe mit Kundenauftrag beim Elektromechaniker oder aber beim

•  Prüfungsgespräch in Form eines Beratungsgespräches als Rollenspiel bei den Verwaltungsfachangestellten oder beim simulierten Kundengespräch des Versicherungskaufmanns( vgl. Breuer/Höhn 1999, 23; Ropeter 2004, 10)

geht es immer um die gleiche Grundstruktur einer aufgabenbezogenen Handlungssituation: Der Betroffene wird in eine Situation gestellt, die er bewältigen soll. Das heißt, er steht vor einem Problem, das für ihn mehr oder weniger gut lösbar ist, je nachdem, über welches bereichsspezifische Begriffs- und Handlungswissen er verfügt (zum Wissensbegriff vgl. Reetz 2005).

4.  Die Situationsaufgabe als Problemlösungsaufgabe und Indikator für das Kompetenzniveau

Somit entspricht die Grundstruktur der Situationsaufgabe (im weiteren Sinne) in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als

•  schriftliche Klausur

•  praktische Aufgabe oder

•  Projektarbeit im Betrieb usw.

letztlich dem Modell einer problemhaltigen Situation. Im Hinblick auf die Einschätzung der Leistung, die bei der Lösung der Situationsaufgabe erbracht wird, ist nach ihrem Schwierigkeitsgrad zu fragen.

Ein Vorschlag, berufliche Situationen nach dem Schwierigkeitsgrad ihrer Bewältigung zu systematisieren, wurde vom Berufsbildungswerk der Deutschen Versicherungswirtschaft (1998) mit einer Tabelle über „Arten beruflicher Handlungssituationen“ gemacht (hier formal leicht verändert wiedergegeben nach der Darstellung in Breuer/Höhn 1999, 25):

Die letzte Situationsart dieser Systematik kann außerhalb der Betrachtung bleiben, da sie kategorial nicht mit der taxonomischen Idee der ersten vier Situationsarten bzw. -stufen übereinstimmt.

Mithin liegt hier eine 4-stufige Taxonomie vor, die auch der Erkenntnis Rechnung trägt, dass die zu prüfende berufliche Handlungskompetenz auch die Fähigkeit umfasst, unvertraute und neue Situationen zu bewältigen. Ein Gedanke, der im Modellversuch der Versicherungswirtschaft zentrale Berücksichtigung findet ( Breuer/Höhn 1999, 23). Er findet Bestätigung aus der Qualifikationsforschung, die angesichts schneller Wandlungen der Anforderungen im Beschäftigungssystem „neue Schlüsselqualifikationen“ für erforderlich hält, zu denen ein höheres Niveau des prozesshaften Denkens und der Problemlösefähigkeit gehört ( Baethge 2001).

Alltägliche und neuartige Situationsanforderungen in den „Griff“ zu kriegen, erfordert eine gute domänenspezifische Wissensbasis und die Fähigkeit, mit dem relevanten Begriffs- und Handlungswissen situationsgerecht und zielorientiert umzugehen.

Mehr noch als das übliche Ablaufschema der vollständigen Handlung ist dazu die Orientierung an einer Problemlösestrategie wichtig, welche die Barrieren bei der Situationsbewältigung transparent macht

Erforderlich ist mithin der wissensbasierte Umgang mit einer entsprechenden Problemlösungsstrategie .

Bei der Aufgabenerstellung sollte man – in Anlehnung an das Problemlösungsmodell – prüfen,

•  welchen Problemtyp die Situationsaufgabe repräsentiert,

•  ob das Problem in der Situation angemessen repräsentiert ist,

•  ob die Zieldefinition klar vorgegeben oder situativ auffindbar ist,

•  ob die Aufgabe transparent genug ist oder ob der Prüfling evtl. selbst noch Transparenz schaffen muss (durch Reduktion, Sequenzierung, Weglassen u.a.),

•  ob alternative (aber konkurrierende) Lösungshypothesen aus der Situation hervorgehen oder ob nur ein gerader Lösungsweg gelten soll,

•  ob die Prüfung der Hypothesen an Merkmalen/Kriterien erfolgen kann, die in der Situation enthalten sind,

•  falls die Entscheidung für eine bestimmte Lösung (Ergebnis) vorgesehen ist, ob klare Entscheidungskriterien vorliegen,

•  ob die Situation bzw. die Aufgabenstellung bei notwendiger Alternativentscheidung ebenfalls klare Kriterien enthält und

•  ob die Lösung/ das Ergebnis nur angegeben oder auch begründet werden muss.

Die Berücksichtigung dieser Erstellungskriterien soll auch mithelfen, dass die Situationsaufgabe einen angemessenen Schwierigkeitsgrad aufweist. Gemäß den Befunden der Problemlöseforschung (vgl. Dörner 1993, 58 ff.) kommt dieser Schwierigkeitsgrad bei komplexen situativen Problemen vor allem darin zum Ausdruck, dass die der Problemsituation innewohnenden „Hindernisse“ der

•  Komplexität,

•  Vernetztheit,

•  Intransparenz und Polytelie sowie

•  Dynamik

bewältigt werden können. Aus der Perspektive des Prüflings ist der Grad der Bewältigung dieser Hindernisse ein Indikator für den Grad des Kompetenzniveaus, das er erreicht und nachgewiesen hat.

Dieser Zusammenhang soll im nächsten Abschnitt anhand eines Aufgaben-Beispiels näher erläutert werden. Zuvor ist noch auf zwei andere Zugänge zur Niveau-Erfassung einzugehen, nämlich den über eine Taxonomie im Umgang mit Wissen und den über die Problemtypen .

5.  Niveau-Unterschiede bei der Erfassung von Handlungskompetenz

5.1  Niveaustufen im Umgang mit Wissen als Basis von Handlungskompetenz

Eine wichtige Erkenntnis der Problemlöseforschung ist, dass derjenige am besten Aufgaben und Probleme lösen kann, der über entsprechendes bereichsspezifisches Begriffs- und über strategisches Handlungswissen verfügt. Entsprechend wird in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Didaktik die Wissensbasierung der beruflichen Handlungskompetenz betont (Vgl. z.B. Dubs 1995; Zabeck 1995; Reetz 1996). Dabei wird zugleich auch darauf hingewiesen, dass diese Wissensbasis traditionell durch ein Defizit an Handlungswissen sowohl in operativer wie besonders auch die strategischer Hinsicht gekennzeichnet ist ( Reetz 1996) und dass die Beschränkung auf Vermittlung (deklarativen) Begriffswissens Motivationsverluste beim Lernen und „träges Wissen“ im Lernergebnis bedeutet ( Mandl/ Gruber/ Renkl 1993, 64 f.)

In diesem Zusammenhang besteht seit den Untersuchungen von Lern- und Prüfungsaufgaben durch Krumm (1973) bis in die Gegenwart hinein der Vorwurf der Dominanz von „Faktenwissen“ auf dem Leistungsniveau der Reproduzierung.

Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, sich zu fragen, auf welchem kognitiven Anspruchsniveau sich die mit zu prüfende Leistung befindet, d.h., wie intensiv und eigenständig die geforderte Denk- bzw. Handlungsleistung ist, die der Prüfling als Wissensbasis für Handlungskompetenz erbringen soll .

Zur Verdeutlichung dieses Niveaus kann auf die Lernzielstufung zurückgegriffen werden, die der Deutsche Bildungsrat (1970, 78 ff.) in Anlehnung an die Taxonomie von Bloom (1956) entwickelt hat.

Lernzielstufen gemäß Gutachten des Deutschen Bildungsrats (1970)

•  Reproduktion von Wissen . Das Verfügen über Wissen kann sich auf einfache wie auf komplizierte Sachverhalte beziehen. Ob es sich aber bei der Beantwortung von reinen Wissensfragen um bloß mechanische oder um verstehende Reproduktion handelt, kann aus der Lösung nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Sicher ist, dass strukturiertes Wissen, bei dem Einzelheiten in einem System von Begriffen und Regeln (Wenn-Dann-Aussagen) verbunden sind, mehr Verstehen erfordert und erzeugt als Einzelfakten.

•  Reorganisation von Wissen . Eine etwas höhere Stufe liegt vor, wenn nicht mehr nur der Gedächtnisbestand an Wissen erfragt wird, sondern wenn eine eigene Verarbeitung/ Interpretation und Zuordnung des Erlernten verlangt wird. Vorher gelernte Informationen werden so geprüft, dass erkennbar ist, ob deren inhaltlicher Sinn erfasst wurde. Beispiel: Zuordnung von Sachverhalten /Fakten (schlechte Lieferung) zu juristisch relevanten Tatbestandsmerkmalen (Mängelrüge/ HGB). Die erwartete Leistung kann aber auch darin bestehen, dass das Wissen unter einer besonderen Fragestellung bearbeitet werden soll mit einer selbständigen Verwendung der Fakten. In einem solchen Falle nähert man sich der dritten Stufe, nämlich dem

•  Transfer . Hier wird eine Leistung verlangt, die über Reproduktion und Reorganisation hinausgeht. Diese Leistung besteht darin, Grundprinzipien des Gelernten auf neue ähnliche Aufgaben und Situationen zu übertragen (Transfer der Lernleistung). Eine typische Transferleistung besteht darin, wenn das an einem exemplarischen Fall Gelernte (z.B. Prinzip der Arbeitsteilung in einem Industriebetrieb) auf eine neue Aufgabe/Situation in der Weise übertragen werden soll, dass Ähnlichkeiten mit der neuen Situation verstanden und Unterschiede erfasst werden (z.B. Arbeitsteilung in einem Einzelhandelsbetrieb). Wer gelernt hat, sein Wissen auf neue Aufgaben und Situationen zu übertragen, verfügt in anderer Weise über seine Kenntnisse als derjenige, der nur gleichartige Aufgaben lösen kann (vgl. Reetz 1970).

•  Problemlösung . Eine noch höhere Leistung wird bei Aufgaben gefordert, die problemlösendes Denken und problemlösenden Umgang mit Wissen erfordern. Hier geht es um die Prüfung der Fähigkeit zur systematischen Problembearbeitung. Dafür sind zuvor gelernte Informationen als Grundlagenwissen erforderlich, müssen aber problemorientiert weiterverarbeitet werden. Prüfungsaufgaben dieser Art sind in der Regel anspruchsvoller als die Aufgaben zur Reproduktion, Reorganisation und zum Transfer; denn sie enthalten diese Fähigkeiten als Leistungselemente der Problemlösung. Es gibt aber auch hier recht unterschiedliche Grade der Komplexität und Problemhaltigkeit (=Art und Anzahl der „Barrieren“).

5.2  Niveauunterschiede in Problemtypen

Auf ein fundiertes Modell der Stufung von beruflichen Situationen nach dem Grad ihrer Problemhaltigkeit kann derzeit noch nicht zurückgegriffen werden. Der o.a. Vorschlag der Versicherungswirtschaft bietet einen Ansatzpunkt. Einen anderen Zugang, um Art und Niveau der Problemlösung einschätzen zu können, bietet die Klassifikation von Problemen nach Problemtypen , die in der Problemlöseforschung insbesondere von Dörner und Aebli als wichtig herausgestellt werden (Vgl. Rebmann 1993; 51f.). Hier soll auf die Typologie Aebli s (1981) zurückgegriffen werden. Er unterscheidet zwischen Problemen mit Lücke, mit Widerspruch und mit Kompliziertheit. Schwierigkeitsgrade werden insbesondere im Zusammenhang mit den Lücken- und Widerspruchsproblemen thematisiert;

•  Problem mit Lücke: Das heißt, die Handlungssituation weist eine fragmentarische Struktur auf, die es zu „füllen“ gilt. Wie z. B. beim Kursbuchproblem besteht die Lösung darin, zwischen Ausgangs- und Endpunkt zu „interpolieren“ (= Interpolationsproblem; auch Dörner 1987); oder aber der „Endpunkt“ ist als Zielobjekt (z. B. Plan eines IT-Systems) noch zu gestalten (= Gestaltungsproblem).

•  Problem mit Widerspruch: Das heißt, die Handlungssituation weist eine widersprüchliche Struktur auf, die den Problemlöser in einen Konflikt (z. B. zwischen der Wahl von Zielen und/oder von Mitteln) führen, der eine Entscheidung verlangt. Die Lösung besteht darin, dass der Problemlöser die nächsthöhere Komplexionsstufe (durch Akkomodation) des Denkens und Handelns erreicht wie z.B. die Stufe der Metareflexion bei sozialen Konflikten (= Problemlösen durch Äquilibration). Oder aber er gelangt zu einer Synthese der Gegensätze (= dialektisches Problem).

Prüfungsaufgaben und „Probleme mit Lücken“

Nach vorliegenden Recherchen ( Reetz 2004) und ohne, dass damit den nötigen empirischen Untersuchungen vorgegriffen werden soll, ist der Level der Problemhaltigkeit üblicher Aufgaben gekennzeichnet durch den „Problemtyp mit Lücke“ ( Aebli 1981, 19 f.) Das heißt, die Handlungssituation weist in der Regel eine fragmentarische Struktur auf, die es zu „füllen“ gilt, wie z.B. beim Kursbuchproblem, wo zwischen Ausgangs- und Zielpunkt die Verbindungen herzustellen sind. Hierzu gehören alle jene Aufgaben, in denen im Handlungsablauf die Lücke zwischen zwei „Polen“ überbrückt werden muss. Eine solche „ Interpolation “ ( Dörner 1987) kann bereits aus der Lösung einer einfachen Rechenaufgabe bestehen, wenn z.B. aus zwei Angeboten (jeweils mit oder ohne Rabattgewährung) dasjenige mit Hilfe von Rechenoperationen ermittelt wird, das – ceteris paribus – preisgünstiger ist. Damit kann dann der Handlungsablauf im Sinne eines erfolgreichen Beschaffungsvorganges fortgeführt werden: das (Teil-)Problem ist gelöst.

Eine zweite Variante der Lösung eines Lückenproblems besteht, wenn der Problemlöser die Lücke dadurch schließt, dass etwas gestaltet werden muss: der Entwurf (die Planung) eines IT-Systems, das Schreiben eines Geschäftsbriefes, die technische Konstruktion einer Vorrichtung (Beispiel: Elektro-Installation) usw.. Während beim Interpolationsproblem eine wohldefinierte (Handlungs-)Struktur vorliegt, steht dem Problemlöser bei Gestaltungsproblemen (Syntheseproblemen im Sinne Dörner s) eine Vielzahl von Elementen zur Verfügung, die das „Material“ bilden, aus dem das Zielobjekt (z. B. ein Werbebrief) gestaltet werden kann. Eine wesentliche Gruppe von „Materialien“ sollte sich im Wissen des Prüflings befinden, in seinem Repertoire an Begriffen, Handlungsschemata und Operationen. Sie müssen aufgefunden, abgerufen und eingesetzt werden.

Prüfungsaufgaben und „Probleme mit Widerspruch“

Ein Problem mit Widerspruch enthält das im nächsten Abschnitt behandelte Beispiel zum Thema Einkauf aus der kaufmännischen Ausbildung. Die Lösung verlangt eine begründete Entscheidung. Das setzt voraus, dass der Prüfling die situativen Merkmale genau beachtet und als Parameter in die Problemlösung einbezieht. Dabei sind messbare und nur abschätzbare (qualitative) Merkmale gegeneinander abzuwägen: A ist besser als B, obwohl B auch besser sein kann als A. Die Situation erhält damit eine widersprüchliche Struktur :

Die Lösung verlangt, dass in der Situation mitgegebene unternehmensstrategische Ziele in die Einkaufsentscheidung einfließen. Somit wird in dieser vorbereitenden Einkaufshandlung nicht nur die ausführende (rechnerisch –vergleichende) Ebene beansprucht, sondern es werden auch höhere Ebenen der Handlungsregulation – im Sinne der Handlungstheorie ( Sievers 1984, 274f.; Volpert 1974; 1979) in Anspruch genommen. Die Hereinnahme dieser strategischen Handlungsebene ist in diesem Fall nur möglich, wenn der Prüfling die situativen Rahmenbedingungen zur Kenntnis nimmt und ihre ausschlaggebende Bedeutung bei der Entscheidung berücksichtigt.

6.  Die Situationsaufgabe als problemhaltige Prüfungsaufgabe:
Ein Beispiel

Im nachfolgend erörterten Beispiel (siehe Anlage) geht es im Rahmen der Abschlussprüfung für Industriekaufleute um Lernziele/Kompetenzen gemäß Ausbildungsrahmenplan/Berufsbild (23. 7. 2002) Abschnitt 6.2 (Bestelldurchführung) und gemäß Rahmenlehrplan (vom 14. 6. 2002) Lernfeld 6, nämlich Beschaffungsprozesse in Kenntnis der Beschaffungsstrategien planen und gestalten, und zwar in diesem Fall auf Grundlage der folgenden Inhalte: „Liefererauswahl, Bezugsquellenanalyse, Angebotsvergleich, Lieferantenbewertung“.

6.1  Situative Transformation der Kompetenz- bzw. Lernzielvorgaben

Die situative Aufgabenerstellung beginnt – auch im Interesse der Validität der Aufgaben – mit der Identifizierung der in den Ordnungsmitteln enthaltenen Kompetenz- bzw. Lernzielvorgaben. In einer Art Top-Down- Strategie werden die Vorgaben hinsichtlich der dazugehörigen Wissensbasis analysiert und mit Blick auf den Nachweis der Kernkompetenz für die Bewältigung relevanter berufstypischer Handlungs-Situationen exemplarisch fokussiert bzw. reduziert. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die eigentliche situative Transformation in die problemhaltige Situation mit entsprechender Aufgabenstellung. Zu den Situationsaufgaben, mit denen das Vorhandensein von Handlungskompetenz zu prüfen ist, sollten in angemessenem Verhältnis auch solche gehören, die der Anspruchsebene komplexer Problemlösung entsprechen.

Die Situation betrifft in der Regel einen Ausschnitt aus dem betrieblich-beruflichen Geschehen. Dieses bildet – als „Realitätsbereich“ im Sinne Dörner s – den episodischen Rahmen für das zu lösende Problem (die zu lösende Aufgabe). Der Prüfling soll sich in diese Situation hineinversetzen (= sie verstehen), das Problem erkennen und unter Berücksichtigung der situativen Merkmale und Bedingungen lösen.

Die Ersteller von Prüfungsaufgaben stehen hier vor einem ähnlichen Problem wie Lehrer und Ausbilder bei der Konzipierung von Lernaufgaben. Während jedoch Lernaufgaben auf den Erwerb von Handlungskompetenzen zielen, sollen Prüfungsaufgaben das Vorhandensein eben dieser Kompetenzen überprüfen und evaluieren (Vgl. dazu auch Schott 1985). Während Lernaufgaben Lernumwege und Übungen enthalten, müssen Prüfungsaufgaben kurz gefasst sein. Sie müssen jedoch alle situativen Merkmale enthalten, die für die Lösung erforderlich sind.

Situative Lern- und Prüfungsaufgaben sind in diesem Sinne Ergebnisse einer besonderen Art der Operationalisierung bzw. Umsetzung von Kompetenzen/Lernzielen in exemplarische Handlungssituationen. Es handelt sich hier um die Operationalisierung durch situative Transformation. Es geht dabei also darum, das zum Kompetenznachweis erforderliche Wissen und Können in repräsentative berufliche Situationen zu integrieren (einzubetten).


6.2  Problemhaltigkeit bzw. Anspruchsniveau der Aufgabe

Zur Problemhaltigkeit

Mit Problemhaltigkeit kann die Art und die Anzahl der „Barrieren“ verstanden werden, die zu überwinden sind, damit in dem „Realitätsbereich“ ( Dörner ), den die Aufgabe betrifft, ein zufriedenstellendes Handlungsergebnis erreicht wird. Diese Barrieren äußern sich sowohl als objektive Merkmale der Situation wie auch als subjektive Schwierigkeitsbedingungen des geforderten Lösungshandelns.

Die hier als Beispiel angeführte Situationsaufgabe (Anlage Fa. Nordrohr ) enthält Elemente eines Lösungshandelns (Verhaltens), das auf der Stufe IV der Situationstaxonomie der Versicherungswirtschaft anzusiedeln wäre: Der Prüfling muss „zwischen unterschiedlichen Perspektiven abwägen“, „um zu einer Entscheidung zu kommen“. Zur näheren Identifizierung der Prüfungsleistung sind jedoch weitere Eigenschaften des Lösungshandelns in den Blick zu nehmen.

In diesem Zusammenhang werden insbesondere folgende Eigenschaften genannt ( Dörner 1993, 58 ff.; vgl. dazu auch das „Modell einer Problemlösungsstrategie“ in Abschnitt 4 dieses Textes) :

•  Komplexität der Problemsituation

•  Vernetztheit der beteiligten Elemente

•  Dynamik der Problemsituation

•  Intransparenz im Hinblick auf die beteiligten Variablen (Elemente) wie auch im Hinblick auf die Ziele (z.B. Polytelie)

Ohne hier auf die kategoriale Stimmigkeit der Begriffe näher eingehen zu wollen (vgl. dazu Rebmann 1994, 53 f.), sollen sie hier als Indikatoren für den Grad an Problemhaltigkeit und damit für das Anspruchsniveau der Aufgabe herangezogen und wie folgt definiert werden:

Komplexität

Komplexität bezeichnet das Vorhandensein von mehreren voneinander abhängigen Merkmalen einer Handlungssituation oder eines Systems (z.B. Betrieb). Die Komplexität einer Situation oder seines Systems ist also um so höher , je mehr Merkmale (Elemente) vorhanden sind und je mehr diese voneinander abhängig sind. Problemlösungen sind auf Reduzierung der Komplexität gerichtet z.B. durch Verminderung der Merkmale/Elemente mit Hilfe von Abstraktion oder Modellbildung.

Vernetztheit

Vernetztheit bedeutet, dass nicht nur die Anzahl von Merkmalen für die Anforderungen an die problemlösende Person wichtig ist, sondern deren Vernetzung untereinander. Das bedeutet, dass die Beeinflussung eines Merkmals nicht isoliert bleibt, wenn es mit einem andern Merkmal oder mit mehreren anderen Merkmalen vernetzt ist. Es ergeben sich dann Neben- oder Fernwirkungen, wie z.B. bei ständiger Nichtberücksichtigung eines Lieferanten, der zugleich auch unser Kunde ist.

Dynamik

Dieses Merkmal beschreibt die Tatsache, dass Situationen und Systeme (Betriebe), in denen problemlösend gehandelt wird, sich in der Zeit verändern und eine Eigendynamik entwickeln können. Dies gilt in gewisser Weise auch für Situationsaufgaben als Lern- wie als Prüfungsaufgaben, wenn z.B. beim Einkauf Terminsicherheitsbedürfnisse zu antizipieren und als Entscheidungsparameter zu berücksichtigen sind.

Intransparenz

Diese Eigenschaft von Problemsituationen macht besonders deutlich, dass es sich nicht nur um ein „objektives“ Merkmal einer Situation handelt, sondern auch um die subjektive Befindlichkeit eines Problemlösers, der nicht über hinreichende Informationen verfügt, um Komplexität, Vernetztheit und Dynamik zu durchschauen. Das kann auch die Zielsetzung betreffen. Polytelie besagt, dass häufig gleichzeitig Ziele angestrebt werden, die in einem konträren Verhältnis zueinander stehen.

6.3  Zur Analyse der Aufgabe

In der vorliegenden Aufgabe „Nordrohr“ ist die Komplexität dadurch erhöht, dass – gegenüber einem einfachen Problem mit Lücke – zwei Entscheidungsparameter herangezogen werden müssen, nämlich zum einen Preis/ Qualität (Angebotsvergleich) und zum anderen Kapazitä t/ Lieferbereitschaft (Lieferantenanalyse). (Eine noch höhere Komplexität ergäbe sich, wenn weitere Merkmale (Lieferfristen, Zahlungsbedingungen usw.) mit unterschiedlichen Daten je Lieferant in die Situation aufgenommen würden. Darauf wurde verzichtet, um Intransparenz und den Zeitaufwand bei der Lösung der Aufgabe in Grenzen zu halten.

Die Lösung verlangt, dass der Prüfling die Maxime „Qualität hat Vorrang“ beachtet. Daneben sind auch die Bedeutung des Schwedenauftrages (= längerfristiger Großauftrag) und die evtl. drohende Konventionalstrafe in die Entscheidung über die Lieferanten einzubeziehen. Das heißt, dass ein relativ hoher Grad an Vernetztheit besteht, der zu Neben- und Fernwirkungen führen kann. Damit ist die Zeitdimension und ihre Dynamik zu antizipieren und in die Entscheidung einzubringen, so dass messbare und nur abschätzbare (qualitative) Merkmale gegeneinander abzuwägen sind. Die Situation erhält damit eine widersprüchliche Struktur : Einerseits ist ein durchaus brauchbarer Lieferer mit deutlich niedrigerem Preis vorhanden, andererseits verlangen auch die Qualitäts- und Terminsicherheitsbedürfnisse der Firma Nordrohr ihre Berücksichtigung. Insgesamt ist somit ein Problem mit Widerspruch gegeben, das die Intransparenz erhöht. Dessen Lösung verlangt eine besondere Leistung des Prüflings, nämlich den (scheinbaren) Widerspruch von einer begrifflich höheren Ebene des Denkens und Handelns her zu beurteilen (Lösung durch Akkomodation , Aebli 1981, 27). In dieser Aufgabe bedeutet das, dass unternehmensstrategische Ziele in die Einkaufsentscheidung einfließen ( Polytelie ). Somit wird in dieser vorbereitenden Einkaufshandlung nicht nur die ausführende (rechnerisch –vergleichende) Ebene beansprucht, sondern es werden auch höhere Ebenen der Handlungsregulation – im Sinne der Handlungstheorie ( Sievers 1984. 274f.; Volpert 1974, 1979) in Anspruch genommen. Die Hereinnahme dieser Handlungsperspektive setzt in diesem Fall voraus, dass die Prüflinge die situativen Rahmenbedingungen mit Blick auf die unterschiedlichen operativen und strategischen Perspektiven zur Kenntnis nehmen und ihre Bedeutung bei der Entscheidung berücksichtigen.

Die Analyse der Aufgabe zeigt, dass die Situation durch die Merkmale komplexer Probleme und ihrer Lösung geprägt ist. Damit sind allerdings die jeweiligen Schwierigkeits grade (der Bewältigung) von Komplexität, Vernetztheit, Dynamik und Intransparenz sowie Polytelie noch nicht hinreichend charakterisiert. Hierzu müssten Vergleichsmaßstäbe auf Basis der vergleichenden empirischen Analyse z. B. von aktuellen repräsentativen Aufgaben beruflicher Abschlussprüfungen entwickelt werden.

Einstweilen liefern aber bereits ad hoc-Vergleiche etwa zwischen den (zahlreichen) einfachen Lückenproblemen und den selteneren komplexeren Problemen in kaufmännischen Abschlussprüfungen Hinweise auf Hypothesen zur Gewinnung von Kriterien für Problemhaltigkeit ( Reetz 2004).

Dagegen beschränkt man sich in der Literatur zur gegenwärtigen Prüfungspraxis ohne nähere Begründung auf den Hinweis, dass z.B. in kaufmännischen Prüfungen (unter der Fragestellung, welche Schlüsselqualifikationen berücksichtigt werden sollen), lediglich „elementares Problemlösen“ erforderlich sei. Als Beispiele werden genannt: Interpretation einer Statistik, Heraussuchen von Informationsquellen, Auswahl der richtigen Postversandart, Buchen von unvertrauten Belegen, Nennen von konkreten Beispielen für bestimmte allgemeine Regeln (z.B. Wirtschaftlichkeitsprinzip ( Kopra o. J., Abschn. 3.4. 1/2).

Im Unterschied dazu liefert das Situationsstufen-Schema des Berufsbildungswerks der Deutschen Versicherungswirtschaft ( Breuer/Höhn 1999, 25) einen akzeptablen Ansatz zur Entwicklung von jeweils berufsdomänenspezifischen Taxonomien. Dieser könnte in seinen situativen Anforderungsmerkmalen präzisiert und durch Komplexitätsmerkmale und Problemtypenmerkmale z. B: in Form einer Matrix erweitert werden.

7. Vom situierten Lernen zum situierten Prüfen

Im vorigen Abschnitt wurde bereits kurz der Befund erörtert, dass die erforderliche Wissensbasis der Handlungskompetenz in der Vergangenheit Defizite aufwies. Diese betrafen vor allem die Vernachlässigung von operativem und strategischem Handlungswissen und die damit verbundene Konzentration auf die Vermittlung deklarativen Begriffswissens ( Mandl/Gruber/Renkl 1993).

Im Mittelpunkt der didaktischen, lern- und kognitionstheoretisch begründeten Strategien, diese Defizite abzubauen, steht die situative Verankerung von Wissen wie auch von Lernen. So sind die nach konstruktivistischem Verständnis gestalteten „starken“ Lernumgebungen vor allem geprägt durch „Authentizität“ und „Situiertheit“.

Es geht dabei um die zentrale Frage: Wie kann das Lernen als Wissenserwerb so organisiert werden, dass das Wissen in anderen Situationen (Kontexten) zur Lösung anstehender Probleme flexibel verfügbar wird? Die (konstruktivistische) Antwort hierauf betrifft dann auch solche Gestaltungsgrundsätze für Lernumgebungen, die der Dekontextualisierung und Flexibilisierung des Wissens dienlich sind: multiple Perspektiven und Kontexte, Konzeptwechsel (vgl. Reetz 1996, 183 f.).

Eng verbunden mit dem theoretischen Konzept des Konstruktivismus sind die Situated-Cognition-Ansätze, denen die Grundannahme gemeinsam ist, dass Wissen immer situiert und durch das wahrnehmende Subjekt konstruiert ist. Im Mittelpunkt steht dabei auch hier die Forderung, das Wissen in authentischen nutzungsrelevanten Situationen zu vermitteln ( Schmidt 2000, 31 f.; Dörig 1994; Klauser 1998).

Dem Primat situativer Lernaufgaben aber folgt der Vorrang der situativen Prüfungsaufgaben, ein Gebot, das auch dem in der neueren Prüfungsdidaktik postulierten Zusammenhang von Ausbildung, Prüfung und Beschäftigung entspricht (Vgl. Breuer/Müller 2000, 50)

In der prüfungsdidaktischen Diskussion der Berufs- und Wirtschaftspädagogik hat der Grundgedanke der Situationsorientierung von Lernen und Wissen inzwischen ebenfalls weiter Fuß gefasst. Dies zeigt ein Blick auf die Prüfungsstruktur der in den 1990er Jahren neu geschaffenen bzw. neugeordneten Berufe. Exemplarisch ist hier auf die IT-Berufe zu verweisen. Sie sind vor allem auch Beispiele dafür, dass stärkere Situiertheit und Authentizität in der Ausbildungskonzeption sich mit ähnlicher Situiertheit und Authentizität in den Abschlussprüfungen verbindet.

Ursächlich sind auch hier die organisatorischen Wandlungen in den Betrieben in Richtung Arbeits- und Geschäftsprozessorientierung.

Der Wandel betrieblicher Organisationen weg von funktionsorientierten und hin zu prozessorientierten Strukturen hat zahlreiche neue und neugeordnete Ausbildungsberufe im gewerblich-technischen wie auch im kaufmännischen Bereich entstehen lassen. Sie machen Ausbildungskonzeptionen erforderlich, die ebenfalls den Leitbildern der Prozessorientierung, Flexibilisierung und Individualisierung und Authentizität folgen

Beispielgebend sind hierbei die IT-Berufe; aber auch die am 1. August 2003 in Kraft getretenen Elektroberufe sind in besonderer Weise geprägt durch die Wandlungen der Facharbeit im Gefolge der technologischen und organisatorischen Veränderungen betrieblicher Strukturen:

Die Gestaltungsprinzipien der Neuordnung tragen dem Rechnung. Sie zielen auf Ausbildungskonzeptionen, die sich an einer beruflichen Handlungskompetenz orientieren, welche vermittelt werden soll durch Lösung konkreter Arbeitsaufgaben und Aufträge, durch die Sicherung und Optimierung von Prozessabläufen sowie Dienstleistungs- und Kundenorientierung.

Damit bestimmen die Geschäftsprozesse nunmehr die Ausbildungsberufe und ihre Inhalte, eine Tendenz, die auch im schulischen Teil der Berufsausbildung bereits mit der Etablierung des Lernfeldkonzeptes ihren Niederschlag fand (Vgl. Borch/Weissmann 2003; Tramm 2004).

Eine derartige Neugestaltung der Ausbildung machte auch eine entsprechende Neugestaltung der Abschlussprüfung erforderlich.

Das bedeutet z.B., dass Prüfungsformen geschaffen werden mussten, die vor allem dem Gebot der Arbeits- und Geschäftsprozessorientierung Geltung verschafften.

Beispielgebend sind hier die neuen Prüfungsformen der IT – Berufe geworden. Ihr innovatives Prüfungskonzept mit seinem Übergang vom handlungsorientierten zum prozessorientierten Prüfen etablierte Prüfungsformen, die sich deutlich von den Strukturen traditioneller Abschlussprüfungen unterscheiden. Die neuen Prüfungsteile A (Projektarbeit) und B (Ganzheitliche Aufgaben I und II) sind gerichtet auf berufstypische Handlungssituationen im Kontext der dazugehörigen Arbeits- und Geschäftsprozesse. Damit wird die traditionelle Trennung von Fertigkeiten und Kenntnissen, von Theorie und Praxis aufgehoben, so dass mit der Prüfung vor allem auch Qualifikationen im Sinne ganzheitlichen und problemlösenden Denkens und Handelns erfasst werden können.

Das im Teil B der Prüfung enthaltene Konzept der „Ganzheitlichen Aufgabe“ kann als neuer Prototyp der Situationsaufgabe betrachtet werden. Der entsprechende Verordnungstext eröffnet Spielraum für die Ausgestaltung dieser Aufgaben. Sie müssen den Anforderungen entsprechen, die zum einen aus dem dynamischen und zukunftsoffenen Verständnis der beruflichen Kompetenz resultieren, die den IT-Ordnungen zugrunde liegen.

„Zum anderen greifen sie auf den mit diesem Verständnis korrespondierenden Ansatz der ‚starken Lernumgebungen‘ zurück. Das Ziel dieses Ansatzes besteht darin, Lernprozesse zu initiieren, die nicht zu trägem Wissen, sondern zu Wissensbasen führen, die in der konkreten Anwendung flexibel genutzt werden können. Von den Prinzipien für die Gestaltung starker Lernumgebungen werden insbesondere das der Authentizität und das der Situiertheit aufgegriffen. Authentizität bezieht sich dabei auf den Realitätsgehalt von Aufgaben und Problemstellungen, Situiertheit richtet sich auf die Einbettung einer Einzelaufgabe in einen Gesamtzusammenhang“ ( Ebbinghaus 2004, 67f.).

Aus der Übertragung dieser beiden Prinzipien aus dem Kontext des Lernens auf den des Prüfens resultieren dann die Anforderungen an ganzheitliche Aufgaben, die sich auf berufstypische Problemstellungen beziehen, die der Prüfling analysieren und im betrieblichen Gesamtzusammenhang sehen und lösen soll (BMBF 2000, 72).

Damit sind nun auch hohe Ansprüche an die Entwicklung von situierten Prüfungsaufgaben gestellt. Die Evaluationsberichte zu den IT- Prüfungen ( Ebbinghaus/Görmar/Stöhr 2001; Ebbinghaus 2004) zeigen, dass der grundsätzlich positiven Rezeption dieses Aufgabenkonzeptes in der Realisierung gerade wegen seiner wesentlichen Bestandteile der prozesshaften Situiertheit und der Ganzheitlichkeit Defizite gegenüberstehen, die unter der Bezeichnung der „unechten Situationsaufgaben“ bereits in der wirtschaftspädagogischen Analyse kaufmännischer Prüfungsaufgaben in Erscheinung getreten sind ( Reetz 2005; Trilling 2003).

8.  Sicherung der Prüfungsqualität durch Unterscheidung zwischen „echten“ und „unechten“ Situationsaufgaben

Qualitätskriterium Praxisnähe , handlungs- und Prozessorientierung: Nicht unechte sondern echte Situationsaufgaben erstellen

Während „echte“ Situationsaufgaben den Prüfling veranlassen sollen, sich mit der Situation verstehend, analysierend und beurteilend zu befassen, um darauf aufbauend selbstständig zu Lösungen zu kommen, treten „unechte“ Situationsaufgaben in zwei Varianten auf:

•  Entweder sind sie dadurch gekennzeichnet, dass die Situationen zwar eine gewisse Problemhaltigkeit aufweisen, die in ihrer Komplexität unwesentlich bleibt, weil die Situation „zerstückelt“ wird, indem die Prüflinge durch kleinschrittige Fragen zu vorgegebenen Antworten „geführt“ werden, oder

•  die Situationen sind gar nur künstlich aufgesetzt, fungieren als Rahmen ohne problemrelevante Informationen, und die Aufgaben/ Fragen sind reine Wissensfragen und könnten auch ohne Situationsbezug gelöst werden.

So wurde in einer Schwachstellen-Analyse von aktuellen Kammerprüfungen ermittelt, dass sogenannte Situationen häufig nur als Rahmengebung fungieren. So ergab die Analyse eines Aufgabensatzes Bürokaufleute Winter 2000/01, dass die vorangestellte Unternehmensbeschreibung nur zur Beantwortung einer der dreißig (!) folgenden Aufgaben erforderlich war, während alle folgenden 29 Aufgaben mit der Ausgangssituation nicht mehr verknüpft waren ( Trilling 2003, 68). Auch Kloft/Hensgen ermitteln in ihrer „Expertise“ zu Prüfungsaufgaben im kaufmännischen Bereich (IBF Bonn 1998) anhand von Aufgabensätzen von 4 Aufgabenerstellungs-Einrichtungen (AKA, Koord. Stelle Baden-Württemberg; Nordverbund; ZPA – NRW) für Industriekaufleute und Bürokaufleute entsprechende Befunde über „Pseudo-Einkleidungen“ (24 f.). In Bezug auf die Industriekaufleute vermitteln 50 % der Situationsaufgaben allenfalls Hintergrundwissen, das aber vom Prüfling nicht genutzt werden muss.

Mithin führen die beiden oben genannten Varianten unechter Situationsaufgaben jeweils zu Aufgabenstellungen, in denen entweder die Zergliederung der Aufgabeninhalte so weit getrieben wird, dass auch ursprünglich komplexere Aufgaben in kontextfreie Wissensfragen – oft in Multiple-Choice- Form – einmünden, oder aber die Aufgabenstellung dient von vornherein der Wissensabfrage ohne Kontext. Inzwischen liegen Evaluationsbefunde vor, die auf ähnliche Defizite in der Aufgabenstellung selbst z.B. bei den „Ganzheitlichen Aufgaben“ der IT-Berufe verweisen.

Die zweite Evaluation der Abschlussprüfung in den IT-Berufen ( Ebbinghaus 2004) enthält Ergebnisse aus Expertenbefragungen über die Ganzheitlichen Aufgaben I und II der Abschlussprüfung Sommer 2003 in den vier Berufen Informatikkauflaute, IT-Systemkaufleute, Systemelektroniker und Fachinformatiker. Evaluiert wurde dabei je ein Aufgabensatz von PAL und von der Koord. Stelle Baden-Würtemberg. Ermittelt wurde die Experteneinschätzung der Aufgaben hinsichtlich

•  der Ausgangssituation

•  des Spektrums der geprüften Qualifikationen und der Schwerpunktsetzung auf Fachqualifikationen

•  des Niveaus, Umfangs und der Aktualität

•  der Ganzheitlichkeit der Aufgabe

Eine Sekundäranalyse der Ergebnisse zeigt, dass vor allem im Merkmal Ausgangssituation und Ganzheitlichkei t der Aufgabe erhebliche Defizite in der Aufgabenerstellung festzustellen sind, die die Symptome der unechten Situationsaufgabe aufweisen.

Dazu – als Beispiele – die folgenden Befunde:

Zur Ausgangssituation

„Neben dem fiktiven Namen des Unternehmens enthält die Beschreibung der Ausgangssituation keine weiteren Informationen ... und es drängt sich der Eindruck auf, dass die Ausgangssituation ... nur dazu dient, nicht weiter zusammenhängenden Aufgaben eine gemeinsame Klammer zu geben“ (Informatikkaufmann Aufg.II; 78).

„Die Ausgangssituation wird sehr knapp beschrieben. ... Die Funktion des Prüflings in dem aufgespannten Szenario bleibt offen, ebenso wird in keine Handlungssituation eingeführt, die in den Teilaufgaben weiter entwickelt wird. Die Ausgangssituation bleibt damit bruchstückhaft und ermöglicht keine Gesamtorientierung“ (IT-Systemkaufmann, Aufg. I; 85).

Zur Ganzheitlichkeit

„Die Teilaufgaben stehen relativ unverbunden nebeneinander und weisen auch zur Ausgangssituation nur gekünstelt wirkende Bezüge auf. ...Zudem steht die Wissensabfrage dem Ziel entgegen, einen praxisnahen Geschäftsprozess entstehen zu lassen“ (Informatikkaufmann; Aufg. II, 79). „Trotz der Anbindung der sechs Teilaufgaben an die Ausgangssituation entsteht aus ihnen kein in sich geschlossener Geschäftsprozess. ...Nicht zuletzt behindert der hohe Anteil an Wissensfragen die Entfaltung eines Prozesses“ (IT-Systemkaufmann; Aufg. I; 83).

Bei der Ermittlung eines Fazits ihrer Untersuchungen gelangt Ebbinghaus u.a. zu einer Feststellung, die das Dilemma betrifft, das mit echten Situationsaufgaben im Kontext (nicht nur handlungs-) sondern prozessorientierten Prüfens verbunden ist:

„Die Befähigung zum kompetenten Handeln in Prozessen ist ein Potenzial, welches sich in der Bearbeitung einer konkreten Aufgabe realisiert. Dabei wirken verschiedene Komponenten – Fertigkeiten, Kenntnisse, Erfahrungen, Fähigkeiten etc. – zusammen. Sie fügen sich zu einem Ganzen, welches mehr ist, als die additive Zusammenfassung der einzelnen Komponenten. Wird man aber diesem Ganzen gerecht, wenn man es für seine Erfassung und Beurteilung wieder in Komponenten, Kriterien zerlegt bzw. wie müssen die Kriterien gefasst sein, damit sie sich immer auch auf das Ganze beziehen?“ (104).

Damit wird auf eine zentrale prüfungsdidaktische Frage verwiesen, die bisher nur selten gestellt wurde, weil die prüfungs methodische Zergliederung von Ganzheitlichkeit bzw. Komplexität von Handlungssituationen unter dem prüfungsdiagnostischen Postulat der „Objektivität“ eher als eine Tugend denn als eine prüfungs didaktische Unzulänglichkeit angesehen wurde.

 

Literatur

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Anhang

 

Prüfungsaufgabe

Die nachfolgend dargestellte Prüfungsaufgabe hat in leicht modifizierter und stark reduzierter Form die Handlungs- und Problemlösungsprozesse der Fallstudie „Angebotsvergleich und Lieferantenanalyse“ aus der Sammlung „Fallstudien Materialwirtschaft“ zum Gegenstand ( Reetz/Beiler/Seyd 1987, 71-89; vgl. dazu auch John 1992).

 

Prüfungsaufgabe Abschlussprüfung für Industriekaufleute

 

Die Norddeutsche Pumpen und Rohrbau GmbH Hamburg Nordroh r “, ein Betrieb mit rund 300 Mitarbeitern, verdankt seinen guten internationalen Ruf vor allem der Strategie, ausschließlich qualitativ sehr hochwertiges Material mit langer Lebensdauer zu verwenden.

Nordrohr hat bei der Erschließung und dem Aufbau eines Industriebetriebes in Schweden per 1. Februar 2005 den Zuschlag für den gesamten Rohrleitungsbau erhalten. Im ersten Bauabschnitt sind knapp 90 000 m Versorgungsleitungen verschiedener Durchmesser zu verlegen und mit einem Pumpensystem zu versehen. Bei Vertragsabschluss hat sich Nordrohr verpflichtet, die Leitungen bis zum 1. Dezember 2005 fertig zu verlegen, andernfalls droht eine Konventionalstrafe.

Mit dem Bau des Rohrleitungssystems muss spätestens Ende Juni begonnen werden. Jede Möglichkeit, früh zu beginnen, vermindert Risiken und Kosten .

Einkäufer Möllering wird mit dem Einkauf der Rohre für den 1. Bauabschnitt beauftragt. Er versendet folgende Anfrage an 7 mögliche Lieferanten:


 

Nordrohr Norddeutsche Pumpen und Rohrbau GmbH

 

Heinrich – Heine - Damm 10 – 14

22145 Hamburg

den 04. 02. 2005

Mö / Lg

 

Anfrage

Im Rahmen eines größeren Projektes in Skandinavien benötigen wir vorerst die folgenden Gewindestahlrohre nach DIN 2440, Material ST 32 – 37, Evtl. ST 42.

 

Pos. 1 54 000 m r 3“

Pos. 2 36 000 m r 4“

 

Spezifikation:

Gewinderohre nach DIN 2440 , geschweißt mit Muffen und Gewindeschutzkappen am

Freien Gewinde, verzinkt nach DIN 2444, in Längen je 6 m; Rohre in handelsüblichen

Kranbunden gebündelt.

 

Lieferung: Sofort. Spätestens bis 30. 06.2005

Preisstellung: Fob Hamburg

 

Wir bitten um Ihr Angebot. Mit freundlichen Grüßen

 

Norddeutsche Pumpen- und Rohrbau GmbH

 

Einkäufer Möllering hat bei 7 Wettbewerbern Angebote eingeholt und 3 von ihnen als geeignete Anbieter ermittelt. Dabei hat er berücksichtigt, dass Stahlrohre der niedrigen Werkstoffklasse St 33 für den vorgesehenen Zweck durchaus auch brauchbar sind. Stahlrohre der Güteklassen ST 34 – 37 und besonders St 42 haben einen höheren Kohlenstoffgehalt und damit höhere Zugfestigkeit mit positiver Wirkung auf die Lebensdauer. Möllering prüft die geeigneten Angebote die mit den technischen Merkmalen übereinstimmen, die in der Anfrage genannt sind. Er kommt aufgrund der eingegangenen Angebote zu folgendem Angebotsvergleich:


 

Angebotsvergleich Anfrage Nr. ... vom 04.02. 2005

 

Firma

Vergleichsmerkmal

Van Leuken

Amsterdam

Kitomo

Seoul

Hansmann u. Co.

Duisburg

Preis in Euro % m

Position1

Position2

 

740,-

1100,-

 

705,-

1080,-

 

730,-

1130.-

Gesamtpreis einschl. Fracht

€ 795.600.-

769.500.-

801.000.-

Qualität / Materialgüteklasse

St 33

St 36

St 42

Frachtgrundlage

fob Hamburg

fob
Hamburg

fob
Hamburg

Liefertermin

Juni 2005

Ende 2. Quartal 2005

15.Apr.2005/
15.Mai 2005

15.Juni 05 je 1/3

Zahlungsziele

bar netto bei Auslieferung

bar netto Ende Juni

 

Es ist davon auszugehen, dass für die 90 000 m Rohre laut Angebotskalkulation von den Schweden 810 000.- € Erlösanteil an die Firma Nordrohr zurückfließen werden.

Von Bedeutung für die Feststellung von Unterschieden sind hier also nur die in den Vergleichsmerkmalen Preis und Qualitä t. Kennzeichnen Sie die Angebotspreise mit den „Zensuren“ 1 (niedrigster Preis) bis 3. Bewerten Sie die jeweils angegebene Qualität mit den „Zensuren 1 (sehr gut) bis 4 (ausreichend). Addieren Sie die Werte je Angebot und geben Sie an, welcher Lieferant – gemessen an der kleinsten Summe der Zensuren – den Zuschlag erhalten sollte.

 

Van Leuken

Kitomo

Hansmann u.Co

Preis

Qualität

2

1

3

Summe

 

 

Der Angebotsvergleich von Preis und Qualität ergibt, dass der Auftrag an die

Firma ........................................ erteilt werden sollte

 

Kurze Begründung: ..........................................................................................

..........................................................................................

..........................................................................................

 

 

Einkäufer Möllering will sichergehen und studiert die Berichtshefte der Wareneingangskontrolle zum Zweck einer Lieferantenanalyse.

 

Lieferanten-Analyse

Alle drei Lieferanten haben mehrmals Rohre an Nordrohr geliefert. Aufgrund dieser Lieferungen liegen über die drei Lieferanten unter anderen die folgenden Informationen über Lieferbereitschaft und (Produktions-) Kapazität vor:

 

Van Leuken Amsterdam

Laut Berichtsheft der Warenkontrolle hat Van Leuken bisher fast immer ohne Terminüberschreitungen geliefert. Allerdings ist Van Leuken als Tochter eines holländischen Konzerns verpflichtet, vorrangig an den eigenen Firmenverbund zu liefern. Die Lieferkapazität ist damit für außenstehende Firmen eingeschränkt.

Kitomo Seoul

Mit Serviceleistungen und niedrigen Preisen möchte Kitomo unbedingt stärker ins Geschäft kommen. Liefertermine wurden bisher in einigen Fällen geringfügig, in einem weiteren Fall beträchtlich überschritten. Dies mag daran liegen, dass die Kapazität mit der Umsatzausweitung gelegentlich nicht Schritt hält.

Hansmann und Co Bremen

Als mittleres Unternehmen der Herstellung von Guss- und Stahlrohren hat sich Hansmann in den letzten Jahren als zuverlässiger Lieferant erwiesen. Da Nordrohr für Hansmann ein wichtiger Kunde ist, wird ihm Vorrang gewährt bei der Reservierung von Kapazitäten.

 

Versetzen sie sich in die Lage von Einkäufer Möllering : Bewerten Sie die Faktoren Liefersicherheit ( = Liefertermine und Lieferzuverlässigkeit) und Kapazität ; verknüpfen Sie diese Faktoren mit den Ergebnissen des Angebotsvergleichs und vergleichen Sie alle vorliegenden Informationen mit der „Geschäftsstrategie“ der Nordrohr und den Erfordernissen des Liefer- und Montageauftrages des schwedischen Kunden

 

Van Leuken

Kitomo

Hansmann u.Co

Preis

Qualität

Liefersicherheit

Kapazität

2

1

3

 

Wen sollte Einkäufer Möllering der Geschäftsleitung in diesem Fall als Lieferanten vorschlagen? Treffen Sie Ihre Entscheidung unter Abwägung möglicher positiver oder negativer Auswirkungen und begründen Sie dies.

 

Einkäufer Möllering sollte die Firma ................................................ vorschlagen.

Begründung: .........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

.........................................................................................

Lösungshinweise

•  Ergebnis des eher messbar-quantitativen Angebotsvergleiches:

 

 

Van Leuken

Kitomo

Hansmann u.Co

Preis

Qualität

Summe

2

3

5

1

2

3

3

1

4

 

 

Begründung:

Kitomo liegt im Preis sehr günstig (26.100 € unter van Leuken und 31.500 € unter Hansmann u. Co.) Die Qualität gehört zum mittleren bis guten Bereich und ist für die vorgesehenen Zwecke hinreichend.

Ergebnis der Lieferantenanalyse und Entscheidung für den zu bevorzugenden Lieferanten unter Abwägung aller für die Entscheidung relevanten Informationen:

Der Prüfling sollte hier eine Nutzwertanalyse vornehmen, d.h. er soll die Lieferanten zunächst nach Merkmalen beurteilen, die nur schwer quantitativ zu messen sind (Ruf der Lieferanten; Lieferzuverlässigkeit; Prioritäten bei Kapazitätsengpässen u.a.). Sodann soll der Prüfling diese Beruteilungen mit den eher messbaren Faktoren (hier Preis und Qualität aus der Angebotsanalyse) vergleichen auf dieser Informationsgrundlage entscheiden:

„Einkäufer Möllering sollte die Firma Hansmann u. Co vorschlagen“.

 

Begründung:

Hohe Priorität für die beste Qualität entspricht der Einkaufsstrategie von Nordrohr . Aus diesem Grunde kommt van Leukens Angebot mit der niedrigsten Qualtitätsstufe nicht in Betracht.

Nordrohr darf kein Risiko eingehen bei der Terminierung der Lieferzeiten und der eigenen Herstellungszeiten: Die Lieferantenanalyse verweist auf solche Risiken bei van Leuken und besonders bei Kitomo. Konventionalstrafen und Stornierung der Anschlussaufträge drohen. Diese Risiken werden vermieden angesichts der Lieferbereitschafts- und Kapazitätsvorteile bei Hansmann u. Co.