Partner von bwp@: 
  SAP University Alliances Community (UAC)   giz - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit    Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.    Österr. Konferenz für Berufsbildungsforschung       

bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS16 - Individuelle Förderung
Herausgeber: Marc Beutner, H.-Hugo Kremer & Andrea Zoyke


Titel:
Konzepte und Erfahrungen zur Berufsorientierung im Übergang


Rollenbasierte Kompetenzbilanz zur Berufsorientierung - Konzepte und Erfahrungen

Beitrag von Petra FREHE & Boris RAAB (Universität Paderborn & Mildred-Scheel-Berufskolleg Solingen)

Abstract

Der Arbeitsbereich III fokussiert innerhalb des Innovationsprojektes InLab den Übergang von Bildungsgängen des schulisch-strukturierten Übergangssystems in Ausbildung und Arbeit. Die sich aus Lehrkräften und Vertretern der wissenschaftlichen Begleitung zusammensetzende Fokusgruppe entwickelt vor dem Hintergrund der vorliegenden Problemlagen ein Rahmeninstrument zur individuellen Entwicklung von Berufsorientierungskompetenz: Die Rollenbasierte Kompetenzbilanz. Im Sinne individueller Förderung verbindet es die zentralen Bausteine der Kompetenzerfassung und -entwicklung als durchgängiges Prinzip und rekurriert auf Verfahren der Kompetenzbilanzierung. Ausgehend von einem stärkenorientierten Ansatz werden Rollen aus der Lebenswelt der Jugendlichen mit Rollen aus charakteristischen Situationen der Berufsorientierung zusammengeführt. In diesem Beitrag wird zunächst der Entstehungskontext der Rollenbasierten Kompetenzbilanz rekonstruiert worauf eine konzeptionelle Konkretisierung des Instruments vorgenommen wird. Daran anschließend werden konkrete Implementationserfahrungen aus der Perspektive des Mildred-Scheel-Berufskollegs Solingen dargestellt. Der Beitrag mündet in einer kurzen Zusammenführung und einem Ausblick zu weiteren Entwicklungsschritten.

1 Entwicklungskontext der Rollenbasierten Kompetenzbilanz

Der Begriff Übergangssystem suggeriert die rasche Integration von Schulabgängern[1] in das duale System bzw. das Schulberufssystem (vgl. BEICHT 2009, 3). Genau dieser Erwartung werden die hier zu verortenden Bildungsgänge und Maßnahmen jedoch nicht gerecht: Nach BAETHGE/ SOLGA/ WIEK (2007) werden die Lernenden nicht auf die (insbesondere) duale Ausbildung vorbereitet; vielmehr handelt es sich um eine von Unsicherheit geprägte Phase, die nicht selten in Maßnahmenkarrieren mündet. Teilnehmerinnen werden wenig aussichtsreiche berufliche Perspektiven und Arbeitsmarktunsicherheit prognostiziert (vgl. 7; 51). Im Rahmen des Innovationsprojektes InLab wird im Übergang von Schule zu Ausbildung und Arbeit ein Qualifizierungs- und Entwicklungsberdarf gesehen, dem im Sinne individueller Förderung begegnet wird. Berufliche Orientierung wird dabei als gemeinsame Herausforderung der Zielgruppe des schulisch-strukturierten Übergangssystems betrachtet (vgl. KREMER 2010, 9), die sich gewöhnlich insbesondere hinsichtlich ihrer kulturellen und sozialen Hintergründe aber auch bezogen auf ihren Qualifikations- und Entwicklungsstand als sehr heterogen darstellt (vgl. KREMER/ ZOYKE/ FREHE 2009, 8ff.).

1.1 Skizzierung des Problemraums

Ausgangspunkt für die Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Projekt InLab sind die konkreten Problemlagen der Praxis. Dabei sollen sowohl Erfordernisse der Lernenden als auch der Lehrenden aufgenommen werden. Als erster Schritt der Projektarbeit in Arbeitsbereich III stand somit die Sondierung und Konkretisierung des Problemraums im Übergang von Bildungsgängen des Übergangssystems in Arbeit und Ausbildung im Vordergrund. Auf Grundlage einer theoretischen Auseinandersetzung mit spezifischen Herausforderungen des Übergangssystems und erster Ergebnisse einer Vorerhebung[2] zum Projekt InLab wurden Diskussionspunkte aufgegriffen und in die Projektgruppe hineingetragen. Sie dienten als Auslöser für eine vertiefende Auseinandersetzung und verbale Validierung theoretischer Erkenntnisse. Über die spezifischen Beiträge der im Projekt aktiven Lehrkräfte konnte eine Generalisierung relevanter Probleme vorgenommen werden, die sich wie folgt darstellen: Die Zielgruppe der Jugendlichen im Übergangssystem kennzeichnet sich durch ein hohes Maß an Heterogenität. Diese bezieht sich vornehmlich auf unterschiedliche Qualifikationsstufen, erstreckt sich jedoch auch auf den Entwicklungsstand der Jugendlichen sowie auf deren soziale und persönliche Hintergründe. Im Bereich von Basiskompetenzen, die sich im Projekt InLab auf die Kompetenzbereiche (1) sprachlich-kommunikative Kompetenz, (2) mathematische Kompetenz, (3) Sozialkompetenz und (4) Kompetenz im Umgang mit (neuen) Informations- und Kommunikationsmedien erstrecken (vgl. KREMER 2010, 7) , werden gravierende Defizite gesehen. Im Weiteren geht aus den Berichten der Lehrenden hervor, dass die Lernenden zumeist über sehr schlechte Lernerfahrungen verfügen. Dies bezieht sich sowohl auf die Institution Schule als auch auf Lernergebnisse, die hier erzielt wurden. Der Besuch des Bildungsgangs wird daneben nicht aus einer bewussten, beruflich orientierten Entscheidung heraus begründet, sondern dient den Schülerinnen häufig als einzige sich bietende Alternative oder zur Verbesserung schulischer Qualifikationen. Dies erklärt möglicherweise den bei den Lehrenden hervorgerufenen Eindruck von Unmotiviertheit und Schulmüdigkeit. Der Besuch eines Bildungsgangs im Berufskolleg wird von den Lernenden oft als „Fortsetzung von Schule“ verstanden; die Ausrichtung bzw. Profilierung des Bildungsgangs ist den wenigsten Lernenden bewusst oder bekannt. Berufliche Orientierung wurde durchgehend als besondere Herausforderung dieser Zielgruppe angegeben. Die Lehrenden vermuten, dass sich aufgrund häufig fehlgeschlagener Bewerbungsverfahren an der ersten Schwelle zur Arbeitswelt (Einstieg in die duale Ausbildung) bei einem Großteil der Lernenden eine Bewerbungsverdrossenheit eingestellt hat. Ebenso stellt sich der Übergang in Arbeit bzw. Ausbildung als nur schwer überwindbare Hürde dar. Dies verengt die Perspektive der Lernenden bezogen auf ihre berufliche Orientierung und Berufsplanung. Dagegen rückt die Gegenwart in Schule ins Zentrum der Betrachtung; berufliche Zukunft wird jedoch häufig ausgeklammert oder verdrängt. Dies kann möglicherweise als ein Begründungsstrang angeführt werden, warum Jugendliche gerade in diesem System vermehrt eine Maßnahmenkarriere im Sinne des aufeinanderfolgenden Besuchs verschiedener Bildungsgänge im Übergangssystem aufnehmen.[3]

1.2 Formulierung von Gestaltungsanforderungen

Neben der Skizzierung des Problemraums wurden die beteiligten Lehrkräfte auch nach Anforderungen befragt, die Konzepte, Instrumente oder Verfahren aufweisen müssen, um bezogen auf diese Zielgruppe wirksam werden zu können. Dabei wurde ausdrücklich auf einen Paradigmenwechsel im Kontext von Lehren und Lernen hingewiesen: Weg von der Defizitorientierung hin zu einer Kompetenz- und Stärkenorientierung.[4] Diese Forderung lässt sich auch aus der Literatur begründen: EULER fordert mit Bezug auf das Lehren und Lernen im Übergangssystem „zielgruppenadäquate, individuelle und kreative Ansätze“ (2009, 3) einzusetzen.[5] Gerade weil die Schülerinnen des Übergangssystems mit vielfältigen Schwierigkeiten und Problemlagen konfrontiert sind, wird der tradierte Weg der Aufarbeitung von (Lern-)Defiziten als wenig erfolgsversprechend erachtet: Eine erneute Konfrontation mit persönlichen Schwächen und Schwierigkeiten wird, zumindest als Ausgangspunkt eines individuellen Kompetenzentwicklungsprozesses, als hinderlich angesehen. EGGERT verlangt von Lehrenden entsprechend eine Sichtweise auf den Lernenden in seinen individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten: „Im Vordergrund dieses Vorgehens steht die Überlegung, sich von der Vorstellung zu entfernen, sich ausschließlich mit den Schwierigkeiten und Problemen zu beschäftigen und sich mehr mit den bereits vorliegenden und zu entwickelnden Kompetenzen zu beschäftigen“ (1997, 12 f.). Diesem Verständnis folgend bietet individuelle Förderung Potenziale, Heterogenität und individuelle Voraussetzungen der Lernenden aufzugreifen und für den Lehr-Lernweg nutzbar zu machen. Dabei gilt es, „den einzelnen Lernenden in den Mittelpunkt zu stellen, individuelle Lernwege und Lernziele zuzulassen und diese zu unterstützen, indem Lernumgebungen gestaltet werden, die den Lernenden ausgehend vom aktuellen Entwicklungsstand und unter Berücksichtigung der individuellen Erfahrungen, Bedürfnisse und Ziele in seiner Kompetenzentwicklung stärken“ (KREMER/ ZOYKE 2008, 179). Vor diesem Hintergrund wird den Kompetenzfeststellungsverfahren in Arbeitsbereich III eine besondere Bedeutung beigemessen. Diese sind insbesondere bezogen auf die Projektausrichtung, nämlich die Entwicklung und Erprobung von Instrumenten im Sinne individueller Förderung, von besonderer Bedeutung. Kompetenz durchgängig zu ergründen, zu erfassen und zu reflektieren wird dabei als wesentlich betrachtet, damit individuelle Förderung gelingen kann. Ebenso kam bei den Lehrenden, die ihrerseits nicht nur aus verschiedenen Berufskollegs stammen, sondern daneben Vertreter verschiedener, auch fachlich spezifischer Bildungsgänge[6] sind, die Forderung auf, nicht starre, auf eine Lerngruppe zugeschnittene Instrumente zu entwickeln, sondern eine gewisse Flexibilität zuzulassen, die die Möglichkeit zum Transfer des Instruments auf unterschiedliche Bildungsgänge bietet. Aus Praxisperspektive besonders relevant erscheint der Punkt der Umsetzbarkeit: Personelle, monetäre wie auch räumliche Ressourcen in Verbindung mit jeweils vorhandenen Ausstattungen (Technik etc.) sind zu berücksichtigen.

2 Das Konzept der Rollenbasierten Kompetenzbilanz

Um sowohl dem Problemraum als auch den Gestaltungsanforderungen, formuliert durch die Lehrkräfte, Rechnung zu tragen, wurde in einem ersten Schritt zunächst eine Sichtung bestehender Instrumente vorgenommen. Der Fokus lag dabei zum einen auf Verfahren der Kompetenzerfassung, zum anderen auf Modellierungen zur Berufsorientierung.

2.1 Kompetenzerfassung durch Kompetenzbilanzierung

Basis individueller Förderung zur Ermöglichung von Kompetenzentwicklung ist die Erfassung des gegenwärtigen Entwicklungsstandes und die Verknüpfung mit individuell abgestimmten Lernzielen (vgl. KREMER/ ZOYKE 2010). Die Anwendung pädagogischer Diagnostik[7] kann hierzu einen Beitrag leisten. In einer allgemeinen Definition nach INGENKAMP/ LISSMANN umfasst diese „alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren“ (2005, 13). Die Kompetenzbilanzierung geriet schnell in das Zentrum der betrachteten Verfahren zur Kompetenzerfassung. Ihre Grundidee, Kompetenzen aufzunehmen, die die Lernenden in Lebenswelten auch außerhalb von Schule informell entwickeln, wurde als geeignete Herangehensweise betrachtet. In diesem Zuge wurden verschiedenen Ausformungen von Instrumenten zur Kompetenzbilanzierung systematisch untersucht.[8] Zum einen, um die Grundstruktur einer Kompetenzbilanz zu konturieren und zum anderen, um Potenziale und unbefriedigende Punkte aufzudecken, die als Grundlage für weitere Entwicklungsschritte dienten. Als Potenziale der Kompetenzbilanzierung wurde insbesondere ihr Zugang, nicht von Defiziten der Lernenden auszugehen, die Aufdeckung und Vergegenwärtigung (verborgener) Kompetenz aus informellen Kontexten wie Familie, Hobby oder Ehrenamt sowie deren Dokumentation und Ausrichtung auf mögliche berufliche Tätigkeiten gesehen.[9] Kritisch betrachtet wurde hingegen der Zugang zur Kompetenzerfassung über biographisch ausgerichtete Reflexionen des Schul- bzw. Berufsweges sowie die zumeist fehlende oder unverbindliche Nutzung ihrer Ergebnisse für weiterführende Kompetenzentwicklungsschritte. Aufgrund dieser Analyse erschien eine bloße Übernahme und Anwendung bestehender Konzepte für die Projektarbeit ungeeignet. In Konsequenz wurde der Bedarf  zur Konzeption eines eigenen, zielgruppenadäquaten Instruments gesehen, das sich auf die Grundidee der Kompetenzbilanz beruft und eine individuelle Kompetenzentwicklung zulässt.

2.2 Berufsorientierung als neuer Zugang zu beruflichem Lernen

Wie einführend erläutert, stellt Berufsorientierung eine gemeinsame Herausforderung der Lernenden im Übergangssystem dar. Gleichzeitig wird in beruflicher Orientierung als Lerngegenstand die Chance gesehen, Anknüpfungspunkte zur individuellen Komptenz­entwicklung zu ermöglichen und jungen Menschen einen neuen Zugang zu beruflichem Lernen anzubieten (vgl. KREMER 2010, 9). Dies setzt jedoch ein ganzheitliches Verständnis von Berufsorientierung voraus, das in schulischer Praxis oft nicht vorliegt. Der Trugschluss, dass bspw. Praxiserprobungen nahezu selbstverständlich mit der Entwicklung beruflicher Orientierungskompetenz einhergehen oder allein durch die Erstellung von Bewerbungsunterlagen erreicht werden kann, hat hier Bestand (vgl. SCHUDY 2002; KREMER 2010, 5). In Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen der Berufswahl- und Orientierung wird im Projekt InLab folgendes Verständnis zu Grunde gelegt: „Berufsorientierung umschließt Aufgaben, die sich im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung von Übergängen in Ausbildung bzw. Arbeit stellen. Sie erstrecken sich zum einen auf die berufliche Orientierung i. e. S.: Individuelle Voraussetzungen auf der einen und arbeitsmarktlich gelagerte Anforderungen auf der anderen Seite sind zu sondieren. Daneben wird die Verzahnung dieser beiden Perspektiven in Form eines Matchingprozesses relevant. In Konsequenz stellt sich eine Realisierungsaufgabe, in der Entscheidungen getroffen und Umsetzungsschritte (gezielte Stellensuche, Verfassen von Bewerbungsunterlagen etc.) durchgeführt werden“ (KREMER 2010, 5). Damit werden vier Situationen beschrieben, in denen jeweils unterschiedlich gelagerte Anforderungen an die Lernenden gestellt werden. Wichtig ist in diesem Kontext, dass Berufsorientierung aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet werden kann. Das hier zugrunde liegende Verständnis von Berufsorientierung betont, dass nicht konkrete Vermittlungsperspektiven in Ausbildung oder Arbeit im Vordergrund stehen, sondern es vielmehr „um eine ganzheitliche, am Individuum ansetzende und damit nachhaltige Kompetenzentwicklung zur selbstgesteuerten Bewältigung von sich immer wieder neu stellenden Aufgaben beruflicher Neu- und Umorientierung“ handelt (KREMER 2010, 5). Vor dem Hintergrund der Schüler im Übergangssystem ist zu berücksichtigen, dass berufliche Orientierung für die Lernenden nicht neu ist. Die Befragung der Lehrenden und Lernenden zeigt, dass nahezu jeder Jugendliche bereits vor Eingang in das Übergangssystem an Maßnahmen bzw. Unterricht zur beruflichen Orientierung teilgenommen hat oder über Erfahrungen aus Nebentätigkeiten u. Ä. verfügt. Diese sind zu berücksichtigen und in den individuellen Entwicklungsprozess mit einzubeziehen (vgl. KREMER 2010, 3).

2.3 Die Rolle als verbindende Klammer zwischen Kompetenzerfassung und -Entwicklung

Als richtungweisend für die weitere Entwicklungsarbeit stellte sich die Idee heraus, subjektiv zentrierte Rollen aus der Lebenswelt der Jugendlichen als Ankerpunkt für eine erste Kompetenzerfassung heranzuziehen.[10] Aus insbesondere informellen Lebensbereichen wie Familie, Hobby oder Ehrenamt können bspw. die Rollen „die große Schwester“, „der Fußballer“, „der Hip-Hopper“ etc. abgeleitet werden, die ihrerseits als Rahmen für das Aufdecken von Kompetenzen bzw. individuellen Stärken herangezogen werden können. Somit wird, anders als in bestehenden Instrumenten der Kompetenzbilanzierung, nicht der Blick auf die Vergangenheit gerichtet, die wie oben belegt bei dieser Zielgruppe oft negativ gefärbt ist, sondern die Gegenwart in den Fokus gerückt. Dies erfordert von den Lernenden ein hohes Maß an Kompetenz zur Selbstreflexion und ein Grundverständnis der Kategorisierung durch Rollen.[11] Motiviert durch die Erstellung eines individuellen Graffitis wurden Rollen definiert und analysiert. Darauf aufbauend erfolgt die Übertragung der ergründeten Stärken in eine tabellarische Übersicht, die die Basis weiterer Kompetenzbilanzierungsschritte darstellt (vgl. FREHE/ KREMER 2010).

Dieser rollenbasierte Ansatz gab der Entwicklungsarbeit eine weitere theoretische Orientierung: Wo zunächst ein Rekurs auf die individuelle Rezeption des Rollenbegriffs erfolgte (subjektiv zentrierte Rollen), schien es aus wissenschaftlicher Perspektive erkenntnisversprechend, die Rollentheorie differenzierter aufzunehmen: Die soziologische Rollentheorie geht davon aus, dass in Situationen aus Rollen[12] heraus gehandelt wird (vgl. u. a. TENBRUCK 1961; PARSONS 1966; DREITZEL 1968).[13] Dies impliziert mitunter die Vorstellung, dass sich zumindest eine Anzahl von wiederkehrenden Situationen vorwegnehmen lässt, d. h. das in ihnen erforderliches Handeln antizipierbar ist (vgl. BERGER/ LUCKMANN 1969, 57). Von Rollen kann dann gesprochen werden, wenn ein objektivierter Wissensbestand vorliegt, der einer Mehrheit von Handelnden gemeinsam zugänglich ist: Es geht somit um reziprokes Wissen darüber, wie eine bestimmte, typische Situation durch das Handeln in einer Rolle bewältigt werden kann (vgl. ebd., 78). Nach COBURN-STAEGE  dienen Rollen in diesem Zusammenhang als Orientierungskategorie. Wie nun die entsprechende Rolle vom jeweiligen Individuum gefüllt wird, steht in Abhängigkeit zu seinem Selbstkonzept (vgl. 1973, 64). Dies deckt sich mit der Argumentation TENBRUCKS, der zu bedenken gibt, dass im Kontext sozialer Rollen immer auch individuelle Aspekte wie Emotion, Engagement und Identifikation mitzudenken sind: Demnach wird die Rolle nicht allein durch die Erwartungen anderer real, sondern insbesondere auch durch „eigene Erwartungen, Gefühle, Dispositionen, Einverständnisse, Orientierungen, Werte“ (1961, 21).

Im Rahmen der Entwicklungsarbeit der Rollenbasierten Kompetenzbilanz wird das Rollenkonzept damit zum einen aufgenommen, um vor dem Hintergrund individueller biographischer Erfahrungen einen Zugang zur Kompetenzbilanzierung herzustellen. Auf der anderen Seite werden in Bezug auf Situationen resp. Handlungsfelder zur Berufsorientierung Rollen als didaktisches Konstrukt zur Unterstützung individueller Entwicklungsprozesse und der damit zusammenhängenden Kompetenzbilanzierung aufgenommen. Diese sind jedoch von den subjektiv zentrierten Rollen der Lebenswelt abzugrenzen. Aus den als relevant erachteten vier Situationen beruflicher Orientierung (vgl. KREMER 2010; auch KREMER/ WILDE 2006) wurden Rollen abgeleitet („Selbstentdecker“, „Berufsweltentdecker“, „Chancenauswerter“ und „Realisierer“) und durch die Zuschreibung situationsabhängiger Kompetenzanforderungen konkretisiert. Dabei wird ein ganzheitliches Kompetenzverständnis zu Grunde gelegt, nach dem zur Bewältigung einer Situation gleichsam fachliche, personale als auch soziale Kompetenzen erforderlich sind (in Anlehnung an ROTH 1971, 379 ff.), die ihrerseits auf unterschiedliche Wissensbestandteile zurückgeführt werden können (vgl. KREMER 2007, 29 ff.). In diese Logik lassen sich auch Basiskompetenzen einordnen, die zur Bewältigung einer Situation relevant sind (vgl. KREMER 2010, 6 ff.). Die Rollen der Berufsorientierung sind damit aus didaktischer Perspektive sowohl konstruiert als auch determiniert und sind jeweils mit konkreten Zielformulierungen zur Kompetenzentwicklung versehen.[14] Ausgehend von Kompetenzen, die in einer eingehenden Kompetenzbilanzierung aus subjektiv zentrierten Rollen erfasst wurden[15], können die Berufsorientierungs-Rollen je nach Entwicklungsstand und Interesse individuell realisiert werden. Rollen beruflicher Orientierung erfüllen damit zum einen eine Orientierungsfunktion, die sich sowohl auf verschiedene Bereiche von Berufsorientierung bezieht und damit die Frage behandelt „Was umfasst Berufsorientierung?“. Ebenso erfolgt eine Orientierung auf Ebene der Situation selbst: Hier geht es um die Konkretisierung der Aufgaben beruflicher Orientierung in einer bestimmten Situation, die aus der zugehörigen Rolle bewältigt werden. Wie die jeweilige Rolle jedoch vom Lernenden konkret gefüllt wird, welche persönlichen Stärken, Motive, Werte und Einstellungen die individuelle Handlung beeinflussen, kann nicht von außen bestimmt werden. Hier bieten sich Anknüpfungspunkte für die Verbindung der Kompetenz­bilanzierungsergebnisse (Stärkentabelle) mit Entwicklungsaufgaben. Geht es bspw. um die Aufgabe, sich in der Rolle des „Berufsentdeckers“ über Firmen einer bestimmten Branche zu informieren, wählt eine Schülerin, die ihre Stärken im Bereich der offenen Kommunikation erkannt hat, möglicherweise den Weg über ein persönliches Gespräch, um an Informationen zu gelangen. Der internetaffine Schüler hingegen entscheidet sich möglicherweise für die Informationssammlung über eine Internetrecherche. Gleichzeitig lässt sich hier die Förderung von Basiskompetenzen situiert anbinden. Exemplarisch kann die Förderung sprachlicher Kompetenz herangezogen werden: Das Führen von Telefonaten, das Formulieren von Anschreiben oder die Diskussion über unterschiedliche Formen der Informationsgewinnung im Kreis der Mitschülerinnen sind bspw. basale Kompetenzbereiche zur Bewältigung der Rolle des „Berufsweltentdeckers“. Weitere Beispiele ließen sich für mathematische und soziale Kompetenzen sowie im Kompetenzbereich Wissen und Medien finden (Berechnung von Marktanteilen, Auftreten vor Fremden, Umgang mit Internetquellen etc.). Damit stellen sich die Lerninhalte für die Lernenden zwar nicht neu dar, durch ihre Situationsgebundenheit eröffnen sie ihnen jedoch einen neuen Zugang zum Lernen (vgl. KREMER 2010, 9). Es wird ein Anwendungsbezug geschaffen, der den Lernenden möglicherweise im Zuge der rein fächerorientierten Wissensvermittlung eher verborgen bleibt.[16] Aufgaben in Situationen beruflicher Orientierung lassen sich somit aufgrund verschiedenster Stärken und Entwicklungsbedarfe individualisieren. Hier lässt sich die enge Anbindung an den Grundgedanken individueller Förderung feststellen, dem gerade für die sehr heterogene Schülerklientel und die damit verbundenen Problemlagen im Übergangssystem besondere Bedeutung zukommt.

Das Konstrukt der Rolle, ob nun eher aus soziologisch-biographischer Perspektive gedacht oder als didaktisches Konstrukt zur Kompetenzentwicklung, kann somit als verbindende Klammer zwischen den Basiselementen individueller Förderung - der Kompetenzerfassung und Kompetenzentwicklung - betrachtet werden. Es bietet Potenziale, individuelle Voraussetzungen mit Entwicklungszielen zu vereinbaren.

2.4 Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich folgende Grundidee und -ausrichtung der Rollenbasierten Kompetenzbilanz formulieren: Die Rollenbasierte Kompetenzbilanz stellt ein Instrument zur Kompetenzerfassung und der gleichzeitigen Kompetenzentwicklung dar. Es rekurriert auf Verfahren der Kompetenzbilanzierung und verknüpft diese ausgehend von einem stärkenorientierten Ansatz mit Rollen aus der Lebenswelt der Lernenden mit Rollen, die sich aus dem Lerngegenstand der Berufsorientierung ergeben. Durch eine an Rollen gebundene Kompetenzerfassung und -entwicklung kann es gelingen, auf der einen Seite Kompetenzen Lernender des Übergangssystems aus Lebensbereichen für den Kompetenzentwicklungsprozess aufzunehmen, ohne sie mit ihren zumeist negativ belegten Schul- und Lernbiographien zu konfrontieren. Auf der anderen Seite eröffnet eine Kompetenzentwicklung in Rollen die Möglichkeit, den individuellen Entwicklungsstand des Lernenden aufzunehmen. Anforderungen, die an Rollen in bestimmten Situationen gestellt werden, können je nach individueller Kompetenz bzw. vorhandenen Stärken realisiert werden. Die Anbindung von Lernumgebungen an Rollen beruflicher Orientierung bietet den Lernenden daneben einen neuen, situationsorientierten Zugang zum Lernen, der auch eine anwendungsbezogene Förderung von Basiskompetenzen zulässt.[17]

Initiates file download

Abb. 1: Rahmenkonzept der Rollenbasierten Kompetenzbilanz (vgl. FREHE/ KREMER 2010, 4 ff.)

3 Implementation der Rollenbasierten Kompetenzbilanz am Mildred-Scheel-Berufskolleg in Solingen

Die Erprobung der Rollenbasierten Kompetenzbilanz wurde zu Beginn des Schuljahres 2010/11 am Mildred-Scheel-Berufskolleg in Solingen durchgeführt. Bei der Klasse handelt es sich um eine Unterstufe der Berufsfachschule für Ernährung und Hauswirtschaft. Dieser Bildungsgang schließt nach zwei Jahren mit dem Erwerb der Fachoberschulreife (FOR) und einer beruflichen Grundbildung ab. 

3.1 Analyse der Lerngruppe

Die Lerngruppe, mit der das Instrument der Rollenbasierten Kompetenzbilanz erprobt wurde, spiegelt größtenteils die oben angeführte Charakterisierung Lernender im Übergangssystem wider. An dieser Stelle soll der Fokus jedoch genau auf diese Lerngruppe gelegt werden, die aus Lehrendenperspektive wie folgt beschrieben werden kann: Die Klasse besteht aus 23 Schülern, davon sind 14 weiblich und 9 männlich. 13 Schüler besitzen einen Migrationshintergrund; drei von ihnen sind nicht in Deutschland geboren. Die Schüler sind bis auf drei Ausnahmen neu an der Schule und besitzen alle den Hauptschulabschluss nach Klasse 9. Die fachliche Ausrichtung des Bildungsganges stellte bei keinem der Lernenden den eigentlichen Beweggrund für die Wahl des Bildungsganges dar. Dieser Weg wurde überwiegend aus Mangel an Alternativen gewählt oder weil sie an anderen Schulen gescheitert sind. Hier kann kritisch gefragt werden, in welchem Umfang bereits eine berufliche Orientierung bei den Schülern stattgefunden hat. Meist betrachten sie diesen zweijährigen Bildungsgang als Warteschleife und erhoffen sich mit der Fachoberschulreife eine verbesserte Vermittlungschance auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Bisher erbrachte Praktika erwiesen sich als wenig wirksam, um eine erweiterte Berufsorientierung herbeizuführen. Dies bestätigte sich zuletzt in der vor den Herbstferien 2010 durchgeführten Praktikumsphase. Die Klasse zeichnet sich durch ein hohes Maß an Heterogenität aus, die sich insbesondere in der Leistungsstärke und -bereitschaft zeigt. So können lediglich drei Lernende der Klasse als leistungsstark beschrieben werden. Die Schüler besitzen eine geringe schulische Motivation, die meist auf schulische Frustrationen aus den vorherigen Schulbesuchen basiert. Sie wissen um ihre Defizite: Schlechte Leistungen in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch werden akzeptiert und als normal angesehen.

3.2 Umsetzung

Die Umsetzung der Rollenbasierten Kompetenzbilanz wurde von der Klassenlehrerin und dem Co-Klassenlehrer in wöchentlich zwei Stunden in den Monaten November 2010 bis Januar 2011 durchgeführt. Der Einstieg in den Unterricht zur Berufsorientierung erfolgte anhand der in der Projektgruppe konkretisierten Materialien zur ersten Kompetenzbilanzierung mit starker Anbindung an die erste Rolle der Berufsorientierung „Selbstentdecker“ (siehe Abb. 1).[18] Ziel dieser ersten Sequenz war es, die Lernenden anzuleiten, ihre eigene Lebenswelt zu reflektieren und darin eingenommene Rollen zu identifizieren. Zu diesem Zweck wurden die Lernenden aufgefordert, ein individuelles Graffiti zu erstellen. Der Inhalt des Graffitis sollte Antworten auf die folgenden Fragen geben: „Was ist mir wichtig?“, „Was kann ich gut?“ und „Wie sieht meine Zukunft aus?“. Die Besonderheiten der Darstellungsform Graffiti wird darin gesehen, dass diese durch Worte, Bilder und Symbole dargestellt werden können. Den Lernenden steht damit offen, was sie deutlich zu erkennen geben und welche Inhalte durch Symbole codiert dargestellt werden. Graffitis stellen eine Gegenwartsaufnahme dar; veraltete Graffitis werden „übersprayt“, was die Flexibilität dieses Formats verdeutlicht (vgl. FREHE/ KREMER 2010, 8 ff.). In der Erarbeitungsphase war zu beobachten, dass die Schüler diesen spielerischen Einstieg sehr motiviert aufgenommen haben und eine für ihre Verhältnisse hohe Konzentrationsfähigkeit und Zielorientierung während dieser Phase aufwiesen. Die Gestaltung der Graffitis bot auch den leistungsschwächeren Schülern eine gute Möglichkeit, sich zu den oben genannten Fragen individuell zu äußern. Den Lernenden wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich unterschiedlich intensiv mit den Fragestellungen auseinanderzusetzen, was zu einer zeitlich sehr flexiblen Auslegung des Arbeitsauftrages führte. Als Vorteil wurde von den Schülerinnen in dieser Phase die flexible Umsetzung angesehen: Hier ging es nicht um das Abarbeiten einer Fragelisten zu Kompetenzen sondern darum, dass jeder Lernende die Möglichkeit hat, seine individuelle Antwort auf die gestellten Fragen zu geben. Auch die Codierung von Sachverhalten in kleinen Bildern wurde sehr positiv aufgenommen und vereinzelt auch verwendet. In dieser Phase konnten auch schon von Seiten der Lehrkräfte Lehrer-Schüler-Gespräche angestoßen werden.

In der zweiten Phase sollten die Schülerinnen und Schüler die angefertigten Graffitis in ein vorstrukturiertes Mindmap übertragen. Dieses Mindmap verfügt über eine Aufteilung in die Bereiche „Familie“, „Hobby“, „berufliche Tätigkeit“, „Schule“ und „Freunde“. Jeder dieser Begriffe wurde nun in „Zukunft“ und „Heute“ unterteilt, so dass eine Übertragung aller Bereiche der auf dem Graffiti aufgeführten Begriffe und Bilder in diese Mindmap möglich war. Die Vorstrukturierung der Mindmap erwies sich als sehr vorteilhaft, da die Schülerinnen die Methode „Mindmap“ bisher nur unzureichend beherrschten. Diese Vorgabe erleichterte auch die strukturierte Übertragung der Mindmap in die dann folgende Rollen- und Stärkentabelle. Die Abstrahierung des Rollenbegriffs fiel den Lernenden erwartungsgemäß schwer, insbesondere weil mit dieser Mindmap der Rollenbegriff eingeführt wird, ohne zuvor benannt zu werden. Dies erfolgte im dritten Schritt bei der Zusammenstellung der Rollen und den daraus resultierenden Stärken in der schon erwähnten Rollen- und Stärkentabelle. 

In dieser Tabelle stellten die Schülerinnen die Rollen, die sie im täglichen Leben einnehmen, zusammen, ordneten diesen Rollen darin bestehende Aufgaben zu und ermittelten die Stärken, die sich aus diesen Aufgaben ableiten ließen. Beispiele hierfür sind beispielsweise der Schüler, der Fußball spielt und dort in der Rolle des Motivators in der Mannschaft für die Erfolge mitverantwortlich ist. Aus diesem Kontext konnte er die Eigenschaft „Ehrgeiz“ für sich als Stärke ableiten. Alle diese drei Schritte (vgl. Abb. 2) vom Graffiti, über die vorstrukturiert Mindmap bis zur Rollen- und Stärkentabelle boten aus Perspektive der Lehrenden ausreichende Möglichkeiten, in Gesprächen mit den Schülerinnen auf einzelne Aspekte einzugehen.

Initiates file download

Abb. 2: Dreischritt der Kompetenzbilanzierung (FREHE/ KREMER 2010, 8)

An diese Bearbeitung schlossen sich Einzelgespräche an, in denen die Lehrenden mit den Schülern zusammen auf Basis der erarbeiteten Materialien die Stärken herausarbeiteten. Ziel dieser Gespräche war es, die bestehenden Berufsvorstellungen zu hinterfragen und eventuell neue, bisher nicht beachtete Berufsbilder als Möglichkeit zu motivieren. Es fanden sich in den Arbeitsmaterialien zahlreiche Anknüpfungspunkte für berufliche Aspekte, die meist von den Schülerinnen in dieser Form zuvor nicht beachtet worden sind. Meist beschränkten sich die bestehenden beruflichen Orientierungen auf bekannte Berufsbereiche, auf die sie durch Familienmitglieder oder befreundete Bezugspersonen gestoßen sind. Eine Ausrichtung der beruflichen Aspekte auf Basis der bestehenden Stärken führte häufig zu überraschenden und von den Schülern nicht erwarteten Ergebnissen. Am Ende des Gesprächs bekamen die Schüler die Aufgabe, sich mit Unterstützung von Internetangeboten und Informationsbroschüren über die im Gespräch erarbeiteten Berufsfelder intensiv zu informieren. Sie sollten herausarbeiten, welche Qualifikationen in den Berufsfeldern erforderlich sind und welche Anforderungen jeweils dort gestellt werden. Dies sollte immer vor dem Hintergrund der zuvor erarbeiteten Stärken der Lernenden erfolgen. Hier zeigt sich der (teilweise fließende) Übergang zur Rolle des „Berufsweltentdeckers“ und des „Chancenauswerters“ (siehe Abb. 1). Die Recherche erfolgte meist in den EDV-Räumen des Berufskollegs. 

Aus der Erprobung der Rollenbasierten Kompetenzbilanzierung am Mildred-Scheel-Berufskolleg Solingen wurde abschließend folgendes festgestellt: Die Rollenbasierte Kompetenzbilanzierung ist eine gute Möglichkeit, die individuellen Stärken der Lernenden herauszuarbeiten und für eine Berufsorientierung zu nutzen. Die klaren Strukturen der Arbeitsaufträge, der Aufbau und die Abfolge der Arbeitsphasen sind der Lerngruppe angemessen. Die Schülerinnen haben während dieses Projektes engagiert und motiviert gearbeitet. Die hohe Kommunikation zwischen Lehrkräften und Schülern während der Arbeitsphasen und durch das abschließende Gespräch ist eine geeignete Möglichkeit, die Stärken der Schüler in Hinblick auf eine Berufsorientierung herauszuarbeiten. Die Struktur der Rollenbasierten Kompetenzbilanzierung (Abb. 1) ermöglicht eine individuelle Umsetzung innerhalb der Klasse. Zudem bietet sie die Möglichkeit, das Konzept flexibel in verschiedenen Lerngruppen einzusetzen. Je nach Kenntnisstand können Teile an die Lerngruppe angepasst werden, wenn diese beispielsweise die Methode Mindmap schon beherrschen. Je nach zur Verfügung stehendem Zeitdeputat ist eine Adaption leicht möglich. Auch die Integration in verschiedene Fächer (bspw. EDV, Deutsch-Kommunikation oder Soziallehre) ist leicht möglich. Da die Arbeitsmaterialien in wesentlichen Teilen gebrauchsfertig sind, können diese auch nach kurzer Einweisung von anderen Lehrkräften genutzt werden, so dass auch nicht an dem Projekt beteiligte Lehrkräfte ohne großen Aufwand die Rollenbasierte Kompetenzbilanzierung einsetzen können.

4 Zusammenführung und Ausblick

Der Arbeitsbereich III des Projekts InLab hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein flexibles Instrument zur individuellen Entwicklung von Berufsorientierungskompetenz zu erstellen, das auf die Zielgruppe der Lernenden im Übergangssystem zugeschnitten ist. Die Fokusgruppe profitiert dabei davon, dass die Beteiligten aus Wissenschaft und Praxis jeweils unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsräume einbringen. Letztlich ist ebenfalls die Perspektive der Lernenden in den Blick zu nehmen. Damit ist für die Weiterentwicklung der Rollenbasierten Kompetenzbilanz eine weitere Auseinandersetzung auf Basis von Theorie- und Praxisreflexion unumgänglich. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich feststellen, dass insbesondere die Sequenz der ersten Kompetenzbilanzierung (Abb. 2) durch die Lehr-Lern-Perspektive reflektiert werden kann. Dies ist wohl insbesondere vor dem Hintergrund des sehr konkret vorliegenden Materialienpools zur Ergründung individueller Stärken aus Rollen der Lebenswelt der Jugendlichen zu begründen. Weiterer Entwicklungsbedarf wird in der Konkretisierung der Berufsorientierungs-Rollen gesehen, die durchgängig mit Schritten der Kompetenzbilanzierung zu kombinieren sind. Dies stellt sich als Forschungs- und Entwicklungsaufgabe für den Arbeitsbereich III und wird in weiteren Phasen der Erhebung und Erprobung zu fokussieren sein.

Literatur

ABELS, H. (2007): Einführung in die Soziologie. Band 2. Die Individuen in ihrer Gesellschaft. 3. Auflage. Wiesbaden.

BAETHGE, M./ SOLGA, H./ WIECK, M. (2007): Berufsbildung im Umbruch: Signale eines überfälligen Aufbruchs. Berlin.

BEICHT, U. (2009): Verbesserung der Ausbildungschancen oder sinnlose Warteschleife? Zur Bedeutung und Wirksamkeit von Bildungsgängen am Übergang Schule - Berufsausbildung. BIBB Report 11/09. Bielefeld. Online: http://www.bibb.de/dokumente/pdf/a12_bibbreport_2009_11.pdf  (05-05-2011).

BERGER, P. L./ LUCKMANN, T. (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main.

COBURN-STAEGE, U. (1973): Der Rollenbegriff. Ein Versuch der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Individuum. Heidelberg.

DREITZEL, H. P. (1968): Die gesellschaftlichen Leiden und die Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart.

EGGERT, D. (1997): Von den Stärken ausgehen. Individuelle Entwicklungspläne in der Lernförderdiagnostik. Ein Plädoyer für andere Denkgewohnheiten und eine veränderte Praxis. 2. verb. Auflage. Dortmund.

ERLER, W./ GERZER-SASS, A./ NUßHART, C./ SASS, J. (2000): Die Kompetenzbilanz. Eigene Stärken erkennen und beruflich nutzen. Online: http://cgi.dji.de/bibs/33_633komp.pdf  (16-06-2009).

ERPENBECK, J./ HEYSE, V. (2007): Die Kompetenzbiographie – Wege der Kompetenz­entwicklung. 2. Auflage. Münster (u. a.).

EULER, D. (2009): Übergangssystem - Chancenverbesserung oder Vorbereitung auf das Prekariat? Vortrag im Rahmen der Fachtagung der Hans-Böckler-Stiftung „Zukunft der Berufsbildung“ am 12. Februar 2009. Düsseldorf.

FREHE, P./ KREMER, H.-H. (2010): Die Rollenbasierte Kompetenzbilanz - Berufsorientierung im Übergangssystem gestalten. Ein Prototyp aus Arbeitsbereich III. InfoLab 3. Online: http://groups.uni-paderborn.de/cevet/cevetblog/wp-content/uploads/2010/06/InfoLab3Online.pdf  (01-07-2010).

GELLER, H. (1994): Position Rolle Situation. Zur Aktualisierung soziologischer Analyseinstrumente. Opladen.

GILLEN, J./ PROß, G. (2005): Kompetenzreflektor. Online: http://www.komnetz.de/fileadmin/Dokumente/Handreichungen/Kompetenzreflektor.pdf  (16-06-2009).

INGENKAMP, K./ LISSMANN, U. (2005): Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik. 5., völlig überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel.

JAECKEL, M./ ERLER, W. (o. J.): Kompetenzbilanz für Migrant/inn/en. Checkliste zum Einschätzen der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Online: www.stiftung-interkultur.de/jt2007_workshop.ppt  (16-06-2009).

KREMER, H.-H. (2010): Berufsorientierung. Neue Profilierung als Chance und Herausforderung der Bildungsgänge im Übergangssystem. Grundlagentext zur Entwicklungsarbeit. InfoLab 2. Online: http://groups.uni-paderborn.de/cevet/cevetblog/wpcontent/uploads/2010/06/infolab2_onlineversion-final.pdf  (05-05-2011).

KREMER, H.-H. (2007): Selbstgesteuertes Lernen in medienbasierten kooperativen Lernumgebungen. In: KREMER, H.-H- (Hrsg.): Lernen in medienbasierten kooperativen Lernumgebungen - Modellversuch KooL. Paderborn, 25-46.

KREMER, H.-H./ WILDE, S. (2006): Entwicklung und Implementation einer komplexen Lernumgebung zur Berufswahlvorbereitung. In: Wirtschaftspädagogische Beiträge, Heft 12. Online: http://pbfb5www.uni-paderborn.de/www/fb5/wiwi-web.nsf/id/3E26D7F61E04A527C1256FC0003DC24D/$file/wpb_h12.pdf  (01-07-2010).

KREMER, H.-H./ ZOYKE, A. (2008): Individuelle Förderung von Kompetenzen - Curriculare und didaktisch-methodische Optionen. In: MÜNK, D./ RÜTZEL, J./ SCHMIDT, C. (Hrsg.): Labyrinth Übergangssystem. Forschungserträge und Entwicklungsperspektiven der Benachteiligtenförderung zwischen Schule, Ausbildung, Arbeit und Beruf. Bonn, 177-188.

KREMER, H.-H./ ZOYKE, A. (2010): Kompetenzdiagnose als Basis individueller Förderung - Zum Geheimnis einer Black Box!? In: MÜNK, D./ SCHELTEN, A. (Hrsg.): Kompetenzermittlung für die Berufsbildung. Verfahren, Probleme und Perspektiven im nationalen, europäischen und internationalen Raum. Schriften zur Berufsbildungsforschung der Arbeitsgemeinschaft Berufsbildungsforschungsnetz AG BFN, Band 8. Bielefeld, 145-160.

KREMER, H.-H./ ZOYKE, A./ FREHE, P. (2009): Ausgangslage zur individuellen Förderung und selbstgesteuerten Kompetenzentwicklung in der berufsschulischen Grundbildung. Grundlegung zum Projekt InLab. InfoLab 1. Online: http://groups.uni-paderborn.de/cevet/cevetblog/wp-content/uploads/2010/06/infolab-i_26_10_09_web1.pdf  (05-05-2011).

LUHMANN, N. (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt.

MIEBACH, B. (2007): Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. Opladen.

PARSONS, T. (1966): Der Begriff der Gesellschaft: Seine Elemente und ihre Verknüpfungen. In: JENSEN, S. (Hrsg.): Zur Theorie sozialer Systeme. Opladen.

RENKL, A. (1996): Träges Wissen: Wenn Erlerntes nicht genutzt wird. In: Psychologische Rundschau, 1996/47, 78-92.

ROTH, H. (1971): Pädagogische Anthropologie. Band 2: Entwicklung und Erziehung. Hannover.

SCHUDY, J. (Hrsg.) (2002): Berufsorientierung in der Schule. Grundlagen und Praxisbeispiele. Bad Heilbrunn.

TENBRUCK, F. H. (1961): Zur Deutschen Rezeption der Rollentheorie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 13. Jahrgang, 1-40.


[1]   Zur besseren Lesbarkeit wird lediglich die männliche oder weibliche Form verwandt. Das jeweils andere Geschlecht ist dabei mit einbezogen.

[2]   In Vorbereitung auf das Projekt InLab wurde im Herbst 2009 eine Befragung der Lehrenden auf Ebene der Schul- und Bildungsgangleitung durchgeführt (vgl. KREMER/ ZOYKE/ FREHE 2009).

[3]   Der aufeinanderfolgende Besuch von Bildungsgängen des schulisch-strukturierten Übergangssystems kann dabei sowohl horizontal (z. B. durch die Umorientierung zu einer anderen Fachrichtung) als auch vertikal verlaufen, bspw. intendiert durch die Aussicht auf einen höherqualifizierenden Abschluss.

[4]   Das Konzept der Stärkenorientierung wurde durch im Zuge des Projektes InLab kommunizierter Ziele und möglicher Umsetzungsschritte in die Diskussion hineingetragen. Dies wurde von den Lehrenden als positiv bewertet und findet sich wohl auch dadurch begründet in den von ihnen formulierten Gestaltungsanforderungen wieder.

[5]   EULER führt dies im Kontext der Diskussion um Modularisierungsverfahren an, auf die im Folgenden jedoch nicht näher eingegangen werden soll (vgl. 2009).

[6]   Die in Arbeitsgruppe III aktiven Lehrkräfte arbeiten in den Bildungsgängen Berufsgrundschuljahr und Berufsfachschule aus den Bereichen Metall/Elektronik, Ernährung und Hauswirtschaft, Gesundheit sowie Körperpflege.

[7]   Vor dem Hintergrund einer kompetenzorientierten Didaktik wird im Folgenden von Kompetenzerfassung im Kontext pädagogischer Diagnostik gesprochen. An dieser Stelle soll nur kurz auf die Vielfältigkeit an Termini in diesem Kontext verwiesen werden: Kompetenzfeststellung, -erfassung, -ermittlung oder -analyse beschreiben Perspektiven der pädagogischen Diagnostik, die jeweils in den Fokus gerückt werden. Diese lassen sich möglicherweise aus der Vielschichtigkeit diagnostischen Handelns zurückführen, das sich auf das Vergleichen, Analysieren, Prognostizieren, Interpretieren und Mitteilen des diagnostizierten Gegenstandes erstreckt sowie eine Wirkungskontrolle intendieren kann (vgl. INGENKAMP/ LISSMANN 2005, 39ff).

[8]   Betrachtet wurde insbesondere die DJI Kompetenzbilanz (ERLER et al. 2000), die Kompetenzbilanz für Migrant/inn/en (JAECKEL/ ERLER o. J.), der Kompetenzreflektor (GILLEN/ PROß 2005) sowie die Kompetenzbiographie von ERPENBECK/ HEYSE (2007).

[9]   An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle untersuchten Instrumente zur Kompetenzbilanzierung alle hier aufgeführten Aspekte aufnehmen. Die Grundstruktur wurde vor dem Verwendungshintergrund des Arbeitsbereiches III aus der Zusammenschau der untersuchten Instrumente abgeleitet.

[10]  GELLER stellt fest, dass der Rollentheorie im Kontext von Selbstdarstellung im Alltag eine gewisse Bedeutung zukommt (1994, 8). Grenzen von Rollen sind jedoch verschieden und insbesondere „gegenüber der individuellen Person spezieller als auch allgemeiner gefasst“ (LUHMANN 1987, 430). Vor diesem Hintergrund wird vorliegend der Begriff „subjektiv zentrierte Rolle“ zur Hilfe genommen, um herauszustellen, dass es sich hierbei um das vom Individuum abhängige Verständnis des Rollenbegriffs, seiner Interpretation und Abgrenzungen handelt.

[11]  Eine Konkretisierung der Vorgehensweise sowie die Herausstellung von Herausforderungen und Schwierigkeiten innerhalb der Umsetzung erfolgt in Gliederungspunkt 3 aus der Perspektive Praxis.

[12]  Das Rollenkonzept kann hier nicht erschöpfend thematisiert werden. Vorliegend handelt es sich zunächst um die erste Rezeption von Leitgedanken, die das Konstrukt der sozialen Rolle für kompetenzerfassende und kompetenzentwickelnde Zielsetzungen anwendbar erscheinen lassen.

[13]  An dieser Stelle soll kurz auf den Diskurs innerhalb der Rollentheorie hingewiesen werden: Vertreter der struktur-funktionalistischen Rollentheorie wie PARSONS, LINTON und MERTON begreifen Rollen als System normativer Erwartungen. Diese werden von den individuellen Rollenträgern im Prozess der Sozialisation erlernt und in normkonformes Rollenhandeln überführt. Die Gesellschaft gibt demnach dem Individuum durch Rollen vor, wie es zu handeln hat (ABELS 2007, 101). Dem gegenüber steht die symbolisch-interaktionistische Rollentheorie. MEAD, einer der Begründer dieses Ansatzes, betont, dass in jeder Rolle ein notwendiges Element an Spontaneität enthalten ist. Er interpretiert ferner die Identitätsentwicklung eines Individuums als Prozess der Rollenübernahme Fehlt im Literaturverzeichnis (vgl. MIEBACH 2007, 40).

[14]  KREMER konkretisiert die Situation „Beruf - Entdecke Deine Möglichkeiten“ anhand von Kompetenzformulierungen (2010, 8).

[15]  Eine exemplarische Ausdifferenzierung einer Kompetenzbilanzierung im Sinne einer Eingangsdiagnostik kann der Projektdokumentation InfoLab 3 (FREHE/ KREMER 2010) entnommen werden.

[16]  Vgl. hierzu ergänzend die Diskussion um „Träges Wissen“, z. B. bei RENKL (1996).

[17]  Es handelt sich hier um Potenziale der Rollenbasierten Kompetenzbilanz, die in der Konzeptions- und Entwicklungsphase vermutet und formuliert wurden. In wie fern sie im Rahmen der Erprobung zu Tage treten, wird derzeit in einer Evaluationsstudie des Instruments aus Lehrenden- und Lernendenperspektive untersucht, die auf Potenziale und Herausforderungen der Rollenbasierten Kompetenzbilanz abhebt.

[18]  Der InfoLab 3 „Die Rollenbasierte Kompetenzbilanz - Berufsorientierung im Übergangssystem gestalten“ stellt Materialien insbesondere zur Einführung in das Instrument praxisnah dar (siehe FREHE/ KREMER 2010).


Zitieren dieses Beitrages

FREHE, P./ RAAB, B. (2011): Rollenbasierte Kompetenzbilanz zur Berufsorientierung – Konzepte und Erfahrungen. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 16, hrsg. v. BEUTNER, M./ KREMER, H.-H./ ZOYKE, A., 1-16. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws16/frehe_raab_ws16-ht2011.pdf (26-09-2011).



Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

http://www.hochschultage-2011.de/