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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
WS 04 Ernährung

Neue Herausforderungen für die Fachdidaktik Ernährung in Zeiten der Globalisierung



Abstract

Die Fachdidaktik Ernährung steht vor der zentralen Herausforderung, auf die Veränderungen im Zuge der Globalisierung zu reagieren. Die Öffnung der Märkte und die rasant fortschreitenden Kommunikationstechnologien haben das Lokale mit dem Globalen verbunden und zu zahlreichen Neuerungen und Umgestaltungen geführt, zu denen auch der Klimawandel gerechnet wird. Diese Veränderungen zeigen eine enorme Steigerung komplexer Sach- und Wirkungszusammenhänge, die im Einzelnen kaum oder vielfach gar nicht mehr nachvollziehbar ist. Der Ernährungsbereich bleibt davon nicht unberührt, ist er doch seit langem durch seine Produktvielfalt global eingebunden. Aus diesem Grund tragen die in den ernährungs- und gastorientierten Berufen arbeitenden Personen eine Mitverantwortung an der Gestaltung des globalen Wandels, zumal sie über ihre beruflichen Tätigkeiten Einfluss auf den Globalisierungsprozess ausüben. Der vorliegende Beitrag zeigt erste Schritte auf, wie eine neu auszurichtende Fachdidaktik Ernährung auf diese Veränderungen reagieren sollte, um den Anspruch einer beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung im Kontext von Globalität gerecht zu werden. Ausgangspunkt bilden zwei Analysen, die sich mit den Folgen der Globalisierung sowie mit der politischen Antwort und dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung beschäftigen. Darauf aufbauend werden erste Konsequenzen für eine Neugestaltung der Fachdidaktik Ernährung gezogen.

1.  Die Fachdidaktik Ernährung vor neuen Herausforderungen

Über die Folgen des Klimawandels und der Globalisierung schreibt der ehemalige Bundesumweltminister und stellvertretende Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung Klaus Töpfer:

„Ebenso klar zeichnet sich ab, dass diese Klimaentwicklung die globalen Verteilungskonflikte verschärfen wird. Die kommenden Generationen werden die Kosten begleichen müssen, die wir bei den Kalkulationen für unseren Wohlstand unberücksichtigt lassen […] Ebenso klar ist auch, dass gerade die Ärmsten der Armen von diesen Veränderungen zuerst und mit der größten Wucht überrollt werden […] Nach wie vor wird in den Industrieländern der Konsum als erste Bürgerpflicht angemahnt, schließlich muss die Wirtschaft wachsen, und zwar um jeden Preis“ (TÖPFER 2006, 6).

Mit der Entwicklung des Klimas und den zusammenwachsenden Märkten einer globalisierten Weltgemeinschaft zeigten sich Veränderungen, so Töpfer, deren Folgen übergreifend seien und daher jeden Einzelnen betreffen würden. Die Vernetztheit der Probleme reiche dabei von klimatischen Veränderungen über eine Verschärfung gewalttätiger Konflikte um Rohstoffe und ihren Folgen der Armutsbewegung bis zu einem generationsübergreifenden Raubbau an den lebensnotwendigen Grundlagen zukünftiger Existenzen. Aus diesem Grund verbiete sich eine ‚Weiter-so', weshalb ein wirtschaftspolitisches Umdenken zu erfolgen habe. In diesem Zusammenhang plädiert Töpfer für ein ausgewogenes Verhältnis von wirtschaftlichem Wachstum, sozialem Ausgleich und ökologischer Stabilität – ein Plädoyer für die „Globalisierung der Nachhaltigkeit“ (TÖPFER 2006, 6f.). Im Grunde braucht es keine Erläuterung, in welchem Umfang der Ernährungssektor diese Prozesse mitverantwortet. Daher nur ein Beispiel: „Um einen Liter Orangensaft herzustellen, werden in Ländern des Südens 20 Liter Wasser verbraucht, in Florida bis zu 1000“ (BMU 2007, 9).

Die Fachdidaktik Ernährung steht vor der Herausforderung, auf diese Veränderungen pädagogisch zu reagieren und ein didaktisches Konzept bereitzustellen, das geeignet ist, den globalen Wandel in Verantwortung für die jetzt und in Zukunft lebenden Generationen mitzugestalten. Hierfür muss es gelingen, die politisch initiierte Idee der nachhaltigen Entwicklung sowie das pädagogische Konzept der ‚Bildung für eine nachhaltige Entwicklung' und dessen Ansatz der Gestaltungskompetenz für die Fachdidaktik Ernährung fruchtbar zu machen und neue berufliche Bildungswege aufzuzeigen. Allerdings zeigen sich bei näherer Betrachtung auch Umsetzungsprobleme, die sich aus der Komplexitätssteigerung infolge global zusammenwachsender Weltmärkte und deren fachdidaktische Einbindung in ein Konzept der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ergeben.

2. Globalisierung und Komplexität

Globalisierung hat viele Gesichter. Dieser viel zitierte Spruch verweist mit Recht auf die Komplexität des Lerngegenstandes Globalisierung und gibt eine Ahnung von der Problematik, die sich aus didaktischer Perspektive ergibt. Dabei stellt allein der Prozess der Globalisierung keine wirklich neue Erscheinungsform der Moderne dar, insbesondere nicht im Ernährungsbereich. So besitzt der Ex- und Import von Lebensmitteln eine über viele Jahrhunderte alte Tradition, deren Verlauf zu tief greifenden kulturellen Veränderungen geführt hat. In diesem Kontext wird z.B. von Historikern auf den Salzhandel der norddeutschen Hanse verwiesen, welcher eine anwachsende Nationen übergreifende Verflechtung auf den Gebieten der Ökonomie, Ökologie, Politik, Kultur sowie Kommunikation nach sich zog. Das ‚Gold der Hanse', das Salz , führte im gesamten Ostseeraum zu wirtschaftlicher Prosperität, wechselseitigen Handelsabkommen, kulturübergreifenden Austauschprozessen, machtpolitischen und monopolartigen Interessenswahrnehmungen usw. – Kennzeichen von Globalisierung (vgl. Hammel-Kiesow 2004). Angesichts der damit verbundenen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse sind Parallelen zur heutigen Globalisierungsdebatte erkennbar. Denn unabhängig von der räumlichen Dimension, entstehen für die Menschen neue und vielfältige Bezugspunkte, die zwangsläufig eine Komplexitätssteigerung des Denkens und Handelns bedeuten. Plakativ beschrieben hat das Salz der Hanse ebenso wie aktuell die neuen Kommunikationsformen und Freihandelszonen nicht nur zu einer Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen geführt, sondern grundsätzlich auch die Sprache und das Wissen der Menschen verändert. Diese Veränderungen bedeuten eine Erweiterung der Routinegewissheit sowie den Aufbau neuer Institutionen und Habitualisierungsvorgänge, die letztlich mit einer neuen Wirklichkeitswahrnehmung verbunden sind (BERGER/ LUCKMANN 1969, 60ff.). Der Globalisierungsprozess verändert danach unsere Realitäten, wobei das charakteristische Merkmal die Zunahme von Komplexität ist.

Die Komplexitätssteigerung wird allerdings nicht widerstandslos entgegengenommen, zumal eine Irritation der traditionellen Ordnungsstrukturen erfolgt (vgl. LUHMANN 2002, 122). Das Bestehende unterliegt vermittelten Konstruktions- und Habitualisierungsmustern, die der wahrgenommenen Wirklichkeit Sinnhaftigkeit verleiht. Diese Sinnwelten werden nun durch neue Legitimationsmuster in Frage gestellt – eine Situation, die durchaus zu Orientierungslosigkeit führen kann: „Das Auftauchen einer alternativen Sinnwelt ist eine Gefahr, weil ihr bloßes Vorhandensein empirisch demonstriert, daß die eigene Sinnwelt nicht wirklich zwingend ist“ (BERGER/ LUCKMANN 1969, 116). Eine derartige Situation führt zusätzlich zu Verunsicherungen, zumal mit aufkommender Komplexität und Pluralität auch Wertebindungen hinterfragt werden.

In der pädagogischen Tradition hat dies nicht selten zu einer Rückbesinnung auf das so genannte Gemeinsame geführt, was sich z.B. in der traditionellen Rekrutierung des deutschen Bildungsideals zeigt (vgl. LITT 1955) und sich auch in Klafkis Allgemeinbildungsanspruch äußert (MEYER/ MEYER 2007, 189). In welcher Form aktuell auf den Globalisierungsprozess innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik reagiert wird, bleibt abzuwarten – eine pädagogische Antwort ist aber in jedem Fall notwendig, zumal nicht nur eine verstärkte Konfrontation der eigenen Sinnwelten erfolgt, sondern auch die Verantwortung am globalen Wandeln neue Strategien erforderlich machen. Denn im Unterschied zur Hansezeit, in der die Globalisierung des Lokalen vergleichsweise langsam voranschritt, besitzt die aktuelle Entwicklung eine hohe und gewissermaßen unübersichtliche Entfaltungsdynamik. Die Verbraucher werden mit einer ständig sich wandelnden Angebotsvielfalt konfrontiert, deren Komplexität sich bereits an der Beschriftung eines Jogurtbechers äußert: Herkunftsregion, Anbaumethode, Inhalts- und Zusatzstoffe, Sozialverträglichkeit der Importeure, Vitamin- und Kilojouleangaben usw. Die Frage nach dem ‚richtigen' oder ‚falschen' Einkaufsverhalten kann angesichts dieser Entwicklung nicht mit letzter Gewissheit beantwortet werden, zumal sich nicht nur die Handlungsmöglichkeiten ausweiten, sondern auch die Hintergrundsinformationen. Wer kennt schon die genauen Inhaltsstoffe, ihre Funktionen oder Herkunftswege eines Joghurts?! Auch ethische Wertvorstellungen können in diesem Konglomerat an Komplexität und Verunsicherung kaum Orientierung bieten, weil ihre Bezugspunkte entweder nicht offensichtlich sind (Transparenz) oder sogar in Konkurrenz zueinander stehen (Interessenskonflikte). Damit konstituiert sich ein ethisches Dilemma , das sich insbesondere im Ernährungsbereich zeigt, zumal hier Aufklärung angesichts der Breite an Informationen kaum möglich ist und „es immer mehr zu einer Frage persönlicher Ansichten und Meinungen wird, was denn nun wichtig geblieben und schon unwichtig geworden ist“ (REICH 2006, 54). Gleichzeitig bestätigt jeder Einzelne über seine Kaufentscheidung den Zustand der Globalität und nimmt aktiv an dessen Erhalt teil. Das Subjekt wird so zum Gestalter der Globalisierung und besitzt Verantwortung .

Die grundsätzliche didaktische Herausforderung besteht nun darin, diese Verantwortung überhaupt erst sichtbar zu machen, sie zur Disposition zu stellen, darauf aufbauend Orientierung anzubieten und den Prozess als Gestaltungsoption bewusst zu machen. Das Hauptproblem besteht in der immer größer werdenden Komplexität, die einfache Lösungsvorschläge und kausale Handlungsmuster nicht möglich macht und hierdurch die Reflexion der Verantwortung erheblich erschwert. Dennoch existiert ein quasi moralischer Imperativ der Handlungsaufforderung, der am Sichtbarsten über die Umweltproblematik zum Ausdruck kommt. So sind die Folgen der Globalisierung nicht allein mit dem Aufbau und der Konfrontation der gesellschaftlich vermittelten Sinnwelten verbunden, sondern auch und gerade über die Veränderung der Natur. Am prägnantesten kommt diese Tatsache am Beispiel des Klimawandels zum Ausdruck, dessen anthropogen bedingte Folgen eine neue Qualität erreicht haben, zumal eine Eigendynamik der Umweltfaktoren entfaltet wurde, die sich immer weiter der menschlichen Kontrolle entzieht. So gehen die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung, Globale Umweltveränderungen , davon aus, dass nur eine „eine Halbierung der weltweiten Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050“ die klimabedingten Folgen, wie z.B. Migrationsbewegungen und den Ausbruch gewalttätiger gesellschaftlich-politischer Konflikte, verhindern könne (WBGU 2007, 9).

Aus den Folgen der Globalisierung ergeben sich insofern zwei miteinander verbundene und für die pädagogische Konzeption grundlegende Herausforderungen: die Bewältigung der Komplexität und die Übernahme von Verantwortung i. S. von Gestaltung der Zukunft. Hier ist explizit auf Klafki zu verweisen, der ganz im Kontext der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte schon Mitte der 1980er Jahre von einem Bildungsverständnis ausging, das sich nicht nur die Aufgabe stellt, auf gesellschaftliche Veränderungen zu re agieren, sondern sie ebenso zu gestalten (KLAFKI 1985, 50f.).

3.  Das Postulat der nachhaltigen Entwicklung

Politisch begegnet man seit einigen Jahren verstärkt den Folgen der Globalisierung und des Klimawandels mit dem Postulat der nachhaltigen Entwicklung. Die Idee des Nachhaltigkeitsgedankens reicht dabei bis in die 1980er Jahre zurück und basiert auf Ausarbeitungen der World Conservation Strategy , die unter der Bezeichnung Sustainable Development ein Programm zur Berücksichtigung funktionsfähiger Ökosysteme als Voraussetzung wirtschaftlichen Handelns entwickelte. Flankiert durch die umweltpolitischen Debatten der 1980er Jahre konkretisierte sich der Nachhaltigkeitsgedanke, indem nicht nur die freie Verfügbarkeit von Umweltressourcen zur Disposition gestellt wurde, sondern zunehmend auch weitere, insbesondere globale Aspekte Berücksichtigung fanden und so seine Anschlussfähigkeit zur Globalisierungsfrage sicher gestellt wurde. Der ursprünglich ökologische Ansatz erweiterte sich um soziokulturelle und politische Gesichtspunkte, indem z.B. die überregionalen Folgen des Umwelthandelns, Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Auswirkungen auf die Armutsentwicklung aufgegriffen wurden. Besonders deutlich wird dies in den Berichten des Club of Rome (‚Grenzen des Wachstums') und der Brundtland-Kommission (‚Our Common Future'), der es 1987 durch die viel zitierte Brundtland-Formel gelang, den Nachhaltigkeitsgedanken über die Idee einer Art Generationsvertrages auszudifferenzieren und populär zu machen: Development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs (vgl. HAUFF 1987, 46). Am bedeutsamsten war jedoch die 1992 durchgeführte UN-Konferenz in Rio de Janeiro, bei der endgültig das Nachhaltigkeitskonzept in der Agenda 21 als ein mehrdimensionaler Entwicklungs- und Gestaltungsauftrag ausformuliert wurde:

Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine Festschreibung der Ungleichheiten zwischen und innerhalb von Nationen, eine Verschlimmerung von Armut, Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie die fortgesetzte Zerstörung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt. Eine Integration von Umwelt- und Entwicklungsbelangen und die verstärkte Hinwendung auf diese wird indessen eine Deckung der Grundbedürfnisse, höhere Lebensstandards für alle, besser geschützte und bewirtschaftete Ökosysteme und eine sicherere Zukunft in größerem Wohlstand zur Folge haben. Keine Nation vermag dies allein zu erreichen, während es uns gemeinsam gelingen kann: in einer globalen Partnerschaft im Dienste der nachhaltigen Entwicklung “ (UN 1992, 1).

Die politische Antwort umfasst damit eine erweiterte Problemwahrnehmung, indem globale, ökologische und weltweit wachsende Armutsprobleme als systematisch miteinander verknüpfte Krisenphänomene, als Teil einer einzigen Krise der Moderne , bezeichnet werden (vgl. HAUFF 1987, 4). Hieraus resultiert der Kern des postulierten Nachhaltigkeitsgedankens, der mit dem Retinitätsprinzip gekennzeichnet wird und das wechselseitige Ineinandergreifen der impliziten Dimensionen des Ökologischen, Ökonomischen, Sozialen und des Politischen meint. Darin ist die Einsicht eingeschlossen, dass das Sichtbarwerden von Zusammenhängen die Voraussetzung zur Bewältigung der Krise der Moderne darstellt. Angesichts der Komplexität des Konzeptes verwundert es nicht, wenn Nachhaltigkeit oft als ein „unscharfes, kontrovers interpretiertes Leitbild [verstanden wird], hinter dem unterschiedliche Welt- und Naturbilder, unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Modelle einer ‚guten Gesellschaft' stehen“ – auch wenn eine gemeinsam geteilte Problemwahrnehmungen und eine neue, wenn auch diffuse Norm globaler Verantwortlichkeit vorliegt (BRAND/ FÜRST 2001, 23). Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Konferenz von Rio ein eindeutiger politischer Markierungspunkt gesetzt und gerade wegen der Vermeidung einer Nachhaltigkeitsdefinition politischer Realismus bewahrt wurde. So geht es eben nicht um eine radikal formulierte gerechte Aufteilung von Umweltressourcen, „sondern um ein ausgewogenes Ergebnis unter Berücksichtigung der Interessen, Bedürfnisse und Nutzungen der einzelnen Staaten“ (EPINEY 2006, 36). Die Bemühungen verweisen also in die richtige Richtung: Die Komplexität der Globalisierung und ihre umweltbezogenen Folgen

•  über zentrale Bezugspunkte zu systematisieren und aufzugliedern ( Ökologie, Ökonomie, Soziokulturalität, Politik ),

•  die darin liegenden normativen Ansprüche zu markieren ( ökologische Grenzlinien, Menschenrechte, wirtschaftliche Grundsubstanz, Demokratie usw.),

•  ihre Wechselwirkungen und Interdependenzen sichtbar zu machen ( Retinität ) sowie

•  Gestaltungswege und Handlungsoptionen aufzuzeigen ( Entwicklungsgedanke ).

Die Nachhaltigkeitsidee erweist sich aber angesichts dieser Prämissen als äußerst fragil und gleichzeitig ambivalent, ja sogar antinomisch, zumal die ethische Legitimität der Unbedingtheit des inneren Normgefüges mit den jeweiligen Ansprüchen der einzelnen Nachhaltigkeitsdimensionen (z.B. die Unverletzlichkeit der Menschenrechte) unabhängig vom normativen Anspruch auf gleichberechtigter Teilhabe ist (nachhaltige Entwicklung ). Aus dieser Gleichzeitigkeit normativer Ansprüche konstituiert sich angesichts global heterogener Anknüpfungspunkte und Ausgangsbedingungen nachhaltige Entwicklung in einer spannungsreichen Zwischenposition.

Inwieweit dennoch, gleichsam situativ bestimmte normative Ansprüche überragen, wie dies z.B. der Greifswalder starke Nachhaltigkeitsansatz tut, bleibt zu untersuchen (Der starke Nachhaltigkeitsgedanke geht „von der Unersetzlichkeit von Naturkapitalien zu anderen Kapitalien“ aus und fordert dazu auf, „verbleibende Bestände von Naturkapitalien zu erhalten“ (EGAN-KRIEGER/ OTT/ VOGET 2007, 12f.). ). Davon abgesehen lässt sich nachhaltige Entwicklung als dialektisches Denkmodell beschreiben, das aber über seine flankierenden Ansprüche und dem unbedingten Gestaltungsauftrag zu Prioritätensetzungen nötigt und durchaus Gerechtigkeitskonflikte hervorruft (LEIST 2006, 8). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, weshalb eine Übertragung in pädagogische Theoriekonzepte, insbesondere in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik bislang nicht ausreichend erfolgt ist. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zwar über die Nachhaltigkeitsdimensionen eine systematische Betrachtung von Komplexität gelingt, doch nicht zum Preis ihrer Auflösung in ein harmonisches Gesamtgefüge, sondern zum Zwecke der Reflexion. Gleichzeitig sind aber konkrete Handlungsoptionen aufzuzeigen, um den Anspruch auf Mitgestaltung des globalen Wandels zu genügen. Dies verlangt nach einem pädagogischen Modell, das sich zum Ziel setzt, Widersprüche und Spannungen nicht aufzuheben, sondern als Handlungsmotiv zu integrieren. Dies hat bereits Theodor Litt in den 1950'er erkannt, indem er schrieb:

Als gebildet darf demnach nur gelten, wer diese Spannungen sieht, anerkennt und als unaufhebbares Grundmotiv in seinen Lebensplan einbaut “ (LITT 1955, 123).

Der vielfach vorgebrachte Einwand, das Konstrukt der nachhaltigen Entwicklung sei nicht „widerspruchsfrei und harmonisch in praktische Politik umsetzbar“ ( Mertineit 2001, 23), ist daher insofern zu widersprechen, weil Harmonie und Widerspruchsfreiheit keinesfalls beansprucht wird. Aus politikwissenschaftlicher Sicht argumentieren Brand/Fürst, dass „die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung sich so immer über das Medium von Interessenskonflikten und Deutungskämpfen vollzieht“ und im Grunde als Aufgabe eines gesellschaftlichen Lernprozesses zu organisieren sei ( Brand/ Fürst 2001, 28f.) oder, wie Fischer darlegt, „einen Suchprozeß zu einer gesellschaftlichen Entwicklung“ beinhaltet ( Fischer 1998, 28).

Die Nachhaltigkeitsidee bildet also keinen Zustand ab, sondern entfaltet sich dynamisch im Sinne von Entwicklung, weshalb genau genommen nicht von Nachhaltigkeit, sondern immer von nachhaltiger Entwicklung zu sprechen ist. Die Enquête-Kommission hat aus diesem Grund 1998 nachhaltige Entwicklung als regulative Idee beschreiben und ihr damit einen orientierenden Charakter verliehen:

Gerade in modernen, funktional hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften stellt sich die Frage, wie die umfassende normative Idee der nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung mit Leben gefüllt werden kann. Als Ausweg zumindest aus dem Definitionsdilemma bietet es sich an, nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ähnlich wie die positiven und offenen Begriffe Freiheit oder Gerechtigkeit als ‚regulative Idee' zu verstehen, für die es nur vorläufige und hypothetische Zwischenbestimmungen geben kann “ ( Deutscher Bundestag 1998, 28).

4.  Fachdidaktik Ernährung im Kontext von nachhaltiger Entwicklung und Globalität: Vier zentrale Herausforderungen.

Die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels stellt die Fachdidaktik Ernährung vor große Herausforderungen. Bislang sind allerdings nur wenige Ausarbeitungen mit überwiegend methodischen Darlegungen zu diesem Thema erschienen (z.B. MEYER/ TÖPFER 2004a; KUTT/ MEYER/ TÖPFER 2007). Eine wirkliche fachdidaktische Theoriebildung mit Anschluss an das Nachhaltigkeitskonzept liegt noch nicht vor. Aus diesem Grund werden an dieser Stelle erste Hinweise zur Ausgestaltung einer ausgewiesenen Fachdidaktik Ernährung gegeben, denen aber noch weitere intensive Forschungsarbeiten folgen müssen. Die grundsätzliche fachdidaktische Herausforderung ergibt sich auf zwei unterschiedlichen Gebieten:

•  die Entwicklung eines fachdidaktischen Instrumentariums, das geeignet ist, die mit der Globalisierung einhergehende Komplexitätssteigerung von Sach- und Wirkungszusammenhängen sichtbar und für Unterricht gestaltbar zu machen,

•  die Klärung der didaktischen Voraussetzungen und Theorieanbindungen nachhaltigkeitsorientierter Bildung.

4.1  Erste fachdidaktische Herausforderung: Das Sichtbarmachen von Komplexität und Verantwortung.

Mit der Lernfeldorientierung ist in den letzten Jahren verstärkt die Sichtweise der Arbeitsprozessorientierung in die berufliche Bildungsarbeit eingeflossen. Die Ausgestaltung der Lernfelder in den ernährungs- und gastorientierten Berufsfeldern hat zu einer Situation geführt, die intensiv den Arbeitsprozess fokussiert und darüber hinausgehende Aspekte weitgehend ausspart. So besitzt der Nachhaltigkeitsgedanke in den aktuellen Rahmenlehrplänen keinerlei Bedeutung (vgl. STOMPOROWSKI/ MEYER 2008). Der berufliche Verantwortungsbereich bleibt insofern beim Arbeitsprozess stehen und reflektiert nicht weitergehende Einflüsse – insbesondere nicht mit Blick auf globale Bezüge. Entsprechend ist z.B. das Lernfeld 2.5/Köche in einer Form konzipiert, nach der das à la carte-Geschäft im Wesentlichen auf die Zubereitung und Organisation von Speisen und Menüs konzentriert ist. Am Beispiel eines Fischmenüs können z.B. Garverfahren und Garverluste erarbeitet werden:

•  Kabeljau in Öl gebraten mit Kartoffeln, Speck und Möhren auf Sahnesoße, deren Grundlage Butter und Mehl sind. Gewürzt mit Salz, Pfeffer, Zitrone sowie Dill.

Woher die Zutaten für dieses Menü stammen, welche Konsequenzen mit dem Kauf der Rohstoffe verbunden sind und inwieweit sich hieraus Verantwortlichkeiten ergeben – das ist nicht Teil und Aufgabe des Lernfeldes. Eine nähere Betrachtung der möglichen Herkunftsregionen ist daher erhellend:

Tab.1:  Rohstoffherkunftsländer

Kabeljau aus Norwegen

Öl aus Indonesien

Kartoffeln aus Holland

Speck aus Italien

Möhren aus Dänemark

Sahne aus Ungarn

Butter aus Irland

Mehl aus Deutschland

Salz aus der Schweiz

Pfeffer aus Indien

Zitrone aus dem Iran

Dill aus Frankreich .

Mit der Auflistung der zwölf Rohstoffherkunftsländer wird zwangsläufig der arbeitsprozessbezogene Lernfeldcharakter abstrahiert und von seiner vordergründigen sinnlichen Wahrnehmung (Vgl. hierzu die Ausführungen von H. und M. Meyer zu Platons Politeia (MEYER/ MEYER 2007, 183ff.). ) abgelöst, wodurch ein veränderter Zugang, insbesondere mit Blick auf globale Kontext möglich wird. Gleichzeitig lassen sich hierüber Konfliktbereiche sichtbar machen und weitergehende Verantwortlichkeiten aufzeigen. Die ganze Komplexität entfaltet sich aber erst, wenn darüber hinaus weitere Problembereiche kenntlich gemacht werden, die dann dem Lernfeld 2.5/Köche eine völlig neue Dimension verleihen:

Tab.2:  Integrationsmöglichkeiten der Themen Globalität und nachhaltige Entwicklung in das Lernfeld 2.5

Kabeljau:
Zucht- oder Wildfang

Kartoffeln: ökologischer oder konventioneller Anbau

Öl:
mit oder ohne Zusatzstoffe

Pfeffer: Freilandtrocknung oder Gewächshaus

Butter:
herkömmlich oder Fair-Trade

Sahne:
fettarm oder fettreich
sowie
Einweg oder
Mehrweg

Möhren:
regionale oder überregionale Herkunft sowie
frisch oder
tiefgekühlt

Zitrone:
aus politisch unbedenklichen Regionen oder politischen Konfliktgebieten

Speck:
teuer oder billig

Dieses Beispiel soll zeigen, dass es durchaus möglich ist, über die Sachgebiete der Lernfelder in den ernährungs- und gastorientierten Berufen die Themen Globalität und nachhaltige Entwicklung sichtbar zu machen und fachlich zu entfalten. Was fehlt, ist eine gezielte Systematisierung und didaktische Analyse – Aufgaben, die sich der Entsinnlichung arbeitsprozessbezogener Lernfelder und dem Sichtbarmachen globaler und nachhaltiger Kontexte anschließen müssen.

Eine Fachdidaktik Ernährung muss sich also zum Ziel setzen, die Lehr-Lernprozesse in den ernährungs- und gastorientierten Berufsfeldern nicht nur auf ein Abbilden der fachlichen Arbeitsprozesse einzuengen, sondern am Beispiel berufspraktischer Inhalte die in ihnen liegenden und mit ihnen verbundenen übergreifenden und globalen Kontextbeziehungen aufzeigen, um hierüber die berufstypischen, aber darüber hinaus gehenden Verantwortlichkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb einer globalisierten Weltgemeinschaft aufzuzeigen. Es ist der fachdidaktisch zu begründende Anspruch auf Bildung im Sinne des Allgemeinen, das ein „Bewusstsein von zentralen Problemen der Gegenwart und – soweit voraussehbar – der Zukunft“ zum Ziel hat (KLAFKI 1985, 56), deren Ausgangspunkt die berufliche Verantwortlichkeit ist.

4.2  Zweite fachdidaktische Herausforderung: Die fachimmanenten Nachhaltigkeitsdimensionen.

Die zweite Herausforderung an die Fachdidaktik Ernährung steht im Kontext einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung und beinhaltet die Konkretisierung die fachimmanenten Nachhaltigkeitsdimensionen zum Zwecke der Systematisierung fachlicher Inhalte. Ausgangspunkt bildet das traditionelle Nachhaltigkeitsdreieck mit seinen Eckpfeilern der Ökologie, Ökonomie und des Sozialen (z.T. auch als Soziokulturalität bezeichnet) (z.B. MEYER/ TÖPFER 2004b; MERTINEIT 2001, 21ff.). Allerdings zeigt gerade der Aspekt der Globalität, dass z.B. bei der Produktauswahl auch internationale Verflechtungen zum Tragen kommen, weshalb ebenso die politische Ebene eine wichtige Rolle spielt (KMK/ BMZ 2007, 28). Darüber hinaus wird von einigen Autoren der Ernährungs- und Tourismuswissenschaft der Aspekt der Gesundheit als eigenständige Dimension eingebracht, zumal dieser Bereich nicht über die anderen Nachhaltigkeitsdimensionen ausreichend berücksichtigt werde (z.B. FREYER 2006, 382f. sowie Wilhelm/ Koeber/ Kustermann 2006, 198). Inwieweit auch institutionelle Rahmenbedingungen als eigenständige Nachhaltigkeitsdimensionen zu bezeichnen sind, wie dies z.B. bei der Bestimmung von Nachhaltigkeitsindikatoren für Tourismusdestinationen geschieht (z.B. BAUMGARTNER, oh. Zeitang.), wird noch zu untersuchen sein (vgl. STOMPOROWSKI/ MEYER 2008).

Ökologische
Aspekte

Ökonomische
Aspekte

Politische
Aspekte

Beispiel: Fischmenü

Lernfeld 2.5: À la carte-Geschäft / Köche

Soziokulturelle
Aspekte

Gesundheitliche
Aspekte

usw.

 

Die Bestimmung der fachimmanenten Nachhaltigkeitsdimensionen ist im Wesentlichen für die didaktisch-methodische Gestaltung eines nachhaltig orientierten Unterrichts beachtenswert. Deren Aufschlüsselung ermöglicht eine mehrperspektivische Betrachtung eines zentralen beruflichen Gegenstandes bzw. Inhaltes, wobei die beruflich-handwerklich Dimension entweder als eigene „Dimension“ einfließen muss oder als separate Unterrichtseinheit vorzulagern ist.

Die Bestimmung der fachimmanenten Nachhaltigkeitsdimensionen kann methodisch für eine Unterrichtsstrukturierung genutzt werden, die z.B. Arbeitsgruppen vorsieht, in denen die Schüler den Unterrichtsgegenstand aus der jeweiligen Nachhaltigkeitsperspektive erarbeiten. Ein erstes Beispiel für ein derartiges Unterrichtsmodell ist von einer Hamburger Arbeitsgruppe im Auftrag der ‚Internationalen Weiterbildung und Entwicklung GmbH' [InWent] erstellt worden und wird demnächst veröffentlicht ( Carstens/ Meyer/ Reichwein / STOMPOROWSKI/ VOLLMER 2008).

4.3  Dritte fachdidaktische Herausforderung: Die Ausarbeitung eines beruflichen Gestaltungskompetenzansatzes (bildungstheoretische Legitimation).

Pädagogische Konzepte einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung sind bislang in einem nur geringen Umfang erschienen. Neben einigen methodischen Veröffentlichungen und den Modellversuchen des BIBB liegen nur wenige Arbeiten vor, die sich aus einer explizit didaktischen Perspektive mit dem Nachhaltigkeitsansatz auseinander setzen und eine bildungstheoretische Legitimation liefern. Am weitesten gehen hier die Ausführungen von Gerhard de Haan, der Ende der 1990er Jahre gemeinsam mit Dorothee Harenberg ein Konzept der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung vorgelegt hat (BLK 1998; de Haan/ Harenberg 1999). Darin heißt es, dass das eigentliche „Ziel von Bildung für nachhaltige Entwicklung“ der Erwerb einer Gestaltungskompetenz ist (de HAAN 2003, 44), die er in Anlehnung an die von der OECD festgelegten Schlüsselkompetenzen folgendermaßen beschreibt:

Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BNE) ermöglicht es dem Individuum, aktiv an der Analyse und Bewertung von nicht nachhaltigen Entwicklungsprozessen teilzuhaben, sich an Kriterien der Nachhaltigkeit im eigenen Leben zu orientieren und nachhaltige Entwicklungsprozesse gemeinsam mit anderen lokal wie global in Gang zu setzen […] Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BNE) dient speziell dem Gewinn von Gestaltungskompetenz. Mit Gestaltungskompetenz wird die Fähigkeit bezeichnet, Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierte Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzen zu können, mit denen sich nachhaltige Entwicklungsprozesse verwirklichen lassen “ (de HAAN 2008, 31).

Allerdings fehlt auch bei de Haan ein didaktisches Gesamtkonzept, wobei er aber ausdrücklich darauf verweist, dass sich Bildung für eine nachhaltige Entwicklung nicht im Kompetenzerwerb erschöpfe, sondern „auch und wesentlich ein Bildungskonzept“ beinhaltet (de HAAN 2008, 41).

Die Nähe des von de Haan vorgebrachten Kompetenzkonzeptes einer ‚Bildung für eine nachhaltige Entwicklung' zum Bildungsgedanken Klafkis ist zwar unübersehbar, allerdings werden hier noch weitere Forschungsarbeiten notwendig sein, die folgende Aspekte näher beleuchten:

•  Der Bildungsgedanke ist in der Nachhaltigkeitsidee aufgehoben, sofern nachhaltige Entwicklung nicht als objektiv zu vermittelnder Gegenstand, sondern als ein Auseinandersetzungsprozess mit seinen eigenen und den gesellschaftlich vermittelten Wertvorstellungen über die Gestaltung der Zukunft im Kontext von Globalität angelegt ist.

•  Das Prinzip der regulativen Idee findet sich in vergleichbarer Form bei Klafki, wenn er das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen als ein „offenes und dialektisches“ beschreibt, das „im Sinne eines regulativen Prinzips“ didaktische Geltung erhält (KLAFKI 1985, 253). Vor diesem Hintergrund lässt sich zwischen dem Nachhaltigkeitsansatz, sofern er als eine Art Denkbewegung verstanden wird und der kritisch-konstruktiven Didaktik eine Verbindung herstellen, deren konzeptionelle und fachdidaktische Ausgestaltung allerdings noch erfolgen muss.

•  Der Gestaltungskompetenzansatz von de HAAN geht davon aus, dass „Nachhaltigkeit ein Entwicklungskonzept ist. Es wird erwartet, dass man die Lage der Welt nicht nur beschreibt, bedauert und kritisiert, sondern zeigt, was man anders machen könnte“ (de Haan 2002, 13). Auch Klafki beschreibt den Bildungsgedanken in vergleichbarer Form, indem Bildung die Aufgabe besitzt, „auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen nicht nur zu re agieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden Generation, aber auch jedes Erwachsenen […] zu beurteilen und mitzugestalten“ (KLAFKI 1985, 50f.).

Aus fachdidaktischer Perspektive ergibt sich die Herausforderung, den Anspruch der Nachhaltigkeitsidee pädagogisch näher zu bestimmen, den Bildungsanspruch zu markieren und den Anschluss an bereits vorhandene Didaktikkonzepte herzustellen. Dies verlangt eine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Nachhaltigkeitsidee, indem darauf geachtet wird, dass nachhaltige Entwicklung nicht naiv vor dem Hintergrund ihrer impliziten Nachhaltigkeitsdimensionen als deduktives Anwendungs- oder Handlungsmodell beschrieben wird, sondern der eigentlich reflexive Kern, der sich über das Spannungsverhältnis der involvierten Normansprüche ergibt, erhalten bleibt. Nur so kann sich der als regulative Idee bezeichnete Orientierungscharakter entfalten, ohne selbst normativ zu sein.

4.4  Vierte fachdidaktische Herausforderung: Die Bedeutung von kommunikativen und interaktiven Lehr-Lernmethoden (lerntheoretische Legitimation).

Die vierte Herausforderung an eine Fachdidaktik Ernährung besitzt einen lerntheoretischen Hintergrund und betrifft die didaktisch-methodisch Ausgestaltung von Unterricht. Die methodische Frage ist insofern beachtenswert, weil die Bewältigung der Komplexitätssteigerung von Sach- und Wirkungszusammenhängen nicht durch eine Anhäufung von Wissensfakten begegnet werden kann und darf. Mehr noch, die Orientierung am Nachhaltigkeitsgedanken verlangt nach einer Form, die nicht nur Gestaltungsmöglichkeiten bereitstellt, sondern über die sich die Vielschichtigkeit von Perspektiven ausdrückt und den Vernetzungsgedanken zur Geltung bringt. Gleichfalls sollen Entwicklungschancen, also auch die der Schüler, erhalten bleiben, so dass dem Lehr-Lernprozess – der Unterrichtsmethode – eine besondere Bedeutung zukommt. Es stellt sich die Frage, wie Unterricht organisiert sein muss, um den Anspruch auf Bildung als Umkehrprozess , als Änderung der Blickrichtung gerecht zu werden (MEYER/ MEYER 2007, 188). Gleichzeitig ist ein Vorgehen zu wählen, das sich nicht normativ gegen das Entwicklungsinteresse der Jugendlichen stellt, ohne aber deren verschiedene Standpunkte kritiklos zu legitimieren.

Eine lerntheoretisch begründete Antwort gelingt über die Gesichtspunkte der Kommunikation und Interaktion , welche im Grunde die Schanierstelle jeglichen nachhaltigkeitsorientierten Lehren und Lernens bildet. Es ist der aktive Auseinandersetzungsprozess, mit dem die Schüler konfrontiert werden sollten und dem sie sich bewusst stellen müssen, um überhaupt die Möglichkeit zu erfahren, „im Sinne der Transformation ihrer Selbst- und Weltsicht […] ihre eigenen, von ihnen selbst definierten Probleme einzubringen“, um diese zu überprüfen und ggf. zu korrigieren (MEYER/ MEYER 2007, 189).

Die lerntheoretische Legitimation liefern hier insbesondere konstruktivistische Didaktikansätze, da sie vom subjektiven Interesse der Lernenden ausgehen – ein Aspekt, der sich mit dem Nachhaltigkeitsgedanken und dem Anspruch auf Entwicklung gut verbindet. Zudem finden sich hier gehaltvolle Gestaltungshinweise, die sich durchaus mit der kritisch-konstruktiven Didaktik und ihrem Bezug zum kommunikativen und interaktiven Unterrichtshandeln verknüpfen lassen („Der Zusammenhang von Lehren und Lernen wird als Interaktionsprozeß verstanden, indem Lernende sich mit Unterstützung von Lehrenden zunehmend selbständiger Erkenntnisse und Erkenntnisformen, Urteils- und Wertungs- und Handlungsmöglichkeiten zur reflexiven und aktiven Auseinandersetzung mit ihrer historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit aneignen sollen“ (KLAFKI 1985, 256). Auf die Differenzen beider Didaktikansätze wird hier aus Platzgründen nicht eingegangen. ). So ist aus konstruktivistischer Perspektive Unterricht „immer eine soziale Situation und ein zwischenmenschliches kommunikatives Ereignis“ (REICH 2006, 18), in der Wissen nicht allein über Kopfarbeit hervorrufen wird, sondern das Ergebnis eines individuellen Auseinandersetzungsprozess zwischen den Individuen und den sozialen Systemen darstellt (WOLF 2005, 161). Es ist die Kommunikation und Interaktion , welche den Aneignungsprozess überhaupt erst zum Tragen bringt – Aspekte, die für den nachhaltigkeitsorientierten Lehr-Lernprozess zentral sind, weil die Komplexität des Lerngegenstandes Nachhaltigkeit eine methodische Zugangsweise benötigt, die sich am Individuum orientiert, dessen Ansichten zum Ausgangspunkt nimmt, aber in ein kommunikativ-reflexiven Auseinandersetzungsprozess überführt. Die didaktisch eingeforderte Denkbewegung manifestiert sich so als Ergebnis kommunikativen Handelns . Im Unterricht muss es deshalb darum gehen,

gemeinsam ein Problem zu erfahren und zu erkennen, multiperspektivische, multimodale und Kreativität fördernde Lösungsmöglichkeiten zu ermitteln und anzuwenden, eine Lösung individuell und im Team zu finden, Interaktion in Offenheit, mit Wertschätzung und in lösungsorientierter Einstellung zu bewältigen “ (REICH 2006, 26).

Ohne hier weitere Ausführungen vornehmen zu können, zeigen sich bereits an dieser Stelle evidente Berührungspunkte zwischen dem sozial-kulturtheoretisch orientierten Konstruktivismusansatz (Kersten Reich) und der Nachhaltigkeitsidee:

•  Stichwort: Vernetzung. Lernen ist ein sozialer Prozess, bei dem die Kommunikation eine hohe Bedeutung besitzt. Dies setzt Lernformen voraus, bei denen die Verschiedenheit von Perspektiven im Mittelpunkt steht.

•  Stichwort: Entwicklung. Lernen ist ein individueller Prozess. Im Unterricht sind daher vielfältige Zugänge zum Thema bereitzustellen, die dem Einzelnen das selbstständige Handeln erlauben.

•  Stichwort: regulative Idee und Gestaltungskompetenz. Lernen muss die Dimensionen der Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion berücksichtigen. Auf diese Weise werden die eigenen und gesellschaftlich vermittelten Werte in Beziehung gebracht, neue Orientierungspunkte gegeben und ein auf die Zukunft gerichtetes verantwortungsvolles Handeln ermöglicht.

5.  Fazit

Die Fachdidaktik Ernährung steht vor der Herausforderung, die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels sowie die politische Antwort der Nachhaltigkeitsidee in ein didaktisches Konzept zu überführen. Der moralische Anspruch resultiert aus der wachsenden Verantwortung, welche die Berufsarbeit in Zeiten der weltweiten Vernetzung besitzt. Die Ausrichtung des Fokus beruflicher Bildung darf nicht allein auf den Erwerb berufsfachlicher Kompetenzen zielen, sondern steht in der Verpflichtung, an der Gestaltung der Zukunft teilzuhaben. Dies gelingt aber nur, wenn die Fachdidaktik Ernährung sich ihrer Verantwortung bewusst ist und ein Instrumentarium bereitstellt, das die Ideen des Nachhaltigkeitsgedankens aufgreift und in ein didaktisch begründetes Konzept überführt. Hierfür liegen zwar bislang nur wenige pädagogische Anknüpfungspunkte vor, die jedoch aufzugreifen und weiterzuentwickeln sind. Ein Beispiel liefert der Gestaltungskompetenzansatz von de Haan, der einerseits in einen beruflichen Kontext zu überführen und andererseits didaktisch auszuformulieren ist. Des Weiteren sind die bildungstheoretischen Anknüpfungspunkte herauszustellen, wobei es entscheidend darauf ankommen wird, die theoretischen Bezugspunkte kenntlich zu machen. Gleichsam fordernd ist die Nähe der Nachhaltigkeitsidee zum bereits traditionellen bildungstheoretischen „Positionsstreit“. So bleibt die Schlüsselfrage zu beantworten, ob mit der Transformation des Nachhaltigkeitsgedankens eine Form der dialektischen Denkbewegung eingefordert wird, die eine „radikale Pluralität“ meint, wie sie aus konstruktivistischer Sicht postuliert wird (vgl. MEYER/ MEYER 2007, 189; KOLLER 1999), oder in eine „gemeinsame Basis der Kommunikation“ mündet – die eher bildungstheoretisch begründete Position (KLAFKI 1985, 56f.).

 

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