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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
WS 12 Produktionsschulen

EDITORIAL zu WS 12: Produktionsschulen als Qualitätselement in der beruflichen Bildung

  

Nachdem auf den vorangegangenen Hochschultagen in Hamburg ( vgl. KIPP u.a. 2000 ), Darmstadt ( vgl. KIPP/ RAPP 2004 ) und Bremen ( vgl. KIPP/ LÖWENBEIN 2007 ) bereits erfolgreiche und gut besuchte Workshops zu Themen der Produktionsschule stattfanden, hatten CORTINA GENTNER (Leibniz Universität Hannover) und MARTIN KIPP (Universität Hamburg) bereits im April 2007 mit der Planung des Nürnberger Workshops begonnen und im Mai den üblichen „call for papers“ in die Produktionsschul-Szene verschickt. Die erfreulich zahlreichen Antworten ergaben am Ende ein umfangreiches Programm, über das nachfolgend berichtet wird:

Nach der Begrüßung und Einführung in den Workshop durch die beiden Initiatoren war am Donnerstagnachmittag (13. März) eine durch Impulsreferate eingestimmte Podiumsdiskussion unter der Überschrift „Produktionsschulen in Deutschland – ein erfolgreiches Instrument zur beruflichen Integration im Spannungsfeld verschiedener Politikbereiche“ angesetzt, die dann auch lebhaft vor einem sich immer wieder mit Fragen einmischenden, interessierten Publikum stattfand.

Das erste Impulsreferat, „Jugendliche im Übergangssystem“ hielt Dr. JOACHIM GERD ULRICH vom Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn. Unter Bezugnahme auf die amtliche Statistik und eine neuere vom BIBB durchgeführte Übergangsstudie, in der 7.200 Jugendliche befragt worden waren, beschrieb er die beachtliche quantitative Entwicklung des Übergangssystems in allen Segmenten, die, verursacht durch wirtschaftsstrukturelle Veränderungen (z.B. Abbau der Bau- und Baunebenberufe) zur notorischen Unterversorgung mit Ausbildungsplätzen, zur Steigerung der Zahlen der „Altbewerber“ und zur insgesamt prekären Berufsstartphase immer größerer Teile der Schulabgänger führe.

Das zweite Impulsreferat „Finanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen an Produktionsschulen“ steuerte MARTIN MERTENS, Kasseler Produktionsschule BuntStift, bei. Am Beispiel der Kasseler Produktionsschule BuntStift zeigte Mertens die überaus komplizierten und zersplitterten rechtlichen Rahmenbedingungen und die damit zusammenhängenden Re-Finanzierungspraktiken, die bei BuntStift den gleichzeitigen Zugriff auf 10 verschiedene „Töpfe“ erforderten, was in der täglichen Arbeit unverhältnismäßig viele Ressourcen binde. Die Vorbereitung und Implementation eines Produktionsschulgesetzes und verbindlicher Qualitätsstandards (wie der „Produktionsschulprinzipien“, vgl. BUNDESVERBAND PRODUKTIONSSCHULEN 2007), seien wichtige Voraussetzungen für die Verstetigung der Arbeit in Produktionsschulen, denn sie entlasteten von der Notwendigkeit, neben dem Alltagsgeschäft ständig dafür sorgen zu müssen, dass die ökonomischen Voraussetzungen für qualifizierte Weiterarbeit gegeben sind.

Das dritte und letzte Impulsreferat „Neuere Entwicklungen in der deutschen Produktionsschullandschaft“ wurde von THOMAS JOHANSSEN, Produktionsschule Altona, und Dr. CORTINA GENTNER, Leibniz Universität Hannover, gehalten. Beide Referenten hoben die Rolle des Bundesverbandes Produktionsschulen hervor, der als Interessenvertretung der Produktionsschulen hierzulande sowohl den Aufbauprozess mehrerer neuer Produktionsschulen begleitet und evaluiert habe als auch Impulse zur Fortbildung ihrer Fachkräfte gegeben habe und weiterhin gebe. Ferner wurden Hinweise und Sachstandberichte zu mehreren „Baustellen“ gegeben, an denen derzeit intensiv gearbeitet werde, und schließlich wurden Perspektiven der weiteren Arbeit aufgezeigt.

Disputanten der anschließenden Podiumsdiskussion waren GÜNTER HOOPS, Niedersächsisches Kultusministerium, Dr. ERHARD SCHULTE, Ministerialrat a.D., BMBF und MAREN STAEPS, Ministerium für Justiz, Arbeit und Europa des Landes Schleswig-Holstein, Referat Arbeitsmarktpolitik, SGB II. Als Ergebnis dieser sehr engagiert und teilweise kontrovers geführten Diskussion lässt sich festhalten, dass die Praxis der Produktionsschulen unisono positiv bewertet wird und dass es zukünftig darum gehen müsse, die Leistungsfähigkeit der Produktionsschulen noch deutlicher herauszustellen. Während HOOPS sich als Verfechter der bunten Vielfalt im Übergangssystem positionierte, der den bunten Strauß an Förderinstrumenten erhalten und erweitern möchte, sah Dr. SCHULTE gerade in dieser Vielfalt die Gefahr, dass Willkür und Zufälligkeiten die Karrierewege der Jugendlichen in unerwünschter Weise steuern würden. Gleichsam eine Mittelposition nahm Frau STAEPS mit dem Vorschlag ein, bestehende Förderinstrumente nicht schlecht zu reden, zugleich aber die Lobbyarbeit für Produktionsschulen beharrlich fortzusetzen. Beiträge aus dem Plenum, die Diskussionsleiter Prof. Dr. MARTIN KIPP ausdrücklich angeregt hatte, differenzierten dieses Meinungsbild weiter. So sah Prof. Dr. ROLAND SCHÖNE für das von vielen Teilnehmern des Workshops erhoffte bundesweite Produktionsschul-Gesetz einstweilen keine Chance – statt dessen regte er an, über best-practice-Beispiele weitere Lobbyarbeit zu betreiben und die regionale Verwurzelung und die Vernetzung der Produktionsschulen als vordringlicher zu betreiben. Prof. Dr. ARNULF BOJANOWSKI wies auf die komplizierte Gemengelage im aktuellen Diskussions- und Entwicklungsprozess von Produktionsschulen hin, die den „Systemfehlern“ unserer Lern- und Arbeitssysteme geschuldet seien und an deren partieller Behebung Produktionsschulen mit ihrem Ansatz der Verknüpfung von Arbeiten und Lernen sich unermüdlich und mit eher kleinen Erfolgszuwächsen abarbeiten müssten. Weitere Diskussionsbeiträge von ASTRID EIBELSHÄUSER, FRANK SCHOBES, Dr. BARBARA HÜLSMEYER, MARTIN MERTENS und BERND RESCHKE machten deutlich, was auch die Disputanten in ihren abschließenden Statements hervorhoben: Die Diskussion im Workshop hat viele Anregungen zu einer differenzierten Problemsicht auf leistungsschwache Jugendliche gegeben und deutlich gemacht, dass bei allen Differenzen im Detail auch Schritte in die Richtung einer gemeinsamen Problemsicht erkennbar wurden. Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Produktionsschulen hierzulande ist der Konsenspunkt festzuhalten, dass unisono empfohlen wurde, die Expansionsbedingungen der Produktionsschulen nicht dadurch verbessern zu wollen, dass man andere Praxen im Felde der Berufsvorbereitung und Berufsorientierung „schlecht redet“. Vielmehr gehe es darum, die Potenziale aller existierenden Förderbereiche zu nutzen.

Der zweite Teil des Workshops, der am Vormittag des 14. März unter annähernd gleich zahlreicher Beteiligung stattfand, wurde eingeleitet mit einem Referat von Dr. PETER STRASSER, Leibniz Universität Hannover, mit dem Titel: „Zum Verhältnis von Arbeiten und Lernen“. Der Durchgang durch die Arbeitsverständnisse prominenter Pädagogen von Pestalozzi über Kerschensteiner bis zu Greinert und Wiemann diente dem Nachweis, dass Produktionsschulen ihr didaktisches Zentrum, nämlich Arbeiten und Lernen miteinander zu verknüpfen, noch nicht hinreichend ausgeschärft hätten. Mit Bezugnahme auf die russische Tätigkeitstheorie, die unter dem Begriff „Tätigkeit“ Arbeiten und Lernen gleichsam als zwei Seiten einer Münze fasst, und in Anlehnung an Adolf Kell, der Lernen als Veränderung der eigenen Person und Arbeiten als Veränderung der Umwelt verstanden wissen will, wies Straßer auf die Bedeutsamkeit der Phasierung von Arbeits- und Lernprozessen hin, damit die Akteure „Strukturen“ entdecken und erkennen und unter Zuhilfenahme z.B. von „Tageskarten“ Wissensstrukturen systematisch aufbauen können. Beispiele gelungener Visualisierung von „Tagesplänen“ demonstrierten, dass Arbeiten gleichsam der Schlüssel war, um Lernen zu ermöglichen (Phase 1) und dass Lernen aus der Arbeit (Phase 2) zum systematischen Wissensaufbau beitragen kann – zugleich wurde aber weiterer fachdidaktischer Forschungsbedarf attestiert.

Im Anschluss daran stellten BARBARA HÜLSMEYER und SABINE WESSELY, Hanse Produktionsschule Rostock, sowie ANDREAS LEHMANN, Produktionsschule Westmecklenburg, „Methoden und didaktische Prinzipien für die Produktionsschule“ vor. Die vorgestellten Beispiele zeigten eine beachtliche methodische Vielfalt, die von der Vier-Stufen-Methode über Gruppenarbeit bis zu ganzheitlichen Ansätzen und selbstgesteuerten Lernformen reicht. Eine Kernbotschaft dieser Beiträge besagt: Arbeits- und Lernarrangements sind subjektbezogen zu gliedern und in Phasen zu ermöglichen (Unterrichts-, Arbeits-, Übungs-, Wiederholungs- und Spielphasen). Es gehe darum, anregende Lernumgebungen für unkonventionelle Lösungen zu schaffen, große Fehlertoleranz zu entwickeln und die Produktionsschüler unablässig wohlwollend zu ermutigen. In der regen Diskussion wurde die Notwendigkeit einer Debatte um die vorrangigen Ziele der Produktionsschulen in Deutschland deutlich: Geht es um elementare „Lebensfähigkeit“ oder „Berufsreife“ und „Beschäftigungsfähigkeit“ bzw. „Arbeitstüchtigkeit“? Die in den erörterten Beispielen zutage getretenen drastischen Defizite einzelner Jugendlicher trugen zur Sensibilisierung für „Grenzbereiche“ bei und bestärkten die Einsicht in die Notwendigkeit der gelegentlichen Inanspruchnahme professioneller (therapeutischer) Hilfen.

SABINE TREPKE und ANDREAS LEHMANN stellten am Beispiel ihrer Produktionsschule Westmecklenburg „Regeln und Rituale an Produktionsschulen“ vor. Dabei wurde deutlich, dass Regeln (z.B. die Jugendlichen entscheiden sich für eine Werkstatt und wechseln nicht permanent zwischen den Werkstätten; höflicher und rücksichtsvoller Umgang mit- und untereinander ist Bestandteil der Hausordnung) und Rituale (z.B. gemeinsame Mahlzeiten mit der Vorstellung/ Begrüßung „Neuer“; gemeinsame Auslieferung von Produkten; feierliche Verabschiedung Jugendlicher in Ausbildung oder Arbeit) sind wegen ihrer strukturierenden und entlastenden Funktionen notwendig und hilfreich, eröffnen zugleich aber auch Partizipationsmöglichkeiten für die Jugendlichen und können dazu beitragen, Zugehörigkeitsgefühl zu stiften und zu verstärken.

Den abschließenden Beitrag steuerte BERND RESCHKE, Werk-statt-Schule Hannover, bei: „Produktionsschule und was dann? Benachteiligte Jugendliche und Existenzgründungen (Jugendkooperative)“. Der Kontakt zu einschlägigen spanischen Projekten habe in Hannover den Impuls zur Entwicklung eines Umsetzungskonzepts gegeben, das in 7 Phasen, gestützt auf 4 namhafte Sponsoren, zur Realisierung interessanter Geschäftsideen (Kinderkrippe, Wohnungsrenovierung, Photovoltaikanlage, mobiler Zweiradservice, Hausmeisterdienste, Gartenbau, Gebrauchtmöbelhandel) geführt habe. In der abschließenden Abwägung der mit diesen Projekten verbundenen Probleme und Perspektiven wurde u. a. auch die Sinnhaftigkeit der Entwicklung von Qualifizierungsmodulen in Produktionsschulen diskutiert.

Der abschließende Gesamteindruck vom Workshop: Er war anregend und ergiebig; es hat sich gelohnt, daran teilgenommen zu haben – die Suchbewegungen und Diskussionen um angemessene Ziele und Wege werden weitergehen.

Nachfolgend werden die zur Veröffentlichung überarbeiteten Beiträge von JOACHIM GERD ULRICH, MARTIN MERTENS, THOMAS JOHANSSEN/ CORTINA GENTNER, PETER STRASSER, BARBARA HÜLSMEYER/ SABINE WESSELY/ ANDREAS LEHMANN und SABINE TREPKE/ ANDREAS LEHMANN wiedergegeben.

Literatur

BUNDESVERBAND PRODUKTIONSSCHULEN: Produktionsschulprinzipien. In: http://www.bv-produktionsschulen.de .

KIPP, M./ LÖWENBEIN, A. (Hrsg.) (2007): Neue Ansätze in der produktionsorientierten Pädagogik. Zusammenfassung des Workshop 16: Produktionsschulpädagogik – HT 2006 in Bremen. In: SPÖTTL, G./ KAUNE, P./ RÜTZEL, J. (Hrsg.): Berufliche Bildung - Innovation - Soziale Integration; Internationale Wettbewerbsfähigkeit - Entwicklung und Karriere - Mitgestaltung von Arbeit und Technik. 14. Hochschultage Berufliche Bildung 2006 [CD-ROM]. Bielefeld, 5–10.

KIPP, M./ RAPP, T. (Hrsg.) (2004): Produktionsschulen – Bestandsaufnahmen und Entwicklungsperspektiven (=„BerufsBildung in der globalen NetzWerkGesellschaft: Quantität – Qualität – Verantwortung“; Dokumentation der 13. Hochschultage Berufliche Bildung 2004, Bd. 23). Bielefeld.

KIPP, M./ LÜTJENS, J./ SPRETH, G./ WEISE, G. (Hrsg.) (2000): Produktionsorientierung und Produktionsschulen (=Berufliche Bildung zwischen innovativer Programmatik und offener Umsetzung; Dokumentation der Hochschultage Berufliche Bildung 2000, Bd. 19). Bielefeld.

 

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