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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
WS 17 Nachhaltigkeit

Vom Nachhaltigkeitsdiskurs zum didaktischen Kriteriensatz

 

Abstract

Im Korrespondenz mit der Studie Globalität und Interkulturalität als integrale Bestandteile beruflicher Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (GInE, www.ibw.uni-hamburg.de/GInE ) wurde eine Diskursanalyse als didaktisch intendierte Kategorialanalyse durchgeführt. Das Ergebnis ist ein didaktischer Kriteriensatz, der den Gegenstand (BBfnE) mikrologisch aufschließt, Zugänge für Bildungsprozesse im Bereich des Lehramtes an beruflichen Schulen wie in der beruflichen Aus- und Weiterbildung eröffnet und eine theoretische Legitimation anbietet. Die Studie nahm ihren Ausgang von den im Nachhaltigkeitsdiskurs bereits etablierten Kristallisationspunkten (vgl. FISCHER 1998, 2001) und orientierte sich insbesondere an den Begriffen Retinität, Globalität und Interkulturalität . Zielführend war die Intention, diese Kristallisationspunkte auf ihre theoretischen Gehalte hin zu sichten, ihre Eigenschaften und Dimensionen für Lernprozesse transparent zu machen, ihr Bedingungsgeflecht sowie das Verhältnis zwischen Kategorien und Subkategorien zu entdecken und sie gemäß ihrer immanenten Logik in einem didaktischen Transfer neu zu verknüpfen. Im Workshop 17 wurden Auszüge des Abschlussberichtes vorgetragen und der erste Entwurf eines Kriteriensatzes für die Hochschuldidaktik zur Diskussion gestellt.

1.  Anlass der Studie

In der „Beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ (BBfnE) fehlt es an einer hinreichenden Klärung der im Nachhaltigkeitsdiskurs verwendeten Begriffe, Kategorien und Prinzipien, während sich zugleich ein notwendig normatives Nachhaltigkeitsverständnis (Insofern liegt die Betonung auf der Nachhaltigkeitsidee, denn mit der Berichterstattung der Enquête-Kommission (1998) zum ›Schutz des Menschen und der Umwelt‹ wurde ausdrücklich der normative Gedanke einer „regulativen Idee“ als Merkmal nachhaltiger Entwicklung benannt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.) verbreitet. Eine Ursache ist zweifelsohne, dass die pädagogische Nachhaltigkeitsdiskussion größtenteils mit mangelhafter Trennschärfe zur politischen Debatte betrieben wird, was zu einer fortbestehenden Begriffsproblematik im berufspädagogischen Nachhaltigkeitsdiskurs führt. Es wird versäumt, eigene immanent pädagogische Bezugspunkte zu suchen und zu entwickeln: Eine andere Ursache liegt offenbar bereits in ihrer Grundlegung: Die konstitutiven Bestandteile der ›Sustainability-Idee‹ (vgl. Kristallisationspunkte), wie sie sich etwa aus den ökologischen Grenzlinien und unverrückbaren Menschenrechten ergeben, werden zwar gerne als Ausgangspunkt pädagogischer Leitlinien, kaum aber als Bezugspunkte für reflexiv heuristische Denkbewegungen interpretiert. So konstatieren auch Fischer et al: „Nach wie vor ist ungeklärt, was genau unter nachhaltiger Entwicklung zu verstehen ist. Ebenso ungelöst ist das Problem, wie sich eine nachhaltige Entwicklung einschließlich der Globalität und Interkulturalität in den beruflichen Handlungsfeldern realisieren lässt. Ferner ist unklar, wie Nachhaltigkeit, Globalität und Interkulturalität mit all ihren didaktischen Implikationen in der beruflichen Bildung zu verankern sind“ (FISCHER/ MERTINEIT/ SKRZIPIETZ 2007, 5).

2.  Analyseverfahren und Konstruktion einer heuristischen Matrix

Nach heuristischen Analyseverfahren der Grounded Theory wurde vorwiegend in Form des offenen und axialen Kodierens gearbeitet (STRAUSS/ CORBIN 1996, BÖHM 2004). In der ersten Kodierphase erschien das Beziehungsgeflecht der Kristallisationspunkte als intransparent und didaktisch unzugänglich. In den Ausgangstexten variiert die Benennung, Beschreibung, Gewichtung, sowie die Anzahl der Kristallisationspunkte (vgl. Tabelle 1).

Der erste Textvergleich mit Blick auf Qualität, Modus, Dimensionierung und Speziefik nachhaltiger Eigenschaften, zeigte unausgewiesene Wechselbezüge im Bedingungsgeflecht der Kristallisationspunkte und deren mangelnde Trennschärfe. Beispiele :

( 1 ) sustainable ratio , beschrieben als ökologische Erweiterung ökonomischer Denkmodelle fehlt der Bezug zur sozialen Dimension und sie ist als geistige Potenz der Retinität (3) normativ und begrifflich bereits aufgehoben .

( 3 ) Retinität als Vernetzung von ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten der Nachhaltigkeitsidee ( Vernetzung von Öko-, Zivilisations- und Gesellschaftssystem) beinhaltet das signifikante Rationalitätskonzept und den ethischen Entscheidungsmaßstab.

( 5 ) Die inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit wird als Problem der Verantwortung
( 2 ) für knappe Ressourcen und der Zukunft (4) beschrieben. Sie wäre im Kontext des Gerechtigkeitsdiskurses zu präzisieren und vom ethischen Diskurs genauer abzugrenzen.

( 4 ) Zukunft wäre treffender als die Zukunftsfähigkeit ökonomischer, ökologischer und sozialer Entscheidungen zu bezeichnen. Die Abstraktheit der zeitliche Dimension in der Nachhaltigkeitsidee ist didaktisch hoch brisant und als pädagogisches Problem unterschätzt .


In der ersten Kodierphase wurden vier repräsentative Schriften aus dem Fundus des Nachhaltigkeitsdiskurses (BfnE, vgl. Literatur 1. Kodierphase) kleinschrittig analysiert, um die vorgefundenen Codes ›aufzubrechen‹, neu zu dimensionieren und zu systematisieren. Das Ergebnis wurde als grafisches Memo festgehalten.

 

Sofern sich im Verlauf der Untersuchung eine Kategorie als relevant erwies, wofür die Häufigkeit ihrer Verwendung und ihre Stellung im Text Indikatoren waren, wurde für die zweite Kodierphase einschlägige Fachliteratur herangezogen (vgl. Literatur 2. Kodierphase), um deren Bedeutungshof genauer zu eruieren. I m Wechsel der Kodierformen sowie mit Hilfe verschiedener Techniken der theoretischen Sensibilisierung (vgl. SRAUSS/ CORBIN 1996, 7f., 32f., 75-94), konnten schließlich zentrale Phänomene theoretisch begründet und als Referenzrahmen einer heuristischen Matrix, als Vorstufe eines di­dak­ti­schen Strukturgitters, verwendet werden. Da der Diskurs über Nachhaltigkeit aus divergierenden Erkenntnisinteressen heraus geführt wird, schien es sinnvoll, die aufgefundenen Kategorien und Subkategorien in der Tradition des Strukturgitteransatzes nach Maßgabe des technischen, praktischen und emanzipatorischen Erkenntnisinteresses (HABERMAS 1968) zu systematisieren und für die spätere pädagogische Verwendung in der Hochschuldidaktik auszubuchstabieren. Dafür wurde das Instrumentarium der Grounded Theory von Anbeginn mit dem bildungstheoretischen Strukturgitteransatz von Herwig Blankertz kombiniert.

Die politische Dimension der Nachhaltigkeitsidee bleibt im tragenden Konzept der Retinität unterbestimmt, in den Ausgangstexten gar ausgeblendet (vgl. Tabelle 1). Deshalb wird sie in der heuristischen Matrix über den Prozess der Urteilsbildung hereingeholt : zum einen über die politische Subkategorie ›Partizipation‹, zum anderen im Vorgang der Perspektivenübernahme: Die perspektivisch angeordneten erkenntnisleitenden Interessen gehen explizit aus Habermas' Theorie über die politische Öffentlichkeit hervor.

2.1  Theoretische Kategorialanalyse im Strukturgitteransatz

Im Unterschied zum Begriff der didaktischen Matrix betont der Ausdruck Strukturgitter eine „strukturale Qualität“ im Sinne einer „curricularen Transformationsgrammatik“; d.h. mit Hilfe des Strukturgitters wird der Bildungsbegriff fachspezifisch übersetzt und die Verknüpfung von Subjekt- und Systembezug fachdidaktisch legitimiert (vgl. FISCHER/ KUTSCHA 2003, 97f.).

In diesem Zusammenhang (BBfnE) interessiert insbesondere das Potential eines Strukturgitters für mikrologische Anschlussstudien. Diese erfordern ein Instrument, mit dem sich Tiefenstrukturen nachhaltiger Entwicklung auffinden lassen, so dass auch feine Unterschiede in (oberflächlich) ähnlichen Phänomenen deutlich werden; ein Instrument also, das die Komplexität der Sache bewahrt und vor allem offen bleibt für die Darstellung dialektischer Dynamiken in der nachhaltigen Entwicklung. Diese sollen didaktisch transferiert und in Lehr-Lernprozessen aufrechterhalten werden. All das motiviert die Ausgestaltung der neun Felder : Auf den drei Sachebenen (horizontal) Wirtschaft, Lebenswelt, Natur werden unter drei erkenntnisleitenden Perspektiven (vertikal) in jedem Feld exemplarische Probleme herauspräpariert, je ein typisches Dilemma benannt, das den Bildungsgehalt des Problems thematisiert, und paarig angelegte Reflexionskategorien bildungstheoretisch ermittelt. Sie sollen die Diskussion systematisieren und die Antinomien der Nachhaltigkeits idee in die curriculare Ausarbeitung ›hineintragen‹. In dieser Form leistet das Strukturgitter eine inhaltliche Spezifizierung kritischer Bildungsprozesse. (BLANKERTZ' Definition der Strukturgitter lässt diese Modifikation zu: „Es handelt sich um Kri­terienkomplexe, mit deren Hilfe vorgegebene, inhaltlich bestimmte Zumutungen zu Lerngegenständen, zu Unterrichtsinhalten strukturiert und qualifiziert werden, weiterhin auch vorliegende komplexe Unterrichtsinhalte (Unterricht, Lehr­bücher, Richtlinien usw.) beurteilt und mit Bestimmtheit kriti­siert werden können. Strukturgitter leisten also das, was früher ein einziges, in seinen Aspekten schwer durchschaubares Aus­wahl- und Konstitutionskriterium, nämlich ›Bildung‹ leisten sollte. Ihm gegenüber haben Strukturgitter jedoch zwei Vorzüge: Einerseits sind sie auf den jeweiligen Unterrichtsbereich hin differenziert und implizieren die jeweilige wissenschaftsdidak­tische Fachstruktur, andererseits legen sie ihre normativen Vor­aussetzungen ausdrücklich offen, während sich im Bildungsbe­griff bis in die heutige Zeit unausgewiesene Ideologien konser­vieren konnten. Didaktische Strukturgitter sind also weder Lern­inhalte noch Lernziele, sondern Kriterien für deren Beurteilung in analytischer oder konstruktiver Absicht.“ (BLANKERTZ 1974, 19f., Hervorhebungen UG) )

Strukturgitter sind sowohl Kriteriensätze, als auch partizipationsorientierte Instrumente, die das curriculare Lehrerhandeln systematisch vorstrukturieren. Zu jedem beliebigen Lernfeld wäre man hiernach in die Lage versetzt, in völlig neuem, konstruktivem Zugriff auf den Stand der Wissenschaften eine eigene didaktische Systematik zu entwerfen und für eine (forschende) Entfaltung des Gegenstandes im Medium von Unterricht zu sorgen.

3.  Hochschuldidaktische Transformation der Nachhaltigkeitsidee

„Weil das Seiende nicht unmittelbar sondern nur durch den Begriff hindurch ist, wäre beim Begriff anzuheben, nicht bei der bloßen Gegebenheit“. (ADORNO 1997: 156)

Abb 3: Das Strukturgitter BBfnE: ein hochschuldidaktischer Kriteriensatz

 

3.1  Referenzrahmen des Strukturgitters

3.1.1  Erkenntnisleitende Interessen

Vor dem Hintergrund einer Berufsbildungstheorie, hier mit Bezug auf Herwig BLANKERTZ, werden drei sachimmanente Perspektiven des Strukturgitters ausgewiesen, unter denen sich die Nachhaltigkeits idee erkenntnis- und bildungstheoretisch aufbereiten lässt. Die Erkenntnisleitenden Interessen haben sich im Verlauf der menschlichen Evolution im Medium Arbeit, Sprache und Herrschaft herausgebildet und gelten als überindividuell. Während das technische Erkenntnisinteresse für die Aneignung von Natur qua Arbeit steht und deshalb ausschließlich nach zweckrationalen Gesichtspunkten auf einen möglichst hohen Ertrag bei geringem Mitteleinsatz zielt, geht das praktische Erkenntnisinteresse über diese Formen der Realisierung des ›Reproduktionszwangs‹ und ›Sozialitätszwangs‹ hinaus. Es zielt auf Verständigung, auf reziproke kommunikative Einigungsprozesse im Verbund mit anderen Menschen, wie sie z.B. im Kontext globalen Lernens mit Blick auf Internationalität zu bedenken sind. Diesen beiden konstitutiven Interessen fügt HABERMAS das emanzipatorische Erkenntnisinteresse als drittes hinzu, das wir speziell im Rahmen der BBfnE mit der Ausbildung der Ge­staltungsrationalität verknüpfen.

Fragehorizonte im Nachhaltigkeitsdiskurs fächern sich nun unterschiedlich auf: Facetten und Schichten empirischer Globalisierungsprozesse ökonomischer, soziokultureller und ökologischer Inhalte offenbaren sich entweder aus dem Blickwinkel zweckrationaler Verwertungsinteressen oder aus dem Blickwinkel eines hermeneutischen Verständigungsinteresses oder aus dem Blickwinkel der Herrschaftskritik. Es sind dies, wie es HABERMAS formuliert, „die spezifischen Gesichts­punkte (...), unter denen wir die Realität als solche erst erfassen können“. Sie definieren vor allen wissenschaftlichen Ansprüchen den Verwendungssinn und das Vorverständnis, und damit die „transzendentalen Grenzen möglicher Weltauffassung“ (HABERMAS 1968, 260ff.). Die drei Perspektiven des Strukturgitters entsprechen also zwei anthropologischen Gesichtspunkten und einem kritischen Standpunkt, der Realitätserfassung und Realitätsinterpretation, wie sie von HABERMAS in Erkenntnis und Interesse (1968, 1973) unterschieden wurden.

Diese Erkenntnisleitenden Interessen bezeichnen universelle, anthropologisch tiefsitzende Motive der Erkenntnisgewinnung , die sich in soziokulturell gebundenen Lebensformen (Arbeit und Sprache) quasi notwendig ergeben, weil alle Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, mit der Welt, in der er lebt, grundsätzlich im Rahmen instrumenteller und kommunikativer Handlungsmodi stattfinden. Um seiner Selbsterhaltung willen ist der Mensch gezwungen sich die innere und äußere Natur unter dem Aspekt ihrer Verfügbarmachung anzueignen (Abb. 3: I. Perspektive, technisches Erkenntnisinteresse, Zweckrationalität , instrumentelles Handeln, Arbeit). Dieser Prozess der Naturaneignung ist aber immer schon ein gesellschaftlicher, in Arbeit und Sprache vermittelter Prozess (: II. Perspektive , praktisches Erkenntnisinteresse, Hermeneutische Rationalität , kommunikatives Handeln, Interaktion). Die Kritik schließlich, auf die es HABERMAS im 3. Handlungsmodus ankommt, bewährt sich als Erkenntniskritik durch Aufklärung über das technische und praktische Erkenntnisinteresse. Erst im Modus der ›Kritik‹, von HABERMAS durch den Begriff der Selbstreflexion konkretisiert (: III. Perspektive, emanzipatorisches Erkenntnisinteresse, Herrschaftskritik Gestaltungsrationalität ), kommt das emanzipatorische Interesse zum Tragen, das einen ›abgeleiteten Status‹ hat und dadurch praktisch wirksam wird, so dass „kommunikatives Handeln als kommunikatives freigesetzt wird“ (HABERMAS 1973, 76 und 243f.) („Die spezifischen Gesichtspunkte, unter denen wir die Wirklichkeit transzendental notwendig auffassen, legen drei Kategorien möglichen Wissens fest: Informationen, die unsere technische Verfügungsgewalt erweitern; Interpretationen, die eine Orientierung des Handelns unter gemeinsamen Traditionen ermöglichen; und Analysen, die das Bewusstsein aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten lösen. Jene Gesichtspunkte entspringen dem Interessenzusammenhang einer Gattung, die von Haus aus an bestimmte Medien der Vergesellschaftung gebunden ist: an Arbeit, Sprache und Herrschaft.“ (HABERMAS 1968, 162)).

3.1.2 Globalisierung ¾ Mondialisierung

In der theoretischen Kategorialanalyse werden mit Hilfe des Strukturgitters Prozesse der Globalisierung, respektive Mondialisierung in ihrer ökonomischen, soziokulturellen (interkulturellen) und ökologischen Dimension didaktisch transferiert. Um empirische Problemlagen über die drei Sachebenen Wirtschaft, Lebenswelt , Natur begrifflich einzuführen, bieten sich beispielsweise die folgenden Texte an: Der Essay von Otfried HÖFFE (2006) zur Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung und die zehn Thesen von Giacomo MARRAMAO (2003), der in seiner Monografie Der Weg nach Westen bedeutsame Gesichtspunkte im Zusammenhang von Globalisierung und Interkulturalität bezeichnet. Hier zitiert und als Seminarlektüre zugrunde gelegt in der Zusammenfassung: Öffentlichkeit und Erfahrung in der globalen Zeit. Universalistische Differenzpolitik (2004).

HÖFFE kritisiert einen ökonomisch verkürzten Globalisierungsbegriff und bündelt die globalen Phänomene in drei Dimensionen — „in einer globalen Gewaltgemeinschaft: der Kriege, des Terrors, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der grenzüberschreitenden Umweltschäden; in einer globalen Kooperationsgemeinschaft: nicht nur der Güter, Finanzen und Dienstleistungen, sondern auch der Bildung, Wissenschaft und Kultur, auch des Sports; endlich in einer globalen Schicksalsgemeinschaft: sichtbar in den großen Wanderbewegungen, in Naturkatastrophen und dem Entwicklungsbedarf großer Weltregionen“ (HÖFFE 2006, 1113). In allen drei Bereichen entsteht ein Handlungsbedarf, der auf eine demokratische Weltordnung drängt, weil er großteils weder allein von den Einzelstaaten noch in zwischenstaatlichen Kooperationen gedeckt werden kann.

MARRAMO legt zum besseren Verständnis von Globalisierungsprozessen drei Tiefenstrukturen frei:
1. die immanente Widerspruchsfigur der Globalisierung: „Glokalisierung“,
2. die entscheidende Differenz von Globalisierung und Mondialisierung, und
3. die paradoxe Rolle des Nationalstaats im Prozess der Globalisierung

Zu 1. Glokalisierung. Vom Mainstream abweichend interpretiert MARRAMAO den Prozess der Globalisierung nicht als Schwelle zu einer neuen Epoche, sondern als unsicheren Übergang von der nationalstaatlichen zur weltumspannenden Moderne als „gefahrvollen Weg aller Kulturen nach Nordwesten : ein schwieriger Übergang der Moderne, der tiefe Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und in den Lebensstilen“ hervorbringt. ( MARRAMAO 2004, 110). In diesem Bild vom Weg als Bewegung, Veränderung, Risiko und Chance betont er vor allem eine immanente Gegenläufigkeit: „Globalisierung ist einerseits technisch-wirtschaftliche und finanziell-kommerzielle Vereinheitlichung mit den Folgeerscheinungen der Entterritorialisierung und wachsenden Interdependenz der verschiedenen Weltgegenden, andererseits ein ebenso beschleunigter Trend zur Differenzierung und Reterritorialisierung von Identitäten: die Wiederverortung von Prozessen symbolischer Identifikation.« (MARRAMAO 2004, 112)

Der bezeichnete Widerspruch der Globalisierung ist insbesondere für das Verständnis der Kategorie Interkulturalität von großer Bedeutung, weil die Zersplitterung der globalen Gesellschaft in eine Vielzahl von ›Diaspora-Öffentlichkeiten‹ als kultureller Abwehrmechanismus gedeutet werden kann. Eine Hypothese, mit der sich globale Interessen- und Identitätskonflikte recht schlüssig erklären lassen (Felder 1.II, 2.II).

Zu 2. Globalisierung und Mondialisierung . Der im angelsächsischen Sprachgebrauch übliche Begriff Globalität färbt sich anders ein und seine Verflechtung mit dem Begriff Interkulturalität wird transparenter, wenn er mit dem umfassenderen Begriff Mondialisierung (lat. mundus , mondial, weltlich) des romanischen Sprachraumes abgeglichen wird: Dieser Begriff umfasst auch die ›Verweltlichung‹, er verweist auf Säkularisierungsprobleme und lenkt den Blick auf die Funktion der Religionen im Globalisierungsprozess. Insbesondere als ›identitätsstiftende Aggregatformen von transkultureller Natur‹ komplizieren und destabilisieren Religionen die Globalität. „Bei näherem Hinsehen ähneln die Konflikte in der globalen Welt sogar mehr den Religionskriegen [...] als dem Kampf zwischen angeblich monolithischen Kulturen“ (MARRAMAO 2004, 114). Dem Begriff Globalisierung fehlt diese Dimension der kulturellen Spannung , deshalb wäre in der Konstruktion des Strukturgitters der Begriff Mondialisierung vorzuziehen.

Zu 3. Das Paradoxon Nationalstaat . Zwar ist Globalisierung „ein von Beginn an bestehendes Merkmal der Moderne, die ohne die Tendenz zur ›Globalisierung‹, zur Erkundung der Meere und der Eroberung der Neuen Welt nicht denkbar ist“ (MARRAMAO 2004, 110). Doch die Genese des neuen globalen Raumes birgt mit dem drohenden Wegfall des Nationalstaates ein unkalkulierbares Risiko. Mit ihm geht eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Globalem und Lokalem verloren: „Weil die einzelnen souveränen Staaten zu klein sind, um den Herausforderungen des globalen Marktes zu begegnen, und zu groß, um die Vermehrung der Themen, der Forderungen und der Konflikte aus den verschiedenen lokalen Identitäten und Kulturen zu kontrollieren“, kündigt sich ein Zusammenbruch der internationalen Ordnung der Moderne an ( MARRAMAO 2004, 112f.).

3.1.3 Interkulturalität und Globalität

„Interkulturalität im Sinne von Fremdheitserfahrungen, schließlich sogar an einem selbst, ist ein Feld der Verunsicherung und Ambivalenz – insbesondere in Traditionen, wie der des westlich-rationalen Denkens, die auf die von Vernunft und Autonomie gegründete Stärke des Handlungssubjektes setzen. Wer die Dimension des Interkulturellen ernst nimmt, kommt sehr schnell an Grenzen eines pädagogischen (Selbst-)Verständnisses, das sich auf die technologische Wirkung des Verstehens, des Wissens und der kommunikativen Gewohnheiten verlässt. Interkulturell ist eine Chiffre für die Undurchschaubarkeit und die Nicht-Vorhersehbarkeit von kommunikativen Situationen, für die Zerstörbarkeit der fraglosen Voraussetzungen des unbedachten wie des bedachten Handelns, für die Grenzen des Berechenbaren, Planbaren und Erwirkbaren“ (MECHERIL 2004, 131).

In Prozessen der Mondialisierung ist ein interkultureller Diskurs bereits angelegt, der sich mit Fragen der Menschenrechte, globaler Rechtsstaatlichkeit, globaler Demokratie und Fragen der interkulturellen Verständigung, des interkulturellen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens zu befassen hat. Dennoch konnte eine theoretische Verortung des Begriffs Interkulturalität im Nachhaltigkeitsdiskurs aus den Quellen der ersten Kodierphase nicht ermittelt werden. Implizit zeigte sie sich aber als entscheidender Problemgehalt der Kristallisationspunkte Gerechtigkeit, Verantwortung und Partizipation .

Im Strukturgitter werden Theorien der Gerechtigkeit auf Interkulturalität bezogen und die Forderung nach einem ›universalen Humanismus‹ diskutiert. Insbesondere eine unverhandelbaren Kernzone worin der Mensch mit seiner Verwundbarkeit, Abhängigkeit von Lebensmitteln und seinem Bedürfnis nach Entwicklung und Selbsterweiterung die Zuschreibungsformel für Menschenrechte bildet. Damit verbindet sich der Anspruch an die curriculare Implementation eines moralisch signifikanten präkulturellen Grundgedankens von Menschenrechten mit einer existenz-, subsistenz- und entwicklungsrechtlichen Bedeutungsschicht (vgl. KERSTING 2001). In Fragen nach globaler Gerechtigkeit für alle heute lebenden Menschen spielt Interkulturalität ferner in die Diskussion des moral-theoretischen Spannungsverhältnisses von Liberalismus (RAWLS) und Kommunitarismus (TAYLOR, WALZER) hinein (Feld 1.II).

Unter Gesichtspunkten der Partizipation wird Interkulturalität hinsichtlich interkultureller Verständigungsprozesse betrachtet. Das geschieht explizit im Konzept des Polylogs (WIMMER 2003, 25-39) als Voraussetzung für globale Demokratisierungsprozesse oder implizit im Begriff der Narration ( F eld 2.III ). Die Narration ist ein Kernstück der universalistischen Differenzpolitik MARRAMAOS, die den konsequenten Einbezug der narrativen Darstellungsformen von Wertentscheidungen, Kultur- und Weltsicht verlangt. Auch Menschen, die nicht in der Lage sind, sich rational diskursiv auszudrücken, können ihre „ethischen Entscheidungen begründen oder die Konsequenzen ihrer autonom oder heteronom bestimmten Lebensstile für ihre eigene Existenz darstellen“ (MARRAMAO 2004, 118f.).

In der Dimension Verantwortung wird Interkulturalität auf der dritten Sachebene des Strukturgitters angesprochen, insofern Natur weitestgehend eine kultivierte ist , eine kulturell geprägte Lebensgrundlage. Die lebensweltliche Einbindung der Natur differiert wie ihre grundsätzliche Wertschätzung. Fragen der ökologischen Verantwortung sind damit stets auch interkulturelle Fragen.

In dieser Weise ist Interkulturalität auf allen Sachebenen in der didaktischen Reflexion präsent, (kultur-)theoretisch wird sie jedoch auf der zweiten Sachebene eingearbeitet. Diese Sachebene wird als Lebenswelt bezeichnet, weil die Konstitution der Subjektivität ihren Ort in konkreten Lebenswelten hat und pädagogisch darüber auch zugänglich wird. In der Lebenswelt kann der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Erfahrung erschlossen werden, der die kritisch-emanzipatorische Dimension und die Dynamik der Subjektkonstitution (Identifikation) vorzeichnet. So liegt es nahe, den Forschungsschwerpunkt Interkulturalität situativ aus der Kenntnis der jeweiligen Lebenswelt heraus zu verstehen. Zumal auch der aktuelle Formwandel der sozialen Integration immer wieder als eine Modernisierungsdynamik durch Öffnung und Schließung von Lebenswelten beschrieben wird.

Als Seminartexte bieten sich neben dem vierten Kapitel von MECHERIL (2004), Was ist ›interkulturelle Kompetenz‹?, Auszüge aus den Studien zur Interkulturalität von WIMMER (2003) an, sowie von KRÜGER-POTRATZ (2005, 168-177): Zur diskursiven Ordnung des Feldes der interkulturellen Pädagogik .

Franz M. WIMMER verhandelt die kulturelle Globalität im Trend einer Vereinheitlichung, Entdifferenzierung und Standardisierung bestimmter kultureller Phänomene, im Gegensatz zu Phänomenen einer regional-eigentümlichen Kultur. Also globale statt spezifisch lokale Kommunikationsformen (wie im Internet), globale statt typisch regionale Siedlungsformen usw. Der Philosophie entsteht aus dieser Form der Universalität ein Dilemma ihrer Kulturalität, auf das wir hier nicht weiter eingehen wollen, doch die Suche nach einer angemessenen Sprache und Verständigung, mit der die unreduzierte Vielfalt im Denken bewahrt werden kann, ohne den Anspruch auf universelle vernunftgeleitete Überzeugungen aufzugeben, ist für die interkulturellen Bildungsprozesse gleichermaßen relevant. Überdies zeigt WIMMER einen interessanten strukturellen Zusammenhang von Globalität und Interkulturalität an, der sich als ein Außen-Innen-Verhältnis beschreiben lässt: „Indizien für die Globalität finden wir auf den Gebieten menschlicher Techniken, der Wissenschaften, in den Vehikeln der Kommunikation und des Transports, den Siedlungsformen, Künsten und Organisationsformen von Gesellschaften, sowie in den Formen des Austausches von Ideen. In all diesen Bereichen zeigt sich externe, d.h. globale Universalität. Die Situation wirft die Frage auf, ob diese Kultur Tendenzen hat, in einer solchen Weise auch intern universell zu werden, d.h. alle Denk- und Handlungsformen der Menschen, die sie repräsentieren, in typischer Weise zu bestimmen, wie dies bei früheren Kulturformen der Menschen der Fall war ? und was es bedeutet, wenn dies nicht der Fall ist“ (WIMMER 2003, 11) , wenn sich also zur externen Universalität kein internes Pendant entwickeln kann. Möglicherweise lässt unsere psycho-soziale Verfassung das nicht zu, vielleicht kann das psychische Ich diese Entgrenzung nicht leisten ohne zu zerfallen, weil sich das Bedürfnis nach Identität der geforderten internen Universalität widersetzt. Wimmers Bild der internen Kultur erinnert an die historische Seite des Problems. Möglicherweise entstand die interne Kultur in früheren Kulturen gerade aufgrund der lokalen Gebundenheit der Menschen und wäre heutzutage gar nicht mehr herzustellen. (Vgl. zu diesem Problem auch Scheunpflug zur Krise der Einen Welt: „Nach der These der evolutionären Psychologie ist das Denken und die Gefühls- und Motivationswelt von Menschen an die Lebensbedingungen des Pleistozäns als der für die Menschheitsentwicklung längsten Periode angepasst. Diese Lebensbedingungen sind durch unmittelbare Tat-Folge-Zusammenhänge und durch Herausforderungen im konkreten Nahbereich gekennzeichnet. Menschen haben (noch) nicht gelernt, ihr Denken und Handeln daran anzupassen, dass sie längst diesen Mesokosmos der unmittelbaren Umgebung verlassen haben und global agieren.“ (SCHEUNPFLUG 2000, 6))

Die interkulturelle Pädagogik ist inzwischen ein eigenständiges pädagogisches Fachgebiet, ihr Forschungsstand zur interkulturellen Bildung ist weit ausdifferenziert. Paul MECHERIL hat die Konzepte und Modelle ausgewertet und ihre Prämissen in drei Schwerpunkten freigelegt: Es gibt „kulturell-different“ beschreibbare Lebensformen innerhalb eines national- oder weltgesellschaftlichen Zusammenhanges (1); diese Lebensformen sind in ihrer Differenz prinzipiell anerkennenswert (2); es müssen Fertigkeiten der wechselseitigen kommunikativen Anerkennung ausgebildet werden (3) (vgl. MECHERLI 2004, 106).

Die Frage interkultureller Beziehungen nimmt mittlerweile in allen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen einen breiten Raum ein. In jedem pädagogisch relevanten Arbeitsfeld spielen sprachlich-kulturelle Heterogenität und interkulturelle Beziehungen eine große Rolle. Dennoch ist die Diskursanalyse im allgemeinen Bereich der interkulturellen Bildung ein Desiderat. KRÜGER-POTRATZ fasst Aussagen zur kulturellen Differenz in vier Diskursen zusammen: Gleichheitsdiskurs, Essentialisierungsdiskurs, Universalitätsdiskurs und Pluralitätsdiskurs (2005: 172-176; vgl. Feld 2.II):

Der Gleichheitsdiskurs : Der unkritische, in der Tradition des 19. Jh. wurzelnde Gleichheitsdiskurs fasst die Positionen zusammen, die „die kollektive Benachteiligung der Zugewanderten (der Fremden, Migranten, Ausländer, Aussiedler, Flüchtlinge usw.) thematisieren und für deren Gleichbehandlung sowie deren politische und rechtliche Gleichstellung eintreten, ohne die Frage des Maßstabs und der Macht hinreichend zu beachten“, so dass Normalitätsverständnisse nicht hinterfragt werden. „Die Folge ist, dass Differenz mit Defizit und die Forderung nach Chancengleichheit pädagogisch in assimilatorische und kompensatorische Maßnahmen und Konzepte übersetzt wird“ (KRÜGER-POTRATZ 2005, 172).

Der Essentialisierungsdiskurs: Als Antwort auf diese Defizit-Hypothese versteht sich der Essentialisierungsdiskurs. Er dreht die Defizit-Hypothese mit dem Diskussionsstrang „Differenz als Bereicherung“ einfach um und leitet daraus das Recht auf Anderssein und den Erhalt der kulturellen Identität ab, „mit der Folge, dass der ›Andere‹ in seiner Kultur ›eingesperrt‹ (›kulturalisiert‹) bzw. auf das ihm angeblich ›Wesentlich-Eigentliche‹ zurückverwiesen (essentialisiert) wird“ (KRÜGER-POTRATZ 2005, 173), das Fremde wird exotisiert und erneut ausgegrenzt. Die „Denkfigur ethnisch-sprachlich-kultureller Homogenität“ bleibt unangetastet. Hier werden charakteristischer Weise Kulturtheorien rezipiert, insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Kulturuniversalismus und Kulturrelativismus. Mit dem Gleichstellungsdiskurs hat der Essentialisierungsdiskurs gemeinsam, dass soziale und politische Differenzen und Konflikte kulturell erklärt werden.

Im Universalitätsdiskurs wird Differenz weder als Defizit noch als Bereicherung thematisiert, sondern in einem transkulturellen oder kulturübergreifenden „Dritten“ aufgehoben. Interkulturelle Vermittlung verliert ihre Bedeutung, weil hier kulturelle Universalien vorausgesetzt werden, wie z.B. eine allgemein-gültige Moral, „die den Kulturen als historische und regionale (nationale) Besonderungen gemeinsam sind und auf die hin eine allgemeine Menschenbildung auszurichten sei. [...] ohne dass geprüft wird, wer, mit welchem Recht (aufgrund welcher Machtkompetenz), was ›allgemein setzt‹ und damit ›maßstabsverändernd‹ wirkt. [...] Dies ist bei den Konzepten zur Menschenrechtserziehung oder bei den internationalen Programmen der UNESCO (z.B. ›Education for all‹) dringend zu beachten“ (KRÜGER-POTRATZ 2005, 174f.).

Im Pluralitätsdiskurs wird Differenz als Konstrukt verstanden, denn er schließt an die Diskussionen über Differenz und Gleichheit in der postmodernen Philosophie und den post-kolonialen Studien an. Hier liegt die Betonung auf Recht und Differenz und als Recht auf Differenz. „In diesem Zusammenhang spielen Theorien über Diaspora, Hybridität und Transnationalität, Transkulturalität eine Rolle“ (KRÜGER-POTRATZ 2005, 175). Politisch und pädagogisch wird gefordert, die Andersheit (die mitgebrachte Sprache und Lebensform) als Ressource anzusehen. KRÜGER-POTRATZ macht hier auf den wesentlichen Unterschied zum Essentialisierungsdiskurs aufmerksam. Anders als bei der Differenz als Bereicherung geht es hier um die Idee, „dass (a) die Zugewanderten als Subjekte mit spezifischen Kenntnissen und Fähigkeiten gesehen werden und (b) Bedingungen geschaffen werden, unter denen sie diese Ressourcen für die Gestaltung ihres Lebens in der (Aufnahme-)Gesell­schaft nutzen können“ (KRÜGER-POTRATZ 2005, 176, Fn. 98).

Pluralitäts- und Universalitätsdiskurs treffen sich in der Kritik am Ausdruck interkulturell . Interkulturell verweise in seiner sprachlichen Form weiterhin auf ein statisches Modell von Kultur und erzeuge die Vorstellung von zwei oder mehreren in sich geschlossenen Kulturen, zwischen denen ( inter- ) es zu vermitteln gelte. Als Ausgangsbasis für die Seminardiskussion werden hier vier Leitsätze von Wolfgang RIEDEL (1999, 299) vorgeschlagen:

1. Interkulturalität in der beruflichen Bildung sollte als Befragung und Auslegung der eigenen Kultur beginnen. Kultur ist hier als lebensweltlicher Kontext zu verstehen, aus dem wir unsere Werte und Normen beziehen wie auch die Differenzen ihrer Texte und Kontexte; dieses Reservoir von polyvalenten Sinn- und Deutungsmustern gilt es zu nutzen.

2. Ziel des interkulturellen Diskurses in der beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ist nicht hegemoniale Wahrheit, sondern eine auf gegenseitiger Anerkennung beruhende diskursive Praxis . Weil kulturelle Deutungen öffentlich sind, stellt sich für Bildungsprozesse die Frage, wie interkulturelle Praxis eine Erweiterung dieses öffentlichen Raumes zwischen Kulturen befördern kann.

3. Interkulturalität und die damit verbundene Anerkennung kultureller Identität zielt auf wirkliche gesellschaftliche Zusammenhänge, d.h. sie darf die sozialen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Brechungen ihrer Kontexte nicht unberücksichtigt lassen, was im Rahmen beruflicher Sektor- und Fallanalysen darzulegen ist.

4. Interkulturalität kann aus den oben genannten Gründen nicht auf Homogenität und Harmonisierung zielen; kulturelle Anerkennung bedeutet nicht, dass wir künstliche Oasen der Einheitlichkeit und Harmonie herzustellen hätten. Andererseits ist Kultur kein stellvertretender Kriegsschauplatz, sondern als Raum des Expressiven ein Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit neben anderen, in dem allerdings alle anderen Bereiche thematisiert werden können und sollen.

3.2  Drei Sachebenen im Strukturgitter

3.2.1  Wirtschaft (ökonomisches Sachwissen)

Zur Einführung in die ökonomische Globalisierung bietet sich z.B. die erste Ausgabe der Discussion Papers des International Network for Economic Research (1999) an. Michael H. STIERLE, vom Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer, unterscheidet dort in einer systematischen Übersicht drei Gruppen von Ursachen und Schrittmachern: 1. technischen Fortschritt (Informations- und Kommunikationstechnologie, Verkehrstechnologie, Produkt- und Prozessinnovationen); 2. politische Veränderungen (Änderungen der ordnungspolitischen Grundorientierung, Deregulierung und Privatisierung, Liberalisierungen der Außenwirtschaftspolitik) und 3. ökonomische Entwicklungen (neue Finanzinstrumente, Entwicklung der Absatzmärkte und neue Wettbewerber); sowie verschiedene Entwicklungen im Zeitablauf im Vergleich zu geeigneten Referenzgrößen als Indikatoren : die Entwicklung des internationalen Handels (1), die Globalisierung der Unternehmen, insbesondere durch Direktinvestitionen (2) und die Globalisierung der Finanzmärkte ¾ internationale Anleihen, derivative Finanzinstrumente und Devisentransaktionen (3).

Gegenstand der didaktischen Analyse und der Lehre werden drei ausgewählte ökonomische Problemlagen, die im Globalisierungsprozess entstehen und mit Blick auf Nachhaltigkeit zu bearbeiten sind: die Wachstums-, Solidaritäts- und Governanceproblematik. Jedes dieser Probleme wäre auf die Dimensionen Gerechtigkeit, Verantwortung und Partizipation hin zu sichten. So entsteht eine Matrix zur Sachanalyse der ökonomischen Bildungsinhalte. Es wird vorgeschlagen auf der 1. Sachebene Wirtschaft die Kategorie Gerechtigkeit theoretisch einzuführen und sie hier im Zusammenhang mit und in Abgrenzung zu Rechtsfragen grundzulegen und zu konkretisieren ( Menschenrechte, internationales Arbeitsrecht, Wirtschaftsrecht, politische und personale Gerechtigkeit ) .


3.2.1.1 Gerechtigkeit:

Gerechtigkeit „ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. (...) Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird“. Mit diesen Worten beginnt John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit von 1971 (19), auf die im Rahmen der Sustainability-Debatte wiederholt eingegangen wird (vgl. FISCHER 1998, 22).

Im Nachhaltigkeitsdiskurs stellt sich die Forderung nach intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit als Spannungsverhältnis von Liberalismus und Kommunitarismus dar (vgl. Feld 1.II). Diese Kontroverse hat unmittelbare Folgen für das Verständnis von Interkulturalität und Moral. So verweist etwa HABERMAS auf die folgenreiche Dialektik zwischen rechtlicher und faktischer Gleichheit: die durch rechtliche Gleichheit möglichen Handlungsfreiheiten können differentiell genutzt werden, was einer faktischen Gleichheit von Lebenslagen und Machtpositionen zuwiderläuft.

FISCHER et al argumentieren, dass es den Nachhaltigkeitsdiskurs nicht weiterbringt, wenn man sich in rein systematische Überlegungen zur Gerechtigkeit hinein begibt. Man benötige eine „Theorie des Gebrauchs (als Theorie der Zwecke, Funktionen, Haltungen, Situationen) und nicht eine Theorie der Bedeutung (als Theorie des Sinns und der Referenz) der Idee der Gerechtigkeit und der Rücksichtnahme auf künftige Generationen“ (FISCHER/ MERTINEIT/ SKRZIPIETZ 5/2007, 12; 9/2007, 14). Doch in der Lehrerbildung kommen wir nicht umhin, Idee und Praxis der Gerechtigkeit, ihre Idee und ihre Institutionalisierung im historisch-systematischen Zusammenhang zu erforschen. Gerechtigkeit ist kein Prädikator, sondern ein Normbegriff , also eine handlungsmotivierende Idealvorstellung. Daher ist ihr Bildungsgehalt gerade in seiner Abstraktheit zunächst einmal geistig einzuholen, um festzustellen wann wir oder dass wir Gerechtigkeits -Konzepte vor uns haben .

Im Strukturgitter ist vorgesehen, die Reichweite der beiden Positionen Liberalismus (z.B. RAWLS) und Kommunitarismus (z.B. WALZER) exemplarisch am Problem der Solidarität in einer globalisierten Welt auszuloten, um den Gerechtigkeitsbegriff sowohl als regulative Idee, wie auch in der ökonomischen Praxis zu bearbeiten. Die Reflexionskategorie, die an diesem Problemfeld eingeübt wird, ist deshalb in der ökonomischen Verantwortung für die Vulnerabilität fremder Märkte angelegt; ökonomische Solidarität soll zur Stärkung ihrer Resilienz führen, statt ihre Schwächen für das eigene Wachstum auszunutzen (Feld 1.II).

3.2.2 Lebenswelt (sozio-kulturelles Sachwissen)

Für ein situatives Verständnis konkreter Prozesse und Ausdrucksformen von Interkulturalität bilden Kenntnisse der jeweiligen Lebenswelt die Voraussetzung. Gegenstand der zweiten Sachebene ist deshalb der lebensweltliche Forschungsschwerpunkt, der eine sozio-kulturelle Wissensbasis erfordert. Hier haben insbesondere die Arbeiten von NEGT und KLUGE gezeigt, dass politische Öffentlichkeit heute nur als Begegnung und Auseinanderssetzung von narrativen Versionen zur Organisation der globalen Gesellschaft zu fassen ist, d.h. aus unterschiedlichen Erfahrungszusammenhängen und Lebenswelten motiviert. Beide Schriften, Öffentlichkeit und Erfahrung (1972) und Geschichte und Eigensinn (1981), eignen sich daher grundsätzlich als Seminarlektüre.

Wir leben in der Anfangszeit der ersten globalen Kultur , die sich von jeder vorangegangenen grundlegend unterscheidet, einschließlich der okzidentalen. In der Begegnung mit anderen Kulturen sind Stereotype entwickelt worden, die teilweise für eine gemeinsame Entwicklung hinderlich sind (vgl. WIMMER 2003, 25-39). An den Inhalten der zweiten Sachebene ist deshalb der Frage nachzugehen, welche tradierten Begriffe und Ideen für eine künftige globale Kultur fruchtbar gemacht werden können. Im Bildungsprozess wären zunächst die Begriffe Kultur und Identität selber zu problematisieren:

Kultur ist der erklärte Gegenstand der Kulturwissenschaften, doch auch andere Disziplinen entwickeln theoretische Konstrukte von Kultur wie etwa die Erziehungswissenschaft, die Philosophie und Soziologie. So verfügen wir in der Wissenschaft über eine Vielzahl von Kulturkonzepten, was die Grundlegung der Kategorie Interkulturalität in der BBfnE auf hohem Niveau ermöglicht. Auf der Theorieebene lassen sich die beiden Pole des Begriffs exemplarisch am Gegensatz HERDER und WELSCH erschließen: Im essentiellen (substantiellen) Kulturbegriff HERDERS drückt sich die Vorstellung traditionsgeleiteter Lebenswelten aus: Kultur als die Gesamtform, in der ein Volk lebt. Die kulturelle Grundstruktur kennzeichnet soziale Homogenisierung, ethnische Fundierung und interkulturelle Abgrenzung. WELSCH dagegen konstatiert zu Recht, dass man in der Moderne so einheitlich nicht mehr lebt: „Moderne Gesellschaften beinhalten in sich eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen und Lebensformen unterschiedlicher Kulturen; sie sind multikulturell in sich. Sie sind vertikal differenziert : Die Kultur eines Arbeitermilieus, eines Villenviertels und der Alternativszene weisen kaum noch einen gemeinsamen kulturellen Nenner auf. Und sie sind horizontal differenziert : Unterschiede von weiblicher und männlicher, heterosexueller, lesbischer oder schwuler Orientierung können einschneidende Differenzen in den kulturellen Mustern und Lebensformen begründen“ (WELSCH 1998, 47f.). In der Arbeitswelt, so ließe sich ergänzen, treten zudem Berufs- und Betriebskulturen in Erscheinung. Das traditionelle Kulturkonzept vermag dieser inneren Komplexität der modernen Kulturen nicht mehr gerecht zu werden (vgl. Feld 2.II).

Im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs verweist Interkulturalität auf lebensweltliche Fragen, die in den westlichen Industriegesellschaften als typische Individuierungsprozesse gedacht werden, bzw. sich als solche auch darstellen. Soll also Interkulturalität zum Bildungsinhalt werden, so steht das Thema Identifikation im Zentrum. Sie ist das beherrschende Ferment in der Charakterisierung der Konflikte einer globalisierten Welt. MARRAMAO beispielsweise unterstreicht, dass in der aktuellen Phase der Mondialisierung „das Element der Identifikation dazu tendiert, auch das Moment des Nutzens zu umfassen. In unserer Welt erscheint es immer schwieriger, sich die klassische Frage des modernen Individualismus zu stellen: ›Was will ich?‹ ohne zuvor gefragt zu haben: ›Wer bin ich?‹. Die symbolische Frage nach der Identität wird so offensichtlich zur conditio sine qua non , um die eigenen Interessen und die eigenen Präferenzen festzustellen“ (MARRAMAO 2004, 115f., vgl. dazu auch TERKESSIDIS 2002, 38). Weltumspannend gedacht sind wir gleichermaßen mit kulturrelativen und kulturuniversellen Konstituenten von Lebenspraxis und Sinnwelten konfrontiert.

Im Zentrum der zweiten Sachebene steht das Spannungsfeld von Integration und Desintegration (Feld 2.I) . Gegenstand der Sachanalyse und der Lehre werden drei ausgewählte interkulturelle, bzw. sozio-kulturelle Problemlagen, die im Mondialisierungsprozess entstehen und unter Nachhaltigkeitsgesichtpunkten zu bearbeiten sind: Humankapital, Integration und Demokratisierung . Der Problemgehalt ist im Rahmen beruflicher Bildungsprozesse als partiale Integration erfahrbar und wird in der Öffentlichkeit als Kampf der Kulturen diskutiert (vgl. HONDRICH 2006, 486). Jedes dieser Probleme wäre auf die Dimensionen Gerechtigkeit, Verantwortung und Partizipation hin zu sichten. Auf diese Weise entsteht eine Matrix zur Sachanalyse der sozio-kulturellen Sachebene. Dazu wird vorgeschlagen, auf der Sachebene Lebenswelt die Kategorie Partizipation theoretisch einzuführen und an den Themen Inklusion versus Exklusion, Integration, Argumentation und Narration konkret auszubuchstabieren.

3.2.2.1  Partizipation

DE HAAN/ HARENBERG begründen den Begriff Partizipation in seiner Notwendigkeit für den Nachhaltigkeitsdiskurs, wie für alle langfristig angelegten Politikprozesse, die Änderungen im Denken und Handeln erfordern: „Ohne Partizipation, ohne Teilhabe an Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen, so die einhellige Meinung aller, die sich mit der Idee der Nachhaltigkeit beschäftigen, wird es keinen Weg in die nachhaltige Gesellschaft geben. Ohne Teilhabe an den Gestaltungsprozessen, die in den Bildungsinstitutionen stattfinden, wird in Hinblick auf eine dauerhafte umfängliche Sensibilisierung und Aufklärung für Umweltbelange nicht viel erreicht. Partizipation wird immer noch kaum, dem klassischen Wortsinn nach, als Teilhabe an politischen, gesellschaftlichen, und das sind immer: öffentlichen Entscheidungen, begriffen“ (DE HAAN/ HARENBERG 1998, 9).

Handlungsziele beruflicher Bildung: Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz nach Heinrich ROTH sowie KLAFKIs Bildungsziele: die Solidariäts-, und Selbstbestimmungsfähigkeit, lassen sich mit den Ausführungen zur Partizipation von Volker GERHARDT (2007) theoretisch vertiefen. Der Begriff Partizipation beinhaltet den Anspruch, das Wohl der Gesellschaft zu thematisieren: „Die ausdrückliche Anteilnahme an einem gesellschaftlichen Ganzen, das man – als dieses Ganze – zu schaffen, zu erhalten, zu lenken oder zu ändern sucht und das man zu vertreten hat, ist Partizipation (...) Alle Politik beruht auf dem Prinzip der Partizipation“ (GERHARDT 2007, 472). Zu den Instrumenten politischer Partizipation zählt GERHARDT Solidarität, Sachkenntnis der Welt, Bewusstsein über (Weiter-)Entwicklung einzelner Individuen und der Dinge in der Welt (vgl. ebd. 473).

Nahezu identisch finden wir einen berufsbildungstheoretischen Anknüpfungspunkt bei Herwig BLANKERTZ: „Dieser Verpflichtung gemäß darf Wissenschaft sich nie auf politische Interessen reduzieren und sich für sie funktionabel machen lassen. Indessen muss die in jeder inhaltlichen Option zwangsläufig enthaltene Interessenbegünstigung nicht nur angezeigt, sondern der diskursiven Verständigung geöffnet werden. Darum ist der Strukturgitteransatz partizipationsorientiert: nicht allein, um konkrete Problemlösungen als Hilfe und Beratung der heute anstehenden Praxis zu leisten (im Unterschied zu einer Curriculumforschung, deren Ergebnisse allenfalls in Jahrzehnten Wirkungen haben können), sondern Strukturgitter sind als Instrumente angelegt, über die die Beteiligten ihre Interessen am Veränderungsprozess artikulieren und ihre Kompetenz als Votum einbringen können“ (BLANKERTZ 1980, 182f.).

Heutzutage jedoch wirkt die politische Forderung nach Partizipation geradezu anachronistisch, denn die Öffentlichkeit bürgerlicher Rechtsstaaten, in der sich eine nachhaltige Entwicklung zu etablieren hätte, unterliegt in Folge der Entwicklung des liberalen Kapitalismus hin zu einem organisierten Kapitalismus einem Strukturwandel. Jürgen HABERMAS sieht hier ein Feld der Interessenkonkurrenz, in dem nur derjenige, der die wirksamere Lobby hat, sich noch durchsetzen kann. Demzufolge charakterisiert er den öffentlichen Raum als „Rationalisierung von Herrschaft über das Medium der öffentlichen Diskussion“ (HABERMAS 1973, 69). Seine Einschätzung von den Möglichkeiten wirksamer Öffentlichkeitsarbeit unter aktuellen Bedingungen könnte an einem kurzen Textauszug aus Kultur und Kritik im Seminar diskutiert werden, um einerseits die Bedingungen der Möglichkeit ›nachhaltiger Öffentlichkeitsarbeit‹ und andererseits den Referenzrahmen des Strukturgitters mit der politischen Dimension der Retinität besser einzuschätzen und didaktisch verstehen zu lernen (vgl. HABERMAS 1973, 67f.).

Methodisch bedeutsam wird dabei der Konsensus zur Lösung von Handlungskonflikten in Formen der Verständigung. Im Seminar könnten deshalb die Folgen der zunehmenden Naturbeherrschung, also die technologischen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, verstärkt diskursiv in den kommunikativen Lebenszusammenhang der Studierenden eingebunden werden. Diese Vorstellung des Konsensus ist auch dem Prinzip der Partizipation , wie sie in den Schriften zur BfnE eingefordert wird, immanent. Der facettenreiche Bedeutungshof des Begriffs Partizipation erschließt sich vermutlich nur über Einzelthemen wie z.B. Autonomie, Individualität, Selbst- und Mitbestimmung, Eigenständigkeit, Verantwortung, Organisation und Organisationsstrukturen, Kommunikation und Kooperation. An ihnen lassen sich politische Einflussmöglichkeiten, politisches und soziales Handeln sowie die jeweiligen Handlungsspielräume konkretisieren.

3.2.3   Natur (ökologisches Sachwissen)

„Zu klären ist die Frage, wie die grundlegenden „life-support-Funktionen“ von Umwelt (also die Ressourcen-Angebotsfunktion, die Abfallaufnahmekapazitätsfunktion sowie die direkte Inanspruchnahme der Naturästhetik) nachhaltig/dauerhaft aufrechterhalten werden können.“ (FISCHER 1998: 3)

Gegenstand der didaktischen Analyse und der Lehre auf der dritten Sachebene werden ausgewählte ökologische Problemlagen, die im Globalisierungsprozess entstehen und unter Nachhaltigkeitsgesichtpunkten zu bearbeiten sind z.B. Ressourcenbegrenztheit, ökologische Mindeststandards und das Problem der Entfremdung . Um dem normativen Anspruch ( Retinität ) und zentralen Werthaltungen gerecht zu werden, wäre es auf lange Sicht wichtig, diese Themen auf immanente Probleme der Gerechtigkeit, Partizipation und Verantwortung hin zu sichten. Auf dieser Sachebene soll die Kategorie Verantwortung theoretisch eingeführt und exemplarisch vertieft werden.

3.2.3.1 Verantwortung

„Will der Mensch seine personale Würde als Vernunftwesen im Umgang mit sich selbst und mit anderen wahren, so kann er der darin implizierten Verantwortung für die Natur nur gerecht werden, wenn er die Gesamtvernetzung all seiner zivilisatorischen Tätigkeiten und Erzeugnisse mit dieser ihn tragenden Natur zum Prinzip seines Handelns macht. Das Retinitätsprinzip ist das Schlüsselprinzip der Umweltethik“ (FISCHER 1998, 20).

Wie FISCHER setzt auch DE HAAN (2002) die prinzipielle Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme der Akteure voraus und verfasst dazu einen Fragenkatalog, der sich im Seminar für Forschungsfragen auswerten lässt:

„Wie lässt sich globale wie auch lokale Verantwortung für entwicklungs- und umweltrelevantes Handeln (auch: Produktverantwortung von Unternehmen) übernehmen? Wem (transnationalen Zusammenschlüssen, Regierungen, Verwaltungen, Unternehmen, Legislativen, Professionen, Parteien, Verbänden etc.) kommt welcher Part zu? Was gehört zur Eigenverantwortung? Wie ist Verantwortungsübernahme zu stärken? (z.B. durch zivilgesellschaftliches Engagement, Altruismus, Partnerschaft statt Individuierung; Kooperation statt Konkurrenz; Integration statt Separation, Toleranz, Diskursfreiheit, prosoziales Verhalten). Wie lässt sich eine optimierte Verbindung zwischen Einsichten und Handeln erreichen?“ (DE HAAN 2002: 18). Ergänzend bietet sich der Aufsatz Homo sustinens als Menschenbild für eine nachhaltige Ökonomie von Bernd Siebenhuener (2000) an, speziell der Abschnitt „Moralische Verantwortungsfähigkeit und Selbstbestimmung“ (9f.).

Mit der Kategorie Verantwortung soll die praktische Vernunft als Maßstab für BBfnE etabliert werden. Wir berühren damit Fragen der Handlungstheorie und praktischen Philosophie. Für die Lehrenden hat das zur Folge, dass sie sich mit Konzepten einer postkonventionellen Moral auseinandersetzen und vertraut machen. Es soll gezeigt werden, wie Handeln durch vernünftige Gründe zu rechtfertigen ist, obgleich man sich nicht auf Traditionen, institutionelle Zwänge oder einsame Entscheidungen berufen kann. Das erfordert eine kriteriengestützte reflexive Haltung der Lehrenden und Lernenden, denn sie selbst gehören dem System als Handelnde an, das sie hier in einer kritischen Betrachtung gedanklich durchdringen wollen (vgl. SPAEMANN 1984, 62).

Die Tiefendimension des Prinzips Verantwortung und damit die entscheidende pädagogische Voraussetzung aller Forderungen nach verantwortlichem Handeln besteht, um mit Hans JONAS zu sprechen, aus der Hoffnung , überhaupt etwas ausrichten zu können, und aus der Furcht vor dem, was geschieht ›wenn ich mich der Sache nicht annehme‹. Der Mut zur Verantwortung , ein oberstes Ziel der BBfnE, ist ohne diese beiden wesenhaften Bedingungen, die Hoffnung und die Furcht, nicht zu haben: „Nicht die vom Handeln abratende, sondern die zu ihm auffordernde Furcht meinen wir mit der, die zur Verantwortung wesenhaft gehört, und sie ist Furcht um den Gegenstand der Verantwortung. [...] Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ›Besorgnis‹ wird. Als Potential aber steckt die Furcht schon in der ursprünglichen Frage, mit der man sich jede aktive Verantwortung beginnend vorstellen kann: was wird ihm zustoßen, wenn ich mich seiner nicht annehme?“ (JONAS 1997, 391f.).

3.3 Verwendungshinweise

Der erläuterte Kriteriensatz ist ein erster Versuch den kritischen Bildungsbegriff für die Nachhaltigkeitsidee fachdidaktisch zu übersetzen. In seiner Verwendung ist deshalb zu beachten, dass die in der Matrix eruierten Probleme, exemplarischen Dilemmata und Reflexionskategorien erst in der Summe die Komplexität der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung einholen können. Die Inhalte und Kriterien in den Feldern 1.I bis 3.III werden als ein dynamisches Ganzes aufgefasst, das zu Lehr- und Lernzwecken analytisch getrennt bearbeitet werden kann, um pädagogisch die Möglichkeit zu erhalten ausgewählte Probleme diskursiv zu vertiefen.

So lassen sich in der Lernfeldarbeit die Kriterien gänzlich flexibel verwenden. Idealerweise würde der gesamte Kriteriensatz für die Bearbeitung eines Lernfeldes herangezogen, um die Zusammenschau und Vernetzung der wichtigsten Gesichtspunkte einer beruflichen Handlungssituation zu bearbeiten. In der Gestaltung von Lernsituationen können dann einzelne Perspektiven, Sachebenen oder Kriterien im Zentrum stehen, um der Aufgabenstellung einen inhaltlichen Schwerpunkt in der ›nachhaltigen Entwicklung‹ zu sichern. Ein Thema könnte also rein ökologisch (3. Sachebene) oder nur in seiner sozio-kulturellen Dimension (2. Sachebene) unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden; oder Lehrende und Lernende nehmen einmal ausschließlich eine Perspektive auf ein Thema ein, um diese Sichtweise einzuüben oder zu vertiefen u.a.m.

Als transferierter Bildungsbegriff beanspruchen alle Kategorien, die in den Feldern des Strukturgitters gewonnen werden, einen allgemeinbildenden Charakter und sind auf die Stärkung von Urteilskraft und interpretatorischen Fähigkeiten hin ausgelegt. Das entspricht den Vorstufen zu den auf Mündigkeit ausgerichteten übergeordneten Bildungszielen KLAFKIs: Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. Der Kriteriensatz kann die (politik-)didaktische Ausarbeitung der Lernfelder theoretisch vorbe­reiten. Didaktische Leitlinie ist der Beutelsbacher Konsens (vgl. WEHLING 1977, 179f.).

Werden dergestalt die genannten Problembereiche, Dilemmata und Reflexionen in der Spanne einer beruflichen Ausbildung anhand verschiedener Themen mehrfach im Zusammenhang durchgearbeitet, kann sich eine sehr differenzierte Reflexionsfähigkeit im Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses bei Lehrern und Schülern herausbilden.

 

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