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 bwp@ Profil 2 | 14. Januar 2009
Akzentsetzungen in der Berufs- und
Wirtschaftspädagogik

Holger Reinisch wird 60 und Wegbegleiter schreiben zu seinen Themen

Herausgeber: Andreas DIETTRICH, Dietmar FROMMBERGER & Jens KLUSMEYER

Bildungswissenschaftliche Qualitäts- und Curriculumsforschung und ihr Beitrag zur Bewältigung von Veränderungen in der kaufmännischen Arbeit



1.  Vorbemerkung: Das Grundgefüge

Im Diskurs über das Verhältnis von Berufsbildung und Beschäftigung steht üblicherweise das Problem der Passung im Vordergrund, also die Frage danach, welche Anforderungen das Beschäftigungssystem an die Verkehrsformen der Arbeitskräfte und an die berufliche Qualifizierung stellt und mit welchen Qualifikationen die nachwachsende Generation die Institutionen der beruflichen Bildung verlässt, um in das Beschäftigungssystem einzumünden. Die Passung kann sich dann hinreichend genau realisieren – so meine zentrale Hypothese – wenn es gelingt, die implikativ und konfigurativ verlaufende Vergesellschaftung von Arbeit zu identifizieren. Diese Identifizierung wiederum ist nicht ohne entsprechende Referenzrahmen und Forschungsinstrumente (vgl. HUISINGA/ LISOP/ SPEIER 1999; HUISINGA 2008) zu realisieren.

In komplexen Gesellschaften verändern sich die Lebens- und Produktionsbereiche nicht gleichförmig, sondern in unterschiedlichen Rhythmen, Qualitäten und Richtungen. Dadurch treten Spannungen, Diskontinuitäten und Inkonsistenzen auf, welche das Gleichgewicht stören und neue Formen sozialer Organisation sowie sozialen Verhaltens erzwingen. Für dieses gesellschaftliche Phänomen der Ungleichzeitigkeit prägte der amerikanische Soziologe OGBURN (vgl. OGBURN 1922) den bis heute hin gängigen Begriff „sozialer Wandel“. Die Ungleichzeitigkeiten und Zeitverzögerungen in der Entwicklung einzelner Gesellschaftsbereiche bezeichnete er mit „cultural lag“. Neben der Bezeichnung sozialer Wandel finden wir heute auch die Begriffe gesellschaftlicher Wandel, sozio-struktureller und technisch-ökonomischer Wandel sowie Strukturwandel und Transformation.

Die Formgebung gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen vollzieht sich aufgrund eines Bedingungsgefüges. Für dieses Bedingungsgefüge prägte die Arbeitsorientierte Exemplarik (vgl. LISOP/ HUISINGA 2004) die Bezeichnung „Gesellschaftliche Konstitutionslogik“. Sie besteht aus einer grundlegenden Kausalgesetzlichkeit bzw. Rationalität, nämlich der Reproduktionslogik sowie fünf weiteren Rationalitäten. Die Reproduktionsrationalität zielt auf die Sicherung der individuellen wie gesellschaftlichen Existenz durch Arbeit. In dieser Arbeit ist der Mensch zugleich Objekt und Subjekt. Objekt ist er aufgrund seiner natürlichen Natur, die ihn den Naturgesetzen unterwirft. Er ist aber auch gesellschaftliches Objekt, insofern er von gesellschaftlichen Bedingungsgefügen geprägt und abhängig ist. Als Subjekt ist er jedoch zur Freiheit, zur Überwindung von Abhängigkeit und zur kreativen Gestaltung fähig. Zu den gesellschaftlichen Aufgaben der Bildungsforschung gehört es, Möglichkeiten für diese Freiheiten vor dem Hintergrund der rechtsstaatlich verfassten Demokratie zu sichern.

Gesellschaftliche Sach- und Sinnzusammenhänge sind nun niemals statisch. Sie unterliegen einem Prozess permanenter Veränderung. Dieser Prozess vollzieht sich als Freisetzung von Zusammenhängen und Verschränkungen sowie als Neukonfiguration (vgl. ELIAS 1976). In ihr fügen sich alte, veränderte und neue Sachkomplexe und Werte aufgrund der Konstitutionslogik erneut, aber verändert, zusammen. Diese Seite des historischen Prozesses bezeichnet die Arbeitsorientierte Exemplarik in Anlehnung an NEGT und KLUGE als Vergesellschaftung (vgl. NEGT/ KLUGE 1976). Instanzen und Institutionen, Wissens- und Wertbestände, Urteils- und Handlungsmuster, Lebensgewohnheiten und nicht zuletzt die Organisationsformen der Arbeit sind in den Prozess von Freisetzung und Vergesellschaftung einbezogen.

Das Theorem von Freisetzung und Vergesellschaftung dient dazu, historische Veränderungen in ihrer Richtung und Reichweite differenzierter zu erfassen und zu beurteilen. In historischen Umbrüchen verändern sich ja nicht nur einzelne gesellschaftliche Bereich e, sondern das gesellschaftliche Gesamtgefüge und damit sogar die Traditionsbestände des Denkens, Fühlens und Wollens bzw. die Mentalitäten und das Wissen.

Das Freigesetzte fordert zur Überwindung der entstandenen Diffusionen neue gesellschaftliche Formgebungen heraus, damit neue soziale Entsprechungen bzw. neue gesellschaftliche Sinngebungen entstehen können.

In diesem Prozess kommt dem beruflichen Bildungswesen eine steuernde und regulierende Aufgabe zu, die sich an Zielen wie soziale Integration, Qualifizierung, Absorption oder etwa demokratische Loyalitätssicherung bemisst. Diese Aufgabe, die das berufliche Bildungswesen im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung übernommen hat, ist ständig zu überprüfen. Eine gesellschaftliche Überprüfungsinstanz ist die Bildungsforschung.

Dieser Beitrag bezieht sich, um es deutlich zu formulieren, auf die Freisetzung von Curricula bzw. von Lehrplänen im beruflichen Bildungswesen und die mit dieser Freisetzung verbundene neue Gestaltung des Subjekt-Welt-Verhältnisses als Optionen einer Erweiterung von Lebensqualität. Der Diskurs Lernfeldorientierung wird dabei vorausgesetzt und im Spiegel der Referenzrahmen Freisetzung und Vergesellschaftung sowie Subjekt-Welt-Vermittlung werden einige spezifische Herausforderungen an die kaufmännische Berufsbildung geprüft. Die Akzentsetzung versteht sich vor dem Hindergrund, dass im wissenschaftlichen wie bildungspolitischen Trubel um Handlungsorientierung, Schlüsselqualifikationen, Evaluation, Qualitätssicherung und Bildungsstandards das Grundlegende vergessen wird: Das Passungsproblem entscheidet sich zuerst an den Inhalten, die vorliegen müssen, um überhaupt neue Formen von institutionalisierter und intentionaler Erziehung zu generieren. Und an diesem Defizit ist die Curriculumreform im beruflichen Bildungswesen der 1970er Jahre und im Gefolge davon auch die Lernfeldorientierung schließlich gescheitert. Ob das notwendig so sein musste, ob es sogar Kalkül war, ob nur so die Statik im Gesellschaftsaufbau zu retten war, dies ist hier nicht zu beantworten und muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. In zweiter Linie entscheidet sich das Passungsproblem an der veränderten Lage der Subjekte bzw. an dem, was die Sozialwissenschaften Sozialcharakter nennen. Die Historizität der Subjekte wird im Diskurs der Berufs- und Wirtschaftspädagogik so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen. Über diesen Mangel muss an anderer Stelle berichtet werden.

2.  Curriculares Erkenntnisziel: Gesellschaftliche Transformation impliziert neue Wertschöpfungsrationalität

In den letzten 20 Jahren stellte sich die kaufmännische Berufsausbildung einer ganzen Reihe von Herausforderungen. Zu nennen sind vor allem die Informatisierung und Technisierung von Arbeitsabläufen, die mit Beginn der 1980er Jahre auftraten. Berufesplittung, Differenzierung des beruflichen Bildungswesens sowie komplexe Lehr- und Lernarrangements galten als Antwort auf diese Herausforderung. Ab Mitte der 1990er Jahre hatten die Lehrer das von der KMK politisch verordnete Lernfeldkonzept umzusetzen, und zwar trotz erheblicher wissenschaftlicher Bedenken. Begründet wurde das Lernfeldkonzept mit dynamischen Veränderungsprozessen, die auf sozial- und wirtschaftspolitischen Deregulierungskonzepten beruhten.

Aber weder die KMK-Handreichungen noch die diesbezüglichen Modellversuche und auch die Konkretisierung der KMK-Handreichungen in den landesweiten und örtlich-schulischen Lehrplangruppen vermochten der Dynamik und der Reichweite der Transformation zu entsprechen, und zwar weder curricular noch schulorganisatorisch. So gelang es kaum, zu den tieferliegenden Gründen der gesellschaftlichen Transformation vorzudringen und sie zum systematischen Gegenstand von Ausbildung zu machen. Sie bestanden darin, die in den 1980er Jahren realisierte Technisierung der Produktionsstrukturen (Produktivitäts- und Verteilungsverbesserung) durch eine nachgelagerte organisatorische Restrukturierung der Aufbau- und Ablauforganisation „zu verfeinern“ (Rückbau der Verteilung). Für diese unternehmerische Binnenperspektive kristallisierte sich der Begriff lean-production heraus. Der Prozess der Transformation erschöpfte sich jedoch nicht in dem mit lean-production diskutierten Sachverhalten. Hinzu trat eine Entwicklung, die sich rückblickend als veränderte expansive Wertschöpfungsrationalität darstellen lässt und deren Wirkung insgesamt zu einer veränderten Struktur in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wie der Verteilungsrationalität führte und immer noch führt.

Diese Wertschöpfungsrationalität hat verschiedene Erscheinungsformen, von denen in diesem Beitrag drei skizziert werden, nämlich die Entstehung von Investitions-Fonds (Arbeitsprozesse der Kapitalbündelung), die Entmischungsprozesse (Arbeitsprozesse der Desinvestition) und das Outsourcing (Arbeitsprozesse der Faktoroptimierung). Die veränderte Wertschöpfungsrationalität erzeugt dabei zugleich neue Formen von vergesellschafteter Arbeit mit neuen Arbeitsvermögen und Arbeitsschneidungen. Sie zu identifizieren und für berufliche Bildungsprozesse fruchtbar zu machen, ist ein Anliegen der bildungswissenschaftlichen Qualifikations- und Curriculumforschung.

2.1  Arbeitsprozesse der Kapitalbündelung von historischem Ausmaß: Fonds-Bildungen am Beispiel der Private-Equity-Fonds

Die ersten Private-Equity-Fonds entstehen in den 1970er Jahren in den USA und in Großbritannien. In Deutschland treten sie seit Mitte der 1990er Jahre auf. Ihr Geschäft ist die Übernahme, der Umbau und der Wiederverkauf von Unternehmen durch den Einsatz von Eigenkapital (daher »Equity«). Entweder werden die gekauften Unternehmen für eine gewisse Zeit von der Börse genommen oder sie sind dort noch gar nicht notiert gewesen (daher »Private«). Das Finanzvolumen schwankt zwar jährlich, jedoch flossen in den vergangenen zwei Jahren in Deutschland rund 200 Milliarden Euro in die gesellschaftliche Restrukturierung. Knapp 5000 deutsche Unternehmen mit 400000 Beschäftigten sind heute durch Private Equity-Fonds kontrolliert.

Schlagzeilen macht das Modell erstmals 1989, als zwei Investoren um die Übernahme des US-Lebensmittelkonzerns RJR Nabisco streiten. Private Equity ist riskant, das Scheitern gehört zum Geschäft; allerdings locken im Erfolgsfall auch Renditen von jährlich 15 bis 40 Prozent.

Die Vorgehensweise kann wie folgt beschrieben werden: Als Erstes wird ein Fonds aufgelegt, das Geld dafür kommt vor allem von Pensionsfonds, Banken oder Versicherungen. Der zweite Schritt ist der Erwerb der Mehrheit an einem Unternehmen, finanziert zu einem Drittel mit dem Eigenkapital des Fonds und zu zwei Dritteln über Bankkredite. Zurückgezahlt werden diese Kredite aus dem Cash Flow der gekauften Unternehmen und dem Erlös beim späteren Börsengang oder Verkauf. Das erzeugt großen Druck auf Mitarbeiter und Firmenleitung, denn Private-Equity-Firmen bleiben nur einige Jahre beteiligt. Vor dem Wiederausstieg werden die Firmen restrukturiert, fusioniert oder zerlegt.

Für die kaufmännische Berufsbildung haben solche Prozesse zunächst unmittelbar im Kontext der Unternehmensformen, ihrem Aufbau sowie der Mittelherkunft und Mittelverwendung ihre Bedeutung. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Wirkungen, die durch solche Fonds induziert werden im Hinblick auf die Schneidung gesellschaftlicher Arbeitsvermögen sowie der Restrukturierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (für das Gesundheitswesen hat BUCHMANN diese Prozesse gut dokumentiert [vgl. BUCHMANN 2007]).

2.2  Freisetzungsportfolios und Entmischungsprozesse

Die Zusammensetzung des Leistungspotentials der Betriebe wird spätestens seit Mitte der 1990er Jahre dominant durch eine Doppelstrategie beurteilt und bestimmt, nämlich mit Hilfe von Portfolio-Strategien sowie durch Ratingverfahren. Der Portfolio-Ansatz ist ein Planungsinstrument, das die strategischen Geschäftsfelder eines Unternehmens ganzheitlich im Hinblick z.B. auf ihre Ertragskraft bewertet. Im Rahmen eines Portfolio-Managements werden Betriebe oder Betriebsteile nach der optimalen Mischung ihrer Risiken gruppiert. Ratings sind im internationalen Finanzwesen standardisierte Verfahren zur Beurteilung und Einstufung der Bonität von Unternehmen. Sie werden meistens von Analysten durchgeführt. Der auf diese Weise systematisch kontrollierte Wertschöpfungsprozess unterliegt dabei einer zunehmend stärkeren Optimalitätsbetrachtung der Faktorkombination von Arbeit und Kapital. Die Neubewertung und Steuerung der Faktorkombinatorik führt zu Entmischungsprozessen. Entmischungsprozesse sind definiert durch die Identifikation von Engpassfaktoren in der Leistungserstellung und deren Auflösung, und zwar bezogen auf das Unternehmensganze. Insofern durch Fusionen, Joint-Venture, Akquisitionen, Stilllegungen, Börsengänge, Übernahmen, Beteiligungen, Auslagerungen, Ausgründungen und ähnlichen Handlungsaktivitäten die volkswirtschaftlichen Leistungspotentiale zu profitableren Wertschöpfungsstrukturen führen, sieht der Siegener Ansatz der Qualifikations- und Curriculumforschung in dieser Einheit von Desinvestment und Investment bzw. Investition und Finanzierung eine zentrale Ursache für die Reorganisation der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung, aus denen sich historisch neue Arbeitsschneidungen und damit Qualifikationsanforderungen ergeben.

Im Detail sind die jeweiligen Entmischungsfelder in ihren kontextuellen Bezügen und gesellschaftlichen Wirkungen zu erforschen. Erst die konkreten Bezüge erlauben Aussagen über die erwartbaren betrieblichen Entscheidungsprozesse bezüglich der Personalsteuerung einerseits, einer Bedarfsprognostik im Hinblick auf curriculare und bildungsgangbezogene Entscheidungen sowie subjektbezogener Kompetenzen andererseits.

Ein spezieller, noch einfacher Typus von Entmischung stellt das Outsourcing dar. Er sei im folgenden erläutert, weil über ihn in besonderer Weise deutlich wird, in welche Richtung sich kaufmännische Sacharbeit entwickelt hat und auch noch weiter zu entwickeln vermag.

2.3  Beispiel Outsourcing

Outsourcing ist ein Kunstwort aus den Worten outside resource using. Das meint ein Wirtschaftsverhalten, welches sich externe Ressourcen zunutze macht für den eigenen Leistungserstellungsprozess. In den 1960er Jahren wurde in diesem Sinne von vielen Unternehmen in der Bundesrepublik z.B. auf die Leistung kommunaler Gebietsrechenzentren zurückgegriffen. Investitionen für eigene Datenverarbeitungsanlagen waren zu kostspielig und diesbezügliche betriebliche Kapazitäten nicht effizient auszulasten.

Zwischenzeitlich hat sich die Wortbedeutung jedoch verschoben. Gemeinhin wird unter Outsourcing ein Prozess verstanden, bei dem bestehende Arbeitsabläufe bzw. Aufgaben, möglicherweise sogar ganze Betriebsteile aus einer Unternehmensorganisation herausgelöst werden und die damit verknüpfte Leistungsbereitstellung nunmehr über den Markt durch externe Anbieter organisiert wird.

So findet in aller Regel beim Outsourcer eine Straffung des Wertschöpfungsprozesses statt. Materielle und immaterielle Infrastruktur wechseln vom Outsourcer zum Dienstleister und Arbeitsverhältnisse können auf einen anderen Arbeitgeber übergehen. Zuweilen werden für den Ausdruck Outsourcing auch andere Synonyme verwendet, z.B. Externalisierung oder Anglizismen wie Contracting out, Farming out oder Subcontracting.

Als Konzept zur Wirtschaftlichkeitsoptimierung von Unternehmensfunktionen und -prozessen wird Outsourcing der Sache nach vor allem in großen Unternehmen, Behörden und Institutionen praktiziert.

Mit der zweiten Generation der Datenverarbeitungsanlagen findet man in der Bundesrepublik Deutschland vor allem Outsourcingformen im Bereich der Informations- und Datenverarbeitung. Die Auslagerung betraf zum größten Teil den Bereich der Lohn- und Gehaltsabrechnungen sowie der Buchführung, die man in Rechenzentren verlegte. Mit Beginn der 1990er Jahre avanciert das Outsourcing zu einem „Marketingbegriff“. Alle betrieblichen Funktionen, die nicht unmittelbar in der erwünschten Weise zum Leistungserfolg beitragen, also Teil eines ”core business“ sind, müssen sich die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit bzw. Existenzberechtigung gefallen lassen. Für die Betrachtung in diesem Beitrag mag es ausreichen, die drei Grundformen des Outsourcing im Hinblick auf die Reichweite der Arbeitskooperation zu benennen. Die erste Stufe des Outsourcing ist die sogenannte „verlängerte Werkbank“. Hier hat man es mit Komponentenlieferanten zu tun. Die zweite Stufe ist durch die Anlieferung der Gesamtleistung charakterisiert. Dienstleistungs- oder Systemlieferanten sind für ganze Systemeinheiten zuständig. Die dritte Stufe läßt sich als neues Wertschöpfungsnetzwerk im Sinne der o.g. Portfolio-Strategie bezeichnen.

Kapitalbündelung, Freisetzungsportfolios sowie Prozesse des Outsourcing zeigen sich nun allerdings nur dort, so eine Erkenntnis der bildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung, wo gesellschaftlich reale Möglichkeiten für eine Wertschöpfungssteigerung durch Arbeit bestehen. Für die Arbeit im Gesamtfeld der täglichen Massenkundenbewältigung besteht eine solche Wertschöpfungssteigerung, wenn es insgesamt zu einem besonders schnellen Kapitalumschlag kommt. Dieser muss jedoch organisiert werden und er führt mittelfristig zu einer Reorganisation in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die für die Berufsbildung wegen der Arbeitschneidung und Berufssystematik von großer Bedeutung ist bzw. zu Veränderungen führt (vgl. HUISINGA 1996).

3.  Massenkundenbewältigung durch CallCenter

Bei Banken, Versicherungen, Energieversorgern und Telekommunikationsdienstleistern sowie im Handel und im Gesundheitswesen regulieren CallCenter zwischenzeitlich die Massenkundenbewältigung. CallCenter sind Prototypen von vergesellschafteter Arbeit. An ihnen können die Veränderungen im Gesamtfeld der Abwicklung von Massenkundenkontakten sowie ihrer gesellschaftlichen Rationalisierung studiert werden.

Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die CallCenter als Typus einer veränderten Arbeitskooperation betrachtet werden und nicht für sich von Interesse in der Qualifikations- und Curriculumforschung sind.

Um ihren Betrieb und Aufbau modellhaft zu erläutern, sei von einer dreidimensionalen Faktorkombination –Technik, Organisation und Personal – ausgegangen. Diese drei Faktoren bilden die konstitutiven Elemente eines CallCenters.

3.1  Technik im CallCenter

Das zentrale technische Element in einem CallCenter ist die Automatic Call Distributor-Anlage (ACD). Sie gewährleistet die gleichmäßige Anrufverteilung (Routing) von einkommenden oder ausgehenden Gesprächen. Die Verteilung auf die zur Verfügung stehenden Operatorplätze richtet sich nach Operatorqualifikationen, Kundenmerkmalen oder Auslastungskriterien. Mit Hilfe des Monitoring der Arbeitstätigkeit sowie der Erstellung von Statistiken und Berichten erfolgt eine Auswertung der ACD-Daten. Monitoring bezeichnet in diesem Fall das Mithören bzw. Mitschneiden der Kundengespräche. Dies geschieht, um sowohl die Qualität der Interaktivität des Agenten mit dem Kunden als auch die Kundeninteraktion unter ökonomischer Perspektive qualitativ zu bewerten.

Ein zweites zentrales technisches Element ist die Interactive Voice Recognition (IVR). Es ermöglicht den Dialog zwischen Mensch und Maschine mittels eines Sprachverarbeitungssystems. Der Anrufer wird von einer digitalisierten Audioaufzeichnung begrüßt. Der Kunde kann nun über den Ziffernblock seines Telefons (Tonwahl) oder durch Sprache die gewünschten Optionen wählen. Unter Tonwahl, auch als Mehr-Frequenz-Verfahren (MFW) oder Dualtone Multifrequency (DTMF) bekannt, versteht man, daß Tastatursignale in unterschiedlichen Tonfrequenzen an einen Telekommunikations-Carrier weitergeleitet werden.

Die “Dialer” (Wählmaschinen) - ein weiteres technisches Werkzeug - bauen nach einem vorgegeben Anrufplan selbständig die Gespräche auf. Hierbei sind Preview Dialer von Power Dialer zu unterscheiden. Der Preview Dialer unterstützt und beschleunigt aktive Anrufe, indem das ausgehende Telefongespräch automatisch von der Telefonanlage aufgebaut wird. Der ökonomische Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, daß die Mitarbeiter während des Verbindungsaufbaus, bei Besetztzeichen, Warteschleife oder Freizeichen automatisch von der Anrufverteilung ausgeschlossen sind und den Gesprächsversuch nicht unterbrechen können; es kommt so zu unerwünschten Leerzeiten. Der Power Dialer hingegen vermittelt erst dann ausgehende Gespräche, wenn der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung abgenommen hat.

Ein weiteres wichtiges technisches Verfahren ist schließlich die Computer Telephony Integration (CTI), die eine intelligente Verbindung zwischen den beiden wichtigsten Business-Tools eines CallCenters, der Datenbank bzw. dem Expertensystem und der Telekommunikationsanlage, erlaubt. Als Beispiel für das Ergebnis dieses Verfahrens sei das Screen Popping genannt: Bei Anruf erscheinen die Kundendaten automatisch auf dem Bildschirm. Den Kundendaten sind sensible ökonomische Prozess- und Entscheidungsdaten beigefügt.

3.2  Organisation von CallCentern

CallCenter-Organisationen zeichnen sich in der Regel durch flache Organisationsstrukturen bzw. Hierarchien aus. Die einfachen und transparenten Strukturen gelten als Voraussetzung für eine schnelle und flexible Anpassung der Organisation an veränderte Anforderungen.

Obwohl sie auf den ersten Blick ähnlich scheinen, unterscheiden sich die CallCenter jedoch bei näherer Betrachtung in ihrer Struktur. Diese Tatsache ist durch mehrere Faktoren bedingt, wie z.B. Ablauforganisation des Unternehmens, Erwartungshaltung des Kunden und verfügbare Technik, Technologien und Ressourcen.

3.3  Personal im CallCenter

Die Suche nach geeigneten CallCenter-Mitarbeitenden scheint eine schwierige und langwierige Aufgabe zu sein, wenn man den Fluktuationsklagen der CallCenter-Betreiber in ihren Verbandsorganen folgt. Wichtige Methoden der Suche nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in dieser Branche sind die anzeigengestützte und die direkte Suche (headhunting). Je höher die Anforderungen und die geforderten Qualifikationen sind, desto eher neigen Firmen zur direkten Suche durch eine Personalagentur. Dieses Phänomen ist im übrigen aus der einschlägigen personalwirtschaftlichen Literatur bekannt. Unternehmen mit einer effektiven Personalentwicklung und vorausschauenden Nachwuchspolitik nutzen beide Instrumente, nämlich sowohl die Stellenanzeige als auch die direkte Suche.

Unterschiede in den Aufgabenprofilen ergeben sich aus branchenbezogenen Geschäftsgepflogenheiten. Auf der operativen Ebene, die aus berufsbildender Sicht zunächst interessant ist, sind folgende generelle Aufgabenspektren üblich:

1. Researcher (Inbound/Outbound)

Die Haupttätigkeiten eines Neukundenakquisiteurs zeigen sich in folgenden Beschäftigungen:

 

Erfassung von Kundendaten und –wünschen

 

Entgegennahme von Inbound-Calls

 

Bedarfsanalyse

 

Versand von Informationsmaterial

 

Aufnahme von Anregungen und Reklamationen

 

Führen von Outbound-Calls mit bereits vorab informierten Kunden

 

Schriftliche Nachbereitung aller Telefongespräche

 

 

 

2. CallCenter-Agent (passiv)

Der Kundenbetreuer im Outbound-Bereich verkauft Produkte oder Dienstleistungen passiv. In den meisten Fällen erfolgt eine Gleichsetzung von Bestellannahme, Auftragsabwicklung und dem Kundendienst.
Seine Haupttätigkeiten umfassen folgenden Punkte:

 

Entgegennahme von Kundenanrufen

 

Telefonische Auftragsannahme

 

Aktiver Verkauf durch Produktberatung im Rahmen eines Inbound-Gespräches

 

Beantwortung und Bearbeitung von Standardanfragen und -reklamationen

 

Kundenanrufe nach festgelegten Terminvereinbarungen

 

schriftliche Nachbereitung der Telefongespräche (Kontakthistorie, Statistik, Aufträge etc.)

 

bei Bedarfserkennung über die Basisleistung hinaus Weiterleitung der Kundenwünsche an Spezialisten (Produktmanager, Reklamationsbearbeiter)

 

 

 

3. CallCenter-Agent (aktiv)

Kundenbetreuung

Zum Aufgabenbereich eines CallCenter-Agents im Bereich der Kundenbetreuung (Outbound) gehört die systematische Gestaltung der Kundenbeziehung. Er übernimmt somit die Verantwortung für die ihm zugewiesenen Kunden- oder Adressenpools und die Ergebnisoptimierung. Die auszuführenden Aufgaben des Kundenbetreuers erschließen sich aus den folgenden Punkten:

 

aktive, bewusste, konsequente und kontinuierliche Betreuung von Interessenten und Kunden

 

Akquisition, Bedarfsanalyse, Bedürfnisansprache, Bedürfnisbefriedigung, Kunden­zu­friedenheit, Produktberatung und Produktverkauf

 

Mitwirkung bei Planung und Durchführung von Marketingaktionen

 

Beobachtung und Analyse von Marktentwicklungen

 

 

3. CallCenter-Agent (aktiv)

Reklamationsannahme

Ein weiterer Einsatzbereich für den CallCenter-Agent ist die Bearbeitung von Reklamationsanfragen.
Bei einer Reklamation handelt es sich um eine Form von nicht erfüllter Kundenerwartung. Die Ursachen von Reklamationen liegen oft in individuellen, organisatorischen oder technischen Fehlern begründet. Kundenreklamationen können in ihrer Art und Weise durch den Mitarbeiter sehr unterschiedlich erlebt werden. Werden sie als wertvoll angesehen, liegt hier eine Möglichkeit, Verbesserungen herbeizuführen und Abläufe zu optimieren. Des Weiteren bietet die Weiterleitung des Kundenproblems die Chance einer kostenlosen Marktforschung und im weiteren Verlauf zu neuen Innovationen.
Die Haupttätigkeiten eines Mitarbeiters in der Reklamationsannahme liegen in :

 

der telefonischen Entgegennahme von Kundenanregungen und Reklamationen und deren Weiterbearbeitung

 

der Führung von kritischen Kundengesprächen

 

der Führung von Outbound-Calls nach Rückmeldung durch die vorgeschalteten internen Abteilungen des Unternehmens

 

der Befragung zur Kundenzufriedenheit

 

der statistischen Auswertung von Reklamationen

 

 

3. CallCenter-Agent (aktiv)

Die technische Hotline

Der Mitarbeiter der technischen Hotline ist der Ansprechpartner des Kunden im Falle von technischen Anfragen oder Produktproblemen. Mittels aufgaben- und lösungsorientierter Kommunikation und einem serviceorientierten Auftreten trägt er wesentliches zum Absatz der Produkte bei.
Die wesentlichen Hauptaufgaben sind:

 

die serviceorientierte Entgegennahme und Bearbeitung der eingehenden telefonischen Störungsmeldungen zu Hard- und Software

 

die Beratung und Unterstützung des Kunden bei der Anwendung der erworbenen Produkte

 

die Weiterleitung von Störungsmeldungen und die Überwachung der weiteren Bearbeitung

 

die Erstellung von Statistiken und Reports zur Qualitätssicherung und -verbesserung

 

Rationalisierung der Arbeitsabläufe durch sorgfältige Dokumentation der gewonnenen Erkenntnisse

 

 

4. Gruppenleiter / Teamleiter

Der Gruppenleiter führt in der Regel ein Team von 4 bis 10 Mitarbeitern, die meist in einem Aufgabenbereich des CallCenters arbeiten (Kundenakquisition, Technische Hotline, etc.). Der Teamleiter sollte als Voraussetzung für diese Tätigkeit über mindestens dieselbe Qualifikation verfügen. Er stellt die Schnittstelle zwischen Abteilungsleitung und den einzelnen Mitarbeitern dar.
Sein Aufgabenbereich umfasst:

 

die Qualitätssicherung der Telefonate (Beobachtung der Arbeitsabläufe und Optimierung der Abläufe)

 

Motivation und Betreuung der Mitarbeiter durch Coaching

 

Arbeitsorganisation (Bereitstellung von Arbeitsmitteln, arbeitsgerechte Ausstattung der Telefonarbeitsplätze)

 

Informationsmanagement (Schnittstelle zwischen den Auftraggeber und den Mitarbeitern des CallCenters)

 

Erarbeitung von Verkaufsförderungsmaßnahmen

 

Regelmäßige Information an die CallCenter-Leitung über Markt- und Wettbewerberverhalten

 

Entwicklung von Job Aids, Scripts etc.

 

 

5. Supervisor

Da die Zahl der eingehenden Telefonanrufe schwankt und der effiziente Einsatz des Personals für den Erfolg des CallCenters von enormer Bedeutung ist, wird die richtige zeitliche personelle Besetzung der Arbeitsplätze zu einer Managementaufgabe. Es geht hauptsächlich um die möglichst genaue Prognose der eingehenden Anrufe, die damit einhergehende Auslastung des CallCenters und die Umsetzung in einen Personaleinsatzplan. Der Supervisor stellt die Schnittstelle zwischen dem Bereich Telefonie und EDV dar.
Es ergeben sich demzufolge für einen Supervisor folgende Aufgaben:

 

Erstellung von Schichtplänen für Mitarbeiter unter Berücksichtigung des zu gewährleistenden Servicelevels

 

Kapazitätsplanung für die Schaffung neuer Stellen

 

Erstellung von Reports (Beobachtung des Telefonverhaltens der Kunden)

 

Überprüfung des Servicelevels

 

Aufgaben, die das Ablaufmanagement des CallCenters betreffen

 

In der Diskussion über den neuen Arbeitsmarkt CallCenter ist von der Schaffung minderwertiger Arbeitsplätze mit geringer sozialer Absicherung und niedrigen Einkünften die Rede. Diese Sicht beruht nicht zuletzt auf der Tatsache, dass ein Großteil des Personals aus Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmern unter 30 Jahren besteht, die diese Tätigkeit oftmals als Wiedereinstieg in das Arbeitsleben nutzen. Eine andere Gruppe, die ebenfalls stark vertreten ist, sind Studierende. Das CallCenter stellt für sie eine Übergangslösung nach abgeschlossenem oder abgebrochenem Studium dar, bzw. dient zur Finanzierung des Studiums in Teilzeitarbeit.

Gegen diese Sicht wird angeführt, dass sich immer mehr CallCenter-Betreiber auf hochqualifizierte Service-Leistungen spezialisieren und deshalb der Bedarf an ausgebildeten Mitarbeitern steigt. Das steigende qualitative Niveau der Dienstleistungen veranlasst viele Unternehmen, ihre Mitarbeiter in einem Festangestelltenverhältnis zu beschäftigen, womit der Vorwurf, der CallCenter-Arbeitsmarkt biete nur „Mc-Jobs“ an, als unhaltbar erscheinen soll.

Dieser Disput ist kaum mit empirisch gesicherten Aussagen zu untermauern. Wahrscheinlich lässt er sich auch nicht generell lösen und es ist auch nicht Aufgabe der Bildungsforschung, darauf nach Antworten zu suchen. Die Bildungsforschung muss vielmehr zeigen, worin die Herausforderungen für die kaufmännische Berufsausbildung liegen, und zwar in generalisierender Absicht:

4.  Fünf ausgewählte Herausforderungen für eine zukünftige kaufmännische Ausbildung –

•  CallCenter stellen komplexe Instrumente zur Organisation und Bewältigung der Kundenbewirtschaftung mit Mitteln der Telekommunikation dar. Sie codieren kaufmännische Sacharbeit neu, insofern es um eine gesellschaftliche Rationalisierung von Massenkundenkontakten mit ökonomischer Transaktions- und Datenverarbeitungsproblematik geht. Die Struktur solcher historisch neu entstehenden Arbeitstypen ist hinsichtlich der Neubewertung des spezifisch kaufmännischen Wissens, welches genutzt wird, kaum erforscht. Gleichzeitig, soviel wird sichtbar, löst sich die herkömmliche kaufmännische Sachbearbeitung von Massenkundenkontakten und -daten aus den alten betriebsgebundenen Strukturen und erodiert so alle kaufmännischen Berufsbilder, die in irgendeiner Weise mit dem Umgang von Kunden und der Bearbeitung von Kundendaten befasst sind. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind also die diesbezüglichen Lehrpläne für kaufmännische Ausbildungsberufe bereits obsolet, weil sie häufig keine Entsprechung mehr in der betrieblichen Praxis haben.

•  Die technische Infrastruktur der CallCenter zwingt über die „Bestandspflege von Kundendaten“ hinaus den Vertrieb und das Marketing von Unternehmen zur Reorganisation, und zwar bis in die Händlerstrukturen hinein. Sie orientieren sich an einer neuen Prozesskette, die zugleich durch rückwärtige Expertensysteme gestützt wird: Strategisches Telemarketing, Info-Hotline, Auftrags- und Bestellannahme, Neukundengewinnung, Direktvertrieb, After-Sales-Service, Nachfass-Aktionen, Beschwerdemanagement, Notfall- und Support-Service, spezifische Marketing-Aktivitäten. Da alle diesbezüglichen Aktivitäten systemisch wirken, hätte eine diesbezügliche kaufmännische Ausbildung systemisch-integrativ und nicht handlungsorientiert-parzelliert zu sein.

•  CallCenter nutzen computer-integrierte Telefoniesysteme (CIT). Diese Systeme verbinden die technische Infrastruktur eines CallCenters mit dem jeweiligen Auftraggeber bzw. dem firmeneigenen Computernetzwerk. Dadurch werden alle Daten, die für ein Gespräch mit dem Anrufer relevant sind, zeitgleich mit dem eingehenden Anruf am Bildschirm (s.o. Screen Popping) des Agenten angezeigt (nur bei ISDN-Anschlüssen). Kundenstammdaten, Vertriebsinformation, Lieferinformation und Kundenhistorie sind in solchen Fällen selektiv zu nutzen. Die Datenintegration stellt folglich eine doppelte Herausforderung für die kaufmännische Ausbildung dar. Einerseits besteht die Gefahr, dass vormals kaufmännisches Verfügungswissen abgelöst wird durch ein kaufmännisches Handlings-Wissen. Lediglich kennzifferngesteuerte oder graphische Informationen an der Bildschirmoberfläche regulieren die Interaktion und die ökonomischen Transaktionen. Andererseits wird die Arbeit im CallCenter aus einer Mustererkennung des jeweiligen „Kundenwunsches“ beeinflusst und bestimmt. Diesem Muster sind die jeweils sozialen und ökonomisch relevanten Daten zuzuordnen. Kaufmännische Ausbildung folgt jedoch kaum dieser erkenntnistheoretisch der Exemplarik zuzuordnenden Logik.

•  Ferner sei auf das „Verschwinden des kaufmännischen Wissens“ hingewiesen. Mit Verschwinden ist in Bezug auf CallCenter die Informatisierung und Technisierung kaufmännischen Wissens in Form von gebundenen Expertensystemen gemeint. Bekannte allgemeine Expertensysteme sind z.B. das Data-Ware-Housing oder B2B-Plattformen. Geht man mit dieser Entwicklung nicht leichtfertig um, dann rücken in den Mittelpunkt kaufmännischer Ausbildung in verstärktem Maße Strategien des Umgangs mit solchen Expertensystemen. Ein solcher Umgang impliziert das Beurteilen und Nutzen der Angebote externer Datenbankanbieter, das Beherrschen von Verknüpfungstechniken, um Entscheidungen angemessener absichern zu können, sowie die Kenntnis von Strategien der effizienten Wissensauswertung. Die curriculare Berücksichtigung und Aufbereitung der genannten Entwicklung hat die kaufmännische Ausbildung bislang noch nicht in Angriff genommen.

•  Fragen der institutionalisierten Aus- und Weiterbildung sind in der CallCenter-Branche nicht lediglich von untergeordneter Bedeutung. Danach scheint das Personal die größte Kostenkomponente, die Fluktuation teuer und die richtige Wahl der Mitarbeiter ein wesentlicher Erfolgsfaktor zu sein. Trotz dieser Umstände lässt sich zeigen, dass derzeit nach dem Berufsbildungsgesetz geregelte Ausbildungswege nicht etabliert worden sind. Auch ist ein unregulierter Weiterbildungsmarkt entstanden, und zwar zum Teil als Fortbildung, als „Zusatzqualifikation Telemarketing“ für kaufmännische Auszubildende oder als Lehrgang „CallCenter-Agent“, den die Kammern seit 1997 freien und staatlichen Bildungsträgern anbieten. Diese Entwicklung markiert einen Gefährdungsbereich. Durch eine Neuverteilung von Zuständigkeiten und Aufgabenschneidungen im Bereich von Produktion und Dienstleistung wird die Vermittlung kaufmännischer Wissensbestände den öffentlich schulischen Institutionen zunehmend streitig gemacht. Wenn nicht gar die Reproduktionsfunktion von Teilen des beruflichen Bildungswesens insgesamt gefährdet wird (vgl. HUISINGA 2005).

5.  Schluss

Bildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung, wie sie im Siegener Arbeitsbereich der Berufs- und Wirtschaftspädagogik realisiert wird, setzt an Prozessen der Vergesellschaftung von Arbeit an. In der Analyse der Vergesellschaftung von Arbeit wird zum „Aufspüren“ von neuen Arbeitstypen wie z.B. dem CallCenter ein „Risikolagenmodell“ genutzt, welches sich auf die Identifizierung von gesellschaftlichen Strukturbrüchen, Antinomien, Engpassfaktoren, Mismatches am Arbeitsmarkt etc. konzentriert, die Implementation neuer Steuerungslogiken sowie speziell Entmischungen im Rahmen von Freisetzungs- und Vergesellschaftungsprozessen verfolgt. Beobachtet wird diese Entwicklung unter Berücksichtigung der Technisierung kaufmännischen Wissens.

Es ist dieser so gefasste theoretische Gesamtzugang, von dem aus die Siegener bildungswissenschaftliche Qualifikations- und Curriculumforschung zu einer Erhellung

von

•  Funktion und Stellenwert des kaufmännischen empirischen Arbeits- und Tätigkeitsfeldes im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung;

•  von organisationalen Formgebungen dieser kaufmännischen Arbeit,

•  den konkreten prototypischen Operationen und den erforderlichen Qualifikationen,

•  der Arten von Wissen (z.B. Faktenwissen, Regelwissen, Theoriewissen, Problemlösewissen) sowie die Wissensarchitektur, die erforderlich sind (unabhängig von Prüfungskatalogen),

•  von prototypischen Wertmuster, Denk- und Urteilsmuster, Rollenmuster, arbeitsfeldbezogene Habitualisierungen mit zugehörigen Mentalitäten,

•  der im jeweiligen untersuchten Relevanzfeld auftretenden Rationalitäten, Interessen, Widersprüche, Konflikte oder auch unterschiedlichen Sichtweisen, die es durchdringen,

gelangt.

Die dargelegte Konzeption und die Deutungsmuster zeigen, weshalb die lernfeldorientierte Lehrplanentwicklung nach den KMK-Vorgaben überfällig ist überschritten zu werden.

 

Literatur

BUCHMANN, U. (2003): Zur Reorganisation gesellschaftlicher Wertschöpfungsrationalität: Entmischungsprozesse als Paradigma curriculumbezogener Qualifikationsforschung. In: HUISINGA, R./ BUCHMANN, U. (Hrsg): Curriculum und Qualifikation: Zur Reorganisation von Allgemeinbildung und Spezialbildung. Frankfurt a. M., 329-343.

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