wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 
UTE CLEMENT (Universität Karlsruhe)
Fächersystematik oder Situationsorientierung als curriculare Prinzipien für die beruflich Bildung?


1. Fächersystematik und Situationsorientierung als curriculare Prinzipien

Mit der Einführung des Lernfeldkonzeptes an beruflichen Schulen wird die Hoffnung verknüpft, das von vielen Diskutanten inzwischen als obsolet empfundene Fächerprinzip könne im Bereich der beruflichen Erstausbildung nun überwunden werden. So ließe sich die Aufsplitterung ganzheitlicher, d.h. in seinen einzelnen Aspekten interdependent aufeinander bezogener Themen- und Handlungskomplexe in Unterrichtsfächer durch eine handlungslogische Ausbildungsstruktur mit einem hohen Maß an innerer Kohärenz und Praxisbezug ersetzen. Komplexe Zusammenhänge seien mit ihrer Hilfe auf kognitiver wie auch auf sozialer, betriebsorganisatorischer oder motorischer Ebene leichter zueinander in Bezug zu setzen; die Auszubildenden würden in die Situation versetzt, bestehende Zusammenhänge ganzheitlich zu erfahren, und nicht zuletzt werde der Inhalt schulischen Lernens durch die kontinuierliche Rückbindung an Praxis relevanter und damit bedeutsamer für die Lernenden. Für Schulfächer dagegen seien in der beruflichen Erstausbildung sinnvolle Bezugsdisziplinen ohnehin nicht auszumachen. Daher müsse vielmehr das Wissen von Facharbeiterinnen und Facharbeitern in seiner besonderen Gestalt und Struktur selbst anerkannt und zum Bezugspunkt beruflicher Erstausbildung gemacht werden.

Vergleichbare Argumente wurden im Laufe der Geschichte des beruflichen Schulwesens schon häufiger vorgetragen und politisch zeitweise stark unterstützt. Fächersystematik und die Situationsorientierung als zwei wesentliche Prinzipien zur Curriculumkonstruktion sind im Laufe der letzten zweihundert Jahre vielfach diskutiert, theoretisch begründet und - allerdings mit unterschiedlichen Nachhaltigkeitseffekten - in schulische Realität umgesetzt worden. Und auch wenn sich bislang die Fächersystematik regelmäßig als das dominante, allen Anfechtungen gegenüber letztlich durchsetzungsfähigere Muster beweisen konnte, so sprechen doch derzeit durchaus Argumente für die These, dass dieses Mal der Trend zur Situationsorientierung unumkehrbar sei.

Fächersystematisch geprägte Curriculumkonstruktion meint - so soll hier vorläufig festgehalten werden - ein curriculares Prinzip für die berufliche Erstausbildung, bei dem sich die Curriculumkonstrukteure vor allem an einer innerhalb der Berufsgruppe konsensfähigen Vorstellung davon orientieren, welche nach Schulfächern geordneten Lehrinhalte in einer umfassend angelegten beruflichen Ausbildung zu vermitteln seien (Schon der Terminus ,Fach' besitzt im beruflichen Bildungswesen ein verwirrend breites Bedeutungsspektrum. Unterschieden werden hier ,Schulfächer' wie Technisches Zeichnen oder Technische Mathematik, deren Charakteristika weiter unten noch ausführlich erläutert werden, Studienfächer, die Lehramtstudierende an der Universität belegen und studieren, sowie die berufliche Fachrichtung, die in Komposita wie ,Fachwissen' oder ,fachliche Kompetenz' auf die berufliche Handlungskompetenz einer Person verweist (zu dieser Bedeutung vgl. auch MEYER 2003).).

· Die Auswahl der Lehrinhalte orientiert sich an Wissenselementen, die a) Bestandteil des Kanons eines bestimmten Schulfachs sind, b) konsensual als relevant für eine bestimmte Berufsgruppe eingestuft werden und c) die in Abstraktions- und Schwierigkeitsgrad als angemessen für die betreffende Schülerklientel bzw. den zu erreichenden Abschluss empfunden werden.

· Die Unterrichtsorganisation (Raumverteilung, Stundenpläne etc.) und die Notengebung folgen dem Fächerprinzip. Und auch die Qualifikation, Lehrbefähigung und Deputatsverteilung der Lehrkräfte ist an der Vorstellung akademisch verankerter Fachdisziplinen ausgerichtet.

· Schließlich folgt auch die Sequenzierung und Vermittlung der Lehr-/Lerninhalte der Fächersystematik, wenn die Inhalte nach in der Regel abstrakten, lernpsychologisch begründeten Prinzipien (vom Einfachen zum Schwierigen, vom Einzelnen zum Komplexen, vom Spezifischen zum Allgemeinen o.Ä.) angeordnet werden.
Situationsorientierte Curricula nehmen dagegen auf Handlungssituationen Bezug, mit denen die Absolventinnen und Absolventen des Ausbildungsganges in ihrer beruflichen Praxis voraussichtlich konfrontiert sein werden und wählen diese zum Relevanz- und Ordnungsprinzip des Lehrplans.

· Die Qualifizierungsinhalte werden dann aus Analysen des zukünftigen Tätigkeitsbereiches abgeleitet und nach handlungslogischen Gesichtspunkten geordnet. Auswahlkriterium für einen Lehr-/Lerninhalt ist die unterstellte Nützlichkeit des Gelernten für das berufliche Handeln innerhalb eines vorgängig definierten Qualifikationsprofils.

· Situationsorientierte Lehrpläne sind dann nicht nach Schulfächern, sondern nach Handlungssituationen gegliedert. Durch diese Loslösung von der gefächerten Struktur des Unterrichts werden auch modularisierte Formen der Ausbildung denkbar, bei denen einzelne Handlungssituationen isoliert voneinander behandelt und zertifiziert werden. Die Lehrkräfte beziehen die Legitimation für ihr Tun nicht mehr ausschließlich aus ihrer akademischen Ausbildung in einer bestimmten Fachdisziplin, so dass hier potenziell nun auch nicht akademisch und nicht pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte einsatzfähig werden. Auch die Zertifizierung der erworbenen Qualifikation verändert sich mit der Einführung situationsorientierter Curricula und bestätigt nun nicht mehr Lernleistungen in bestimmten Schulfächern, sondern die Tatsache, dass der Proband oder die Probandin zur Durchführung einer bestimmten Handlung in der Lage ist. Und schließlich hat der Paradigmenwechsel von der Fächersystematik zur Situationsorientierung Konsequenzen für die innere Gestaltung der Schule von der Organisation interner Arbeitsabläufe bis in die Architektur der Schulen hinein.

· Im Lehr-/Lernprozess selbst steht der kompetente Vollzug der jeweils in Frage stehenden Handlung im Brennpunkt des Geschehens. Statt den Anspruch zu erheben, Wissen systematisch und schrittweise zu vermitteln, wird hier die Auseinandersetzung mit berufstypischen, komplex angelegten Situationen befördert. Erfahrungswissen, personale und soziale Kompetenzen werden als ebenso bedeutsam erachtet wie der Erwerb fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten. Daraus ergeben sich auch methodische Überlegungen, die handlungsorientierte, schüleraktive Lernformen zwar nicht erzwingen, aber doch nahe legen.


2. Besonderheiten berufsschulischer "Fächer"


Die curriculumtheoretische Auseinandersetzung mit Schulfächern fand ursprünglich vor allem im allgemeinbildenden Bereich statt. Themen wie fächerübergreifender Unterricht, exemplarisches Lernen, ganzheitliche Lehrinhalte und Auflösung allzu rigider Fachgrenzen werden seit vielen Jahrzehnten schwerpunktmäßig im Sekundarschulbereich I diskutiert. Innerhalb dieser (häufig reformpädagogisch motivierten) Debatte werden drei Bezugspunkte angeführt, mit deren Hilfe Schulfächer konstruiert werden und sich ihrer selbst vergewissern:

· Schulfächer definieren sich inhaltlich über besondere Gegenstandsbereiche, Zugangsweisen, Verfahren, Begrifflichkeiten und Methoden ihrer Arbeit. Wie auch akademische Disziplinen je unterschiedliche, untereinander häufig kaum mehr kompatible Formen von Welterschließung entwickelt haben, so erhellen auch Schulfächer nur bestimmte Teilausschnitte der Realität und vermitteln unter Zuhilfenahme spezifischer Methoden auch nur besondere Zugangsweisen zur Erfahrung und zum Umgang mit dieser.

· Zugleich bilden Fächer jedoch auch institutionelle Gebilde. Analog zu wissenschaftlichen Disziplinen, bei denen (wie LENOIR 1992 nachweist) strukturelle und interessengebundene Einflüsse eine maßgebliche Rolle spielten, konstituieren sich auch Schulfächer mit über formale und institutionelle Faktoren. Schon die universitäre, disziplinorientierte Lehrerausbildung der Sekundarstufe II und das mit dieser Ausbildung verbundene Selbstverständnis der Lehrenden reproduzieren den Fortbestand und die Entwicklung des Schulfaches selbst. Als weitere Strukturmerkmale eines Schulfachs können fachbezogene Lehrbücher, Unterrichtstexte und -materialien gelten, die fachspezifische Wissensbestände tradieren und ausdifferenzieren, auf diesem Wege aber zugleich Standards bezüglich erwartbaren Wissens innerhalb eines Faches transportieren.

· Und schließlich zählt auch das Vorhandensein einer fachspezifischen Metadiskussion (z.B. im Rahmen einer eigenen Fachdidaktik mit entsprechendem universitären Überbau, in entsprechenden Publikationsorganen und Fachzeitschriften, in Fachgremien und ?kommissionen bis hin zu einer gemeinsamen Interessensvertretung) zu den wichtigen Konstitutionsfaktoren eines Schulfachs.
Nun wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass die Mehrzahl dieser als konstitutiv angenommenen Determinanten für die Schulfächer an beruflichen Schulen gar nicht zutreffen. Lässt man die allgemeinbildenden Fächer einmal außer acht, deren Systemreferenz tendenziell im allgemeinen Schulwesen zu verorten ist, dann fällt auf, dass die theoretischen Fächer der Berufsschule inhaltlich unscharfe, häufig bewusst und künstlich gesetzte Grenzen zu ihren Nachbarfächern aufweisen und dass ihnen weder eine spezifische akademische Bezugsdisziplin, noch eine besondere Lehrerausbildung und auch keine Fachdidaktik zugeordnet ist.

Die relative Labilität der Fächerkonstruktion an beruflichen Schulen und die Durchlässigkeit der Fachgrenzen spiegelt sich seit jeher auch in mehr oder minder unterschwelligen Abstimmungsproblemen des Schulalltags wider. Der fächerübergreifende Einsatz von Gewerbelehrerinnen und Gewerbelehrern ist in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die inhaltlichen Abgrenzungsprobleme zwischen einzelnen Fächern. Die Trennungslinie zwischen fachpraktischem und fachtheoretischem Unterricht ist nur schwer zu ziehen und auch zwischen allgemeinbildenden (etwa naturwissenschaftlichen) und fachtheoretischen Unterrichtsstunden gestaltet sich die Grenzziehung mitunter schwierig (vgl. GRÜNER 1981, 73).

Warum die Berufsschule Unterricht überhaupt in Form von Fächern ordnet, erklärte BLÄTTNER schon 1947 vor allem mit drei historischen Strukturbedingungen schulischer Berufsbildung:

· Tradition: Die Form bzw. die Gestalt der Schule suggeriere das Vorkommen von Fächern. Eine Schule ohne Fächer sei nicht vorstellbar und da die beruflichen Schulen um ihre Position im Bildungswesen lange kämpfen mussten, seien sie um eine Fächeraufteilung der Inhalte geradezu aktiv bemüht gewesen.

· Selbstverständnis der Lehrer: Die ersten Lehrer an Berufsschulen waren Volksschullehrer, die sich von ihrer Ausbildung und ihrem Selbstverständnis her an Fächern orientierten.

· Fehlen einer pädagogischen Theorie: Selbst denjenigen Praktikern, die später den berufsschulischen Unterricht übernommen haben, sei es nicht möglich gewesen, von Unterrichtsfächern zu abstrahieren, da ihnen eine Theorie fehlte, "um das von ihnen allen dunkel Gefühlte fordern, begründen und gestalten zu können." (BLÄTTNER/ KRECHBERGER 1947, 71)

So lässt sich also die grundsätzliche Tatsache der Fächerstruktur beruflicher Schulbildung vor allem historisch erklären. Paradoxerweise trifft dies aber auch für die Tatsache der relativen Labilität dieser Fächerstruktur zu. Auch die Sonderstellung der beruflichen Schulen in Bezug auf die Fächerstruktur und die damit verbundener Systembezüge erklärt sich durch den Zeitpunkt ihres Entstehens: In der Zeit, in der sich die ,höheren' Formen der allgemeinen Schulbildung nämlich verwaltungstechnisch, curricular und institutionell von der akademischen Bildung trennten und sich Schulfächer als eigenständige, selbstreflexive Institutionen aus den akademischen Disziplinen herauslösten, orientierte sich die Stundentafel der Fortbildungsschule noch in hohem Maße an derjenigen der Volksschule. An dem Prozess der Ausdifferenzierung und Trennung der Schulfächer von den Disziplinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die berufsschultypischen Fächer also noch gar nicht beteiligt. Die Notwendigkeit aus der gemeinsamen Herkunft heraus formale und inhaltliche Systemdifferenzen zwischen hochschulischen und schulischen Fächern aktiv zu konstruieren, ergab sich für sie daher nicht (Ein gewisser Zwang zur curricularen Differenzierung entstand mit dem Aufkommen der Polytechnischen Schulen und Technischen Hochschulen dagegen im Bereich der Fachschulen. Wie LIPSMEIER (1971, 94ff.) überzeugend ausführt, war die Verquickung zwischen handwerklicher Ausbildung und höherer technischer Bildung seit Mitte des 19. Jahrhunderts stark von der neuhumanistisch begründeten Abwehrhaltung gegenüber den Ingenieurwissenschaften geprägt, die sich in der Folge stärker an den Praxisproblemen der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung als "am Bild der reinen Wissenschaft" (LIPSMEIER 1971, 109) orientierten.).

Auch die Anfang des 20. Jahrhunderts dominante, durch die Berufsbildungstheorie im Sinne KERSCHENSTEINERS gestützte Schwerpunktsetzung berufsbildender Curricula bei der Berufs- und Staatsbürgerkunde einerseits und der Fachkunde andererseits stellte einen Bezug zu akademischen Disziplinen allenfalls implizit her. Die Staatsbürgerkunde mit ihrer konservativ-restaurativen politischen Intention hatte ohnehin vor allem die moralische und standesbezogene Charakterformung der angehenden Handwerker zum Ziel und verfolgte dementsprechend auch keine weitergehenden akademischen Ambitionen. Die Fachkunde dagegen nahm schon aus schulorganisatorischen Gründen sehr lange keinen direkten Bezug auf spezifische Ingenieurdisziplinen. Die Absicht der ,Berufsschulmänner' im frühen 20. Jahrhundert und bis in die Sechziger Jahre hinein lag vielmehr darin, die Eigenständigkeit der Berufsschule durch den Bezug auf den späteren Tätigkeitsbereich herzustellen.

Ein von allgemeinbildenden Schulen differentes Curriculum und eine relative Autonomie konnte die Berufsschule nicht darüber herstellen, dass sie sich wie die Fachschulen oder die technischen Gymnasien als propädeutische Einrichtungen für die Ingenieurausbildung profilierten, sondern - auch wegen der spezifischen Konstellation der Berufsschule als Teil des dualen Systems - nur dadurch, dass sie auf die (freilich ungefächerten) Anforderungen der Arbeitswelt rekurrierten. So bildet dann auch die Technikerausbildung an Fachschulen die Anschlussstelle zur Aufstiegsqualifizierung für Absolventinnen und Absolventen der Berufsschule und nicht etwa die ,höhere' akademische Bildung.

Die Koppelung der dualen Ausbildung an das Schulsystem ist in vielfacher Hinsicht gebrochen, bleiben doch nicht nur der Zugang der Jugendlichen zum Ausbildungssystem, deren rechtlich-organisatorische Einbindung sowie die Prüfungsmodalitäten, sondern auch die Definition der Ausbildungsinhalte wesentlich durch die betriebliche Sphäre beeinflusst. Und so wurden Systemansprüche bzw. Vereinnahmungsversuche der betrieblichen Sphäre gegenüber den beruflichen Schulen innerhalb des dualen Systems immer wieder spürbar, am eindeutigsten sicherlich im Versuch der Reichslehrplankonstrukteure, alle Fächer der beruflichen Schulen der Fertigungslehre und damit der Rationalität und dem zeitlichen Ablauf der betrieblichen Ausbildung unterzuordnen.

Die historische Pendelbewegung zwischen Situationsorientierung und Fächersystematik in den gewerblichen Schulen ist also aus systemtheoretischer Sicht als Ausdruck des Pendelns dieser Schulform zwischen Bildungssystem und Wirtschaftssystem interpretierbar. Attacken gegen das Fächerprinzip stellen zugleich die Zugehörigkeit der Berufsschule zur pädagogischen Sphäre und zum Schulwesen mindestens teilweise in Frage.

3. Entstehungsbedingungen situationsorientierter vs. fächersystematischer Curricula

Neben den historisch-institutionellen Gründen ist die Labilität der berufsschulischen Fächerkonstrukte auch inhaltlich bedingt: Anders als an allgemeinbildenden Schulen, an denen das Argument, ein bestimmter Bildungsinhalt ,gehöre nun einmal dazu' an Überzeugungskraft erst in den letzten Jahrzehnten eingebüßt hat, existiert in der beruflichen Bildung ein solcher Grundbestand an unabdingbaren Kenntnissen eher nicht. Ein Lehrinhalt erhält seine Legitimation - jedenfalls in den technischen Fächern - im Wesentlichen dadurch, dass er für das spätere Berufsleben Relevanz besitzt. In Abhängigkeit vom technischen Wandel müssen im Laufe der Zeit mehr Inhalte revidiert werden, als dies bei der allgemeinen Pädagogik der Fall ist. Nur wenige Themenbereiche (wie etwa die Werkstoffkunde) können universell und langfristig als unverzichtbar gelten.

In der Konsequenz für die alltägliche Lehrplanarbeit bedeutet dies, dass die Arbeit der Lehrplankommissionen im beruflichen Schulwesen nur unvollständig durch fachspezifische Prinzipien und Traditionen geprägt ist. Die Lehrplanentwicklung ,aus dem Fach' heraus folgt tendenziell unsystematischen, eher impliziten Gesetzlichkeiten. Formalisierte Verfahrensweisen konnten sich bislang nicht etablieren. Auch eine Dokumentation und wissenschaftliche Aufarbeitung des curricularen Prozesses ist bislang kaum geleistet worden. Allerdings sind die Ergebnisse dieser Form der Lehrplanentwicklung häufig als unbefriedigend kritisiert worden. GRÜNER schrieb dazu schon 1981 (80):

"Die so genannte Berufstheorie wäre [...] die Aneinanderreihung von Theoriefragmenten, die eklektisch aus höheren Qualifikationsebenen entlehnt wurden, wobei das Auswahlkriterium die Feststellung gewesen sein mag, ob der Inhalt in der Unterrichtseinheit leidlich ,geht' (will heißen: von der Zielgruppe auf der Basis der vorhandenen Vorkenntnisse verstanden werden kann, U.C.) [...] Die hochgradige Inkohärenz der Inhalte der Fachbücher - die Lernziele sind kaum hierarchisch geordnet und bauen nur teilweise aufeinander auf - spricht auch für die Vermutung, dass die Fachtheorien eklektisch-additiv entstanden sind und nicht zielbezogen auf die Verwendungssituation des Facharbeiters hin konstruiert wurden."

Der Zustand der fachdidaktischen Theoriebildung scheint also durchaus desolat. Die Lehrplankonstrukteure lassen sich in aller Regel von ihrer Intuition, ihrem Erfahrungswissen und ihrer persönlichen Einschätzung zur Relevanz von Lehrinhalten leiten. Ein methodisch gesichertes und dokumentiertes Verfahren ist eher die Ausnahme. Der ausgesprochen interessanten Frage, inwieweit existierende Unterrichtsmaterialien (Schulbücher, Lehrgänge etc.) die Curriculumentwicklung beeinflussen und wie weit sich auf diesem Wege die Lehrplankonstruktion in die Schulbuchverlage hinein verlagert, kann ich hier nicht weiter nachgehen. Zu vermuten ist allerdings, dass Lehrplankommissionen in erheblichem Umfang auf die bereits gesammelten Erfahrungen mit Lehrbüchern rekurrieren.

Festzuhalten ist: Die fächersystematische Auswahl der Lehrinhalte bedient sich weitgehend intuitiver Vorgehensweisen. Innovationen haben einen weithin ergänzenden und modifizierenden Charakter. Vor allem in den Siebziger Jahren wurden zwar verschiedentlich Ansätze entwickelt, die der Auswahl von Lehrinhalten eine höhere gesellschaftliche Legitimität verschaffen und systematischere Zugriffswege auf Lehrgegenstände etablieren wollten, diese Versuche müssen jedoch inzwischen als weithin gescheitert gelten (CLEMENT 2003, 87ff.)

Im Gegensatz dazu scheint die Auswahl von Lehrinhalten entlang beruflich relevanten Situationen mindestens auf den ersten Blick von größerer methodischer Systematik geprägt zu sein. Der Rekurs auf einschlägige tätigkeitsanalytische Verfahren der Arbeitspsychologie und -soziologie lässt vermuten, dass hier ein hohes Maß an empirisch gesicherter Objektivität waltet, welches die eher pragmatisch-intuitiven Vorgehensweisen der fächersystematisch angelegten Curriculumkonstruktion schon unter den Gesichtspunkten von Wissenschaftlichkeit und methodischer Systematik in den Schatten stellt.

Nun lässt sich in Bezug auf tätigkeitsanalytische Verfahren in den letzten Jahren allerdings ebenfalls ein allgemeiner Trend fort von quantitativ-empirischen Methoden und hin zu eher qualitativ angelegten Erhebungen feststellen. In den Sechziger und Siebziger Jahren hatte man sich vielfach darum bemüht, Bedarfserhebungen an Arbeitsplätzen möglichst detailliert und mit hoher empirischer Präzision durchzuführen. Doch diese Verfahren erweisen sich - im größeren Maßstab praktiziert - als aufwändig und damit kostspielig, gleichzeitig aber mittel- und langfristig wenig valide.

Auch stellte man fest, dass sich Arbeitsprozesse wie auch die zu ihrem Vollzug notwendigen Kompetenzen einer externen Beobachtung und Beschreibung tendenziell entziehen. Sie verändern sich zu rasch, sind zu komplex angelegt und enthalten Bestandteile, die sich - wie etwa flexible Anpassung an wechselnde Situationen oder soziale Sensibilität - empirisch kaum erfassen lassen. Konzepte, die ,Arbeitsanforderungen' als feststehende, objektivierbare Größe behandeln, werden - so stellte sich heraus - der Realität nicht gerecht, formieren sich doch sozial konstruierte Erwartungen und Anforderungen an berufliche Arbeit. Seit Ende der Siebziger Jahre werden solche subjektivierenden Auffassungen von Arbeit stärker wahrgenommen und auch im Instrumentarium der Tätigkeitsanalysen stärker berücksichtigt.

Darüber hinaus sind Tätigkeitsanalysen als Basis für curriculare Entscheidungen in Deutschland mit einer weiteren Schwierigkeit behaftet. Wir besitzen (trotz vielfältiger Veränderungen der Arbeitsorganisation der letzten Jahrzehnte) nach wie vor ein Verständnis von Facharbeiterqualifikationen, das sich nicht auf die Erfüllung vorgegebener Verhaltensanforderungen beschränkt. Der berufliche Charakter der Facharbeiterqualifikation konstituiert sich nicht nur in den für die Ausführung typischer Arbeitsanforderungen notwendigen praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten. Dem Selbstverständnis von Facharbeiterinnen und Facharbeitern entspricht es vielmehr auch, über ein eher breit angelegtes Fachwissen über berufstypische Frage- und Problemstellungen zu verfügen, um einen flexiblen Personaleinsatz unter sich häufig ändernden Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Aus dieser Perspektive wird die jeweils aktuelle Anforderung eher als zufällig und situativ gegeben betrachtet, während die eigene Qualifikation sich subjektiv auf ein sehr viel umfassenderes Feld bezieht (FISCHER 2000, 128). Viele Facharbeiterinnen und Facharbeiter betrachten es als ihre Aufgabe, diesen Wissensüberhang über Weiterbildung, das Studium von Fachzeitschriften oder ähnlichem aufrecht zu erhalten und womöglich auszubauen.

Tätigkeitsanalysen scheinen also nur bedingt dazu geeignet zu sein, curriculare Konstruktionen inhaltlich zu fundieren. Auch aus diesem Grund haben sich bei uns standardisierte Verfahren zur Identifizierung von Lehrinhalten in den letzten zwanzig Jahren kaum mehr flächendeckend durchsetzen können. Lediglich für die betriebliche Ausbildung greift das Bundesinstitut für Berufsbildung gelegentlich noch auf tätigkeitsanalytische Verfahren zurück, die in den Siebziger Jahren entwickelt worden waren. Die Kritik an der mangelhaften Flexibilität dieser aufwändigen Verfahren, an ihrer Gegenwartsgebundenheit und dem hohen zeitlichen wie finanziellen Aufwand wirkt hier offenbar noch nach. Eine weitergehende curriculare Diskussion, die auch internationale Beiträge mit aufgreift, hat sich im Kontext der Forderung nach situationsorientierten Curricula vor allem am Bremer Institut für Bildung und Technik ergeben. Die dort beheimateten Autorinnen und Autoren bemühen sich darum, offene Verfahren zur Inhaltsauswahl mit dem Anspruch komplexer Beruflichkeit von Ausbildung so zu verquicken, dass mit Hilfe situationsorientierter Ausbildung sowohl unmittelbar verwertbare Handlungskompetenz als auch profundes Zusammenhangswissen gezielt ausgebildet werden kann. Ob ein solcher Spagat sich langfristig als tragfähig und praktikabel erweist und ob quantitativ und qualitativ gesehen für alle Berufsbereiche hinreichende Forschungsressourcen dazu zur Verfügung stehen, scheint mir nicht selbstverständlich zu sein.

 

4. Der Wechsel hin zu situationsorientierten Curricula entspricht einer veränderten Anordnung, nicht aber veränderten Inhalten


Betrachtet man die Differenz zwischen den beiden Prinzipien der Curriculumkonstruktion Fächersystematik versus Situationsorientierung vor dem Hintergrund der hier entfalteten Überlegungen, so scheinen die Unterschiede sowohl in Bezug auf deren inhaltliche Bezugspunkte als auch die ihnen inhärente inhaltliche Breite und selbst die mit ihnen je verbundenen Konstruktionsmethoden zu verschwimmen. Fächerorientiert oder nicht - die Didaktik der beruflichen Bildung hat seit der Umwandlung der Fortbildungsschulen in Berufsschulen stets solche Inhalte zum Thema schulischer Lehrpläne gemacht, die sich zu den Anforderungen der Arbeitswelt in Bezug setzen ließen. Und situationsorientiert oder nicht - die Notwendigkeit, vom Einzelfall in angemessener Weise zu abstrahieren, um auf diese Weise transferfähiges Zusammenhangswissen zu erzeugen, wurde nie in Frage gestellt. Ob Inhalte situationsorientiert erarbeitet werden oder lehrerzentriert und abstrakt, ist - so lässt sich resümieren - weit mehr eine Frage der Anordnung als eine der Auswahl von Unterrichtsinhalten (Dass Wissenschafts- und Situationsbezug bei der Konstruktion von Curricula keineswegs in Widerspruch zueinander stehen müssen, belegt schon die Tatsache, dass selbst die Diskussion um Wissenschaftsorientierung der Lehrpläne aller Bildungsgänge in den Siebziger und Achtziger Jahren keineswegs einer bildungstheoretischen Ableitung oder einer autonomen didaktischen Setzung entsprang (vgl. HENTKE 1986, 109), sondern vielmehr unmittelbar auf der Curriculumdiskussion in Anschluss an ROBINSOHN aufbaute. Situationsorientierte Curriculumkonstruktion schien in dieser Zeit geradezu der Garant für wissenschaftlich legitimiertes Vorgehen, aber eben auch für wissenschaftsgebundene Lehrplaninhalte zu sein.).

Die Differenz zwischen beiden Verfahren liegt vielmehr (mit Bezug auf die Ausbildungsinhalte) in der unterschiedlichen Auffassung von der Anordnung und dem mentalen Aufbau von Wissen: Im gefächerten Unterricht repräsentieren Situationen übergeordnete, fachsystematisch zu begründende Zusammenhänge. Sie stehen als konkrete Anwendung für eine abstrakte Norm oder eine Regel. Situationsorientierte Ausbildung hingegen ordnet systematisches Wissen der Beherrschung definierter Anforderungssituationen insofern unter, als dieses Wissen nur Relevanz für eine bestimmte Situation besitzt, nicht aber für sich selbst steht. Die Bewältigung einer bestimmten Anforderungssituation bildet hier den eigentlichen Fluchtpunkt curricularer Auswahlentscheidungen.

Die Unterschiede zwischen Situations- und Fächerorientierung scheinen - so lässt sich nunmehr begründet formulieren - nicht ausschließlich und nicht einmal hauptsächlich inhaltlicher oder curriculummethodischer Natur zu sein. Sie betreffen vielmehr vor allem die Anordnung des Wissens sowie die Ordnung seiner Vermittlung.

Folgerichtig entstehen dem Lernfeldkonzept die meisten Probleme auch gar nicht auf inhaltlicher Ebene, sondern vielmehr auf schul- und unterrichtsorganisatorischer. Die durch den Lernfeldunterricht notwendig werdenden Veränderungen betreffen sowohl den Einsatz und die Kooperationsformen der Lehrkräfte als auch die zeitliche Struktur des Unterrichts, die Verteilung von Räumen oder die Anschaffung von Lehrmaterialien; ein weiteres gewichtiges Problem besteht in der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung der Prüfungen. Offensichtlich kollidieren in all diesen Punkten herkömmliche, tradierte und systemisch gebundene Organisationsprinzipien von Schule mit denen eines alternativen Konzeptes von beruflichem Lernen. Die (relative) Unbeweglichkeit der Schulen in diesen Punkten einseitig der mangelnden Flexibilität und dem fehlenden Engagement der Lehrkräfte anzulasten, wäre m.E. der falsche Weg. Stattdessen erweisen sich Implementationskonzepte als hilfreich, welche die Umsetzung curricularer Neuerungen als eigenständige Phase des Reformprozesses konzeptualisieren und auftretende Konflikte zum Anlass nehmen, entweder die Modalitäten der Praxis oder aber die Maßgaben des Konzeptes zu revidieren (vgl. CLEMENT 2002). Erst durch die explizite Thematisierung auftretender Schwierigkeiten eines Innovationsprojektes werden Widersprüche erkennbar und damit auch potenziell lösbar. Eine Missachtung der Konflikte als untergeordnete, lediglich ,technische' Probleme kann - im Sinne der Normativität der geltenden Praxis - leicht zum Scheitern des Reformprojektes führen.

Insgesamt muss daher zum Ende dieses Artikels - und dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie - konstatiert werden, dass die Diskussion um Fächersystematik versus Situationsorientierung im Bereich der beruflichen Schulen etwas Aufgesetztes hat: Im steten Versuch, sich eine unabhängige, aber gesicherte Position im Bildungssystem zu erobern, hat sich die Berufsschule in didaktische Debatten verwickeln lassen, die ihren Spezifika letztlich nicht gerecht wird. Dies soll nun keineswegs bedeuten, dass die Frage nach der Ordnung des im berufsschulischen Unterricht vermittelten Wissens eine beliebige wäre. Tatsächlich findet in ihr - das sollte in der obigen Diskussion dieser Fragen deutlich geworden sein - sowohl die systemische Einbindung der Berufsschule in die schulische bzw. betriebliche Sphäre als auch methodische und schulorganisatorische Orientierungen ihren Ausdruck. Zu diskutieren sind allerdings weniger Fragen der inhaltlichen Bezugnahme auf akademische Fächer versus "die Arbeitswelt", noch Fragen des methodischen Vorgehens bei der Curriculumkonstruktion, sondern vielmehr bildungspolitische, unterrichtsorganisatorische und methodische Aspekte. Eine tatsächliche Autonomie wäre unter Umständen erst dadurch herstellbar, dass sich die beruflichen Schulen schulformbezogen und unter Berücksichtigung lehr-/lernpraktischer und schulorganisatorischer Gegebenheiten auf eigene, kreative und intelligente Ansätze zur curricularen Gestaltung besinnen würde, die jenseits des Konfliktes zwischen Wissenschafts- versus Situationsorientierung liegen - ein Konflikt, der ohnehin der ihre nie gewesen ist.



Literatur
BLÄTTNER, Fritz/KRECHBERGER, Karl (1947): Menschenbildung und Beruf: Grundlinien einer Berufsschuldidaktik. Ein Lehr- und Arbeitsplan für die Tischlerberufsschule. Hamburg.

CLEMENT, Ute (2002): Lernfelder im ,richtigen Leben', Implementationsstrategie und Realität des Lernfeldkonzepts. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 98, H. 2., 26

CLEMENT, Ute (2003): Berufliche Bildung zwischen Erkenntnis und Erfahrung. Realisierungschancen des Lernfeld-Konzeptes an beruflichen Schulen. Hohengehren.

FISCHER, Martin (2000): Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen. Rechnergestützte Facharbeit im Kontext beruflichen Lernens. Habilitationsschrift, Bremen.

GRÜNER, Gustav (1981): Gewerbekunde - Fachkunde - Technologie - Fachtheorie - Berufstheorie. In: BONZ, Bernhard/LIPSMEIER, Antonius/SCHANZ, Heinrich (Hrsg.): Beiträge zur Fachdidaktik Maschinenbau. Stuttgart, 70-83.

HENTKE, Reinhard (1986): Situationsprinzip versus Wissenschaftsprinzip - eine Scheinalternative. Oder: Wider den ,Pendelkurs' in der Wirtschaftsdidaktik. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 82, H. 2, 109-119.

LENOIR, Timothy (1992): Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main/New York.

LIPSMEIER, Antonius (1971): Technik und Schule. Die Ausformung des Berufsschulcurriculums unter dem Einfluss der Technik als Geschichte des Unterrichts im technischen Zeichnen. Wiesbaden.

MEYER, Rita (2003): Bedeutet die Erosion des Fachprinzips das Ende der Berufe? In: REINISCH, Holger/BECK, Klaus/ECKERT, Manfred/TRAMM, Tade (Hrsg.): Didaktik beruflichen Lehrens und Lernens. Opladen, 83-95.