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 bwp@ Ausgabe Nr. 8 | Juli 2005
Prüfungen und Standards in der beruflichen Bildung

Die Bedeutung zertifikatsgestützter Systematisierungsstrategien in der beruflichen Weiterbildung für die Kompetenzentwicklung


 

1. Ausgangssituation

Der immer lauter werdende Ruf nach „Lebenslangem Lernen“ nährt die Vorstellung, dass dieses weiterführende Lernen immer unverzichtbarer zur Beschäftigungsfähigkeit („employability“) bzw. Einstellbarkeit von Personen dazugehört. In diesem Kontext wird davon ausgegangen, dass die Erstausbildung nicht mehr das Rüstzeug für eine gesamte Erwerbsbiographie bietet. Damit einhergehend gibt es eine langsame Verschiebung von eher kontinuierlichen traditionellen Erwerbsbiographien hin zu Erwerbsbiographien, die sich durch Diskontinuitäten kennzeichnen lassen (KEUPP 2002, 319). Man wird mit Veränderungen des Anforderungsprofils zu rechnen haben und entsprechende Brüche und erneute Lernzeiten in Kauf nehmen müssen.

Die Funktion von Weiterbildung und die daran gekoppelte Zertifizierung von Lernleistungen werden in der Öffentlichkeit zunehmend breiter diskutiert. Dies geschieht allerdings weitgehend ohne hinreichende empirische Grundlage. Der Stellenwert von beruflicher Weiterbildung wird angesichts von Flexibilisierungen und Dynamisierungen auf dem Arbeitsmarkt nicht bestritten.

In diesem Zusammenhang schätzt eine Umfrage bei 12.633 Teilnehmern an IHK-Weiterbildungsprüfungen des deutschen Industrie- und Handelstages und der Industrie- und Handelskammern den Stellenwert von Weiterbildung im Berufsleben als äußerst hoch ein. 64,2% der Befragten sagten, sie seien aufgrund des Weiterbildungskurses beruflich weitergekommen. 45,3% der Befragten gaben an, dass sie ihre heutige berufliche Stellung absolvierter Weiterbildung verdanken ( Deutscher Industrie- und Handelstag 1998, 24-26).

In der Diskussion über Zertifikate treffen sich strategische Ansätze zur Verzahnung von Erstausbildung und Weiterbildung, zur Durchlässigkeit von Bildungswegen, zur Vergleichbarkeit von Abschlüssen und zur Flexibilisierung zwischen Lern- und Erwerbstätigkeit. Dabei erhalten Zertifikate eine ebenso zentrale wie zwiespältige Funktion, nämlich einerseits Belege für Lernleistungen darzustellen, andererseits Auslese und Zuweisungen in gesellschaftliche und betriebliche Hierarchien zu begründen.

Voraussetzung für eine adäquate Einschätzung von Lernleistungen ist ein strukturiertes Weiterbildungssystem, welches Übergänge zwischen Erwerbs- und Lernphasen, gleichzeitig aber auch berufliche Identität ermöglicht. Ein einheitliches System von Weiterbildungszertifikaten existiert jedoch bislang nicht.

Als Spezifikum der Erwerbstätigkeit in Deutschland ist ihre vorwiegende Verfasstheit in der Form von Berufen (vgl. DEIßINGER 1998) zu benennen. Dies hat dazu geführt, dass im internationalen Vergleich das durchschnittliche Eintrittsalter in den Arbeitsmarkt höher ist als in anderen Ländern. Es ist von 20,2 Jahren im Jahr 1975 auf 24 Jahre im Jahre 1995 gestiegen. Bei Akademikern liegt es bei 29 Jahren. Allerdings ist die Berufsform zunehmend Erosionsprozessen ausgesetzt, welche die Stabilität und Kontinuität dieses Musters in Frage stellen (vgl. Harney/Tenorth 1999).

Aufgrund der erhöhten Dynamik des Produktionssektors und damit einhergehend einer wesentlich höheren Flexibilität von Berufsverläufen ist Weiterbildung der Bildungsbereich, der am schnellsten auf diese Veränderungen reagieren kann. Ein „Erstarken“ des Bereiches beruflicher Weiterbildung verändert gewachsene Traditionen des Gesamtbildungssystems dahingehend, dass bei erhöhtem Stellenwert von Weiterbildung das Erstausbildungssystem an Funktionen und Stellenwert einbüßen würde. Die Notwendigkeit von Zertifizierung liegt darin begründet, dass Lernleistungen erst durch Zertifikate gegenüber Dritten sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden. Diese Überlegungen beziehen sich explizit auf den Sektor beruflicher Weiterbildung. Beruflich nicht relevante Weiterbildungsinhalte bedürfen m.E. keiner gesonderten Zertifizierung und Systematisierung.

2. Zertifikate – Definitionen und Funktionen

„Wie auch in anderen Ländern bestätigt das Zertifikat nicht nur eine Qualifikation, sondern es ist für den Inhaber des Zertifikates gleichzeitig Mittel der beruflichen und gesellschaftlichen Positionierung“ ( Münch 1993, 83).

Sofern man davon ausgeht, dass Weiterbildung gegenüber vorgelagerten Lernformen an Gewicht zunehmen wird, sollte die Anerkennung dieser Lernbemühungen gewährleistet sein ( Sellin 2001, 295). Aus diesem Grund erhält Zertifizierung von beruflicher Weiterbildung und deren Transparenz und Vergleichbarkeit immenses Gewicht. Zertifikate lassen sich als Aspekt zur Überprüfung von Ergebnisqualität im Kontext von Qualitätssicherung verstehen.

Zunächst ist hinsichtlich der Zertifikate die Unterscheidung zu treffen, dass es an dieser Stelle um Personenzertifizierung geht, also um angeeignetes Wissen durch Individuen und deren Testierung im Gegensatz zur Institutionenzertifizierung bzw. Maßnahmenzertifizierung, welche eher im Kontext der Optimierung von möglichen Arbeitsabläufen anzusiedeln ist. Der Fokus einer Personalzertifizierung liegt dementsprechend bei dem Wissen bzw. den Kompetenzen von Personen.

Im Folgenden wird terminologisch etwas undifferenziert vorrangig von Wissen gesprochen, welches durch Zertifikate repräsentiert wird. Fähigkeiten und Fertigkeiten sind an dieser Stelle mitgedacht, werden aber nicht gesondert benannt. Der Transfer in berufliche Handlungskompetenz bedarf darüber hinaus einer Dekontextualisierung des Gelernten in „reale Geschäftabläufe“. Die Repräsentation von Kompetenzen durch Zertifikate bedarf zum einen spezieller Prüfungsformen und zum anderen einer Form „arbeitsprozessorientierten Lernens“. Da diese Voraussetzungen bisher nur von einem kleinen Teil beruflicher Weiterbildung erfüllt werden, wird auf der Ebene von einzelnen Zertifikaten eher Wissen bescheinigt. In Teil 4 wird hingegen die Systematik der IT-Aus- und Fortbildung als Beispiel gelungener zertifikatsgestützter Kompetenzentwicklung dargestellt.

Ein Zertifikat bestätigt ein Ergebnis von Lern-/Qualifizierungs-/Bildungsprozessen. Auch wenn der Begriff des Zertifikats ungeschützt ist, wird Zertifizierung häufig auf öffentlich anerkannte und einheitliche Kriterien und Standards bezogen. Durch Zertifizierung werden Lernbemühungen und dadurch bewirkte Wissens- und Kompetenzentwicklungen bewertet und klassifiziert. Dadurch soll Transparenz erreicht werden, die das jeweilige Lernen vergleichsfähiger und damit leichter einschätzbar macht.

Abstrakt betrachtet, wirken Zertifikate als Signalgeber für das in Personen inkorporierte Wissen. Laut Bourdieu , handelt es sich um das „Bildungskapital“ ( Bourdieu/Boltanski 1981, 96) der jeweiligen Personen. Schweikert und Grieger sprechen in diesem Zusammenhang von einer funktionalen Ähnlichkeit des Zertifikats mit einem Wertpapier „in der Weise, daß Rechte bescheinigt werden, deren Geltendmachung ohne das Zertifikat nicht erfolgen kann“ ( Schweikert/Grieger 1975, 6).

Absolvierte Weiterbildung, die nicht in Form eines Zertifikates „verbrieft“ ist, besitzt nur eine begrenzte Verwendbarkeit. Nicht zertifizierte Weiterbildung verliert bei eventuellem Arbeitgeberwechsel häufig ihren Verwendbarkeitswert.

Die Wertigkeit bzw. Anerkennung eines Zertifikats ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig:

•  Bekanntheit des Anbieters bzw. des Kurses;

•  Überregionale Gültigkeit bzw. Akzeptanz (entweder anerkannter/formaler Abschluss oder durch überregionale Präsenz des Anbieters - z.B. bei Großanbietern);

•  Knappheit des Zertifikats (die Streugröße der Personen, die solche Zertifikate besitzen. Zum einen monetär bedingt, z.B. durch hohe Lehrgangs- oder Prüfungsgebühren, zum anderen durch Zulassungsbeschränkungen, die als Ventil zu beschreiben wären).

Eine Typisierung des Bereichs der Zertifikate wurde von Alt, Sauter und Tillmann erstellt ( Alt/Sauter/Tillmann 1993, 152).

  1. Zertifikate von einzelnen Trägern/Einrichtungen (mit qualifizierter Beschreibung der Weiterbildungsleistungen der Teilnehmer);
  2. Zertifikate von Einrichtungen bundesweiter Trägerorganisationen (z.B. der Bildungswerke der Gewerkschaften oder der Wohlfahrtsverbände);
  3. Zertifikate von kommunalen Trägern (Volkshochschulzertifikate des Deutschen Volkshochschulverbandes);
  4. Zertifikate von branchenspezifischen Bildungswerken (z.B. im Bereich des Handels, der Wirtschaft oder der Versicherungswirtschaft);
  5. Zertifikate von Weiterbildungseinrichtungen branchenübergreifender Zweckverbände (z.B. REFA-Verband für Arbeitsstudien, Deutscher Verband für Schweißtechnik, Deutsche Gesellschaft für Personalführung);
  6. Zertifikate auf Grundlage öffentlich-rechtlicher Prüfungen bzw. Abschlüsse (auf der Grundlage § 46 BBIG [seit 2005 § 53 BBIG] (1969));
  7. Zertifikate über staatlich anerkannte Abschlüsse (z.B. Techniker, Betriebswirt, Gesundheits- und Sozialberufe);
  8. Zertifikate im Rahmen von Zertifikatssystemen mit mehrstufiger Qualifizierung (z.B. Handwerker-, Schweißer-, Computerpass; Banken- oder Sparkassenakademien); mit fachrichtungsübergreifenden Konzept (z.B. Meisterebene, Fachwirtekonzept des DIHT).

Insgesamt lässt sich nur ein ungefähres Bild von den im Weiterbildungsbereich vergebenen Zertifikaten nachzeichnen, da die Verfahren, Prüfungen und Prüfungsinstitutionen zu unterschiedlich sind, um einheitlich dargestellt zu werden.

Zertifikate fungieren als symbolisch abstrahierte Form des Nachweises von erbrachten Lernleistungen und beinhalten folgende Funktionen ( Kell 1982, 302-307):

Radialdiagramm 

Abb. 1: Funktionen von Zertifikaten

Die neun Funktionen, die Kell den Zertifikaten zuweist, lassen sich noch um einen identitätsstiftenden Faktor ergänzen. Man könnte diese Funktion die identitätsfördernde Funktion nennen.

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass den Zertifikaten eine gesellschaftliche Anerkennung zuteil wird, da ansonsten eine Verwendbarkeitslücke für die Zertifikatsinhaber entsteht ( Faulstich/Vespermann 2002, 10). Mangelnde Verwendbarkeit erzeugt eine Weiterbildungsabstinenz bei potentiell Teilnehmenden (vgl. Bolder/Hendrich 2001).

3. Allokations- und Selektionsfunktion von Zertifikaten

Im Kontext der Debatte um lebensbegleitendes Lernen, zunehmend beschleunigter technologischer Wandlungen, dem Aufkeimen neuartiger Erwerbsbiographien, dem prognostizierten und real gestiegenen Bedarf an Weiterbildungsmaßnahmen stellt sich die Frage, welchen Stellenwert Bildungszertifikate im Bereich der Weiterbildung haben ( Kuwan 1995, 359). Diese stellen letztlich den Nachweis über absolvierte Weiterbildung gegenüber Dritten dar.

Es scheint ein eindeutig auszumachender Trend zu sein, dass berufliche Weiterbildung unverzichtbar zur Erfüllung aktueller Berufsanforderungen notwendig ist und darüber hinaus ein integraler Bestandteil von Karriereplanung ist.

Die Zertifikate – und das in ihnen geronnene Wissen – können mit Bourdieu als in „Personen inkorporiertes Kapital“ definiert werden, welches im Kontext der Vergabe von beruflichen Berechtigungen, Chancen und Positionierungen sowie bei weiterführenden Bildungsoptionen seine Wirkung entfaltet, und somit ein wichtiges Steuerungsinstrument im Rahmen gesellschaftlicher Statuszuweisung und betrieblicher Selektion bildet.

Der Stellenwert von Bildungszertifikaten lässt sich in der Bedeutung einschätzen, die ihm bei beruflicher Kompetenzentwicklung bzw. bei der betrieblichen Personalauswahl zukommt ( Faulstich/Vespermann 2001, 42f). Dieser Zusammenhang von Bildungs- und Beschäftigungssystem markiert die Steuerungsfunktion oder Vermittlungsfunktion von Bildungszertifikaten. Wenn auch in dem Wissen, dass es sich tatsächlich „nur“ um eine notwendige und keine hinreichende Voraussetzung für eine Stellenbesetzung handelt. Ironisch könnte man feststellen, dass Nachweise in Form von Zertifikaten immer wichtiger, aber auch immer wertloser werden. Der Besitz eines Zertifikates beinhaltet somit keine Statusgarantien mehr, allerdings hat man ohne ein entsprechendes Zertifikat kaum die Möglichkeit einer Statusveränderung bzw. -verbesserung.

Mit den Zertifikaten sind Erwartungshaltungen verbunden, die über den betrieblichen Einsatz von Arbeitskräften entscheiden. Zertifikate sind demnach standardisierte Formen der Kopplung zwischen Lernen und Arbeiten und der Zuweisung von Individuen auf Positionen (vgl. Bourdieu u. a. 1981) – d. h. von Arbeitskräften auf Arbeitsplätze. Dies bezieht sich einerseits auf die Fähigkeit, bestimmte Positionen auszufüllen. Damit sind andererseits aber immer Selektion und unterschiedlicher Arbeitseinsatz verbunden.

Anhand von Zertifikaten soll ein Entsprechungsverhältnis zwischen Qualifikationsvoraussetzungen und -anforderungen gesichert werden. Zertifikate gelten als Fähigkeitsnachweise, um Einsatzmöglichkeiten einzuschätzen und zu sichern.

Zertifikate geben Auskunft darüber, dass ihre Träger

•  nachvollziehbare Lerninhalte bearbeitet haben,

•  durch Noten oder ähnliche Klassifikationssysteme nachgewiesene Lernerfolge erzielt haben,

•  sich über eine bestimmte Zeit Lernanforderungen gestellt haben,

•  dabei eine Institution oder einen Kontext des Lernens besucht haben.

Das Spektrum von Zertifikaten unterscheidet sich erheblich nach dem Gewicht der zu erlangenden Berechtigungen. Es reicht von Hochschuldiplomen, Meisterprüfungen, Schulabschlüssen, Übergangszeugnissen, Schuljahreszeugnissen, Berufsabschlüssen und Prüfungszeugnissen bis zu Testergebnissen oder einfach nur Teilnahmebescheinigungen (vgl. Münch 1993).

Die Klarheit der Berechtigungszuweisung ist Voraussetzung für die Reichweite von Zertifikaten (vgl. Kell 1982, 291). Je unübersichtlicher das Zertifikatsspektrum, desto geringer ist die Anerkennung. Mindestvoraussetzung der Wirkung ist Bekanntheit. Dementsprechend ist die Bedeutung der Zertifikate für die jeweils beteiligten Akteure unterschiedlich:

•  für die Erwerbstätigen zur Sicherung belegbarer Ansprüche,

•  für die Betriebe als Standards des Arbeitskräfteeinsatzes und Außendarstellung der Kompetenzen,

•  für die Bildungsträger als Planungsvorgaben für Angebote, Personal usw.,

•  für Förderentscheidungen der Bundesanstalt der Arbeit u. a.,

•  für Unternehmens- und Gewerkschaftsvertreter als Grundlage für tarifliche und betriebliche Vereinbarungen,

•  für die Bildungspolitik als Ansatz zur Herstellung von Durchlässigkeit und zur Gleichwertigkeit „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung.

Angesichts der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und des dynamischen quantitativen und qualitativen Wandels der Qualifikationsanforderungen laufen Bildungszertifikate einerseits Gefahr, durch Arbeitslosigkeit ihre rapideste Form der Entwertung zu erfahren, andererseits könnte den Weiterbildungszertifikaten dadurch zukünftig eine erhöhte Wertigkeit gegenüber der Erstausbildung zugesprochen werden (vgl. Schlutz 1985).

Festzuhalten bleibt, dass Bildungsabschlüsse trotz alledem eine steuernde Funktion zwischen dem Bildungs- und Beschäftigungssystem ausüben. Inwieweit diese Funktion von dem Teilbereich Erstausbildung bzw. dem Teilbereich Weiterbildung übernommen wird, lässt sich je nach Branche unterschiedlich beantworten.

4. Systematisierungsstrategien in der beruflichen Weiterbildung

Die Akzeptanz von Weiterbildung wird durch Transparenz und Vergleichbarkeit der Zertifikate erhöht. Im Verhältnis zur Erstausbildung gestaltet sich der Sektor der Weiterbildung allerdings äußerst uneinheitlich und ist nur in Ansätzen systematisiert. Die Transparenz der Angebote, die Verzahnung mit dem System der Erstausbildung, die inhaltlichen Vergleichsmöglichkeiten und Anrechenbarkeiten sowie entstehende Berechtigungen sind kaum systematisch strukturiert.

Zugleich haben Zertifikate und Abschlüsse der Erstausbildungssysteme in den letzten Jahren ihr Privileg der Zuweisung von Berufs- und Statuspositionen ein Stück weit eingebüßt. „Zusatzqualifikationen, Kompetenzen, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nicht (ausschließlich) im Rahmen des formellen (Erstaus-)Bildungswesens erworben werden, erlangen eine vergleichsweise größere Bedeutung. Faktoren hierfür sind: die beschleunigte Erneuerung des Wissensstandes, die damit verbundene technologische und fachliche Erneuerung der Anforderungsprofile, Änderungen in der Arbeitsorganisation und -verteilung inklusive der Hierarchien am Arbeitsplatz. In der Folge davon werden neue bzw. zusätzliche Formen der Kompetenzermittlung, -validierung und -akkreditierung notwendig, die sich zunächst scheinbar urwüchsig, bereits entwickeln“ ( Sellin 2001, 295).

Das, was die Weiterbildung gegenüber den anderen Bildungsteilsystemen besonders kennzeichnet, ist einerseits die Nähe zum beruflichen Einsatz, da es sich nicht um vorgelagerte Lernleistungen wie bei der Erstausbildung handelt. Dadurch ist der Weiterbildungsbereich derjenige, der am schnellsten auf Veränderungen in der betrieblichen Anforderungsstruktur reagieren kann. Berufliche Weiterbildung erhält damit einen erhöhten Stellenwert hinsichtlich der Beschäftigungsfähigkeit bzw. Einstellbarkeit und avanciert neben anderen Faktoren zu einem inzwischen wahrgenommenen wirtschaftlichen Standortfaktor ( Nuissl 1995).

Es scheint widersprüchlich zu sein, dass der Stellenwert von zertifizierter Weiterbildung fortwährend zu steigen scheint, eine Systematisierung und Vergleichbarmachung dieses Bereiches aber weitgehend ausgeblieben ist.

Eine stärkere „Durchmischung“ von Lern- und Arbeitszeiten, wie sie in der Konzeption lebenslangen Lernens strukturell angelegt ist, verlangt aber m.E. nach einer konsistenten Systematik für den Bereich der Weiterbildungsabschlüsse. Eine gegliederte Systematik von Weiterbildungszertifikaten würde eine strategische Kompetenzentwicklungsplanung erst ermöglichen. Ohne eine entsprechende Systematik würden die Weiterbildungsleistungen „unverbunden“ nebeneinander stehen und eher einer kurzfristigen Planungsperspektive unterliegen.

Eine Vereinheitlichung des Zertifizierungssystems in ein allgemeingültiges und dem Vergleich zugängliches Referenzsystem wird aufgrund der unterschiedlichen Trägerstrukturen, Aufgabengebiete und Zuständigkeiten ein kompliziertes Unterfangen sein. Angesichts des Bedeutungszuwachses beruflicher Weiterbildung (vgl. z.B. Kuwan 1995) wird eine neue Systematisierung dieses Weiterbildungsbereiches aber m.E. unumgänglich sein.

Ansonsten ist den Abnehmern (Unternehmen, Behörden etc.) die Möglichkeit genommen, Weiterbildung den erworbenen Qualifikationen nach zu beurteilen. Als Mindestvoraussetzung für die Anerkennung eines Bildungszertifikats kann man den Bekanntheitsgrad der ausstellenden Institution bzw. des Bildungsabschlusses ansehen.

Solange für die „Abnehmer“ von Qualifikationen eine Unsicherheit bezüglich der angeeigneten Inhalte besteht, kann die absolvierte Fortbildung nicht adäquat bewertet und honoriert werden. Es mangelt in diesem Bereich also an verbindlichen und intersubjektiv nachvollziehbaren inhaltlichen Standards, die ähnlich wie im staatlichen Schul-, Hochschul- und Berufsausbildungswesen Anhaltspunkte gegenüber möglichen arbeitsplatzrelevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten bieten. Auch wenn eine generelle Skepsis gegenüber jedweder Fremdbeurteilung vorherrscht, sind diese Beurteilungen aus dem staatlich reglementierten Bildungssystem notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen, um an Personalauswahlverfahren überhaupt beteiligt zu werden. Zertifizierungen wirken somit als Eingangsvoraussetzungen.

Um nun aber den Personalrekrutierern ein Instrument an die Hand zu geben, mit welchem sie in der Lage sind, erwartete beruflich relevante Fähigkeiten und Fertigkeiten untereinander vergleichbar einzuschätzen, ist ein Referenz- bzw. Bezugssystem (BMBF 2003b, 233) für die Weiterbildung vonnöten, welches eben solche inhaltlichen Vergleiche ermöglicht.

5. Zertifikatsgestützte Systematisierungsstrategien und Kompetenzentwicklung

Die Frage, die sich bei schnell verändernden Märkten stellt, ist die nach der zeitlichen Verortung der Kompetenzentwicklung. Im Rahmen von Rekrutierung und Positionierung wird vielfach immer noch auf das Niveau der Erstausbildung gesetzt, während sich die realen Arbeitsanforderungen unterhalb der Erstausbildung in großer Dynamik verändern.

Dabei kommt gerade dem Weiterbildungsbereich ein hoher Stellenwert hinsichtlich lebensbegleitender Kompetenzentwicklung zu. Die fortschreitende Flexibilisierung der Arbeitstätigkeiten könnte m.E. qualifikatorisch aufgefangen werden durch ein stärker systematisiertes und transparenteres Weiterbildungssystem, welches wiederum eine eigenständige Allokationsfunktion neben dem System der Erstausbildung übernehmen könnte.

Es stellt sich damit die Frage, ob der Stellenwert von beruflicher Weiterbildung gegenüber dem immer noch präsenten hohen Stellenwert von Erstausbildungsgängen steigen müsste, wenn die realen Arbeitstätigkeiten immer stärker auf Inhalte rekurrieren, die anhand von Weiterbildung vermittelt werden.

Diese Frage wird gerade im Zusammenhang mit dem äußerst dynamischen Beispielfeld der Aus- und Weiterbildung im Bereich der Informationstechnologie virulent und verdeutlicht, welche Relevanz Zertifikate bei der Gestaltung zukunftsfähiger Lernmöglichkeiten haben können (vgl. Vespermann 2005).

Nach einer Periode „chaotischen Wildwuchses“, in welche der Wirtschaftszweig seit den 1970er Jahren „gewuchert“ war, ist von Herstellern, Arbeitgebern und Gewerkschaften die Notwendigkeit systematisierender Gestaltung der Weiterbildungsangebote für die IT-Branche erkannt worden. Durch das sich etablierende IT-Weiterbildungssystem ist für den Herstellerbereich ein bundesweit geregeltes Konzept erarbeitet worden, das sich systematisierend auf andere Weiterbildungsbereiche auswirkt. Die dabei entwickelten Kompetenzprofile werden durch geregelte Stufen von Zertifikaten abgestützt. Damit werden grundlegende Anforderungen wie Anrechenbarkeit, Durchlässigkeit zwischen Erst- und Weiterbildung, Öffnung zum Hochschulzugang, Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt gesichert.

Für den Kernbereich IT ist damit eine bisher noch nicht da gewesene Systematik im Weiterbildungsbereich geschaffen worden. Die Weiterbildung in diesem Bereich erhält erstmalig ein Referenzsystem, welches eine Anbindung an das System der Erstausbildung sowie an das Hochschulsystem gewährleisten soll. Eine zertifikatsgestützte Systematisierung könnte in diesem Kontext „neue“ Kompetenzentwicklungsstrategien ermöglichen und alternative Karrierewege eröffnen. Die absolvierte Weiterbildung wird mit so genannten „Credit-Points“ versehen, die akkumuliert einem Informatikstudium auf Bachelor- oder Masterebene entsprechen können. Diese Systematisierung könnte eine deutliche Signalwirkung für andere Bereiche abschlussbezogener beruflicher Weiterbildung erlangen.

Voraussetzung für eine Akzeptanz von Weiterbildungsabschlüssen ist aber die Vergleichbarkeit der vermittelten Inhalte. Durch eine bloße Dokumentation von Bildungsbemühungen, welcher Gestalt auch immer, ist m.E. noch keine Anerkennung des Lernens gewährleistet. Für den Gesamtbereich Weiterbildung wurden im Abschlussbericht der Machbarkeitsstudie „Weiterbildungspass mit Zertifizierung informeller Kompetenzen“ insgesamt 51 existierende Weiterbildungspässe aufgeführt (BMBF 2004, 61). Diese hohe Anzahl verdeutlicht eine Heterogenität hinsichtlich verschiedener Pass-Bezeichnungen und den jeweils anvisierten Funktionsbereichen (BMBF 2004, 146). Die Qualifikationsstufen müssten gegenüber dem formalen Bildungssystem einen Vergleichsmaßstab aufweisen und die Möglichkeit der Anerkennung beinhalten. Auch die Zertifizierung und Dokumentation informellen Lernens, ist entsprechend als ein Weg flexibler Zertifizierung zu kennzeichnen (vgl. BMBF 2004), der aber nur eine Teillösung hinsichtlich des Systematisierungsdefizits liefert. Für eine langfristige Kompetenzentwicklungsstrategie reicht die Aufnahme informellen Lernens m.E. nicht aus, sondern es bedarf vorrangig einer Zertifizierung von formell überprüfbaren Wissensgegenständen. Angesetzt werden sollte bei den ohnehin schon in Ansätzen strukturierten fachlichen Weiterbildungsveranstaltungen, die einer Systematisierung wesentlich zugänglicher sind.

Es geht also darum, Formen der Zertifizierung von Lernerfolgen zu finden, welche einerseits die Flexibilisierung der Erwerbstätigkeiten aufnehmen, andererseits aber Rekrutierungs- und Karriereentscheidungen nicht völlig dem Zufall und der Willkür überlassen. Es geht entsprechend nicht darum, Abschlüsse zu beseitigen, sondern sie zu flexibilisieren und zu dynamisieren. Insofern können Zertifikate gleichzeitig Arbeitseinsatzstrategien und Anspruchsprofile stabilisieren.

Als Basis einer erhöhten Flexibilisierung des gesamten Bildungssystems ist ein verstärkter Grad an Standardisierung des beruflichen Weiterbildungssektors erforderlich. In einem Reformkonzept, das zentral auf Flexibilisierungsstrategien setzt, verändern sich dann die Verteilungen von Erst- und Weiterbildungszeiten ebenso wie die von Lern- und Erwerbszeiten. Damit wird eine erhöhte Durchlässigkeit und Verzahnung zwischen Erstausbildung, Weiterbildung und Hochschule ermöglicht.

Erst in einem solchen Kontext könnte anstelle des vorgelagerten, dem lebensbegleitenden Lernen erhöhtes Gewicht zukommen. Dies verändert grundsätzlich den Stellenwert von Weiterbildung, da sie aufgrund ihrer Offenheit und Differenziertheit der Bildungsbereich ist, der am schnellsten auf veränderte Anforderungen reagieren kann, um neue Kompetenzen und entsprechende „kleine“ Zertifikate zu erwerben. Trotzdem spielt berufliche Weiterbildung im deutschen Berechtigungswesen nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Es besteht eine Paradoxie zwischen Stabilität der Ausbildungsabschlüsse, die in der Erstausbildung erworben worden sind, und Flexibilität der Arbeitstätigkeiten, welche durch Weiterbildung aufgenommen wird.

Der hier vorgeschlagene Weg geht davon aus, dass im Prinzip die Beruflichkeit des Arbeitseinsatzes in Deutschland fortbesteht. Demnach bleiben bestimmte Qualifikationskombinationen relativ stabil und orientieren die beruflichen Karrieren und auch die Identität der Erwerbstätigen. Wenn dem so ist, wird in der Regel weiterhin ein Nachweis der für die Arbeitstätigkeiten erforderlichen Qualifikationen in Form von Zertifikaten erwartet. Zunehmend wird aber ein Großteil der Tätigkeitsbündel flexibel. Weiterbildung könnte damit erweiterte Kompetenzentwicklungsstrategien ermöglichen und zu einer Dynamisierung eines „verkrusteten“ Zuweisungssystems beitragen.

Literatur

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