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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT05 - Berufliche Rahabilitation
Herausgeber: Roland Stein & Meinhard Stach

Titel:
Übergänge in der Beruflichen Rehabilitation - Probleme und Chancen


Übergang Schule-Beruf: Analysen betrieblicher Rekrutierung junger Menschen mit Behinderung in der Automobilbranche

Beitrag von Mathilde NIEHAUS, Thomas KAUL & Frank MENZEL (Universität zu Köln)

Abstract

Der Übergang von der Schule in das Arbeitsleben verläuft für Jugendliche mit Behinderung selten geradlinig. Nur wenigen Absolventinnen und Absolventen von Förderschulen gelingt es, unmittelbar nach Erlangung eines qualifizierten Schulabschlusses einen Ausbildungsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt, also in dem dualen System von Betrieb und Berufsschule, zu erlangen. In der Fachliteratur aber auch in Modellprojekten wird die Perspektive der Jugendlichen mit Behinderung als auch die Perspektive der Betriebe auf diese Übergänge vernachlässigt. In dem Projekt „AutoMobil: Ausbildung ohne Barrieren“ der Universität zu Köln sollte der Übergang Schule-Beruf insbesondere aus der Perspektive der Betriebe und der Jugendlichen analysiert werden. Hierzu wurde in enger Kooperation mit Unternehmen der deutschen Automobilbranche untersucht, welchen Barrieren Jugendliche mit Behinderung bei ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz begegnen und welche Erfahrungen und Einstellungen die Betriebe hindern, ihre Lehrstellen an diese Zielgruppe zu vergeben. Auf Grundlage der Ergebnisse aus der Perspektive der Jugendlichen und aus der Perspektive der betrieblichen Akteure wurden mit den beteiligten Unternehmen Angebote und Konzepte entwickelt, die Jugendlichen mit Behinderung einen barrierefreien Übergang in betriebliche Ausbildung erleichtern sollen.

1 Geringe Chancen auf eine betriebliche Ausbildung: Ausgangslage von Jugendlichen mit Behinderung am Übergang ins Berufsleben

In der von Deutschland im Jahr 2009 ratifizierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verpflichten sich die Vertragsstaaten in Artikel 24, Absatz 5, „dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben“. Diese Zielsetzung der UN-Konvention verlangt somit auch die inklusive Ausbildung behinderter Menschen gemeinsam mit nichtbehinderten. Zwar liegen kaum relevante Statistiken vor, doch deuten die wenigen verlässlichen Daten darauf hin, dass Deutschland noch weit davon entfernt ist, diese Vorgaben in Bezug auf die berufliche Bildung zu erfüllen.

Im Schuljahr 2008/09 wurden fast 400.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Förderschulen unterrichtet, dies entspricht ungefähr fünf Prozent aller Schülerinnen und Schüler im Alter der Vollzeitschulpflicht in Deutschland (KULTUSMINISTERKONFERENZ 2010). Die Verteilung auf die einzelnen Förderschwerpunkte veränderte sich in den letzten 20 Jahren kaum: Ungefähr die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen werden im Förderschwerpunkt „Lernen“ unterrichtet; fast zwei Drittel sind männlich. Der überwiegende Anteil von ihnen verlässt die Förderschule ohne Hauptschulabschluss. Im Jahr 2008 waren es etwa 76 Prozent. Entsprechend schwierig ist die Ausgangslage dieser Schulabgängerinnen und Schulabgänger auf dem Ausbildungsmarkt, insbesondere im Vergleich zu ihren Konkurrenten anderer Schulformen. Zwar ist die Förderbedürftigkeit ein Merkmal, das nicht mit Behinderung oder Schwerbehinderung gleichgesetzt werden kann. So erfüllen insbesondere Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ in der Regel nicht die Voraussetzungen, um als schwerbehindert eingestuft zu werden. Aber auch Schülerinnen und Schülern mit einem Förderschwerpunkt, der auf eine Behinderung oder Schwerbehinderung schließen lässt, sind im Wettbewerb mit nichtbehinderten Schulabgängern offensichtlich selbst dann benachteiligt, wenn ein vergleichbarer Schulabschluss erworben wurde.

Insgesamt ergeben sich für die Schulentlassenen mit Behinderung drei unterschiedliche Verbleibmöglichkeiten:

  1. Sie können als Auszubildende oder Beschäftigte mit oder ohne Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit auf den ersten Arbeitsmarkt gelangen oder

  2. sie können zum einen in die nachschulischen Qualifizierungsmaßnahmen des Maßnahmensystems der Bundesagentur für Arbeit beispielsweise als Rehabilitanden einmünden,

  3. während sie zum anderen aber auch in den zweiten Arbeitsmarkt in eine der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) eintreten können.

Die drei unterschiedlichen Verbleibmöglichkeiten sind ungleich verteilt: Ein nahtloser Wechsel ins Berufsleben stellt für viele Jugendliche eher die Ausnahme dar (vgl. DRESSEL/ PFLICHT 2006; KIESELBACH 2005; STAUBER 2004; THOMA 2003; BMBF 2005). Die Problematik auf dem Ausbildungsmarkt resultiert aus einer Vielzahl von Personen- und Kontextmerkmalen sowie deren Wechselwirkungen (vgl. NIEHAUS/ HAUSER/ DREJA/ FÖRSTER 2008). Absolventinnen und Absolventen von Förderschulen bzw. schwerbehinderte Jugendliche sind als Risikogruppe von dem Konkurrenzkampf auf dem Lehrstellenmarkt besonders betroffen.

Trotz Angebotsbreite und hoher Ausdifferenzierung führt das bestehende System der beruflichen Bildung und Rehabilitation in der Bundesrepublik mehr und mehr zu sogenannten ‚Maßnahmekarrieren’, die eine langfristige Eingliederung in die Arbeitswelt erschweren (NIEHAUS/ JÄGER 2009). Ein großer Anteil der Jugendlichen, der auf berufsvorbereitende Maßnahmen oder auf die duale Ausbildung ersetzende Maßnahmen angewiesen ist, besteht aus Jugendlichen ohne Schulabschluss bzw. aus Abgängerinnen und Abgängern von Förderschulen. Besonders betroffen sind auch Frauen und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Jugendliche mit Behinderung bzw. Abgänger und Abgängerinnen von Förderschulen profitieren damit seltener von den Vorteilen des dualen Systems. So beurteilt auch die Deutsche Bundesregierung die außerbetriebliche Ausbildung als nachteilig:

„Eine Ausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen erfolgt auf anerkannt hohem Niveau. Dennoch: Eine betriebliche Ausbildung vermittelt neben beruflichen Fertigkeiten auch die Fähigkeiten, die zur Bewältigung des betrieblichen Alltags erforderlich sind und ermöglicht zugleich, dass der Arbeitgeber die Auszubildenden im Betrieb kennen lernt. Das erhöht ihre Chance, nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung in ein Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. Diese Betriebsnähe fehlt häufig den außerbetrieblich ausgebildeten Jugendlichen, so dass es für sie oftmals schwieriger ist, trotz einer erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz zu finden.“ (DEUTSCHER BUNDESTAG 2005, 4f)

Das von der Universität zu Köln durchgeführtes Modellprojekt „AutoMobil: Ausbildung ohne Barrieren - Verbesserung der Ausbildungschancen von Jugendlichen mit Behinderung in der Automobilindustrie“ (Laufzeit 11/2008 bis 02/2011; weitere Informationen: automobil.hf.uni-koeln.de) wurde im Rahmen der Initiative „job – Jobs ohne Barrieren“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert (NIEHAUS et al. 2010). „Mit der Initiative soll erreicht werden, dass behinderte und schwerbehinderte Menschen die Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben besser realisieren können und durch die Einführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagement, die Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und damit Arbeitsplätze dauerhaft erhalten werden“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES 2011).

Neben verschiedenen Unternehmen der Automobilindustrie waren in diesem Projekt der Arbeitskreis der Schwerbehindertenvertretungen der Deutschen Automobilindustrie sowie Vertreterinnen und Vertreter des Sozialverbandes VdK Deutschland e. V. und der Gewerkschaften aktiv beteiligt. Vorrangiges Ziel des Projektes ist die Verbesserung der Teilhabechancen schwerbehinderter Jugendlicher auf dem Ausbildungsmarkt. Im Folgenden werden exemplarisch aus diesem Projekt Barrieren am Übergang Schule-Beruf und Möglichkeiten zu deren Überwindung - insbesondere mit Blick auf Verantwortlichkeiten und unterstützende Aktivitäten betrieblicher Akteure - dargestellt.

2 Barrieren erkennen und überwinden: Das Projekt „AutoMobil: Ausbildung ohne Barrieren“

Um die Barrieren behinderter Jugendlicher auf dem betrieblichen Ausbildungsmarkt zu identifizieren, bedurfte es eines mehrperspektivischen Ansatzes. Neben der Sichtweise der betroffenen Jugendlichen selbst sind die Erkenntnisse und Erfahrungen aller am Prozess Beteiligten von Bedeutung. Innerhalb der Betriebe nehmen unterschiedliche Akteure Einfluss auf die Rekrutierung: Neben dem Personalwesen und der Geschäftsführung sind u.a. Vertreter der Ausbildungsleitung, des Betriebsrates und der Schwerbehindertenvertretung eingebunden. Außerhalb des Unternehmens spielt die Berufsberatung bzw. Vermittlung der Arbeitsagentur eine wichtige Rolle. Will man Einblick in den komplexen Prozess der Ausbildungsplatzvergabe erlangen, müssen alle Perspektiven berücksichtigt werden.

Im Projekt „AutoMobil“ stand die Frage im Vordergrund, wie es Betrieben gelingen kann, durch adäquate Rekrutierungsstrategien Jugendliche mit Behinderung für eine betriebliche Ausbildung zu gewinnen. Dazu war die Kooperation von Unternehmen erforderlich, die bereit waren, nicht nur Einblick in ihre Unternehmenspolitik zu gewähren, sondern auch aktiv neue Wege zu erproben. Dank des Arbeitskreises der Schwerbehindertenvertretungen der Deutschen Automobilindustrie konnten fünf Unternehmen für die Teilnahme an dem Projekt gewonnen werden:

  • Daimler AG Werk Bremen
  • Daimler AG Werk Gaggenau
  • Hans Hess Autoteile GmbH Köln
  • Kolbenschmidt – Pierburg AG Neckarsulm
  • Rheinmetall Landsysteme GmbH Kassel

Die beteiligten Unternehmen bilden ein breites Spektrum an unterschiedlichen betrieblichen Strukturen und Ausgangsvoraussetzungen ab, zum Beispiel hinsichtlich der Beschäftigtenzahlen (von 310 bis 12.533 Beschäftigen) oder der Anstellung und Ausbildungsquote von Menschen mit Behinderung. So wurden vor Projektbeginn in zwei der fünf Unternehmen noch keine Jugendlichen mit Behinderung ausgebildet, während die anderen drei Betriebe bereits über entsprechende Erfahrungen verfügten.

Ausgehend von der Frage, warum so wenige Jugendliche mit Behinderung einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten, hatte sich das Projekt „AutoMobil: Ausbildung ohne Barrieren“ (2008-2011) das Leitziel gesetzt, die Chancen von Jugendlichen mit Behinderung für eine inklusive betriebliche Ausbildung zu verbessern. Dieses Ziel erforderte vor allem die Mitwirkung von Unternehmen, die bereit und motiviert waren, Einblick in ihre betrieblichen Rekrutierungsstrategien zuzulassen und zusätzliche Maßnahmen zur Akquirierung von Auszubildenden mit Behinderung zu entwickeln und zu erproben. Die Automobilbranche bot sich als Partner für ein solches Projekt insofern an, als dass sie über große Ausbildungsressourcen und Ausbildungsangebote verfügt und zudem auf viele Jugendliche eine besondere Attraktivität ausstrahlt. Die typischen Ausbildungsberufe in der Automobilindustrie, die vorwiegend in der Produktion und handwerklichen Tätigkeiten liegen, stellten für die Zielsetzungen des Projektes eine zusätzliche Herausforderung dar, da Jugendlichen mit Behinderung häufig nicht zugetraut wird, die entsprechenden Anforderungen zu erfüllen.

Das Forschungsvorhaben wurde in drei Phasen realisiert. Zunächst erfolgt eine Analyse des Ist-Zustandes des Bewerbungs- und Rekrutierungsprozesses, die in eine Interventionsphase mündet und mit einer Auswertungs- und Evaluationsphase abschließt:

Phase 1: Barrieren im Bewerbungs- und Rekrutierungsprozess

Um der Benachteiligung behinderter Jugendlicher auf dem Ausbildungsmarkt entgegenzuwirken, ist eine Analyse sowohl des Bewerbungsverhaltens der schwerbehinderten Jugendlichen als auch des Rekrutierungsprozesses auf Seiten der Unternehmen notwendig.

Deshalb wurden in der ersten Phase bereits abgeschlossene bzw. laufende Bewerbungsprozesse in den einzelnen Unternehmen hinsichtlich der Verfahrensabläufe analysiert und transparent gemacht. Ebenso standen die im Vorfeld der Bewerbungsphase genutzten Rekrutierungsstrategien im Fokus des Forschungsinteresses. Anhand halbstandardisierter Interviewleitfäden wurden Interviews mit allen relevanten betrieblichen Akteuren, die am Rekrutierungsprozess beteiligt sind sowie mit schwerbehinderten Auszubildenden durchgeführt. Daneben wurde erfasst, wie viele schwerbehinderte Jugendliche sich in den jeweiligen Unternehmen beworben haben und ob diese in eine engere Auswahl einbezogen wurden. Von Bedeutung in diesem Kontext war auch die Rolle der Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Lenkungswirkung in außerbetriebliche Maßnahmen. Ziel dieser Phase war es, Struktur- und Prozessbarrieren auf Seiten der Bewerberinnen und Bewerber sowie der betrieblichen Abläufe zu identifizieren.

Phase 2: Interventionen

Die Kooperationspartner IG Metall und der Sozialverband VdK Deutschland e. V. führten in den beteiligten Unternehmen Informationsveranstaltungen für diejenigen betrieblichen Akteure durch, die als Initiatoren, Promotoren und Gestalter von Ausbildungsverhältnissen für behinderte Jugendliche aktiv und relevant sind. In diesen Schulungen wurde über die rechtlichen Grundlagen und Unterstützungsangebote bei der Ausbildung von schwerbehinderten Jugendlichen sowie über Krankheits-/ Behinderungsbilder und deren Auswirkungen im Arbeitsleben informiert. Auch gesellschaftliche Haltungen und Vorurteile gegenüber schwerbehinderten Menschen wurden thematisiert und in Bezug auf das Rekrutierungsverhalten reflektiert. Durch aktive Kontakte zwischen Unternehmen und regional angegliederten Schulen sollten schwerbehinderte Jugendliche im Sinne eines Empowerments informiert und zur Bewerbung ermutigt werden. Je nach Ausgangs- und Bedarfslage in den Unternehmen wurde eine Veränderung und Anpassung von Rekrutierungsstrategien durch Kooperationen mit Schulen und sonstigen relevanten Institutionen angeregt und unterstützt.

Phase 3: Evaluierung und Auswertung

Im Sinne einer Prozessbegleitung erfolgte eine Erprobung und Nachsteuerung der Interventionsmaßnahmen. Je nach Realisierungsmöglichkeiten in den jeweiligen Unternehmen sind die Ergebnisse bereits innerhalb der Projektlaufzeit in aktuelle Bewerbungsphasen eingeflossen. Es wurde überprüft, ob die Veränderungen der Interventionsphase auf Akzeptanz stoßen, ob sich mehr Jugendliche angesprochen fühlen und entsprechend die Anzahl behinderter Bewerber steigt. In einem Handlungsleitfaden, der die Ergebnisse aller Forschungsaktivitäten bündelt, werden Empfehlungen für erfolgreiche Strategien, für Rekrutierungsprozesse und für die künftige Gestaltung von betrieblichen Angeboten festgehalten (UNIVERSITÄT ZU KÖLN 2010).

3 Aktive Rekrutierung und Nutzung externer Ressourcen: Erfolgreiche betriebliche Strategien zur Überwindung von Barrieren

Die Einstellung von Menschen mit Behinderung ist für Unternehmen häufig mit Befürchtungen hinsichtlich einer geringeren Leistungsfähigkeit und beschränkten Einsetzbarkeit im Vergleich zu nicht behindertem Personal sowie den daraus resultierenden Kosten verbunden (PECK/ KIRKBRIDE 2001). Zwar genießen behinderte Menschen einen ‚Sympathieeffekt’, allerdings führt dieser nicht unbedingt zu höheren Einstellungschancen (WEUSTER 2004). Eine Benachteiligung behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt konnte in verschiedenen internationalen Studien durch die Identifizierung von Barrieren empirisch belegt werden (RAVAUD et al. 1992; MACRAE/ LAVERTY 2006). Hürden stellen sich demnach bereits im Bewerbungs- bzw. Rekrutierungsprozess und manifestieren sich auf persönlicher, betrieblicher oder gesellschaftlicher Ebene.

Aus der Analyse der Interviews mit den betrieblichen Akteuren lassen sich Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen festmachen. Vor allem die geringe Anzahl an geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern wird als Ursache für die niedrige Ausbildungsquote von behinderten Jugendlichen benannt. Darüber hinaus sind nach Ansicht der Betriebe auch innerbetriebliche Hindernisse wie z.B. fachliche und finanzielle Überforderung sowie die mangelnde Eignung behinderter Menschen für eine Ausbildung im produzierenden Gewerbe für die unbefriedigende Situation verantwortlich.

Wie können Barrieren überwunden werden?

Die von den befragten betrieblichen Akteuren wahrgenommenen Barrieren machen die eigentliche Problematik der Rekrutierung von Jugendlichen mit Behinderung deutlich. Viele Betriebe fühlen sich für den Erfolg bzw. Misserfolg der Akquirierungsbemühungen nicht verantwortlich und sehen insofern auch keinen Handlungsbedarf, die eigenen Rekrutierungsstrategien in Frage zu stellen oder sogar anzupassen. Ein weiteres Hindernis bildet der Kenntnisstand vieler Befragter in Bezug auf die Eignung von behinderten Jugendlichen für eine betriebliche Ausbildung dar. Diese Haltung ist meist verbunden mit der Unkenntnis über entsprechende Unterstützungsangebote oder kompensatorische Maßnahmen. Auch die vielfältigen finanziellen Leistungen für Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderungen ausbilden oder beschäftigen, sind selbst in großen Betrieben oft nicht bekannt.

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde im Rahmen des Projektes gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der beteiligten Unternehmen neue Strategien zur Überwindung der aufgezeigten Barrieren entwickelt und erprobt. Dabei erwiesen sich vor allem solche Maßnahmen als besonders wirksam, die kurzfristig und ohne größeren Aufwand umgesetzt werden konnten und die inhaltlich von betrieblichen Akteuren mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Kompetenzen gemeinsam getragen wurden. In diesem Sinne haben sich vor allem zwei Strategien als erfolgreich erwiesen.

Die Strategie der aktiver Rekrutierung

Da sich Jugendliche mit Behinderung durch die betrieblichen Ausbildungsangebote häufig nicht angesprochen fühlen, ist es notwendig, sie im Rekrutierungsprozess explizit anzusprechen und zu ermutigen, sich zu bewerben. Dies kann zum Beispiel durch einen entsprechenden Hinweis in Stellenausschreibungen erfolgen („Bewerbungen von Jugendlichen mit Behinderung werden gerne entgegengenommen.“ Oder „Wir freuen uns auch über Bewerbungen von Jugendlichen mit Behinderung oder Schwerbehinderung.“). Im Rahmen des Projektes sind einzelne Betriebe auch direkt auf Förderschulen zugegangen und haben Schülerinnen und Schülern vor der Berufswahlentscheidung über ihre Ausbildungsmöglichkeiten berichtet und somit nicht nur ein realistisches Bild über die Anforderungen der Ausbildung vermittelt, sondern gleichzeitig auch vorhandene Hemmungen abbauen können. Einzelne Betriebe haben sich auch auf Ausbildungsmessen an Jugendliche mit Behinderung gewendet, indem sie z.B. einen Stand, an dem behinderte Auszubildende über eigene Erfahrungen mit ihren Bewerbungen und ihrer Ausbildung berichten und entsprechende Tipps (im Sinne von peer support) geben konnten.

Bewährt hat sich auch das Angebot von Schnupperpraktika für Schülerinnen und Schüler von Förderschulen. Auf der einen Seite kann der Betrieb potentielle Auszubildende in realistischen Arbeitssituationen kennen lernen und ggf. zu einer Bewerbung ermutigen. Auf der anderen Seite erfahren auch die Jugendlichen selbst, ob eine Ausbildung in diesem Betrieb ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechen würde.

Die Strategie der internen und externen Vernetzung

Viele der befragten betrieblichen Akteure gehen davon aus, dass ihr Unternehmen mit der Ausbildung von behinderten Jugendlichen überfordert wäre, auch wenn das Unternehmen über keine entsprechenden Erfahrungen verfügt. Diese Erwartung korrespondiert meist mit der Unkenntnis über die Zielgruppe selbst als auch die technischen und kommunikativen Kompensationsmöglichkeiten der behinderungsbedingten Einschränkungen. Aus diesem Grunde wurden in den beteiligten Betrieben vom Sozialverband VdK Deutschland und von der IG Metall intensive Schulungsveranstaltungen durchgeführt. Dabei sollten bestehende Vorurteile abgebaut und praxisnahe Empfehlungen zur Überwindung von Barrieren in der Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderung gegeben werden. Neben rechtlichen Grundlagen und den Informationen zu den verschiedenen Behinderungsarten und chronischen Krankheitsbildern standen Informationen zu den Fördermöglichkeiten für Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Einstellung schwerbehinderter und gleichgestellter Auszubildender im Mittelpunkt dieser Veranstaltungen.

Darüber hinaus wurden weitere externe Unterstützungsangebote genutzt, insbesondere durch die Vernetzung mit dem jeweils zuständigen Arbeitgeberservice der Arbeitsagentur und ihrer Reha-Beratung sowie den Integrationsfachdiensten.

In zwei der beteiligten Betriebe wurden zusätzlich interne Steuerkreise gebildet. In diesen Steuerkreisen u.a. bestehend aus Mitgliedern des Personalwesens, der Schwerbehindertenvertretung und des Betriebsrates werden geeignete Rekrutierungsstrategien entwickelt und in Abstimmung mit der Unternehmensleitung umgesetzt.

Ausgehend von den möglichen einzelnen Barrieren ist die Frage nach den Vorteilen einer betrieblichen Ausbildung von Jugendlichen mit einer Behinderung oder Schwerbehinderung für die kooperierenden Betriebe ebenfalls nicht immer eindeutig zu beantworten gewesen. Erst bei vorliegenden Erfahrungen mit erfolgreichen Auszubildenden oder in Anbetracht der möglichen Lösungsstrategien wandelte sich diese Einstellung der am Ausbildungsprozess beteiligten Akteure. Darüber hinaus unterstreicht die betriebliche Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderung die soziale Verantwortung eines jeden Betriebes und dies kann im Sinne der Corporate Social Responsibility (CSR) eine nicht zu vernachlässigende Außenwirkung mit sich bringen (BASSEN et al. 2005).

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde ein ‚Best-Practice’ Handlungsleitfaden, der branchenübergreifend neue Impulse gibt, Orientierung bietet und Wissen bündelt, herausgegeben (UNIVERSITÄT ZU KÖLN 2010). Darin werden interessierten Arbeitgebern konkrete Tipps gegeben, wie einzelne Barrieren überwunden werden können. Der Leitfaden liegt in gedruckter Version als Broschüre vor und kann als PDF-Dokument auf der Homepage des Projektes heruntergeladen werden (http://automobil.hf.uni-koeln.de).

Anhand der Ergebnisse des Projektes wurden Anforderungen an betriebliche und außerbetriebliche Akteure formuliert, die dazu beitragen sollen, die Ausbildungschancen von Jugendlichen mit Schwerbehinderung zu verbessern. Diese schriftliche Erklärung mit Symbolcharakter wurde am 6. Dezember 2010 auf der Tagung „Auf der Überholspur! AutoMobil: Ausbildung ohne Barrieren“ von über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Politik und Industrie unterzeichnet.

Diese Erklärung wurde im Februar 2011 im Bremer Rathaus unter Teilnahme von Vertretern aus weiteren 50 Unternehmen vom Bürgermeister entgegengenommen.

4 „Bremer Erklärung“

Ausbildung ohne Barrieren

Für Jugendliche mit Behinderung ist eine berufliche Ausbildung im Betrieb die zentrale Grundlage für ihre Chancengleichheit und eine gesellschaftliche Inklusion. Denn Jugendliche mit und ohne Behinderung benötigen ein gemeinsames Lern- und Arbeitsfeld. Vorhandene Barrieren zu einer inklusiven Ausbildung müssen überwunden werden. Deshalb sind alle betrieblichen und außerbetrieblichen Akteure aufgefordert, gemeinsam auf dieses Ziel hinzuwirken, indem sie intensiver zusammenarbeiten, zu Veränderungen bereit sind und die vorhandenen Möglichkeiten umfassend ausschöpfen.

Die Ergebnisse des Projektes „AutoMobil: Ausbildung ohne Barrieren“ zeigen dabei Wege und Lösungen für eine erfolgreiche betriebliche Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderung auf:

Betriebe müssen bereit sein, sich zu öffnen und Erfahrungen sammeln, damit neue Chancen für Jugendliche mit Behinderung überhaupt entstehen können. Arbeitgeber und Interessenvertretungen, Führungs- und Fachkräfte sollten gemeinsam Verantwortung übernehmen und ihre Haltung zielgerichtet verändern.

Die Bundesagentur für Arbeit, die Integrationsämter und Gewerkschaften sowie die Arbeitgeberverbände und Behindertenverbände müssen die Betriebe dabei mit Informationen, Beratung, Begleitung und Vernetzung unterstützen.

Die Schulen sind gefordert, frühzeitig und zielorientiert Jugendliche mit Behinderung auf die anstehenden Bewerbungsverfahren vorzubereiten und gemeinsam mit ihnen die Zugangswege in den ersten Arbeitsmarkt zu beschreiten.

Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei die Betroffenen und ihre Familien. Sie brauchen kompetente Unterstützung, Ermutigung und begleitende Informationen.

Wir, die Unterzeichnenden der Bremer Erklärung, verfolgen in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention das gemeinsame Ziel, verbesserte Ausbildungschancen für junge Menschen mit Behinderung zu schaffen.

Literatur

BASSEN, A./ JASTRAM, S./ MEYER, K. (2005): Corporate Social Responsibility. Eine Begriffserläuterung. Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Jg. 6, Heft 2, 231-236.

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BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (BMBF) (Hrsg.) (2005): Berufliche Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf – Benachteiligtenförderung. Bonn.

DEUTSCHER BUNDESTAG (2005): Bericht der Bundesregierung über die Situation behinderter und schwerbehinderter Frauen und Männer auf dem Ausbildungsstellenmarkt. Drucksache 15/5922, 15. Wahlperiode 14.07.2005.

DRESSEL, K./ PLICHT, H. (2006): Das neue Fachkonzept der Berufsvorbereitung und sein Einfluss auf die Übergangswege jugendlicher Ausbildungssuchender. In: FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG (Hrsg.). Übergänge zwischen Schule und Beruf und darauf bezogene Hilfesysteme in Deutschland. Bonn, 48-58.

HURRELMANN, K. (2006): Werte in unserer Gesellschaft – Sozialisation Jugendlicher zwischen Familie, Schule und Freizeit. Die 14. Shell-Jugendstudie – Untersuchungsanlage und zentrale Ergebnisse. In: 15. Europäischer Aus- und Weiterbildungskongress. Werte wandeln und Kompetenzen entwickeln – Berufsausbildung im Spannungsfeld von Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Westdeutscher Handwerkskammertag. Düsseldorf.

KIESELBACH, T. (2005): Jugendarbeitslosigkeit. Zur Notwendigkeit eines sozialen Geleitschutzes in beruflichen Transitionen. G.I.B. Info 4.05.

KULTUSMINISTERKONFERENZ (2010): Sonderpädagogische Förderung an Schulen 1999 bis 2008. Statistische Veröffentlichung der Kultusministerkonferenz. Online: http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/Statistik/Dokumentation_SoPaeFoe_2008.pdf  (10-05-2010).

MACRAE, G./ LAVERTY, L. (2006): Discrimination doesn’t work: disabled people’s experiences of applying for jobs in Scotland. Edinburgh.

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NIEHAUS, M./ JÄGER, D. J. (2009): Das Berufshinführungs- und Ausbildungssystem bei Behinderungen und Benachteiligungen. In: STEIN, R./ ORTHMANN BLESS, D. (Hrsg.): Basiswissen Sonderpädagogik, Band 4: Integration in Arbeit und Beruf bei Behinderungen und Benachteiligungen. Baltmannsweiler, 145-170.

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SIMBRIG, I./ SCHMAL, A./ NIEHAUS, M. (2002): Einstellungen, Verhaltensintentionen und berichtete Verhaltensweisen gegenüber Mitarbeitern mit Handicap im betrieblichen Kontext. In: BUNDSCHUH, K. (Hrsg.): Sonderpädagogik in der modernen Leistungsgesellschaft. Krise oder Chance? Bad Heilbrunn, 581-590.

STAUBER, B. (2004): Junge Frauen und Männer in Jugendkulturen. Selbstinszenierung und Handlungspotentiale. Opladen.

THOMA, G. (2003): Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen – aber wie? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B. 6-7/2003, 40-46.

UNIVERSITÄT ZU KÖLN (Hrsg.) (2010): Jugendliche mit Behinderung ausbilden – Eine Investition in die Zukunft! 10 Barrieren und wie man sie überwindet. Köln. Auch Online: www.automobil.hf.uni-koeln.de  (08-04-2011).

WEUSTER, A. (2004). Personalauswahl. Anforderungsprofil, Bewerbersuche, Vorauswahl und Vorstellungsgespräch. 1. Auflage. Wiesbaden.


Zitieren dieses Beitrages

NIEHAUS, M. et al. (2011): Übergang Schule-Beruf: Analysen betrieblicher Rekrutierung junger Menschen mit Behinderung in der Automobilbranche. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 05, hrsg. v. STEIN, R./ STACH, M., 1-11. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft05/niehaus_etal_ft05-ht2011.pdf (26-09-2011).



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