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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS23 - ECVET/DECVET
Herausgeber: Dietmar Frommberger, Andreas Diettrich & Holger Reinisch


Titel:
ECVET und DECVET: Zu den Potenzialen von Leistungspunktsystemen zur Förderung von Übergängen in der beruflichen Bildung.


Zur Förderung der Übergänge an den Schnittstellen des deutschen Berufsbildungssystems: Das Kreditpunktesystem im Kontext der Entwicklung durchlässiger Bildungsstrukturen

Beitrag von Dietmar FROMMBERGER (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)

Abstract

Kreditpunktesysteme („Leistungspunktesysteme“) in Bildung und Berufsbildung stellen Rahmenwerke zum Zwecke der Weiterentwicklung durchlässiger Bildungsstrukturen dar. Der Kreditpunkteansatz, der originär im Kontext der länderübergreifenden Mobilitätsförderung zwischen den Bildungssystemen und Arbeitsmärkten als Teil einer Bildungs- und Berufsbildungspolitik der Organe der Europäischen Union zu verstehen ist, stellt mittlerweile einen gewichtigen Impuls für die Frage der Durchlässigkeit innerhalb der nationalen Systeme und etwaiger Reformoptionen dar. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die grundlegenden Begründungsstränge für die Forderung nach durchlässigen Bildungsstrukturen erörtert. Daran anschließend erfolgt die Darstellung und Einschätzung wesentlicher Merkmale sowie der Möglichkeiten und Grenzen des Kreditpunkteansatzes.

1 Einleitung

Ein Kreditpunktesystem („Leistungspunktesystem“) stellt ein Rahmenwerk dar, das der Transparenz und Vergleichbarkeit erworbener Kompetenzen und Abschlüsse dienen soll, die in unterschiedlichen Bildungsgängen oder informell erworben und vermittelt worden sind. Damit handelt es sich zugleich um ein Rahmenwerk, das zu einer Verbesserung der Anerkennung und Anrechnung der Kompetenzen und damit zum systematischen Transfer und der Akkumulation dieser Kompetenzen beitragen kann, insbesondere zum Zwecke der Weiterführung der individuellen Bildungsverläufe in nachfolgenden Bildungseinrichtungen.

Leistungspunktesysteme zum Zwecke der Akkumulation und des Transfers von Ausbildungs- und Lernleistungen sowie als Berechnungsgrundlage für eine leistungsbezogene Finanzzuweisung, Gebührenerhebung sowie den Lehrpersonaleinsatz besitzen eine lange Tradition (vgl. ALTBACH 2000). Das wohl erste Leistungspunktesystem zur Steuerung von Ausbildungsangeboten hat sich zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts im Hochschulsystem der USA entwickelt. So stellt das US-amerikanische Credit-System im Hochschulbereich im Wesentlichen ein „Instrument zur Messung und Berechnung […] der an Hochschulen erbrachten Leistungen“ (ALTBACH 2000, 79) dar.

Die Grundlage der hochschulischen Leistungspunktesysteme ist eine Zerlegung der Lernerfahrungen in kalibrierte Einheiten, die bis zum Erreichen eines akademischen Abschlusses akkumuliert werden. Daraus können sich eine hohe Flexibilität in Bezug auf Studienzeit und Studienort ergeben sowie zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten hinsichtlich der Inhalte. Die Entwicklung erfolgte in einer Zeit, in der die Mobilitätsabsichten und damit die Transferfunktion eher gering ausgeprägt gewesen sind. Daher lag der Fokus des Systems auf der Akkumulation von Credits und nicht auf der Förderung der interinstitutionellen oder internationalen Übertragung und Anrechnung (vgl. DALICHOW 1997).

Viele Länder sahen in der Vorgehensweise wesentliche Vorteile und führten es im Rahmen eigener Hochschulreformen ein (vgl. DALICHOW 1997). In den Hochschulsystemen Europas setzte sich das Leistungspunktesystem endgültig im Zusammenhang der Absichten hinsichtlich einer koordinierten europäischen Hochschulentwicklung durch, die seitens der Organe der Europäischen Union und schließlich auch in den Mitgliedstaaten stark vorangetrieben wurde. Dieser als „Bologna-Prozess“ bekannte Entwicklungsschub führte auch in Deutschland zur Durchsetzung eines europäischen Systems zur Anrechnung von Studienleistungen (European Credit Transfer and Accumulation System, ECTS).

Die Entwicklung von Leistungspunktesystemen in der beruflichen Bildung in Deutschland und Europa ist primär in den Zusammenhang mit den Zielen, Maßnahmen und Instrumenten der Organe der Europäischen Union zur Förderung der europäischen Mobilität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf dem Arbeitsmarkt sowie im Aus- und Weiterbildungssystem zu stellen. Das prinzipielle Recht auf Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit zwischen und innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU bzw. das Prinzip des Gleichbehandlungsgebotes sowie das Grundrecht auf den freien Zugang zur Beschäftigung in den EU-Mitgliedsstaaten haben bereits früh zu Maßnahmen der Anerkennung, Angleichung und Entsprechung beruflicher Befähigungen und später auch zu Transparenzansätzen geführt. Neben der Förderung der Mobilität im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung stehen diese Maßnahmen im Kontext der Förderung der Arbeitskräftemobilität und sind damit mittelbar Teil der Europäischen Bildungs- und Berufsbildungspolitik (vgl. ausführlich FROMMBERGER 2006).

Konkret wurde der Ansatz eines Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung im Kontext des „Brügge-Kopenhagen-Prozesses“ formuliert. Auf einer Tagung in Brügge im Oktober 2001 haben sich die Generaldirektoren Berufliche Bildung der EU-Mitgliedstaaten auf Kernpunkte einer zukünftig stärkeren berufsbildungspolitischen Zusammenarbeit in der Europäischen Union verständigt. Diese Brügge-Initiative stellte zugleich den Grundstein für die Kopenhagen-Erklärung dar: Beim Gipfel im November 2002 in Kopenhagen verabschiedete der Rat eine Entschließung zur Förderung einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung. Dieser war die Unterzeichnung der Erklärung von Kopenhagen durch die Bildungsminister der Länder, die europäischen Sozialpartner und die Kommission vorausgegangen. In dieser Erklärung wird eine Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit in Bezug auf verschiedene Aspekte der beruflichen Aus- und Weiterbildung vereinbart (vgl. Europäische Kommission 2003).

Für die Schaffung eines Europäischen Berufsbildungsraums sind die Transparenz von Qualifikationen und der Transfer von Lernleistungen zentral. Im Kommuniqué von Maastricht vom Dezember 2004 haben sich deshalb die für die Berufsbildung zuständigen Minister, die Sozialpartner und die Europäische Kommission dafür ausgesprochen, einen Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) zu entwickeln und umzusetzen. Im November 2007 wurde der EQF durch den Bildungsministerrat der EU förmlich beschlossen. Der Transfer von Lernleistungen und deren Anrechnung soll durch die Einführung eines Kreditpunktesystems in der Berufsbildung erleichtert werden, dem so genannten ECVET (European Credit (Transfer) System for Vocational Education and Training) (vgl. KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2008). Qualifikationsrahmen und Leistungspunktesystem stehen mithin in einem engen funktionalen Zusammenhang.

In den letzten vier Jahren hat es verschiedene Initiativen sowie nationale und europäische Beschlüsse im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des ECVET-Ansatzes gegeben. In Deutschland erfolgt die Entwicklung und Erprobung dieses Ansatzes im Rahmen des DECVET-Pilotprojektes (www.decvet.net).

2 Das Leistungspunktesystem im Kontext der Entwicklung durchlässiger Bildungs- und Berufsbildungsstrukturen

Das Kreditpunktesystem und der Ansatz des Qualifikationsrahmens sind als aktuelle Rahmenwerke zu verstehen, die aus bildungspolitischer Sicht der Förderung der individuellen Bildungsmobilität und damit der Erhöhung der Durchlässigkeit in und zwischen verschiedenen Bildungsstrukturen dienen sollen. Aktuell stehen die folgenden Begründungen für die Weiterentwicklung durchlässiger Bildungsstrukturen im Mittelpunkt der Debatte:

a)      Auf der Basis unterschiedlicher Bildungs- und Berufsbildungsstrukturen in verschiedenen Ländern werden disparate Abschlüsse erworben, die in den Bildungs- und Beschäftigungssystemen innerhalb der Europäischen Union nicht nach transparenten Kriterien anerkannt und ggf. angerechnet werden können. Der Vergleich der Abschlüsse und der damit verbundenen Zugangsmöglichkeiten ist schwierig, es fehlen Informationen und damit auch das Vertrauen mit Blick auf die Qualität der Zertifikate und der zugrunde liegenden Ausbildungsprozesse. Aus diesen Debatten und Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Berufsbildungspolitik hat die Frage der Durchlässigkeit in den nationalen Systemen als Reformoption einen gewichtigen Impuls erhalten.

b)      Im Kontext der Diskurse um den Fachkräftemangel in Deutschland sind Anerkennungs- und Anrechnungsfragen, auch der ausländischen Abschlüsse und Qualifikationen, sowie Mechanismen der Förderung des Lebenslangen Lernens und der Attraktivitätssteigerung beruflicher Bildung von großem Interesse. Die Erweiterung der Zugangsberechtigungen auf der Basis beruflicher Abschlüsse, verankert beispielsweise in den Schulgesetzen und Hochschulgesetzen der Bundesländer, hat in den letzten zwei Jahrzehnten massiv an Bedeutung gewonnen. Zudem steht damit die Erfassung von beruflichen Kompetenzen, wo und wie auch immer erworben, für die Eingliederung in das Beschäftigungssystem im Blickfeld.

c)      Unabhängig von diesen aktuellen Begründungszusammenhängen ist das Thema Durchlässigkeit jedoch schon sehr viel älter. Erinnert sei beispielsweise an die Bildungsreformdebatte in der alten BRD um den Strukturplan für das deutsche Bildungswesen und an die vielen Modellversuche zur Doppelqualifizierung in der beruflichen Bildung, einschließlich Kollegstufenmodellversuch in NRW. Es ging und geht im Kern um die Anschlussfähigkeit der beruflichen Bildung an das allgemeine und hochschulische Bildungssystem – und zwar möglichst ohne Preisgabe der originären berufsqualifizierenden Funktion beruflicher Bildung.

d)     Das zentrale Argument, das das Thema Durchlässigkeit seit Jahrzehnten im In- und Ausland prägt und legitimiert, ist das Postulat der Chancengleichheit. Die Übergänge an diversen Schnittstellen in der beruflichen Bildung sind von einer hohen sozialen Selektivität geprägt (vgl. BEICHT/ GRANATO 2009; BECKER/ HECKEN 2007; MAAZ 2006). Durchlässige Bildungsstrukturen, beispielsweise die Öffnung der Hochschulen oder die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen, erfüllen im Sinne der Forderung chancengleicher Bildungsmöglichkeiten eine nachträgliche Kompensationsfunktion, also eine Kompensation solcher ungleicher Chancen, die bereits im vorgelagerten Bildungsverlauf ihre Wirkung entfaltet haben.

e)      Die Aktualität der Thematik (Durchlässigkeit) ist zudem als eine Reaktion auf Dysfunktionalitäten des traditionellen Berechtigungssystems zu verstehen. Traditionell besitzen erworbene Abschlüsse eine hohe Bedeutung für die Fortsetzung der schulischen und beruflichen Karriere in den nachfolgenden Institutionen. So dient beispielsweise das Abitur in Form einer formalen Hochschulzugangsberechtigung dem Eintritt in das Hochschulstudium, der Universitätsabschluss dem Eintritt in den höheren Dienst oder der berufliche Erstausbildungsabschluss der Einstufung in ein bestimmtes Tarifgefüge. Dieses Prinzip wird auch dem Begriff der meritokratischen Logik subsumiert. Aber offenbar stößt dieser traditionelle Zugangsmechanismus auf seine Grenzen. Folgende Beobachtungen sind in diesem Zusammenhang zu machen:

  • Offenbar findet ein Verlust der Aussagekraft bzw. Prognosevalidität erworbener Abschlüsse für die zukünftigen individuelle Bildungs- und Karrierewege statt. Die Frage ist, inwieweit erworbene Abschlüsse die damit erwarteten Kenntnisse und Fähigkeiten repräsentieren, die die Inhaber erworben haben sollten und mit dem Zertifikat bescheinigt werden sollen.
  • Es erfolgt gewisser Maßen eine inflationäre Entwertung erworbener Abschlüsse: Die „wertvollen“ Abschlüsse werden wichtiger und zugleich wertloser: Wer keinen weiterführenden Abschluss erreicht, verliert berufliche und soziale Chancen, wer aber einen weiterführenden Abschluss erreicht, gewinnt nicht in dem Maße Chancen, wie mit dem Zertifikatserwerb erwartet („Qualifikationsparadox“; MERTENS 1984).
  • Damit einher geht eine Aushöhlung des meritokratischen Prinzips. Stattdessen bestimmt das soziale Kapitel weiterhin oder wieder vermehrt die Bildungschancen.

Trotz der oben skizzierten allgemeinen Begründungen ist in Projektzusammenhängen und darüber hinaus häufig die Frage nach den tatsächlichen Bedarfen der Akteure wahrzunehmen, also die Frage danach, ob und inwieweit die Auszubildenden, die Ausbildungsbetriebe, die Hochschulen, die Berufsbildenden Schulen etc. insbesondere an der Frage der Anrechnung von erworbenen Kompetenzen für nachfolgende Bildungsgänge ein nachhaltiges Interesse hätten. Häufig wird auch die Vermutung formuliert, das Interesse an durchlässigen Strukturen und Übergängen auf der Basis weiterführender Anrechnungs- und Anerkennungsmechanismen könne nicht stark ausgeprägt sein, da die faktischen Übergangsfälle (insbesondere einschließlich der Anrechnung) an den verschiedenen Schnittstellen sehr gering seien.

Es lässt sich festhalten, dass bezüglich der Bedarfe (Übergangsverhalten mittels Anrechnung; Mobilitätsbereitschaft etc.) aus der Perspektive der Nachfrager und Anbieter im System der beruflichen Bildung relativ wenig systematisch erhobene Informationen vorliegen. Das Argument, der Bedarf sei eher als sehr gering einzuschätzen, da die tatsächlichen Übergangsraten unter Nutzung von Anrechnungsmechanismen ebenfalls gering seien, erscheint jedoch zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der wenigen Kontextinformationen als wenig plausibel. Zunächst wären die strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen, die im Regelsystem eine Durchlässigkeit unter Einbeziehung der Anrechnung von Kompetenzen transparent und verbindlich ermöglichten. Erst auf dieser Basis könnte auf der Basis des tatsächlichen Übergangs- und Anrechnungsverhaltens eine verlässliche Aussage zu den Bedarfen auf der Basis von Übergangs- und Anrechnungsfällen erfolgen. Daneben wäre es prinzipiell aber auch denkbar, eine Einschätzung der Bedarfe aus der Sicht der Nachfrager und Anbieter in der beruflichen Bildung einzuholen.

Die oben skizzierten Dysfunktionalitäten des traditionellen Berechtigungssystems sowie die weiteren dargestellten Begründungszusammenhänge führen zu alternativen Lösungsansätzen, um die individuelle Mobilität zu fördern und Übergänge anders bzw. neu zu steuern. Neben dem Instrument des Qualifikationsrahmens stellen das Kreditpunktesysteme sowie die spezifischen Merkmale dieses Rahmenwerkes einen solchen aktuellen Ansatz dar.

3 Merkmale, Möglichkeiten und Grenzen des Kreditpunktesystemansatzes

Der Ansatz des Kreditpunktesystems („Leistungspunktesystem“) soll der Förderung der Transparenz und Vergleichbarkeit erworbener Abschlüsse und Teilabschlüsse dienen und damit einen strukturellen Beitrag zu Anerkennung und Anrechnung erworbener Kompetenzen leisten.

Für die berufliche Bildung werden in den Mitgliedstaaten EU derzeit Kreditpunktesysteme erprobt, subsumiert der Überschrift ECVET (European Credit System in Vocational Education and Training). In Deutschland läuft hierzu die BMBF-Pilotinitiative DECVET, in der in 10 verschiedenen Projekten für die Berufsbildung in verschiedenen Berufsfeldern und an vier unterschiedlichen Schnittstellen der Ansatz des Kreditpunktesystems bzw. Leistungspunktesystems entwickelt und erprobt wird (vgl. den Beitrag von ANITA MILOLAZA in diesem Band). Vielmehr als der Ansatz des Qualifikationsrahmens zielt der Kreditpunkteansatz auf die Anrechnung von bereits erworbenen Teilqualifikationen auf andere bzw. weiterführende Bildungsgänge. Transfer und Akkumulation von Lernerfahrungen stehen im Mittelpunkt. Um diesen „Tausch“ zwischen verschiedenen Abschlüssen und Kompetenzen, die in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen, Bildungsteilsystemen oder Bildungssystemen erworben werden (oder auch informell außerhalb dieser Bildungsstrukturen), die häufig sehr divergenten Konstituierungs- und Handlungslogiken gehorchen, zu ermöglichen, erscheint eine gemeinsame Bemessungsgrundlage (oder: ein gemeinsames und akzeptiertes Tauschmittel) von Vorteil. Der Vergleich unterschiedlicher Bemessungsgrundlagen, beispielsweise der Unterrichtsstunden, Zeitrichtwerte oder Semesterwochenstunden, ist schwieriger, als der Vergleich in einer „Währung“ auf der Basis gleicher Vergleichskriterien. Dort, wo die Bemessungsgrundlage also zwischen verschiedenen Bildungsteilbereichen bereits sehr ähnlich ist (z. B. im System der beruflichen Bildung innerhalb eines Landes), ist der Nutzen der neuen und gemeinsamen Währung nur mittelbar erkennbar. Zwischen unterschiedlichen Bildungssystemen, von der Berufsbildung in die Hochschulbildung oder insbesondere international, kann eine gemeinsame Währung für die Frage der Anrechnung jedoch sehr hilfreich sein.

Über die Kreditpunkte („Leistungspunkte“) erhalten die Lernerfahrungen aus unterschiedlichen Lernkontexten eine gemeinsame quantitative (und gegebenenfalls auch qualitative) Bemessungsgrundlage. Eine Funktion in qualitativer Hinsicht obliegt den Kreditpunkten vornehmlich, sofern den Lerneinheiten entsprechend ihrer Bedeutung für den Bildungsgang eine Bewertung zugewiesen wird. Inhalte und Ergebnisse, die wichtiger erscheinen, erhalten einen höheren Kreditpunkteumfang. Mindestens denkbar wäre auch, Lerneinheiten, die bezüglich ihrer kognitiven Anforderungen höherwertig sind als andere, mit einer höheren Punktzahl zu versehen.

Für die Lernergebnisse aus unterschiedlichen Lernkontexten bzw. Bildungsteilbereichen wird eine einheitliche Währung entwickelt. Bislang dominieren Kreditpunkteansätze, in denen vornehmlich eine quantitative Bemessungs- und Vergleichsgrundlage angestrebt wird, und zwar eine solche, welche auf die angenommene durchschnittliche Lernzeit für den Erwerb der definierten Kompetenzen rekurriert. Die Lernzeit geht in der Regel über die Präsenzzeit in Bildungseinrichtungen deutlich hinaus. Es handelt sich um eine institutionen- und länderübergreifende „Währung“, die verschiedene Ansätze nivelliert.

Im Kreditpunkteansatz sind jedoch nicht allein die Kreditpunkte das entscheidende Moment, das Anrechnung ermöglichen und fördern soll. Vielmehr werden – analog zum Qualifikationsrahmen – auch in einem Kreditpunktesystem die konventionellen Abschlüsse und Bildungsgänge die curricularen Grundlagen einer Rekonstruktion unterzogen. Es werden Lerneinheiten definiert, die zugleich eine Lernergebnisorientierung (Outcome-Orientierung) aufweisen sollen. Diesen Lerneinheiten werden die Kreditpunkte zugewiesen. Die Summe der Lerneinheiten (Akkumulation und ggf. Transfer der Learning Outcomes) und damit der Credits kann am Ende einen Gesamtabschluss ergeben. Die verschiedenen Lerneinheiten selbst können jedoch durchaus unterschiedlichen Lernkontexten entsprechen.

Neben den Kreditpunkten liegt der zentrale Ansatz hier mithin in der Entwicklung von Lerneinheiten auf der Basis einer gemeinsamen Sprache (Outcome-Orientierung). Diese gemeinsame Sprache soll dazu beitragen, individuelle Mobilität in verschiedenen Bildungsteilsystemen zu erleichtern. Der besondere Anspruch des Kreditpunkteansatzes liegt darin, Lernleistungen „von woanders“ nicht nur als Zugangsvoraussetzung anzuerkennen, sondern sogar anzurechnen. Entscheidend für die Anrechnung sind nicht allein die Kreditpunkte (welche jedoch als eine Information von großem Vorteil sein können), sondern die Möglichkeit der Identifizierung der curricularen Schnittmengen zwischen Abschlüssen und Teilabschlüssen aus unterschiedlichen Bildungsgängen.

Für diese Identifizierung der curricularen Schnittmengen kann eine solche Definition der curricularen Einheiten förderlich sein, in welcher die gewünschten Fachinhalte mit der Angabe individueller Dispositionsspielräume („Kompetenzen“) ergebnisorientiert verknüpft werden. Zwar erfolgt auch in den traditionellen Lehrplanvorgaben in der Regel eine Verbindung von Fachinhalten mit differenzierten Lernzielen, welche auf die intendierten Verhaltensänderungsmöglichkeiten der Lernenden gerichtet sind. Doch sind Lernzielangaben streng genommen keine beobachtbaren Vorgänge und weisen insofern nur einen geringeren Grad der Verbindlichkeit für die verantwortliche Bildungsinstitution oder gar für das verantwortliche Bildungspersonal auf. Die Formulierung von Lernergebnissen in den curricularen Grundlagen wird aus der Sicht der Steuerung von Bildungsprozessen als wirkungsvoller eingeschätzt, da hiermit die Grundlage der Evaluation des Ausbildungserfolges direkt in die Steuerung eingebaut wird. Damit wird zugleich eine höhere Planungssicherheit suggeriert. Insofern gewinnen auch die explizite Kompetenzfeststellung und -bewertung im Rahmen der Kreditpunkteansätze eine höhere Bedeutung. Diesem angenommenen Vorteil steht zugleich die Gefahr einer zu ausgeprägten Operationalisierung der Lernergebnisse gegenüber, deren Auswirkungen auf die Unterrichts- und Ausbildungsprozesse als „heimlicher Lehrplan“ die häufig gewünschte kognitive Komplexität von Lernprozessen deutlich einschränken könnte.

Die Zielsetzung und Konstruktion des Kreditpunkteansatzes ist in sich plausibel. Konkrete Probleme treten in der Umsetzung auf. Nachfolgend werden ausgesuchte Herausforderungen skizziert:

  • Anerkennung und Anrechnung können mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, weil innerhalb und zwischen den verschiedenen Bildungsbereichen und Bildungsstufen häufig a) unterschiedliche Inhalte vermittelt werden und b) auf unterschiedliche Leistungs- und Anspruchsniveaus gezielt wird. Aus diesem Grunde ist insbesondere die Anrechnung für höherstufige Bildungsgänge aufwendig. Pauschale Anrechnungen sind schwierig, so dass in der Regel die curricularen Schnittmengen oder die tatsächlich erworbenen Kompetenzen individuell identifiziert werden.
  • Es bestehen also große Vorbehalte bei den handelnden und entscheidenden Akteuren darin, Lernleistungen, die fachlich und hinsichtlich der Ausbildungsniveaus unterschiedlich definiert sind, für einen anderen Bildungsgang anzurechnen. Häufig besitzt – entgegen üblicher Annahmen – vor allem auch die Gleichartigkeit der Inhalte für einen curricular standardisierten Bildungsgang und Abschluss eine zentrale Bedeutung, das heißt: ohne diese regulierten Mindestinhalte ist die Vergabe der Abschlüsse nicht möglich. Ganz besonders ist dies in regulierten Berufen der Fall.
  • Die Ausbildungskulturen an verschiedenen Lernorten, die sich in der Art und Weise der Ausbildungs- und Lernprozesse widerspiegeln, sind disparat. So können stärker erfahrungsgebundene stärker theoriebezogenen Lernmilieus gegenüber stehen, so vor allem in Gegenüberstellung der Lernorte Betrieb und Schule.
  • Es ist nicht immer klar, worin der Nutzen der Anerkennung/Anrechnung für die beteiligten Akteure in der beruflichen Bildung besteht. Teilweise liegen auch kollidierende Interessen vor. Während der Vorteil für die Absolventen und Absolventinnen aufgrund einer Zeit- und Kostenersparnis evident erscheint, dominiert speziell für die Ausbildungsbetriebe in vielen Fällen die Skepsis gegenüber möglichen oder gar notwendigen Anrechnungsmechanismen, da etwa eine Verkürzung der Ausbildungszeit nicht immer im Interesse der Ausbildungseinrichtungen liegt.
  • Ein weiterer Grund, der die „Durchlässigkeit“ erschwert, liegt in der Unkenntnis des anderen Systems oder Teilsystems. Daraus erwächst Misstrauen, vor allem im Hinblick auf die Frage der Qualität der Abschlüsse.
  • Schließlich sind es die Traditionen gewachsener Abschottungen zwischen den Teilsystemen sowie die Interessen bzw. Überzeugungen der Akteure, die eine Durchlässigkeit erschweren. Dieses Phänomen betrifft Hochschulen, es betrifft aber genauso die Betriebe oder die zuständigen Stellen, die schulische oder hochschulische Leistungen und Kompetenzen nicht anerkennen oder anrechnen wollen. Dieses Verhalten muss jedoch nicht immer strategisch begründet sein, es kann auch an Misstrauen oder gar Unkenntnis liegen.

Erfahrungen mit dem Kreditpunktesystem liegen im Hochschulbereich vor. Es ist bislang nicht ganz klar, inwieweit dieser Ansatz tatsächlich das Ausmaß der aktiven Anrechnung und damit auch den Grad der Durchlässigkeit im Regelsystem erhöht. Hier stehen konkrete Untersuchungen aus. Für die Berufsbildung befindet sich dieser Ansatz in der Erprobung. Eine landesweite und bildungsbereichsübergreifende Implementierung existiert innerhalb Europas bislang nur in Schottland.

Literatur

ALTBACH, A. P. G. (2000): Die Messung von Lehr- und Lernleistungen: Credit-Systeme an US-amerikanischen Hochschulen. In: SCHWARZ, S./ TEICHLER, U. (Hrsg.): Credits an deutschen Hochschulen. Luchterhand, 79-89.

BECKER, R./ HECKEN, A. E. (2007): Studium oder Berufsausbildung? Eine empirische Überprüfung der Modelle zur Erklärung von Bildungsentscheidungen von Esser sowie von Breen und Goldthorpe. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 36, Heft 2, 100-117.

BEICHT, U./ GRANATO, M. (2009): Übergänge in eine berufliche Ausbildung. Geringere Chancen und schwierige Wegen für junge Menschen mit Migrationshintergrund. Bonn.

DALICHOW, F. (1997): Kredit- und Leistungspunktsysteme im internationalen Vergleich. BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG, WISSENSCHAFT, FORSCHUNG UND TECHNOLOGIE (Hrsg.). Bonn.

EUROPÄISCHE KOMMISSION (2003): Generaldirektion Bildung und Kultur : Verstärkte Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung. Kopenhagen-Koordinierungsgruppe, Sachstandsbericht Oktober 2003 [EAC-2003-00738-02-00-DE-TRA-00].

FROMMBERGER, D. (2006): Europa: Europäische Berufsbildungspolitik (1). In: LAUTERBACH, U. et al. (Hrsg.): Internationales Handbuch der Berufsbildung (IHBB). Bielefeld.

KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (2008): Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET). Brüssel.

MAAZ, K. (2006): Soziale Herkunft und Hochschulzugang. Effekte institutioneller Öffnung im Bildungssystem. Wiesbaden.

MERTENS, D. (1984). Das Qualifikationsparadox. Bildung und Beschäftigung bei kritischer Arbeitsmarktperspektive. Zeitschrift für Pädagogik, 30, 4, 439-455.


Zitieren dieses Beitrages

FROMMBERGER, D. (2011): Zur Förderung der Übergänge an den Schnittstellen des deutschen Berufsbildungssystems: Das Kreditpunktesystem im Kontext der Entwicklung durchlässiger Bildungsstrukturen. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 23, hrsg. v. FROMMBERGER, D./ DIETTRICH, A./ REINISCH, H., 1-9. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws23/frommberger_ws23-ht2011.pdf (26-09-2011).



Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

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