Partner von bwp@: 
  SAP University Alliances Community (UAC)   giz - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit    Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.    Österr. Konferenz für Berufsbildungsforschung       

bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS04 - Produktionsschulen
Herausgeberin: Cortina Gentner


Titel:
Übergänge in der Berufsbildung nachhaltig gestalten durch Produktionsschulen


„Wo Produktionsschule draufsteht, soll auch Produktionsschule drin sein“ - Das Qualitätssiegel des Bundesverbandes Produktionsschulen e.V.

Beitrag von Martin MERTENS & Bernd RESCHKE (BuntStift Kassel & Werk-statt-Schule Hannover)

Abstract

Der Anfang 2007 in Wolgast gegründete Bundesverband Produktionsschulen e.V. beschäftigt sich seit 2008 mit der Entwicklung von Qualitätsstandards für die Arbeit mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Produktionsschulen. Unter dem Motto „Wo Produktionsschule draufsteht, soll auch Produktionsschule drin sein“ entwickelte ein Arbeitskreis des Verbandes sechs Qualitätsdimensionen, die für den Betrieb einer Produktionsschule konstituierend und schließlich für die Verleihung des geplanten „Qualitätssiegels“ relevant sind. Dieser Beitrag dokumentiert den aktuellen Entwicklungsstand der innerverbandlichen Qualitätsdiskussionen – ebenso wie den Stand des zu entwickelnden Zertifizierungsverfahrens.

1 Ausgangslage

Die Gestaltung des Übergangs von der Schule in den Beruf und in die Arbeitswelt stellt sowohl eine bildungspolitische als auch eine pädagogische Herausforderung dar. Notwendige Veränderungsprozesse an der sogn. „ersten Schwelle“ erfordern neben strukturbildenden Maßnahmen auch „neue“ pädagogische Ansätze und Konzepte zur Professionalisierung der (pädagogischen) Fachkräfte. Verfolgt wird das Ziel, allen jungen Menschen optionsreiche und realistische (Berufs-)Perspektiven zu eröffnen - insbesondere auch Jugendlichen mit schwierigen Ausgangsbedingungen und/ oder Migrationshintergrund.

Produktionsschulen sind in einigen europäischen Ländern zu einer wichtigen arbeitsorientierten Bildungseinrichtung am Übergang Schule – Beruf geworden. Mit ihrem Grundgedanken, über Arbeits- und Lernprozesse in Werkstätten Menschen zu fördern und sie zugleich in marktbezogene Produktionsprozesse einzubinden, haben sie neben einer bildungspolitischen auch eine sozialpolitische Dimension zur Exklusionsverhinderung. Die Produktionsschule ist inzwischen auch in Deutschland – in Abgrenzung zum staatlichen Schulsystem, das tendenziell selektiert und ausgrenzt, statt Chancen zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration zu fördern – zu einem erfolgreichen Instrument der Benachteiligtenförderung geworden. Sie bildet die Brücke zwischen Schule und Arbeitswelt und stellt ein alternatives und eigenständiges Modell zur Berufsorientierung und -vorbereitung für die große Gruppe der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf dar.

Allerdings können sich Produktionsschulen nur dann zu einer echten Alternative entwickeln, wenn sie sowohl „richtig konstruiert“ als auch bildungs- und ordnungspolitisch verortet sind, denn die Komplexität des Übergangsgeschehens stellt hohe Anforderungen an die Professionalität der darin tätigen (pädagogischen) Fachkräfte. Gleichzeitig wird ihr Handeln zu einem „Schlüssel“ für die notwendigen Veränderungsprozesse.

Was den Auf- und Ausbau von Produktionsschulen angeht, steht Deutschland nicht mehr Anfang. Dass sich dieses Modell noch nicht flächendeckend durchgesetzt hat, hängt sicherlich im Wesentlichen mit dem förderalen Aufbau der Bundesrepublik zusammen. Trotz der seit Mitte der 1990er Jahre positiv geführten Diskussionen zur Produktionsschule – z.B. in vielen zuständigen Landesministerien - ist es bislang noch nicht gelungen, Produktionsschulen als zusätzliche Bildungs- und Qualifizierungsalternative für junge Menschen in Deutschland bildungspolitisch zu etablieren.

Ausreichende institutionelle und fachliche Rahmenbedingungen zum Betrieb von Produktionsschulen sind in Deutschland z. Zt. nicht gegeben. Bundesweit existiert kein rechtsverbindlicher Rahmen zum Betrieb von Produktionsschulen z. B. in Form eines Produktionsschulgesetzes. Auch Standards und Qualitätskriterien von Produktionsschulen sind weder bundesweit noch auf Bundesländerebene ansatzweise abgestimmt bzw. definiert. Bestehende Produktionsschulen bewegen sich im Feld der Finanzierung und Organisation in höchst unterschiedlichen Rechtskreisen (SGB II, III, VIII) sowie verschiedenster bundesländerspezifischer Regelungen. Produktionsschulkonzepte sind sowohl in der Beruflichen Bildung als auch im allgemein bildenden Bereich angesiedelt.

Wir versuchen mit diesem Beitrag, auch eine „Qualitätsoffensive“ für ein pädagogisches Experiment der Umgestaltung anzustoßen – Qualitätsstandards nicht nur aus der Theorie, sondern auch aus der vielgestaltigen, oft irrenden, weil lebendigen pädagogischen Praxis zu formulieren. Produktionsschulen begreifen wir sowohl als Wegmarke als auch als Zielpunkt für den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Und vielleicht sogar als eine Chance zur Neujustierung des Dualen Berufsbildungssystems anhand von Parametern, die aus den Erfahrungen von Produktionsschulen gewonnen werden können. Bestärkt werden wir in diesem Gedanken durch viele Fachleute, die Produktionsschulen für besonders geeignet halten, um den Herausforderungen des Übergangs wirkungsvoll und nachhaltig zu begegnen.

2 Diskussion im Bundesverband Produktionsschulen e.V.

Die intensiven Diskussionen auf der Fachtagung des Bundesverbandes in Leipzig (2008) im Workshop „Qualitätsstandards an Produktionsschulen“ haben gezeigt, dass Verständigungen und Auseinandersetzungen zu Fragen, wie „Was macht denn nun eine Produktionsschule aus?“ oder „Was sind denn die qualitativen Merkmale von Produktionsschulen in Deutschland?“ immer wieder geführt wurden. Mit den „Produktionsschulprinzipien“ wurde 2007 ein wichtiger Meilenstein gesetzt, jedoch waren die 13 Merkmale nicht für die Ewigkeit und unumstößlich festgeschrieben. Aus diesen Impulsen heraus hatte sich der Vorstand des Bundesverbandes nach der Mitgliederversammlung 2008 entschlossen, einen Arbeitskreis „Qualitätsstandards für Produktionsschulen“ einzurichten – mit dem Ziel, Qualitätsstandards zu erarbeiten, Vorschläge zur Verfahrensweise zur Auditierung bzw. Zertifizierung des Qualitätssiegels zu entwickeln und diese Arbeitsergebnisse anschließend innerverbandlich zu diskutieren. Zur Mitgliederversammlung 2009 in Hannover wurde ein erstes Arbeitspapier vorgestellt und dem vorhandenen Arbeitskreis der Auftrag zu erteilt, die Standards weiter zu entwickeln und ein Verfahrensvorschlag zur nächsten Mitgliederversammlung 2010 zu erarbeiten.

3 Qualitätsstandards des Bundesverbandes Produktionsschulen e.V.

Im Folgenden sollen nun die erarbeiteten und am 27. September 2010 auf der Mitgliederversammlung in Karben beschlossenen Qualitätsstandards des Bundesverbandes Produktionsschulen kurz vorgestellt werden. Die Qualitätsstandards des Bundesverbandes Produktionsschule sind im Rahmen eines internen Verbandsarbeitskreises entwickelt und erarbeitet worden. Ständige Mitglieder dieses Arbeitskreises bzw. Autoren (in alphabetischer Sortierung) waren: Cortina Gentner, Martin Mertens, Ali Meshoul, Bernd Reschke, Henner Stang, Sabine Trepke und Simone Wagner. Zeitweise gehörten diesem Arbeitskreis Hejo Theisgen, Hauke Brückner und Martin Förster an.

Die nachfolgenden ausgewählten Textpassagen dokumentieren die beschlossenen Qualitätsstandards des Bundesverbandes Produktionsschulen e.V. (vgl. BUNDESVERBAND PRODUKTIONSSCHULEN e.V.). Das vollständige Papier ist über die Homepage des Bundesverbandes (www.bv-produktionsschulen.de) abruf- und downloadbar.

3.1 Einleitung

„Indem wir zeitgemäße Standards zur Strukturierung und Entwicklung konkreter pädagogischer Handlungen formulieren – Rahmen und Inhalte einer neuen Form von ‚Schule’ –, kritisieren wir veraltete Traditionen. Zugleich versuchen wir, die Produktionsschulstandards als Bauanleitung des Neuen tragfähig, vergleichbar und kommunizierbar zu machen: also verhandelbar und zustimmungsfähig. Es geht darum, eine neue ‚Schulform’ (neue Bildungseinrichtung) mit Leben zu füllen und durch gleichberechtigte Partizipation aller Beteiligten überprüfbar zu machen.

Die Standards sollen handlungsleitend sein für pädagogische Prozesse und institutionelle Strukturen bei der Neugründung von Produktionsschulen sowie Hilfestellung und Handreichung bieten für die Überprüfung schon bestehender Einrichtungen. Sie bilden weitgehend die soziale und demokratische Vielfalt der Produktionsschulen als neue Bildungseinrichtung ab (social/ cultural diversity).

Alle Standards müssen verhandelbar sein und zu von Konsens getragenen Regeln und Vereinbarungen führen. Ein guter Maßstab bei der Entwicklung einer Produktionsschule ist, dass sie allen Beteiligten eine leistungsfähige, soziale und gerechte Orientierung eröffnet.

Grundlegende Prämissen sind:

  • die Würde (Grundgesetz) aller Beteiligten in ihrer kulturellen Vielfalt,
  • ein humanistisches, den demokratischen und wissenschaftlichen Prinzipien der Aufklärung verpflichtetes Menschenbild,
  • Respekt vor den Eigenheiten und Anerkennung der Besonderheiten von jungen Menschen auf ihrem sozial verantwortlichen Weg zum mündigen, aktiven Bürger sowie
  • die Einsicht, dass alles pädagogische Wollen in erster Linie dem Wohl der jungen Menschen[1] – als auch der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter zu dienen hat.

Produktionsschulen setzen bei den jungen Menschen vor allem identitätsstiftende und damit das Selbst stabilisierende Prozesse in Gang. Dafür bilden die Basis sowohl die Tätigkeiten in ihrer materiellen, sozialen und gesellschaftlichen Bedeutung als auch die dabei entstehenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Die wertschätzende und kooperative Kultur der Produktionsschulen unterscheidet sich von überkommenen Schulformen, die oft zu Bildungsbehörden erstarrt sind.

Damit eröffnen Arbeiten und Lernen in den Werkstätten und Dienstleistungsbereichen von Produktionsschulen nicht nur Alternativen zur gewohnten, schulförmigen Methodik und Didaktik, sondern auch zur Organisationskultur von bestehenden Bildungseinrichtungen.

Produktionsschulen ermöglichen letztendlich die Erhöhung der Chancen der jungen Menschen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Damit werden - bildungspolitisch betrachtet - sowohl gesellschaftliche Interessen (Fachkräftenachwuchs) als auch individuelle Ziele (Autonomie, gesellschaftliche Teilhabe) berücksichtigt. Produktionsschulen wollen jungen Menschen eine differenzierte und selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung für ein gutes Leben in Arbeit und Beruf ermöglichen. Ziel ist die Bereitstellung jener ‚Werkzeuge’, die zur Meisterung des Lebens, zur Vermittlung in Ausbildung und selbstverantwortlicher Arbeit notwendig sind.

Standards zur Sicherung der Qualität von Produktionsschulen sind keine Normen im technischen Sinne, wie z.B. DIN oder ISO, sondern Parameter für die Gestaltung des Alltagsgeschehens in Produktionsschulen. Sie tragen einerseits dazu bei, in den vertraglichen Arbeitsbeziehungen Beliebigkeit und Unverbindlichkeit zu vermeiden. Andererseits befördern sie Übersichtlichkeit und Transparenz im Produktionsprozess und pädagogischem Alltag. In den sozialen und inhaltlichen Standards spiegeln sich sowohl die individuellen Bedürfnisse der Beteiligten als auch die sozialen Notwendigkeiten der arbeitsteiligen und kooperativen Tätigkeit wider.

Standards dürfen nicht falsch reglementieren und inhaltslos ritualisieren. Sie sind kein Instrument der Ausgrenzung, sondern Einladung und Herausforderung zum Nachdenken über Inhalte und zum Mitgestalten von Handlungsräumen in Produktionsschulen.

An den Zielen und der Verfasstheit von Produktionsschulen zugleich Produktionsort (Betrieb) und Schule (Bildungseinrichtung) zu sein, spiegeln sich die zum Teil widersprüchlichen (historisch gewachsenen) Logiken der Gesellschaft. Daraus erwächst eine starke persönliche und institutionelle, der Humanität verpflichtete, Herausforderung.

Die (berufs-)pädagogische Idee ‚Produktionsschule’ birgt Entwicklungspotential in sich und ist zukunftsfähig. Um aber zu einem ‚Lernort der Zukunft’ zu werden, muss pädagogisches Handeln bestimmten Ansprüchen genügen:

  • Großzügigkeit und Gelassenheit im Arbeitsalltag bei der Gestaltung des Wertschöpfungsprozesses,
  • Einfallsreichtum in Bezug auf Lerninhalte und Methoden bei der Gestaltung kooperativer Lernprozesse,
  • Selbstreflexion und Heiterkeit bei der Gestaltung der Beziehung zu jungen Menschen.“ (ebenda, 5f.).

3.2 Die sechs Qualitätsdimensionen für Produktionsschulen

„Die Produktionsschule (PS) ist ein Lernarrangement für junge Menschen, in dem über einen kooperativ organisierten Arbeitsprozess individuelle Lernprozesse nachhaltig gefördert werden.

Basierend auf diesem konstituierenden Element von Produktionsschulen bilden die [...] sechs Qualitätsdimensionen den Rahmen für die Vergabe des ‚Qualitätssiegels Produktionsschule’[...]“ (ebd., 7). Die sechs Qualitätsdimensionen werden im Papier des Arbeitskreises durch einen entsprechenden Einführungstext genauer beschrieben. Des weiteren werden diese Qualitätsdimensionen anhand der Items „Spezifikationen“, „Anforderungen“ sowie „Nachweismöglichkeiten“ systematisiert und spezifiziert. Im Folgenden werden die sechs Qualitätsdimensionen mit den jeweiligen Einführungstexten vorgestellt:

I.   „Lern- und Arbeitsort bilden in Produktionsschulen eine Einheit. Sie sind betrieblich strukturiert und entlohnen ihre jungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Produktionsschulen stellen in ihren Werkstätten marktfähige Produkte her oder bieten mit ihren Arbeitsbereichen Dienstleistungen für reale Kunden an.

Produktionsschulen weisen weitgehend betriebliche Strukturen auf. Diese beinhalten marktorientierte Produktion bzw. Dienstleistungserstellung, die im Kundenauftrag ausgeführt wird. Es gibt vertragliche Regelungen mit den jungen Mitarbeitern, die u. a. Arbeits- und Urlaubszeiten sowie eine nachvollziehbare Vergütung enthalten. Die jungen Mitarbeiter werden nicht mit einer simulierten Lernumgebung konfrontiert, sondern mit realen Produktlinien und echten Kundenkontakten.

Pädagogisch und beruflich strukturierte Werkstätten und Dienstleistungsbereiche, die von verantwortlichen Werkstattpädagogen geleitet und betreut werden, sind die didaktischen Kernelemente der Produktionsschule. Lernprozesse finden über Produktionsprozesse statt. Arbeiten und Lernen soll als ganzheitliches Prinzip im realen Arbeitsalltag unter Einbeziehung von kognitiven, emotionalen, sozialen und haptischen Lernebenen gefördert werden. Dabei soll theoretisches Planen und praktisches Tun sinnvoll vereint werden.

Produktion, Anleitung, Orientierung sowie persönliche Begleitung und Beratung stellen im Idealfall eine Einheit dar (Prinzip der Ganzheitlichkeit) und bilden die Grundlage für eine wirkungsvolle Lernumgebung. Dabei gilt der Vorrang der pädagogischen Zielvorstellung vor wirtschaftlichen Interessen.

Die Arbeitsprozesse sind so gestaltet, dass sie für die jungen Mitarbeiter keine Überforderung darstellen, d. h. sie müssen nachvollziehbar und überschaubar, verständlich und leistbar sein. Die aktive Beteiligung der jungen Menschen am ‚Produktionsschulbetrieb’ ist durchgängiges Prinzip. Produktionsschulen strukturieren den Lehr- und Lernprozess vor dem Hintergrund realer Aufträge. Analog erfolgt die Curriculumgestaltung in den Werkstätten und Dienstleistungsbereichen. Dies setzt spezifische Organisations- und Umsetzungsformen für die Verbindung von Lern- und Arbeitsprozessen an Produktionsschulen voraus: Die allgemeinbildenden Inhalte müssen mit den fachpraktischen und fachtheoretischen Inhalten verbunden werden. Methodenvielfalt ist erforderlich zur Verknüpfung von Arbeits- und Lernaufgaben und zur Gestaltung von individuellen und kooperativen Lernprozessen. [...]“ (ebd., 8f.).

II.    „Im Mittelpunkt der Produktionsschulen stehen junge Menschen (von 14 bis 27 Jahren), die auf freiwilliger Basis und mit flexiblen Ein- bzw. Ausstiegen individuell gestaltete Bildungs- und Qualifizierungsangebote nutzen – mit dem Ziel der Integration in Ausbildung und Beschäftigung.

Produktionsschulen bieten betriebsnahe produktionsorientierte Angebote beruflicher Orientierung und Vorbereitung sowie Qualifizierung oder Ausbildung. Durch berufliche und soziale Integration sollen die jungen Menschen Zukunfts- und Lebensperspektive gewinnen und eigenverantwortlich handelnde ‚Persönlichkeiten’ werden. Dazu entwickeln Produktionsschulen Orientierungs-, Vorbereitungs-, Qualifizierungs- und Ausbildungsangebote. Produktionsschulen haben das Ziel, die jungen Menschen - ihre jungen Mitarbeiter - in Ausbildung, Beschäftigung oder weiterführende Bildungsangebote zu vermitteln.

Der Eintritt in die Produktionsschule ist freiwillig. Die Dauer des Aufenthalts an einer Produktionsschule ist am individuellen Kompetenzerwerb der einzelnen jungen Menschen ausgerichtet. Ein jederzeitiger Ein- und Ausstieg ist möglich.

Arbeits- und lebensweltbezogene Persönlichkeitsentwicklungen bilden den Kernpunkt von Produktionsschulen. Dabei meint Persönlichkeitsentwicklung sowohl die Vermittlung von fach- und berufsbezogenen Fertigkeiten, Kenntnissen und Methoden (z.B. Lern-, Informations-, Medienkompetenz) als auch die Förderung von personalen und sozialen (Schlüssel-) Kompetenzen, wie z.B. Eigenverantwortung und tradierte Arbeitstugenden sowie Kooperations-, Kommunikations-, Konflikt- und Zukunftsfähigkeit. Fachliche, methodische, soziale und personale Kompetenzentwicklung gehen Hand in Hand, um Persönlichkeitsstabilisierung und -entwicklung anzuregen. Die erworbenen Kompetenzen werden dokumentiert und bescheinigt.

Produktionsschulen haben das Ziel, ihre jungen Mitarbeiter in Ausbildung, Beschäftigung oder weiterführende Bildungsangebote zu vermitteln. Dazu bedarf es einer zielgerichteten (individuellen) Integrationsstrategie. Die systematische Gestaltung von Übergängen ist integrativer Bestandteil der Entwicklungs- und Förderplanung.

Ausgehend von den individuellen Kompetenzen der jungen Menschen werden Lernprozesse individuell gestaltet. Produktionsschulen bieten berufsbezogene Qualifizierungen an, um Übergänge in Ausbildung und/ oder Beschäftigung zu unterstützen. Die Produktionsschule hält ein Angebot vor, das jungen Menschen ermöglicht sich beruflich zu qualifizieren und sich persönlich und sozial weiterzuentwickeln. Die jungen Mitarbeiter erwerben (erste) berufliche Qualifikationen sowie personale und soziale Kompetenzen (Stabilisierung und Entwicklung der Persönlichkeit, Teamfähigkeit etc.), die regelmäßig dokumentiert werden. [...]“ (ebd., 10 - 15).

III. „Die Produktionsschule ist eine pädagogisch gestaltete Lerngemeinschaft junger Menschen in einer förderlichen und anregenden Lern- und Arbeitsatmosphäre.

Eine pädagogische Kernaufgabe in Produktionsschulen ist der Aufbau und das Halten einer tragfähigen Beziehung zwischen den Werkstattpädagogen und den jungen Mitarbeiter. Erziehung und Bildung findet nicht nur durch die Verschmelzung von Arbeits- und Lerntätigkeit in der Produktion statt, sondern auch im Geflecht tragfähiger Beziehungsarbeit.

Wertschätzung und Respekt sind Prinzipien des Miteinanders in der Produktionsschule. Das bedeutet u.a. auch, dass den jungen Mitarbeitern weitestgehende Mitgestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeit haben.

Die Arbeitsumgebung beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Mitarbeiter und die Aktivierung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten wesentlich. Um den jungen Mitarbeitern ein vielfältiges und qualitativ hochwertiges Angebot an fachlichen, lebensorientierten, allgemein bildenden Bildungsinhalten unterbreiten zu können, ist eine freundliche, das Lernen unterstützende Atmosphäre notwendig. Haben die jungen Menschen die Chance, individuelle Lernbedürfnisse und -neigungen herauszufinden, so sind sie auch immer besser in der Lage, die Lernprozesse selbst (mit) zu steuern.

Das Arbeiten und Lernen in den Werkstätten und Dienstleistungsbereichen bietet qualitative Alternativen zur gewohnten, schulischen Methodik, Didaktik und zur Organisation von Bildungseinrichtungen. Mit Blick auf die bisherigen Lebens- und Lernerfahrungen der jungen Menschen sollte an diesem neuen Arbeits- und Lernort tunlichst alles vermieden werden, was wie Schule wirkt oder wie Schule aussieht.

Der besondere Lern-, Arbeits- und Lebensort einer Produktionsschule entsteht aus einer Kombination von angenehmer Atmosphäre, entwicklungsfördernder und anregender Lernkultur (die Gefühle von Sicherheit, Geborgenheit und Akzeptanz vermitteln sowie angst- und repressionsfreies Lernen ermöglichen) sowie dem Betrieb von Werkstätten und Dienstleistungsbereichen (als realen Arbeits- und Lernraum). Die Lernumgebungen müssen so beschaffen und gestaltet sein, dass das ganzheitliche Lernen angeregt und gefördert wird (‚überschaubares Haus’; offene, helle und angenehm wirkende Räumlichkeiten; Mitgestaltungsmöglichkeiten durch die jungen Mitarbeiter). [...]“ (ebd., 16f.).

IV. „Produktionsschulen sind auf Dauer angelegte und durch systematische Netzwerkarbeit und Kooperationen fester Bestandteil des regionalen Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialraums.

Arbeiten und Lernen in Produktionsschulen ist in einem lokalen/ regionalen Umfeld verortet. Dafür sind tragfähige Kooperationen mit Partnern unterschiedlicher Arbeitsfelder vor Ort dringend erforderlich.

Eine Produktionsschule entwickelt Kooperationen oder Verbünde mit Betrieben zur Erweiterung der Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten der jungen Menschen. Eine Produktionsschule ist mit allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen vernetzt, um über Lernortverbünde auch Lernorte außerhalb der Produktionsschule anzusprechen und weitere Perspektiven eines „Lernens im Arbeitsprozess“ zu eröffnen.

Eine Produktionsschule hält enge Kontakte zu Einrichtungen und Instanzen der regionalen sozialen Arbeit, um lernhemmenden äußeren Einflussfaktoren wie Krisensituationen im Elternhaus, sozialem Druck in der Peergroup, Schuldenbelastungen, Sucht- oder Gewaltproblematiken nachhaltig entgegenzuwirken.

Übergänge von der Produktionsschule in andere gesellschaftliche Systeme müssen fließend gestaltet und begleitet werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die enge Kooperation mit diesen Subsystemen bzw. ihren Protagonisten (Betriebe, Politik, Vertreter der Wirtschaft, Bildungseinrichtungen, Ämtern etc.). [...]“ (ebd., 18f.).

V.    „An Produktionsschulen arbeitet ein multiprofessionell qualifiziertes Team mit Herz.

Neben den berufsfachlich methodischen Kompetenzen ist die Fähigkeit zum Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu den jungen Menschen wichtiger Erfolgsfaktor in einer Produktionsschule. Die stetige Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten in und mit der Produktionsschule selbst ist zentraler Bestandteil.

Produktionsschulen legen Wert auf Personal- und Organisationsentwicklung.

Erfahrungsaustausch und Weiterbildungen sind für alle Pädagogen zwingend notwendig.

Produktionsschulen zeichnen sich durch eine systematische Qualitätssicherung aus, beschäftigen ausgesuchte Fachkräfte und streben eine nachhaltige Personalentwicklung an. [...]“ (ebd., 20f.).

VI. „Jede Produktionsschule pflegt ein Qualitätsmanagement oder Selbstevaluationssystem.

Das Pflegen eines Qualitätsmanagement bzw. Selbstevaluationssystems in der Produktionsschule sichert die Steuerung und kontinuierliche Verbesserung der produktionsschuleigenen Prozesse, unabhängig davon, ob ein standardisiertes (beispielsweise DIN ISO 9000, LQW) oder selbstentwickeltes Verfahren angewendet wird. [...]“ (ebd., 21).

3.3 Die Entwicklung des Zertifizierungsverfahrens

Auf der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes Produktionsschulen 2010 in Karben wurden nicht nur die oben genannten Qualitätsstandards verabschiedet, sondern auch die nächsten Arbeitsschritte eingeleitet. Der Arbeitskreis „Zertifizierung“ wurde gegründet und beauftragt, bis zur Mitgliederversammlung 2011 auf der Basis des folgenden Verfahrensvorschlages das Zertifizierungsverfahren (zur Verleihung des Qualitätssiegels) auszuarbeiten.

  1. Produktionsschule bekundet Interesse am Entwicklungs- und Zertifizierungsverfahren

  2. Einführungsworkshop mit dem gesamten Team einer Produktionsschule und dem Zertifizierungsteam (bestehend aus externen Produktionsschulexperten): Vorstellung des Verfahrens

  3. im Produktionsschulteam: interne Diskussion und Verständigung innerhalb der Produktionsschule anhand der sechs Qualitätsdimensionen

  4. durch das Produktionsschulteam: Dokumentation dieser Prozesse in einem Selbstreport der Produktionsschule

  5. externe Begutachtung des Selbstreports

  6. eintägige Visitation (Vor-Ort-Besuch des Zertifizierungsteams)
    - externe Evaluation anhand der sechs Qualitätsdimensionen und
    - Diskussion des externen Gutachtens mit dem Produktionsschulteam

  7. Abschlussworkshop (Produktionsschulteam und Zertifizierungsteam) mit Aufstellen strategischer Entwicklungsziele

  8. Vergabe des Qualitätssiegels des Bundesverbandes (bestimmte Mindestpunktzahl in allen sechs Qualitätsdimensionen müssen erreicht werden)

Für das komplette Verfahren wurde ein Zeitraum von ½ bis ¾ Jahre veranschlagt. Einig war man sich auch, das Qualitätssiegel des Bundesverbandes für drei Jahre zu vergeben; danach müsste sich die Produktionsschule erneut dem Entwicklungs- und Zertifizierungsverfahren stellen.

Der Arbeitskreis „Zertifizierung“ nahm seine Arbeit im November 2010 auf und setzte sich zunächst mit der Frage auseinander, wie den die sechs spezifizierten Qualitätsdimensionen bewertet werden können: Welche Indikatoren gibt es für die Erfüllung der formulierten Anforderungen und wie können sie sichtbar gemacht werden? Auch die Frage des Bewertungssystem (Schulnoten, Farbskala, Ampel, +/- etc.) wurde parallel dazu bearbeitet.

Der Arbeitskreis einigte sich darauf, dass zunächst Mindeststandards für die einzelnen Spezifikationen der sechs Qualitätsdimensionen formuliert werden sollten. Damit war dann auch gleichzeitig die Frage des Bewertungssystems geklärt, das lediglich zwischen „Mindeststandard erfüllt“ oder „Mindeststandard nicht erfüllt“ differenziert.

Einig war man sich auch darüber, dass für die „Sichtbarmachung“ der Mindeststandards besonders in Frage kommen:

  • Konzept der Produktionsschule, das die Grundlage für die Zertifizierung ist,
  • Gespräch(e) des Produktionsschulteams mit den Auditoren,
  • Dokumente, die in der Produktionsschule vorliegen, aushängen oder verwendet werden,
  • - Besichtigung/Begehung der Produktionsschule durch die Auditoren.

Aktuell (Frühjahr 2011) hat der Arbeitskreis Leitfragen, abgeleitet aus den sechs Qualitätsdimensionen, für das einzureichende Konzept formuliert. Damit soll erreicht werden, dass die Produktionsschulen, die an dem Qualitätssiegel des Bundesverbandes interessiert sind, möglichst effektiv und zielgerichtet vorgehen können.

Noch anstehende Aufgabenstellungen für den Arbeitskreis sind die Entwicklung von Leitlinien für Auditorenschulung und -rekrutierung, die Entwicklung und Erprobung eines entsprechenden Curriculums sowie die Kostenkalkulation und Erprobung des gesamten Zertifizierungsverfahrens.



[1]     Die maskuline Form wird auch dort verwendet, wo die Bezeichnung beide Geschlechter einschließt. Dies stellt keine Bewertung oder Diskriminierung dar, sondern dient der besseren Lesbarkeit.


Zitieren dieses Beitrages

MERTENS, M./ RESCHKE, B. (2011): „Wo Produktionsschule draufsteht, soll auch Produktionsschule drin sein“ - Das Qualitätssiegel des Bundesverbandes Produktionsschulen e.V. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 04, hrsg. v. GENTNER, C., 1-10. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws04/mertens_reschke_ws04-ht2011.pdf (26-09-2011).



Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

http://www.hochschultage-2011.de/