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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT11 - Hauswirtschaft
Herausgeberinnen: Irmhild Kettschau & Kathrin Gemballa

Titel:
Übergänge in der hauswirtschaftlichen Berufsbildung gestalten - Perspektiven auf die individuelle Förderung und die Systemgestaltung in der Domäne Hauswirtschaft


Pädagogische Diagnostik – Potentiale entdecken und fördern

Beitrag von Katrin VOGT (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, München)

Abstract

Die Ergebnisse nationaler und internationaler Vergleichsstudien wie PISA, IGLU und TIMSS führten dazu, dass individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern und die damit verbundene Diagnosekompetenz auf Seiten der Lehrkraft in den letzten zehn Jahren verstärkt Thema geworden sind. Pädagogisches Diagnostizieren ist inhaltlich klar abzugrenzen von psychologischem Diagnostizieren, Leistungsdiagnostik und Evaluation. Sie bedient sich jedoch deren Methoden. Im Zentrum steht eine lernprozessbegleitende, im Schulalltag eingebettete Diagnose, die den jeweiligen Lernstand, den Lernfortschritt, individuelle Lernprobleme und Lernpotentiale zu erkennen hilft. Ziel und Funktion Pädagogischen Diagnostizierens ist vorrangig die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern beispielsweise auf der Ebene des Leistungs- und Sozialverhaltens und die Förderung der Selbsteinschätzung eigener Stärken und Schwächen. Ferner können Selektions- und Auswahlentscheidungen auf Basis der im Schulalltag erhobenen Daten erfolgen. Dieser Beitrag stellt den diagnostischen Prozess, die Funktionen Pädagogischen Diagnostizierens und die verwendeten Methoden überblicksartig dar.

1 Pädagogische Diagnostik: Hinführung

Die OECD fasst die Anforderungen an das Lernen in der heutigen Gesellschaft wie folgt zusammen: „Students cannot learn in school everything they will need to know in adult life. What they must aquire is the prerequisites for successful learning in the future“. Internationale und nationale Vergleichsstudien wie PISA, TIMSS oder IGLU sollen diese Fähigkeiten auf Schülerseite überprüfen. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass es genau an diesen oben genannten Kompetenzen mangelt, also an der individuellen Fähigkeit, erworbenes Wissen und vorhandene Fähigkeiten auf neue Kontexte und Anforderungen zu übertragen und nutzbar zu machen.

Daher besteht die Forderung an Schule, ebenso wie an Hochschulen und die Berufsausbildung, junge Menschen so zu qualifizieren, dass sie in der Lage und willens sind, sich selbstständig und kontinuierlich neues Wissen anzueignen und dieses verantwortungsvoll, wertgebunden und reflektiert anzuwenden. Dazu gehört auch die Ausstattung mit so genannten „Schlüsselquali­fikationen“, also Sozial-, Selbst- und Methodenkompetenzen, die in wechselnden Szenarien einsetzbar sind.

Mit der Forderung nach eigenständigem Lernen geht aber auch ein verändertes pädagogisches Grundverständnis einher: die Fähigkeiten und Fertigkeiten des einzelnen Lerners werden in den Mittelpunkt gerückt, das weitere Lernen muss hieran anknüpfen. Unterricht, der sich an eine Schülerschaft mit heterogenen kognitiven, motivationalen und umweltbedingten Lernvoraussetzungen richtet, ist daher individuell und differenziert zu gestalten. Individueller Förderung muss allerdings eine Diagnose der Lernvoraussetzungen des Einzelnen vorangehen: die Pädagogische Diagnose. 

2 Pädagogische Diagnostik: Was ist das?

Laut INGENKAMP und LISSMANN (2008, 13) umfasst pädagogische Diagnostik „alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren. Zur Pädagogischen Diagnostik gehören ferner die diagnostischen Tätigkeiten, die die Zuweisung zu Lerngruppen oder zu individuellen Förderungsprogrammen ermöglichen sowie die mehr gesellschaftlich verankerten Aufgaben der Steuerung des Bildungsnachwuchses oder der Einteilung von Qualifikationen zum Ziel haben“. Aus dieser Definition lassen sich einige Besonderheiten Pädagogischer Diagnostik in Abgrenzung zur psychologischen Diagnostik, deren Aufgabe vorzugsweise in der Testung zur Klassifizierung und Typologisierung menschlichen Verhaltens besteht, ableiten.

HORSTKEMPER (2006, 56-59) nennt vier Gründe für die Unverzichtbarkeit Pädagogischer Diagnostik: (1) Passung: Der Unterricht ist dann erfolgreich, wenn er auf die Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler abgestimmt ist. (2) Prävention: Lern- und entwicklungsgefährdete Kinder müssen erkannt werden. (3) Integrative Begabtenförderung: Nur wenn Talente und Begabungen erkannt werden, können diese gefördert werden. (4) Intervention: Nur wenn Probleme erkannt werden, kann Förderung oder Kompensation stattfinden.

Wichtigste Besonderheit der Pädagogischen Diagnostik ist daher, dass sie in den Schulalltag eingebettet und damit Aufgabe der Lehrkraft ist. Es ist hierbei nicht zielführend, nur die  Zusatzqualifikationen einzelner Lehrkräfte, wie beispielsweise Beratungslehrer oder Schulpsychologen, in den Blick zu nehmen. Im Folgenden geht es also um die Diagnostik, die jede Lehrkraft immer wieder im Unterricht anwenden kann.

Eine Vielzahl diagnostischer Entscheidungen wird handlungsbegleitend im Zuge der Unterrichtsgestaltung getroffen, rückgemeldet und mit weiteren Lern- und Übungsaufträgen versehen. Somit ist die diagnostische Kompetenz der Lehrkraft Basis für pädagogisches Handeln und benötigt Zeit.

Pädagogische Diagnostik ist mehr als Leistungsbeurteilung. Die Erziehungssituation, die Motivation und Emotionen der Schülerinnen und Schüler werden ebenso wie die kognitiven, methodischen und sensorischen Fähigkeiten mitbedacht. Diese Dimensionen sind zuerst analytisch zu trennen. Ihre Wirkungen und Wechselwirkungen müssen dann ermittelt und hinterfragt werden. Dabei ist Pädagogische Diagnostik nach vorne gerichtet. „Häufig nehmen Lehrer nur wahr, was Schüler nicht leisten. Der Blick richtet sich auf Fehler und Hemmnisse im Lernprozess. Dabei bleibt verborgen, welche Qualitäten in den Schülerleistungen stecken. Ein dialogisch angelegter Unterricht fördert diese zutage und stärkt die Kompetenzen aller Schüler“ (RUF/ WINTER 2006, 56-59).

3 Der diagnostische Prozess: Standardisierung und Vorgehen

Pädagogisches Diagnostizieren schließt an die methodischen Regeln psychologischer Diagnose und damit an einen bestimmten Prozesskreislauf (Abb.1) an. Beginnend bei der Zieldefinition führt er über Festlegung von Indikatoren bis hin zur eigentlichen Durchführung  der Diagnose und Ergebnisinterpretation. Somit erfolgt jede Pädagogische Diagnose systematisch und methodisch kontrolliert. Nachfolgend werden die einzelnen Schritte beschrieben.

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Abb. 1: Diagnosekreislauf

3.1 Ziel der Diagnose festlegen

Pädagogische Diagnostik dient der Lern- und Entwicklungsförderung der Schülerinnen und Schüler. Dabei stehen unterschiedliche Zugänge offen. Es wird zwischen Förder- bzw. Prozessdiagnostik in pädagogisch-didaktischer Funktion und Status- bzw. Selektionsdiagnostik zur Steuerung der weiteren schulischen Laufbahn unterschieden. Je nachdem, welches Ziel verfolgt wird, stehen unterschiedliche Dimensionen (beispielsweise Schülerverhalten oder Umweltbedingungen) und Faktoren (beispielsweise Lernmotivation, Stärken-/Schwächenanalyse, Lernstandsanalysen) zur Diagnose an.

Hierbei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass unterschiedliche Ziele unterschiedliche Bezugsnormen (BASEL/ RÜTZEL 2005, 33-38) voraussetzen. Während Selektionsdiagnostik an den Zugangsvoraussetzungen zu einer bestimmten Maßnahme bzw. einer Standardbezugsnorm orientiert ist, beziehen sich Förder- bzw. Prozessdiagnostik eher auf individuelle Bezugsnormen. Hieran wird beispielsweise deutlich, inwieweit sich das Individuum im Vergleich zu seiner eigenen Leistung zu einem früheren Zeitpunkt weiterentwickelt hat. Oder sie richtet sich nach Sozialnormen und erklärt folglich, inwieweit der Lernstand eines Individuums der der Gesamtklasse entspricht. Dies hätte unmittelbaren Einfluss auf Fragen der differenzierten Unterrichtsgestaltung und der Auswahl individueller Fördermaßnahmen.

3.2 Kompetenzbeschreibung aus Kompetenzmodellen oder Eignungskonzepten auswählen und Indikatoren festlegen

Wichtigste Basis der Pädagogischen Diagnostik ist das Kompetenzparadigma. Klassischerweise wird zwischen Sozial-, Personal-, Methoden- und Fachkompetenz unterschieden. Auf Ebene der Fachkompetenz werden Strukturmodelle und teilweise Standards bereitgestellt, die das Fach in Kompetenzbereiche gliedern und bisweilen eine Standardnorm bereitstellen, an der Schülerverhalten gemessen werden kann. Internationale Vergleichsstudien bedienen sich dieser Modelle, wonach durch Handlung bzw. Leistungsverhalten auf Kompetenz rückgeschlossen werden kann. Nach WEINERT sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (2001, 27f.).  

Weinerts Definition bildet demnach gleichermaßen die Grundlange sowohl für die fachlich orientierten Kompetenzmodelle als auch für Kompetenzmodelle, welche die beim Individuum vorzufindenden Lernvoraussetzungen im Sinne verfügbarer Personal-, Sozial- oder Methodenkenntnisse in den Blick nehmen. Auch hier kann von der Handlung auf die Kompetenz geschlossen werden.

Es gilt, diese Kompetenzen zu operationalisieren, also messbar zu machen. Denn nicht die Kompetenz selbst wird gemessen, sondern lediglich gezeigtes Verhalten, durch das auf die Kompetenz rückgeschlossen werden kann. Hierzu muss zunächst beantwortet werden, zu welchem Verhalten eine Kompetenz führen sollte. Indikatoren, an denen sich das fokussierte Verhalten zeigen soll, bedürfen der Festlegung. Dieses Verhalten wird anschließend gemessen. Dies soll am Beispiel der Kommunikationskompetenz verdeutlicht werden. Im Rahmen einer Gruppendiskussion könnte sie beispielsweise in Fähigkeiten wie aktivem Zuhören, respektvollem Umgang mit den Gesprächspartnern, angemessenem zielgruppenorientierten Wortschatz oder klarer Argumentationsstruktur überprüft werden.  

3.3 Untersuchungsmethode bzw. -instrument wählen und Diagnose durchführen

Wie bereits erwähnt, unterscheidet sich die Pädagogische Diagnostik grundlegend von der psychologischen Zugangsweise, in der sich Experten gezielt in dafür geschaffenen Situationen ohne Zeitdruck einem Klienten widmen. Dabei bedienen sie sich speziellen Instrumenten. Es handelt sich hierbei in der Regel um Tests. Es wird dabei meist nur ein kleiner Ausschnitt genauer untersucht. So wird beispielsweise eine Untersuchung von Lern- oder Sprachentwicklungsstörungen vorgenommen, die sich in der Vergangenheit angedeutet haben. Pädagogische Diagnostik dagegen ist in den Schulalltag integriert, in dem die Lehrkraft selbst Teil der Situation ist. Dies erfordert entsprechende Methoden und Instrumente. Aus Gründen der Verlässlichkeit haben ebenso wie in psychologischen Diagnoseverfahren die klassischen Gütekriterien ihre Gültigkeit. In der Regel interessiert hauptsächlich das in der Lern- bzw. Schulsituation gezeigte Schülerverhalten, was eine Diagnose direkt im Schul- bzw. Unterrichtsgeschehen nötig macht. Hierfür sei auf zwei in diesem Zusammenhang wichtige Gütekriterien verwiesen, nämlich das der Nützlichkeit für die Diagnose und das der Ökonomie, also der ressourcenschonenden Einsetzbarkeit.

Neben Elterngesprächen, Portfolio und Lerntagebüchern, welche gezielt durch Hilfen zur Schülerselbsteinschätzung ergänzt werden können, ist die Schülerbeobachtung die bevorzugte Methode und bedient sich so genannter Beobachtungsinstrumente. Da es sich bei dieser Methode um eine teilnehmende Beobachtung handelt (die Lehrperson ist Teil der Beobachtungssituation, in der sie zeitgleich handelt) und sie parallel zur Unterrichtsdurchführung Aufmerksamkeit und Zeit bei der Lehrkraft in Anspruch nimmt, sollte sie sich aufgrund der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität auf ein realisierbares Maß beschränken. Folgedessen sollten nur wenige Personen, womöglich nur ein einziges Individuum, zu einem definierten Zeitpunkt diagnostiziert werden. Zusätzlich sollte auch nicht das umfassende Verhalten, sondern es sollten nur Situations- und Verhaltensausschnitte im Fokus stehen, für welche klare Indikatoren operationalisiert wurden. Es ist von Vorteil, nur eine einstellige Zahl von Indikatoren standardisiert zu beobachten, als einer Fülle von Verhaltensweisen in unsystematischer Art nachgehen zu wollen. Dieses Vorgehen hat Auswirkungen auf die Validität der Beobachtung. Hiermit ist gemeint, inwieweit es gelingt, tatsächlich das zu beobachten, was auch beobachtet werden sollte.

Ein weiteres Gütekriterium ist die Reliabilität, also der Umstand, wie genau es gelingt, das zu beobachten, was beobachtet werden soll. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit ein Beobachtungsprotokoll frei zu führen. Ein standardisiertes Verhalten ist dennoch vorzuziehen, da es die Genauigkeit der Beobachtung beeinflusst. Dabei kann einerseits eine einfache ja/nein-Skala eingesetzt werden, mit welcher Rückschlüsse gezogen werden können, ob ein spezifisches Verhalten gezeigt wurde oder nicht. Andererseits kommen detailliertere Häufigkeits- bzw. Intensitätsskalen zum Einsatz, die eine stärkere abgestufte Einschätzung ermöglichen. Sozialwissenschaftliche Lehrbücher wie beispielsweise BORTZ und DÖRING (2006) informieren über die Verwendung mehrstufiger Skalen mit Mittel (sehr häufig – häufig – gelegentlich – selten – nie) oder ohne (sehr selten – selten – häufig – sehr häufig). Zahlreiche Beispiele zu konkreten Beobachtungsinstrumenten finden sich beispielsweise in „Pädagogisch Diagnostizieren im Schulalltag“ (ISB 2009).

Nach einer Verhaltensbeobachtung sollte der Aussagegehalt dieser reflektiert werden, um das letzte, aber nichts desto trotz wichtige Gütekriterium, nämlich das der Objektivität, abzuschätzen. Es bildet den Umstand ab, inwieweit das Beobachtete vom Beobachter und der Situation unabhängig ist. Typische Beobachtungsfehler (BÜHNER 2004) sind auszuschließen. Exemplarisch sei auf drei dieser Fehler hingewiesen:

  • Milde-Effekt bzw. Härte-Effekt: Der Beobachtete wird systematisch nur positiv oder nur negativ eingeschätzt. Dies kann aufgrund eines vorher gezeigten Verhaltens geschehen, das der Beobachter entweder positiv oder negativ empfand und das nun den gesamten weiteren Beobachtungsprozess beeinflusst (Primacy-Effekt). Oder es tritt eine übermäßige Milde bzw. Härte auf, weil der Beobachtete Verhaltensweisen zeigt bzw. nicht zeigt, die der Beobachter bei sich selbst als sehr positiv empfindet (Rater-Ratee-Interaktion).  
  • Zentrale Tendenz: Der Beobachter kann sich nicht entscheiden, beobachtetes Verhalten positiv oder negativ zu bewerten und beurteilt daher jede Beobachtung als durchschnittlich.
  • Hawthorne-Effekt: Es ist immer damit zu rechnen, dass Schülerinnen und Schüler in einer Beobachtungssituation allein aufgrund der Tatsache, dass sie wissen, dass sie beobachtet werden, ein abweichendes Verhalten zeigen und sich stärker bemühen bzw. das Verhalten zeigen, von dem sie erwarten, dass es die Lehrkraft sehen will.

Wer beobachtet, ist gehalten, sich schon vor der Beobachtung derlei Fehler zu vergegenwärtigen. Nur wer eine kritische Reflexion nach der Beobachtung durchführt (eventuell ist man als Beobachter selbst müde und angespannt oder die situative Umgebung ist in unüblichem Maße belastet oder verändert) oder eventuell auch Kollegen, die die Klasse an demselben Tag erlebt haben, miteinbezieht, kann die objektive Güte des Ergebnisses abwägen.

3.4 Ergebnisse beurteilen bzw. interpretieren

Auf die Trennung von beobachtetem Verhalten und Kompetenz wurde bereits verwiesen. Im Anschluss an eine Beobachtung bzw. bei Vorliegen von Ergebnissen eines Elterngesprächs, Lerntagebuchs, einer Selbstbeobachtung oder von Vergleichsarbeiten schließt sich eine Interpretation der Ergebnisse und ein Rückschluss auf das Vorhandensein spezifischer Kompetenzen an. Dieser Schritt dient der Klärung, ob beispielsweise ein Übertritt in eine weiterführende Schule oder die Überweisung in spezielle Fördereinrichtungen in Folge bestimmter Leistungsergebnisse gerechtfertigt scheint. Eine Diagnose durch die Lehrkraft kann den zuständigen Schulpsychologen oder Beratungslehrern wichtige Hinweise liefern. Hieran kann sich exemplarisch eine Zuweisung in spezifische Förder- und Präventions-, Kompensations- oder Interventionsmaßnahmen anschließen.

Weiterhin muss die Frage beantwortet werden, ob es sich um eine generelle Disposition im Sinne einer überdauernden Eigenschaft auf Seiten des Schülers bzw. der Schülerin handelt, oder ob das Ergebnis nur von der speziellen Situation abhängig war, in der die Leistung gemessen oder das Verhalten beobachtet wurde. Hierbei ist wiederum zu trennen, ob das gesamte Spektrum dieser und ähnlicher Situationen betroffen ist, oder ob die Leistung bzw. das Verhalten einmalig war. Erst auf dieser Basis sollten weitreichende Entscheidungen getroffen werden.

4 Fazit

Eine individuelle Förderung sollte nicht ohne vorherige Diagnose erfolgen. Tabelle 1 fasst in einer Art Checkliste die wichtigsten Schritte bei der Planung zusammen.

Im Unterricht wird oft deutlich, was Schülerinnen und Schüler nicht leisten. Dabei sollte die Wahrnehmung von Fortschritten und Lernpotenzialen im Vordergrund stehen. Diagnosen sollen zeigen, wie es in Zukunft besser werden kann – und nicht, wer für die Vergangenheit die Schuld trägt. Pädagogisches Diagnostizieren eröffnet einen unverstellten, objektiven Blick auf die Schülerinnen und Schüler. Das bedeutet aber auch, dass Pädagogisches Diagnostizieren den selbstreflexiven Prozess der Lehrkräfte anregt und die Bereitschaft, sich verstärkt mit der Qualität ihres Unterrichts auseinanderzusetzen, da diese sehr eng mit dem Lernerfolg der Schüler zusammenhängt.

Wer Unterricht individualisieren will, muss Lernende für ihre Eigenverantwortung für das Lernen sensibilisieren. Das bedeutet, dass das Diagnoseergebnis an die Lernenden zurückgespiegelt und um deren eigene Selbsteinschätzung ergänzt werden muss. Ebenso ist es eine Hilfe, Kollegen den eigenen Unterricht beobachten zu lassen, um ein objektiveres Bild vom realen Geschehen und eigenen Tun zu erhalten. Pädagogisches Diagnostizieren setzt somit einen dialogischen und kooperativen Prozess in Gang, bei dem die Verantwortung nicht allein auf den Schultern der Lehrkraft liegt.

Tabelle 1:  Pädagogisch Diagnostizieren: Checkliste für den Einstieg (ISB 2009).

Was soll diagnostiziert werden?

 

  • individueller Lernstand, individuelle Stärken und Schwächen, fachliche/überfachliche Kompetenzen

 

  • Lern- und Arbeitsweise

 

  • Lernwege, Denkweisen und Vorstellungen der Schüler (z. B. bei der Aufgabenbearbeitung)

 

  • Kompetenzentwicklung

Wann und wie oft wird diagnostiziert?

 

  • in jeder Unterrichtsstunde

 

  • punktuell mehrmals im Jahr

 

  • in bestimmten Kontexten bzw. Situationen (z. B. bei Stillarbeit)

 

  • an Schlüsselstellen des Fachunterrichts

 

  • bei bestimmten Schülern (z. B. vorrückungsgefährdeten) oder bei allen Schülern einer Klasse

Unter welchen Rahmenbedingungen findet Diagnostik statt?

 

 

  • zeitliche Ressourcen zur Erhebung, zur Auswertung und zur weiteren Bearbeitung

 

  • Kommunikationswege im Kollegium, zu den Eltern, zu den Schülern

 

  • Teamstrukturen im Kollegium

 

  • vorhandene diagnostische Kompetenzen und Erfahrungen an der Schule

 

  • Entscheidung über günstigen Zeitpunkt

Welche und wie viele Informationen sind erforderlich?

 

  • Informationen aus dem fachlichen bzw. überfachlichen Bereich

 

  • Einbeziehung weiterer „Beobachter“: Schüler selbst, Eltern, Kollegen

Welche Hilfsmittel oder Verfahren sind vorhanden?

 

 

  • Beobachtungen anhand vorgegebener Beobachtungshilfen

 

  • standardisierte Verfahren/Tests

 

  • kollegial abgestimmte Vorgehensweisen (z. B. Informationsweitergabe bei Klassenwechsel)

Welche Bezugsnormen werden angewendet?

 

  • individuelle Bezugsnorm: Feststellung von Lernfortschritten, Lernschwankungen des einzelnen Schülers

 

  • soziale Bezugsnorm: Vergleich zwischen einzelnen Schülern und Schülergruppen

 

  • sachliche Bezugsnorm: Vergleich mit Standards, Lernzielen etc.

 

Wie sollen Daten verantwortungsvoll genutzt werden?

 

 

  • Bündelung der Informationen beim Klassenlehrer

 

  • transparente Information der Kollegen, der Eltern und Schüler usw.

 

  • sensibler Umgang mit Daten in der Beratung, insbesondere Berücksichtigung der Verschwiegenheitspflicht

 

  • Auswahl praktikabler Dokumentationsformen (Verfügbarkeit, Aufbewahrung etc.)

 

 

Literatur

BASEL, D./ RÜTZEL, J. (2005): Die pädagogische Diagnostik in der Berufsausbildung. In: Berufsbildung, 94/95, 33-38.

BORTZ, J./ DÖRING, N. (2006): Forschungsmethoden und Evaluation. Berlin.

BÜHNER, M. (2004): Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. München.

INGENKAMP, K./ LISSMANN, U. (2008): Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik. Weinheim.

ISB (2009): Pädagogisch Diagnostizieren im Schulalltag. Troisdorf.

HORSTKEMPER, M. (2006): Fördern heißt diagnostizieren. In: BECKER, G./ HORSTKEMPER, M./ RISSE, E./ STÄUDEL, L./ WERNING, R./ WINTER, F. (Hrsg.): Diagnostizieren und Fördern. Stärken entdecken – können entwickeln. Seelze, 56-59.

RUF, U./ WINTER, F. (2006): Qualität finden. Der Blick auf die Defizite hilft nicht weiter. In: BECKER, G./ HORSTKEMPER, M./ RISSE, E./ STÄUDEL, L./ WERNING, R./ WINTER, F. (Hrsg.): Diagnostizieren und Fördern. Stärken entdecken – können entwickeln. Seelze, 56-59.

WEINERT, F.(2001): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim und Basel.


Zitieren dieses Beitrages

VOGT, K. (2011): Pädagogische Diagnostik – Potentiale entdecken und fördern. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 11, hrsg. v. KETTSCHAU, I./ GEMBALLA, K., 1-9. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft11/vogt_ft11-ht2011.pdf (26-09-2011).



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