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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT02 - Arbeitslehre
Herausgeberinnen: Marianne Friese & Ilka Benner

Titel:
Arbeitslehre. Neue Anforderungen an berufsorientierte Kompetenzentwicklung und Professionalisierung des pädagogischen Personals


Schulische Handlungsfelder am Übergang Schule - Beruf: Die Produktionsschule „Am Abendstern“ – ein Projekt der Theodor-Litt-Schule Gießen

Beitrag von Astrid EIBELSHÄUSER & Till MÜHLHAUS (Theodor-Litt-Schule Gießen)

Abstract

Die Produktionsschule „Am Abendstern“ ist ein außerschulischer Lernort der Theodor-Litt-Schule Gießen, an dem Bildung und Qualifizierung entlang von Produktions- und Geschäftsprozessen organisiert sind. Bildung und Qualifizierung meint dabei die Verknüpfung von allgemeiner Bildung, fachlicher Qualifizierung, Entwicklung personaler und sozialer Kompetenzen und berufsorientierender und berufsvorbereitender Elemente, um die Chancen für die betroffenen Jugendlichen im Übergang von der Schule in den Beruf auf Ausbildung und existenzsichernde Erwerbsarbeit zu verbessern. Die produktionsorientierte Didaktik soll dabei auch die Jugendlichen zur Auseinandersetzung mit theoretischen Zusammenhängen und Inhalten neu motivieren. Im Rahmen dieses Artikels wird das Konzept und die Struktur der Produktionsschule "Am Abendstern" als schulisches Angebot innerhalb der Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung vorgestellt. Ausgehend von der Beschreibung der Zielgruppe wird die Frage bearbeitet, welche Impulse im Hinblick auf eine berufliche Orientierung in der Produktionsschule gesetzt werden, um Jugendlichen in der Berufsvorbereitung einen erfolgreichen Übergang in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang gilt es auch der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Arbeit in einer Produktionsschule von der Arbeit in der schulischen Struktur der Berufsvorbereitung unterscheidet und welche Anforderungen auch an die Lehrerrolle mit der Arbeit in einer Produktionsschule verbunden sind.

1 Vorüberlegungen

Die Berufsvorbereitung an Beruflichen Schulen blickt auf eine lange Tradition zurück. Berufsvorbereitungsjahr, verschiedene Förderlehrgänge, besondere Bildungsgänge und aktuell Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung kennzeichnen in Hessen die unterschiedlichen Etappen der schulischen Berufsvorbereitung. Dabei ging es jeweils darum, dass Jugendliche, die nach der allgemein bildenden Schule nicht in Ausbildung einmünden konnten, durch berufsvorbereitende Bildungsgänge an Beruflichen Schulen ihre Chance auf Ausbildung verbessern. Im Rahmen dieser Bildungsgänge wurden curriculare und didaktisch-methodische Konzepte entwickelt, bei denen fächerübergreifende und handlungsorientierte Prinzipien im Vordergrund standen. An vielen Beruflichen Schulen ist es gelungen, Unterricht so auszurichten, dass er leistungsheterogenen Lerngruppen, die neue Motivation in erster Linie über berufsbezogene Inhalte entwickeln können, gerecht wird. Viele Untersuchungen haben allerdings auch eindrucksvoll aufgezeigt, dass die formulierten Zielsetzungen nur teilweise realisiert werden konnten und so der schulischen Berufsvorbereitung das Image der so genannten Warteschleife anhaftete.

Vor diesem Hintergrund stellte sich an der Theodor-Litt-Schule Gießen, aber auch an anderen Beruflichen Schulen bereits in den neunziger Jahren die Frage, wie die schulische Berufsvorbereitung konzeptionell weiterentwickelt und ihren Zielsetzungen gerecht werden kann, nämlich Jugendliche so zu bilden und zu qualifizieren, dass sie anschließend erfolgreich eine Ausbildung absolvieren können.

Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die These, dass dies über berufsbezogene, an betriebliche Strukturen angelehnte Tätigkeiten gelingen kann. Die Produktionsschulen etwa in Dänemark oder bereits bestehende Produktionsschulen in Hessen wie die Neumühle im Lahn-Dill-Kreis dienten hierfür als überzeugende Beispiele. Daraus folgte unseres Erachtens, dass Schule didaktisch und methodisch so ausgerichtet sein muss, dass Lernen und Arbeiten angelehnt an betriebsnahen Strukturen erfolgen kann.

Gleichzeitig war für uns handlungsleitend, dass das öffentliche Bildungssystem auch eine Verantwortung für Jugendliche hat, die brüchige Bildungsbiographien und vielfältige Misserfolgserlebnisse aufweisen. Hier gilt es, mit geeigneten Konzepten Jugendliche neu zu motivieren und sie in die Lage zu versetzen, ihre Schullaufbahn erfolgreich abzuschließen.

Aufbauend auf den Erfahrungen, die in der schulischen Berufsvorbereitung erworben wurden, haben wir uns intensiv mit produktionsorientierten Unterrichtskonzepten auseinander gesetzt. Sie bieten die Möglichkeit, schulisches Lernen entlang von Produktions- und Geschäftsprozessen zu organisieren. Lernsituationen werden nicht künstlich hergestellt, sondern sie sind real vorhanden, in dem der Lerngegenstand ein realer ist: entweder, indem reale Kundenaufträge vorhanden sind oder indem das Produkt in einem realen Verwendungszusammenhang angesiedelt ist. Um dies in geeigneter Weise umzusetzen, entwickelte die Theodor-Litt-Schule Gießen im Rahmen der Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung seit 2005 eine Produktionsschule.

Das allgemeine Ziel der Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung ist vor dem Hintergrund des Übergangs Schule-Beruf die Verbesserung der Ausbildungsreife und die Einmündung in Ausbildung. Hierzu sind neben allgemein bildenden und berufsbezogenen Kenntnissen und Fähigkeiten gerade auch soziale und personale Kompetenzen notwendig, auf deren Entwicklung in produktionsorientierten Unterrichtskonzepten in besonderer Weise Wert gelegt wird.

2 Das Projekt Produktionsschule „Am Abendstern“ – Schüler bauen ihre Schule

Die Produktionsschule „Am Abendstern“ existiert seit Januar 2005 und hat zum Ziel, Jugendliche und junge Erwachsene auf Ausbildung und Beruf vorzubereiten. Die Jugendlichen lernen in der Produktionsschule unterschiedliche Gewerke kennen, erwerben berufsbezogene Kompetenzen, können ihre Fähigkeiten und Interessen praktisch erfahren und haben die Möglichkeit, fehlende Schulabschlüsse (Hauptschul- und Realschulabschluss) zu erwerben.

Es geht also um Lernen und Qualifizieren in produktionsorientierten Prozessen,

  • die betriebsnah konzipiert sind,
  • allgemeine und berufliche Bildung integrieren und
  • Produktions- und Geschäftsprozesse zum Ausgangspunkt ihrer didaktischen und methodischen Konzepte haben.

 

Der Förderverein Produktionsschule der Theodor-Litt-Schule e.V. hat das Gebäude in der Gemeinde Heuchelheim (ca. 5 km von der Stammschule entfernt) mit Hilfe des Schulträgers erworben. In der ersten Phase wurde das Gebäude so umgebaut, dass es den schulischen Anforderungen entspricht. Alle Umbauarbeiten erfolgten im Rahmen von Unterricht und wurden von den Schülerinnen und Schülern durchgeführt. Hierbei fanden Qualifizierungsprozesse in den Bereichen Bautechnik, Maler- und Verputzarbeiten, Anlagentechnik, Bodenverlegearbeiten und Elektrotechnik statt. Arbeiten und Lernen erfolgt so in realen Situationen und die Schülerinnen und Schüler erfahren dabei, dass ihre Arbeit einen unmittelbaren Gebrauchswert und damit einen gesellschaftlichen Wert hat, denn das Gebäude soll längerfristig als Schule genutzt werden. Im Mittelpunkt des Ansatzes steht also die Steigerung des Selbstvertrauens und der Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler durch die Herstellung sinnvoller, von der Gesellschaft benötigter Produkte.

Insgesamt geht es auch darum, Lernen zu lernen und lebenspraktische, -orientierende und -strukturierende Erfahrungen zu ermöglichen. Die Jugendlichen sollen

  • eigene Stärken und Interessen kennen lernen,
  • schulische Defizite aufholen,
  • ggf. einen Schulabschluss erwerben,
  • eine stabile Ausbildungsorientierung ausbilden,
  • Teilbereiche beruflicher Grundbildung erwerben,
  • u. U. Alternativen zur Ausbildung entwickeln,
  • eine eigene Identität im Kontext von ernsthafter und sinnstiftender Arbeit entwickeln.

3 Die Zielgruppen des Projektes

Zielgruppe der Produktionsschule sind Schülerinnen und Schüler der Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung zwischen 16 und 18 Jahren, die

(1)   noch vollzeitschulpflichtig sind, aber in der Regelschule kontinuierliche Lern- und Arbeitsprozesse verweigern;

(2)   nicht mehr vollzeitschulpflichtig sind, aber noch nicht in Ausbildung einmünden können, weil

  • sie noch keinen Schulabschluss haben,
  • sie noch einen weiteren Schulabschluss erwerben wollen,
  • sie noch weitere personale und soziale Qualifikationen erwerben müssen,
  • sie schulische und/oder sprachliche Defizite aufweisen,
  • sie keinen stabilen bzw. einen unrealistischen Berufswunsch haben oder noch keine stabile Ausbildungsorientierung entwickelt haben,
  • sie die Ausbildung abgebrochen haben oder weil
  • sie noch lernen müssen, institutionelle Regeln einzuhalten.

Die Jugendlichen der hier beschriebenen Zielgruppe sind motiviert, sich zu qualifizieren, aber nicht in erster Linie im schulischen Kontext. Die Produktionsschule bietet hier einen Rahmen, der den Interessen und Neigungen der Jugendlichen eher entgegen kommt. Somit ist das Projekt Produktionsschule ein ganzheitlich pädagogisches Konzept zur Integration von Jugendlichen in die Arbeitswelt, die sehr unterschiedlichen Entwicklungs- und Förderbedarf haben.

In Kooperation mit einer Förderschule werden in der Produktionsschule auch Jugendliche unterrichtet, die zwischen 14 und 16 Jahren und noch vollzeitschulpflichtig sind, aber in der Regelschule kontinuierliche Lern- und Arbeitsprozesse nicht erfolgreich bestehen, weil

  • sie hohe Fehlzeiten aufweisen und erst wieder eine neue Lernmotivation aufbauen müssen,
  • sie intensiver individueller Betreuung bedürfen, um Lernfortschritte erzielen und sich innerhalb des schulischen und gesellschaftlichen Normen- und Wertesystems verhalten zu können,
  • sie für den Zugang zu theoretischem Lernen praktisches Tun benötigen.

4 Produktionsorientiertes Arbeiten als Kernelement des Qualifizierungskonzeptes in der Produktionsschule

Im Zentrum des Qualifizierungskonzeptes der Produktionsschule "Am Abendstern" steht die produktionsorientierte Didaktik, das heißt Lernen und Qualifizieren erfolgt entlang der Bearbeitung realer Aufträge sowie Orientierung an Produktions- und Geschäftsprozessen, wobei Theorie und Praxis nicht nur eng miteinander verzahnt sind, sondern sich in der Regel in einer direkten Wechselwirkung miteinander befinden. Allgemein bildende Unterrichtsinhalte werden in den Planungs- und Durchführungsprozess integriert bzw. sollen im Zusammenhang damit stehen. Die produktionsorientierte Didaktik ermöglicht so die Erfahrung, dass theoretische Arbeit notwendig und sinnvoll ist, indem sie hilft, die Probleme zu meistern, die sich während der Arbeit am Produkt ergeben. Entscheidend dabei ist, dass die Fertigung des Produktes Zweck und gleichzeitig Mittel zum Zweck ist, das heißt, neben der Fertigung des Produktes im eigentlichen Sinne werden im Rahmen einer vollständigen Handlung bei der Organisation und Abwicklung des Produktionsprozesses von der Planung bis zur Qualitätskontrolle ganz unterschiedliche Kompetenzen angesprochen.

Ziel der Produktionsschule ist es, Jugendliche mit geringen Chancen auf einen Einstieg in die Berufs- und Arbeitswelt durch die Verknüpfung von allgemeiner Bildung, fachlicher Qualifizierung, Entwicklung personaler und sozialer Kompetenzen sowie berufsorientierender und berufsvorbereitender Elemente in betriebsähnlichen Strukturen so zu qualifizieren, dass sie sich in unterschiedlichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen kompetent bewegen können. Ein wesentlicher Schwerpunkt besteht in diesem Zusammenhang darin, Jugendliche auf die Aufnahme einer Ausbildung vorzubereiten, sie im Hinblick auf den Übergang in existenzsichernde Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnisse zu unterstützen und parallel dazu Kompetenzen zu fördern, die nicht ausschließlich auf den Arbeitsmarkt gerichtet sind, sondern eine ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit im Blick haben.

Anders als in vielen Bildungsangeboten, in denen Lernprozesse ausgerichtet werden an der Fachsystematik und Sachlogik der einzelnen Lernbereiche, wird das Curriculum der Produktionsschule durch die realen Aufträge strukturiert. Im Zentrum stehen dabei wertschöpfende Produktions-, Wartungs- oder Dienstleistungsaufträge mit Ernstcharakter, deren Bearbeitungsprozess als Ausgangspunkt der individuellen Förderung der Jugendlichen verstanden wird, das heißt die Bearbeitung von Aufträgen somit als Lernanlass und -gegenstand von Interesse ist.

Die Auswahl der Produkte bzw. Fertigungsaufträge erfolgt nach pädagogischen Gesichtspunkten, nur untergeordnet spielen betriebswirtschaftliche Interessen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Konkret bedeutet dies, dass die Produkte im Hinblick auf ihre Komplexität sowohl unter fachpraktischen und -theoretischen Aspekten zielgruppenorientiert sein müssen. Die Produkte sollen die Jugendlichen (heraus-)fordern, dürfen sie aber gleichzeitig auch nicht überfordern. Die Auswahl eines "geeigneten" Produktes hat somit entscheidenden Anteil daran, inwieweit der einzelne Jugendliche sich auf eine verantwortungsvolle und bewusste Auseinandersetzung mit dem Planungs- und Produktionsprozess einlässt, was gleichzeitig als zwingend notwendige Voraussetzung dafür gilt, dass die Produkte erfolgreich fertiggestellt werden, eine professionelle Qualität aufweisen und somit auch marktgerecht sind und der Jugendliche durch den Erfolg seiner Arbeit Anerkennung erfahren kann.

Neben der Art des Produktes und der Komplexität des Produktionsprozesses ist von großer Bedeutung für den Auseinandersetzungs- und Lernprozess, dass sich die Aufträge an betrieblichen Strukturen orientieren und die Bearbeitung der Aufträge nicht als Selbstzweck eine Art Beschäftigungsmaßnahme darstellen, sondern sinnstiftend und marktorientiert sind. In diesem Kontext steht auch, dass die Kriterien für die Qualität der Arbeit im Wesentlichen definiert werden durch die Produktanforderungen selbst bzw. durch den Auftraggeber/Kunden und nur untergeordnet durch die Lehrkraft.

In enger Verbindung mit dem Konzept des produktionsorientierten Arbeitens und in Anlehnung an betriebsnahe Strukturen ergeben sich für die Arbeit in der Produktionsschule folgende Unterrichtsprinzipien:

  • Schülerinnen und Schüler reflektieren kontinuierlich eigene Arbeits- und Lernprozesse,
  • sie bekommen Verantwortung übertragen und müssen mit dieser Verantwortung umgehen,
  • Unterrichtsinhalte werden vor dem Hintergrund der Produktionsaufträge und nicht der Fachsystematiken strukturiert,
  • die Auftragsbearbeitung erfolgt vor dem Modell der „vollständigen Handlung“,
  • Schülerinnen und Schüler führen Projekte von Anfang bis Ende, von der Auftragsannahme bis zur Übergabe des Produktes, aus.

Um im Hinblick auf eine berufliche Orientierung und das Erkennen persönlicher Stärken und Kompetenzen vielfältige individuelle Erfahrungen zu ermöglichen, ist es zwingend notwendig, verschiedene Berufsfelder und Disziplinen zu berücksichtigen und somit eine große Bandbreite unterschiedlicher Produkte und Fertigungsbereiche anzubieten. Dies umfasst zum einen den Bereich der Gewerke, um den verschiedenen Interessen und Neigungen der Jugendlichen Rechnung zu tragen, zum anderen aber auch die Kompetenz- und Fertigkeitsbereiche.

Bei der Auftragsbearbeitung kommt der Verknüpfung von Arbeiten und Lernen als je einer Seite der Medaille "Tätigkeit" eine zentrale Bedeutung zu. Beide Kategorien beschreiben einen Aneignungs- und Erschließungsprozess, "wobei Arbeit die Erschließung, Aneignung und aktive Gestaltung von (Um-)Welt verkörpert und Lernen für damit verbundene innerpsychische, individuelle Veränderungsprozesse steht: Tätigkeit stellt das verbindende und vermittelnde Element zwischen Subjekt und Objekt, zwischen innerer und äußerer „Welt“ dar." (STRAßER 2008).

4.1 Produktionsprozess am Beispiel "Fertigung von Exponaten"

Eine Fertigungslinie der Produktionsschule stellt das Projekt "Experimente aus der Aktentasche" (weitere Informationen unter www. www.jugend-fuer-technik.de) dar, bei dem die Produktionsschule im Auftrag des Verbandes deutscher Ingenieure (VDI), Bezirksverein Mittelhessen, 20 verschiedene elektrotechnische Exponate fertigt, die in der Grundschule eingesetzt werden, um Kinder für technische Phänomene zu begeistern, sie zum Experimentieren anzuregen und sie auf diese Art an naturwissenschaftliche Fragestellung heranzuführen.

Der Produktionsauftrag der Produktionsschule besteht darin, entsprechend der Bestelleingänge die Exponate zu fertigen und an die Kunden zu versenden. Bei der Abwicklung des Fertigungsauftrages geht es nicht nur um die Fertigung der Exponate im eigentlichen Sinn, vielmehr steht die selbstständige Organisation und Abwicklung des gesamten Produktionsprozess im Fokus der Auftragsbearbeitung. Unterstützt durch entsprechende Strukturhilfen und pädagogische Impulse werden die nachfolgenden Aufgabenbereiche zunehmend eigenständig durch Fertigungsteams der Schülerinnen und Schüler der Produktionsschule organisiert und bearbeitet:

•     Bestellung/Inventarisierung des Materials

Ausgehend von der Auftragslage überprüfen die Jugendlichen in regelmäßigen Abständen die Materialbestände, um sicherzustellen, dass das für die Fertigung der Exponate benötigte Material vorrätig ist. Im Bedarfsfall erstellen die Jugendlichen Bestelllisten und inventarisieren das gelieferte Material.

•     Produktionsbesprechung/-planung

In regelmäßigen Abständen finden mit dem Auftraggeber und dem Entwickler der Exponate Produktionsbesprechungen statt, in denen Fertigungsprobleme oder Fragen der Qualitätssicherung oder Produktänderungen besprochen werden. Im Hinblick auf die Organisation der Fertigung müssen die Jugendlichen regelmäßig Arbeitsplanungen durchführen, in denen sie im Team entscheiden, welche Exponate von wem zu fertigen sind, welche Aufgabenverteilung besteht.

•     Fertigung/Montage der Exponate

Die Einhaltung von Qualitätskriterien und die Optimierung von Produktionsabläufen stehen im Mittelpunkt der Fertigung. An dieser Stelle gilt es, den bestehenden Fertigungsablauf immer wieder zu reflektieren, neue persönliche Ziele zu definieren und die Einhaltung der Ziele vor dem Hintergrund der bestehenden Organisation zu überprüfen.

 

Abb. 1:   Fertigung von Exponaten

•     Produktionsdokumentation/Qualitätssicherung

Um eine gleichbleibende, hohe Qualität der Produkte zu gewährleisten, wurde ein System der Qualitätskontrolle eingerichtet, in dem die Jugendlichen kontinuierlich die Einhaltung der Qualitätsmerkmale überprüfen und dokumentieren. Jedes einzelne Exponat wird dabei mit einer separaten Prüfnummer ausgestattet, die es im Falle von Reklamationen erlaubt, die Produktionswege nachzuvollziehen, Fehlerquellen zu analysieren und zu beheben.

•     Lagerung der Exponate/Versand

Am Abschluss der Fertigung steht der Versand der Exponate an die Kunden. Hierzu müssen die Exponate verpackt und Lieferscheine erstellt werden. Der Versand des Materials muss entsprechend dokumentiert sein.

•     Projektpräsentation auf Messen

Auf unterschiedlichen Veranstaltungen wird das Gesamtprojekt in Zusammenarbeit mit dem VDI das Projekt präsentiert, so z.B. bei der Veranstaltung "Arena frei für kluge Köpfe" (Commerzbank-Arena Frankfurt) oder der Veranstaltung "Straße der Experimente" (Gießen). Dabei präsentieren die Jugendlichen ihre Produkte, erklären die jeweiligen Exponate und stellen den Produktionsprozess vor.

4.2 Produktionsorientierte Mathematik am Projektbeispiel Geländer

Wie vorab beschrieben ist die Verknüpfung von "Theorie" und "Praxis" integraler Bestandteil des produktionsorientierten Konzeptes. In diesem Zusammenhang stellen allgemein bildende Unterrichtsinhalte z.B. aus dem Bereich der Mathematik keinen Selbstzweck dar, sondern sind ein notwendiges Hilfsmittel, um einen bestehenden Fertigungsauftrag zielgerichtet und erfolgreich abzuwickeln. Im produktionsorientierten Unterricht ist die Mathematik somit kein Zweck, sie hat einen Zweck. Sie dient den Jugendlichen als Handwerkszeug auf dem Weg der Problemlösung, d.h. die Sinnhaftigkeit erschließt sich aus dem Kontext der Problemstellung und nicht aus dem Zusammenhang einer für die Jugendlichen abstrakten Fachsystematik. Vor diesem Hintergrund besteht im produktionsorientierten Arbeiten eine andere emotionale Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit mathematischen Fragestellungen als in isolierten mathematischen Unterrichtszusammenhängen. Gleichwohl gilt es im Hinblick auf eine berufsvorbereitende Qualifizierung der Jugendlichen, mathematische Fertigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln und zu festigen. Aus diesem Grund finden im Zusammenhang mit der produktionsorientieren Arbeit immer wieder Lernschleifen statt, die isolierte mathematische Themengebiete aufgreifen und trainieren, gleichzeitig weisen diese Lernschleifen immer einen inhaltlichen Bezug zu den Produktionsprozessen auf und unterstützen somit die Bereitschaft zur Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der Thematik. Eine solche Struktur ist in dem nachfolgenden Beispiel dargestellt. Ausgehend von dem Produktions- und Fertigungsauftrag eines Edelstahlgeländers (s. Abb. 2) ergeben sich im Hinblick auf die Produktionsplanung zahlreiche Problemstellungen, die Berührungspunkte zu unterschiedlichen mathematischen Themengebieten der Berufsvorbereitung aufweisen. Insbesondere die Themenfelder "Rechnen mit Längenmaßen", das "Umrechnen von Längenmaßen" und die "Aufteilung von Längen" stellen das mathematische Handwerkszeug dar, mit dessen Hilfe sich sowohl die Position der Geländerpfosten als auch die Aufteilung der Geländerquerstreben ermitteln lässt.

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Abb. 2:   Arbeitsblatt zur Produktionsplanung Geländer

Im unterrichtlichen Zusammenhang gilt es aufzuzeigen, welche Unterstützung in dieser Phase der Auftragsbearbeitung der zielgerichtete Einsatz der Mathematik bieten kann, auch wenn grundsätzlich ein anderer Problemlösungsweg denkbar ist. An dieser Stelle kann es notwendig und sinnvoll sein, isolierte Übungsangebote und Lernschleifen zu den vorab genannten Themenfeldern zu machen, um die Fähigkeiten im Umgang mit den mathematischen Arbeitsfeldern, die alle bereits Gegenstand des Mathematikunterrichts der Mittelstufe gewesen sind, zu stabilisieren oder ggf. überhaupt erst zu entwickeln (vgl. Abb. 3).

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Abb. 3:   Trainingsaufgaben zur Längenaufteilung

Die Bereitschaft der Jugendlichen auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit mathematischen Fragestellungen, zu denen sie bisher keine persönlichen Bezüge herstellen konnten und deren Sinnhaftigkeit sich ihnen nicht oder nur unzureichend erschlossen hat, wird durch die Zielperspektive einer gelungenen Produktionsplanung und eines erfolgreichen Endproduktes getragen.

Im Anschluss an die Übungsphase fließen die Ergebnisse der Lernschleife in den Planungsprozess zurück und führen zu konkreten Produktionskonsequenzen. In diesem Punkt besteht ein entscheidender Unterschied zu den unterrichtlichen Vorerfahrungen der Jugendlichen, da die Qualität ihrer Berechnungen an dieser Stelle unmittelbar Einfluss auf den Erfolg des gesamten Produktes hat. Die mathematischen Ergebnisse bekommen somit eine Verbindlichkeit, da die Auswirkungen der Ergebnisse für die Jugendlichen innerhalb der Realisierung der Fertigung direkt erkennbar werden. An die Stelle von Noten und Lehrerbewertungen tritt die Funktionalität und Qualität des Produktes, womit die Bedeutung von korrekten Berechnungen und die Notwendigkeit von mathematischen Kompetenzen eine andere Dimension erhält.

 

Abb. 4:   Montage des Geländers

4.3 Konsequenzen für die Lehrerrolle

Die vorab aufgezeigten Strukturen und Unterrichtsprinzipien in der Produktionsschule bedingen Lernarrangements, in denen sich auch die Rolle der Lehrkraft und Pädagogen verändert. Die Tatsache, dass sich Produktstrukturen kontinuierlich verändern, fortdauernd neu Produkte entwickelt und Kundenaufträge umgesetzt werden müssen, Schülergruppen stark differenziert arbeiten und somit Lehrkräfte gleichzeitig unterschiedliche Themen und Problemstellungen betreuen, sind nur einige Aspekte auf die Lehrkräfte in der Produktionsschule pädagogisch reagieren müssen und die zahlreiche Konsequenzen für die Lehrerrolle nach sich ziehen. So benötigen Lehrerinnen und Lehrer im Hinblick auf den berufsbezogenen Unterricht fachliche Kompetenzen in unterschiedlichen Gewerken und sie müssen gleichzeitig auch bereit sein, sich auf neue Gebiete einzulassen, in denen sie unter Umständen ihre Kompetenzen erst zusammen mit den Schülerinnen und Schülern erwerben. In produktionsorientierten Bildungsprozessen muss deshalb die Lehrkraft in erster Linie Prozessbegleiter und Organisator sein, nicht Anleiter.

Auch gilt hier in besonderem Maße, dass die Lehrkräfte mit Heterogenität umgehen können, das betrifft sowohl die Lerngruppe als auch die Unterrichtssituationen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die pädagogische Arbeit in der Produktionsschule unterstützt und erleichtert wird, wenn die Lehrkraft über folgende Kompetenzen, Eigenschaften und Einstellungen verfügt:

  • Fachliche Kompetenz in unterschiedlichen Gewerken,
  • Bereitschaft auf Übernahme von Arbeitszusammenhängen außerhalb der „gelernten“ Strukturen,
  • Bereitschaft zum Paradigmenwechsel: Lehrer lernt zusammen mit Schülerinnen und Schülern,
  • Lehrkraft ist Prozessbegleiter, Organisator, … nicht Anleiter,
  • Lehrer müssen Heterogenität sowohl der Zielgruppe als auch der Unterrichtssituation berücksichtigen können,
  • hohe Bereitschaft auf enge (unterrichtliche) Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen,
  • hohe Flexibilität, Mut für Unbekanntes,
  • Spaß an der Entwicklung und Herstellung neuer Produkte,
  • Blick für den einzelnen Schüler.

Literatur

LANDESGRUPPE PRODUKTIONSSCHULEN HESSEN (Hrsg.) (2009): Arbeiten, Lernen, Leben. Kassel, Offenbach.

STRAßER, P. (2008): Die Bedeutung von Tätigkeit in der pädagogischen Praxis. Über das Verhältnis von Arbeiten und Lernen in der Produktionsschule. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online, Spezial 4. Online: http://www.bwpat.de/ht2008/ws12/strasser_ws12-ht2008_spezial4.pdf  (20-05-2011).


Zitieren dieses Beitrages

EIBELSHÄUSER, A./ MÜHLHAUS, T. (2011): Schulische Handlungsfelder am Übergang Schule - Beruf: Die Produktionsschule „Am Abendstern“ – ein Projekt der Theodor-Litt-Schule Gießen. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 02, hrsg. v. FRIESE, M./ BENNER, I., 1-12. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft02/eibelshaeuser_muehlhaus_ft02-ht2011.pdf (26-09-2011).



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