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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT11 - Hauswirtschaft
Herausgeberinnen: Irmhild Kettschau & Kathrin Gemballa

Titel:
Übergänge in der hauswirtschaftlichen Berufsbildung gestalten - Perspektiven auf die individuelle Förderung und die Systemgestaltung in der Domäne Hauswirtschaft


Berufliche Bildung für eine nachhaltige Entwicklung - Konzepte und Entwicklungslinien

Beitrag von Irmhild KETTSCHAU (Fachhochschule Münster)

Abstract

Der Beitrag bietet einen Einblick in die Entstehung und Bedeutung des Nachhaltigkeitsbegriffs und seiner Dimensionen (ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit). Es werden Bezüge zum beruflichen und privaten Handeln von Menschen in Versorgungssystemen sowie zur reformierten Ernährungs- und Verbraucherbildung aufgezeigt. Im Rahmen der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) von 2005-2014 wurden auch in der Berufsbildung intensive Anstrengungen unternommen, um die Grundzüge und Rahmungen einer Implementierung nachhaltigkeitsorientierten Denkens und Handelns in die berufliche Bildung voranzutreiben. Inzwischen wird die „systematische Einbindung des Nachhaltigkeitsgedankens in das Berufsbildungssystem“ durch Zusatzqualifikationen oder Standardberufsbildpositionen und ihre dauerhafte Implementierung in die beruflichen Ordnungsmittel gefordert. Voraussetzung hierfür ist die Bestimmung und Klärung nachhaltigkeitsrelevanter Inhalte von beruflichen Arbeits- und Geschäftsprozessen und der zugehörigen Kompetenzen auf einzelberuflicher wie auch auf berufsfeldbreiter Ebene. Dabei bietet sich eine enge Orientierung am Lernfeldkonzept und den damit verbundenen didaktischen Settings an.

1 Einleitung

In dem in 2003 in Osnabrück verabschiedeten Orientierungsrahmen zur beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BBNE) wurde unter anderem gefordert, berufsspezifische Qualifikationen zur Erfüllung des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung zu identifizieren sowie „dauerhafte und zugleich dynamische Nachhaltigkeitsstrukturen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung“ zu schaffen (BMBF 2003, 174). Inzwischen wird von Seiten des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) deutlicher eine „systematische Einbindung (der BBNE – I.K.) in das Berufsbildungssystem“ durch Zusatzqualifikationen oder Standardberufsbildpositionen und ihre dauerhafte Implementierung in die beruflichen Ordnungsmittel verlangt (DIETTTRICH/ HAHNE/ WINZIER 2007, 10). Diese Forderungen sind nachdrücklich zu unterstützen, denn nur so kann ein systematischer Handlungsrahmen für die Akteure der beruflichen Bildung entstehen, in dem diese in Forschung, Lehre, Curriculumentwicklung und Ordnungsarbeit verbindliche Inhalte und geeignete Didaktiken zur BBNE vereinbaren. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die berufliche Bildung für eine nachhaltige Entwicklung zum einen in den Kontext der pädagogischen Nachhaltigkeitsdebatte zu stellen und zum anderen deutlich zu machen, wo Bezüge zwischen BBNE und neueren Konzepten der beruflichen Bildung zu sehen sind.

2 Das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in seinen Dimensionen

Schon in seinen frühesten Anfängen steht der Nachhaltigkeitsbegriff im Kontext beruflichen Handelns. Der sächsische Oberberghauptmann HANS CARL VON CARLOWITZ (* 1645) verlangt in seinem Werk Sylvicultura oeconomica (1713) die nachhaltige Nutzung des Waldes, in der eine Gleichheit zwischen An- und Zuwachs und dem Abtrieb des Holtzes erfolget (und die Nutzung somit) immerwährend, continuierlich und perpetuierlich ausgelegt wird (zit. n. GROBER 2010, 115). Ende des 18. Jahrhunderts stehen Begriff und Forderung in der zeitgenössischen Forstwirtschaft fest: Forstwissenschaftler formulieren als Prinzip der Holznutzung, dass jährlich nicht mehr und nicht weniger gehauen wird, als nachwächst, so dass also auch der Nachkommenschaft die Befriedigung ihrer Holzbedürfnisse sicher gestellet werden (a.a.O., 165). Die begrifflichen Ursprünge des Nachhaltigkeitsdenkens verweisen somit auf zukunftsorientierte Prinzipien eines fachlich richtigen und moralisch verantwortlichen beruflichen Handelns, welches sich mit der Bewirtschaftung des Holzes als der wichtigsten energetischen Ressource der damaligen Zeit auseinander setzt.

Unser heutiges Verständnis von nachhaltiger Entwicklung wurde 1987 durch den als ‚Brundtland-Report‘ bekannten Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung maßgeblich begründet: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ (WCED, 1987). Nachhaltig ist demgemäß eine Entwicklung, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (HAUFF 1987). Diese Definition stärkt besonders den Gedanken der intergenerationellen Gerechtigkeit; ebenso wichtig ist jedoch die Forderung nach intragenerationeller Gerechtigkeit, also einem fairen Ausgleich der Interessen heute lebender Menschen auf allen Erdteilen und in allen Entwicklungsstufen. Besonders dieser Aspekt führt zwangsläufig zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konsumniveau in den westlichen Ländern, welches schon heute zu einer (bildlich gesprochen) Beanspruchung von 1,5 Planeten Erde geführt hat – eine Entwicklung, die sich so nicht fortsetzen lässt (KETTSCHAU/ MATTAUSCH 2011, 12).

Seit Mitte der 1990er Jahre wird der Nachhaltigkeitsbegriff ausdrücklich verknüpft mit den drei Dimensionen einer ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen Entwicklung (ENQUETE KOMMISSION 1994) – bildlich meist dargestellt als sog. Nachhaltigkeitsdreieck. Die drei Dimensionen werden als in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander gesehen und mit teilweise sehr umfangreichen Kriterienkatalogen ausgefüllt und diskutiert. Darüber hinaus werden die Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung vielfach weiter ausdifferenziert und den drei eingeführten Dimensionen weitere, wie eine kulturelle, eine politische, globale oder – insbesondere auch im Ernährungsbereich – eine gesundheitliche Dimension zur Seite gestellt. Ein Beispiel zeigt im Folgenden mögliche Dimensionen und Zielebenen der Nachhaltigkeit im Hotel- und Gaststättengewerbe.

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Abb. 1: Nachhaltigkeitsdimensionen der Hotellerie und Gastronomie, Quelle: STOMPOROWSKI 2009, 17

Zwei Herausforderungen verbinden sich generell mit der Komplexität der Nachhaltigkeitskriterien:

  • Ihre Reichweite, Verbindlichkeit und konkrete Ausgestaltung sind von einer allgemeinen Ebene auf die konkrete Handlungsebene herunterzubrechen und es muss darauf geachtet werden, Begründungen für die Einführung und Gewichtung von Kriterien zu geben.
  • Die Sichtweise der „wechselseitigen Abhängigkeit“ kann die Verbindlichkeit und Aussagekraft vor allem des ökologischen Nachhaltigkeitskriteriums so deutlich einschränken, dass klare Aussagen, Ziele und Handlungen erschwert werden. Man spricht letztlich von einer „schwachen Nachhaltigkeit“, wenn Forderungen der Ökologie (wie z.B. Senkung des Ressourcenverbrauchs) in Verfolgung sozialer und ökonomischer Ziele substantiell relativiert und geschwächt werden (vgl.VON HAUFF/ KLEINE 2009, 24ff).

Ein anderer Ansatz wurde 2009 von ALEXANDRO KLEINE vorgelegt. Unter dem Namen „Integrierendes Nachhaltigkeitsdreieck“ entfaltet er ein Modell, mit welchem das Spannungsverhältnis und die real unterschiedliche Ausgestaltung und Gewichtung der drei Hauptdimensionen (Ökologie, Ökonomie und Soziales) zueinander, z.B. bei betrieblichen oder staatlichen Maßnahmen, dargestellt und problematisiert werden können. Konkrete betriebliche Situationen oder Strategien auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung lassen sich so analysieren (Ist-Analyse), Desiderate feststellen, Ziele aufzeigen und in ihren Wertigkeiten und Auswirkungen auf das gesamte Nachhaltigkeitskonzept erfassen. Voraussetzung einer solchen Vorgehensweise ist allerdings die konkrete Benennung und Operationalisierung der einzelnen Dimensionen und zugehörigen Kriterien.

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Abb. 2: Das integrierende Nachhaltigkeitsdreieck, Quelle: nach KLEINE 2009

Verschiedene bisher geläufige Kennzahlensysteme arbeiten dagegen eher eindimensional, indem Kriterien für ökonomische, ökologische und soziale Aspekte erarbeitet und standardisiert werden. Schwachpunkt ist dabei häufig eine isolierte Betrachtung der einzelnen Nachhaltigkeitsdimensionen. Das integrierende Nachhaltigkeitsdreieck ist ein interessanter Ansatz, um die isolierte Betrachtung zu überwinden und zu einem ganzheitlichen Ansatz zu gelangen. In jedem Fall besteht jedoch die Herausforderung, alle Dimensionen des Nachhaltigkeitsdreiecks mit nachvollziehbaren und begründeten Kriterien zu versehen.

3 Anknüpfungspunkte in Haushaltswissenschaft und Fachdidaktik

Die Haushaltswissenschaft befasst sich mit der Bedürfnisbefriedigung und Bedarfsdeckung von Menschen mittels ihrer privaten Haushalte bzw. in Versorgungssystemen. Haushaltsbezogene Bildungsprozesse wollen Menschen mit Kompetenzen zu einer gelingenden Bewältigung des Alltags ausstatten. Dabei gibt es neben normativen Ansätzen, also solchen, die eine bestimmte Ethik oder moralische Grundorientierung ‚im Gepäck‘ haben, auch Ansätze, die sich der ökonomischen Rationalität verschreiben, also der Optimierung der Zweck-Mittel-Relation ohne Bewertung der Haushaltsziele. Weiterhin existieren wissenschaftsorientierte Ansätze, in denen versucht wird, Menschen wissenschaftlich belegte, optimale Wege der Bedarfsdeckung zu vermitteln. Neuere Ansätze streben eine individuelle Emanzipation an, indem sie Menschen möglichst viele Kenntnisse und Kompetenzen vermitteln, um reflektierte, abgewogene Entscheidungen treffen und Varianten der Lebensgestaltung für sich wählen und realisieren zu können.

Normative Ansätze, in denen Fragen der ethischen Orientierung, des sozialen Handelns, der Verantwortung für sich selbst und Mitverantwortung für andere im Mittelpunkt stehen, nehmen in den klassischen Haushaltslehren wie auch in der modernen Haushaltswissenschaft einen wichtigen Platz ein. Rosemarie von Schweitzer führt dazu aus: „Rechtmäßige Nutzung des Vermögens und Askese und Mäßigung im Ge- und Verbrauch von Gütern führt zu einem schonenden Umgang mit den Ressourcen dieser Welt. Die ursprüngliche Lehre von der Wirtschaft – die Oikonomia oder Haushaltslehre – war also eine im modernen Sinn ökologische. Haushälterisches Handeln hieß umsichtiges, sparsames Umgehen mit den Gütern, die als Vermögen den Menschen zur Daseinsvorsorge überantwortet sind“ (VON SCHWEITZER 1991, 53). Weiter schreibt sie: „“Haushälterisches Handeln hat für alle Menschen – den geborenen und den ungeborenen – gleiche Lebenschancen zu sichern…Auf das Paradigma des Maßhaltens und der sozialen Verantwortung ist wirtschaftliches Handeln aufzubauen, wenn die Menschheit menschlich überleben will“ (a.a.O., 331). 1996 fordert MICHAEL-BURKHARD PIORKOWSKI eine umweltverantwortliche Haushaltsführung und folgert: „Damit würde dann auch die traditionelle Bedeutung von ‚Haushalten als Maßhalten‘ einen neuen Sinn bekommen: als eine Kulturleistung, die in Verantwortung für die Umwelt dem Grundprinzip natürlicher Ökosysteme Rechnung trägt, wonach Leben auch bedeutet, Wachstum zu begrenzen“ (PIORKOWSKY 1996, 223).

Mit dem Leitbild der haushälterischen Vernunft und Verantwortung werden Perspektiven eines an Werten orientierten Handelns aufgezeigt, die eine offensichtliche Anknüpfung zu den Grundaussagen einer nachhaltigen Entwicklung in ökologischer, sozialer und intergenerationeller Verantwortung bilden – wobei hier ganz ‚altmodisch‘ das Maßhalten und Begrenzen der eigenen materiellen Wünsche und Bedürfnisse zugunsten ‚höherer Werte‘ wie der Mitmenschlichkeit, Verantwortung für die Umwelt oder intergenerationellen Gerechtigkeit gesetzt sind.

Mittlerweile besteht für die haushaltsbezogene Allgemeinbildung ein ausformuliertes Kerncurriculum, das unter der Bezeichnung Ernährungs- und Verbraucherbildung (EVB) (entwickelt als „ REVIS“ = Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung an Schulen) verbreitet ist und in der Allgemeinbildung einen weitgehenden Konsens gefunden hat. Von den neun Bildungszielen, die das Curriculum gliedern, lautet das neunte Ziel: „Die Schülerinnen und Schüler entwickeln einen nachhaltigen Lebensstil“, und als Teilkompetenzen werden aufgeführt:

„Dazu gehört, dass sie

  • das Konzept der Nachhaltigkeit kennen, verstehen und reflektieren können,
  • eigenes Konsum- und Alltagshandeln auf der Grundlage des Nachhaltigkeitskonzeptes analysieren und bewerten und diese Reflexion für Entscheidungen nutzen können,
  • Lebensstile und Lebensweisen identifizieren und reflektieren können und daraus Handlungsstrategien und Routinen für die eigene Lebensgestaltung verwirklichen können,
  • die Fähigkeit entwickeln, Verantwortung in Nachhaltigkeitsprozessen übernehmen zu können“ (REVIS 2005).

Neben diesem explizit auf Nachhaltigkeitskompetenz ausgerichteten Bildungsziel finden sich auch in den übrigen Teilen des Curriculums zahlreiche an einer nachhaltigkeitsorientierten Lebensführung ausgerichtete Teilkompetenzen. So sollen die Schülerinnen und Schüler ihre Konsumentscheidungen qualitätsbewusst treffen, und dabei Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen. Oder „die lokalen und globalen Zusammenhänge der Produktion von Gütern bei eigenen Entscheidungen verantwortungsbewusst berücksichtigen“ oder „Speisen und Getränke sowie die Lebensmittelauswahl unter Berücksichtigung von Sinnlichkeit, Gesundheit und Nachhaltigkeit gestalten können“. Der didaktische Ansatz ist dabei von dem Drei- bzw. Vierklang „kennen – verstehen - kompetent umsetzen– bewerten / reflektieren“ geprägt und stellt das wissensbasierte Aufzeigen von Entscheidungs- und Verhaltensalternativen mit ihren jeweiligen Folgen in den Mittelpunkt. Moralische oder ethische Haltungen werden also nicht explizit angebahnt, sondern als Resultat des Wissenserwerbs und Reflexionsprozesses angestrebt.

Für die Berufsbildung bieten sich mit dem Konzept der Ernährungs- und Verbraucherbildung didaktische Ansatzpunkte, um berufsbezogenes Lernen mit Lernen für die eigene, persönliche Entwicklung und Lernen für gesellschaftliche Mitgestaltung zu verknüpfen. Hier lassen sich im Rahmen der Lernfelder fächerübergreifende Ansätze denken, etwa mit Biologie (Ernährung), Wirtschaftslehre / Politik (Konsum und Lebensstil, Globalisierung) oder Religion (ethische Fragen, Gerechtigkeit, Solidarität).

Gerade die Fachrichtung Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaften bietet aufgrund der Relevanz ihrer Fachinhalte für die persönliche Lebensgestaltung wie für das gesellschaftliche Miteinander sehr gute Möglichkeiten, um Themen der nachhaltigen Entwicklung multiperspektivisch anzugehen und damit innovative Verknüpfungen der Perspektiven ‚beruflich‘, ‚gesellschaftlich‘ und ‚privat‘ zu leisten. In diesem Sinne ganzheitlich ausgebildete Fachkräfte werden vertiefte und belastbare Kompetenzen mitbringen und in ihrer beruflichen Haltung überzeugender sein, als wenn sie eine Nachhaltigkeitsbildung ‚nur‘ in der beruflichen Dimension erfahren haben.

4 Konzepte der Beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung

4.1 Politische Rahmung

Im Rahmen der UN-Dekade für die Bildung für nachhaltige Entwicklung von 2005-2014 wurden auch in der Berufsbildung intensive Anstrengungen unternommen, um die Grundzüge und Rahmungen einer Implementierung nachhaltigkeitsorientierten Denkens und Handelns in die berufliche Bildung voranzutreiben. Als herausragende Akteure sind das Bundesinstitut für Berufsbildung und die Deutsche Bundesstiftung Umwelt zu nennen. Wichtige Etappen der Konzeptentwicklung, Erprobung und Umsetzung zeigt die folgende Abbildung:

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Abb. 3: Etappen zur Entwicklung der BBNE in Deutschland

Bei Entwicklungen der beruflichen Bildung ist dabei das spezifische Bedingungsgefüge auf rechtlicher, institutioneller, konzeptioneller und didaktischer Ebene zu berücksichtigen (Tabelle 1). Das die berufliche Bildung in Deutschland prägende Duale System erfordert den Einbezug von Bundes- und Landesrecht, die Auseinandersetzung mit dem deutschen Berufsprinzip und seinen vielfältigen Aspekten, die Mitwirkung einer Vielzahl an Institutionen auf den unterschiedlichen Handlungsebenen und den Ausgleich starker, teils divergierender Interessen. Seine Schwerfälligkeit und mangelnde Flexibilität aufgrund des hohen Grades der Verrechtlichung wurden bereits vielfältig diskutiert und kritisiert (z.B. UFFELMANN 2007). Dennoch dürfen Reformversuche nicht allein auf der Mikroebene, etwa bei der Entwicklung von Lernsituationen oder Ausbildungseinheiten stehen bleiben, sondern müssen alle Systemebenen mit einbeziehen, um ‚nachhaltige‘ (im Sinne von langfristig anhaltenden und tiefgreifenden) Wirkungen zu erlangen.

Tabelle 1: Ebenen zur Umsetzung einer Beruflichen Bildung für nachhaltige Entwicklung (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an DIETTTRICH/ HAHNE/ WINZIER, BWP 5/2007, 10)  

Makro-Ebene

Meso-Ebene

Mikro-Ebene

Gesetzliche Vorgaben
Ordnungsmittel
Berufsbildpositionen

Berufsbildungssystematik

Nationale und Internationale Qualifizierungsrahmen

Bildungsforschung

 

Institutionen
- Berufsverbände
- zuständige Stellen
- Schulverwaltungen
- Bildungsträger


Strukturelle Vernetzung und regionale Lernortkooperation

 

Dualpartner: Schulen / Betriebe

Betriebliche Handlungsfelder / Arbeits- und Geschäftsprozesse

Konkrete Ausbildungs- und Lernsituationen

Berufliche Didaktik


Die größten Widerstände dürften auf der mittleren, der Meso-Ebene zu finden sein, weil die hier angeordneten Institutionen mit den gegenwärtigen Strukturen auf das engste verbunden sind und sich mit gravierenden Systemänderungen für sie auch ein In-Frage-Stellen ihrer eigenen Selbstverständnisse, Funktionen und Zuständigkeiten verbinden kann. Treibende und gestaltende Kräfte können aus dem politischen Raum und/oder aus der Einwirkung internationaler Entwicklungen (Stichwort: Europäischer Qualifikationsrahmen) erwachsen. Auf der Mikro-Ebene der praktischen Umsetzung dagegen ist nach aller Erfahrung mit großer Offenheit, Interesse und Engagement gegenüber dem Nachhaltigkeitsthema zu hoffen (vgl. u.a. NOELLE/ SCHINDLER/ TEITSCHEID 2010).  

4.2 Konzeptionelle Umsetzung

Durch die berufspädagogischen Reformen der 1990er Jahre wurde die berufliche Handlungskompetenz als zentrales Bildungsziel etabliert und damit der mehr funktionale Begriff der Qualifikation weitgehend abgelöst. Mit der beruflichen Handlungskompetenz werden vielschichtige Ebenen der Persönlichkeitsentwicklung in ganzheitlicher Weise angesprochen. Als zentrale Zielvorstellungen können zum einen die Selbstständigkeit, Kreativität und kontinuierliche Lernfähigkeit herausgestellt werden, zum anderen die Übernahme von Verantwortung in individueller und sozialer Perspektive – dies alles vor dem Hintergrund einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung, die in beruflichen Lernprozessen auch gesellschaftliche und private Dimensionen umfasst.

Ebenso wie die Zielvorstellungen veränderten sich auch die Architekturen des Unterrichts, die didaktischen Settings und Lehr-Lernarrangements. Als idealtypisches Strukturierungsmodell von Lernprozessen ist das Modell der „Vollständigen Handlung“ von Bedeutung, in dessen Mittelpunkt eine mehr oder weniger realistische berufliche Aufgabenstellung und als dessen Ergebnis ein konkretes, fassbares und bewertbares Handlungsprodukt steht (KETTSCHAU 2010). Eingebettet in die Lernfeldstruktur, nach der schulische Rahmenlehrpläne seit den 90ern aufgebaut sind, haben Lehrkräfte die Aufgabe, Lernsituationen zu entwickeln, die im Rahmen des jeweiligen Lernfeldes aus betrieblichen Handlungssituationen abgeleitet werden. Für die Formulierung und qualitative Ausgestaltung von Lernsituationen sollen hier drei Aspekte hervorgehoben werden:

  • Es soll sich um bedeutsame Situationen handeln, die sowohl typische Arbeitsprozesse bzw. charakteristische Arbeitsaufgaben in den Mittelpunkt stellen als auch die Verknüpfung zu den gesellschaftlichen und individuellen Dimensionen des Lernens leisten. Die Relevanz dieser Situationen soll neben der Gegenwartsbedeutung auch die Zukunftsbedeutung abdecken.
  • Die anzusprechenden Kompetenzen müssen die wichtigen Dimensionen der beruflichen Handlungskompetenz umfassen, also Sach- und Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozial- und Personalkompetenz fördern. Dabei sollen sowohl grundlegende Kompetenzbereiche angesprochen als auch exemplarische Vertiefungen angestrebt werden. Sehr großer Wert muss auf die Exemplarik und Transferfähigkeit gelegt werden, d.h. die Frage ist zu klären, für welche weiteren Anforderungen und Prozesse das Gelernte genutzt werden bzw. in welcher Weise weitere Aufgaben erschlossen und gelöst werden können.
  • Schließlich sind die Lehr-Lernarrangements so auszugestalten, dass die Schülerinnen und Schüler zu einer weitgehend selbstständigen und kooperativen Bearbeitung der Aufgaben gelangen – und zwar in angemessener Berücksichtigung ihrer Entwicklungsstufen und erreichten Lernstände.

In die hier mit wenigen Strichen skizzierten Grundzüge moderner Ansätze der beruflichen Bildung sind Inhalte und Ziele der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung noch nicht systematisch einbezogen; es bieten sich aber vielfältige Anknüpfungspunkte und anregende Rahmungen. Schaut man sich beispielsweise die Ziele der nachhaltigkeitsorientierten Bildung nach DE HAAN an, so lassen sich viele Parallelen zu Prinzipien der handlungsorientierten Kompetenzförderung finden (vgl. ROSS 2010). Schnittmengen fallen zunächst da auf, wo es um die Förderung der Persönlichkeit zu selbstständigem Lernen und Handeln und zur Übernahme von individueller und sozialer Verantwortung geht. Weiterhin lassen sich die Leitvorstellungen zur Konstruktion von Lernsituationen bestens mit nachhaltigkeitsorientierten Themen und Inhalten ausfüllen. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Definition und Ausarbeitung solcher Inhalte, die in den jeweiligen beruflichen Handlungsfeldern nachhaltigkeitsrelevant sind (vgl. MATTAUSCH/ KETTSCHAU in. ds. Bd.).

TIEMEYER unterscheidet in seinem Beitrag für das von 2007-2009 unter seiner Leitung durchgeführte Projekt EuKoNa (Europäische Kompetenzentwicklung zum nachhaltigen Wirtschaften in der Ernährungsbranche) zwischen „nachhaltigkeitsrelevanten Kernkompetenzen“ und „berufsspezifischen Kompetenzen“, die durch berufliche Bildung erworben werden sollen. Die von ihm in Anlehnung an den Orientierungsrahmen der beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BMBF 2003) identifizierten nachhaltigkeitsrelevanten Kernkompetenzen sind im Einzelnen:

  • Systemisches, vernetztes Denken
  • Verfügbarkeit von berufsübergreifendem Wissen und seine konkrete Anwendung
  • Fähigkeit zum Umgang mit Komplexität
  • Verstehen kreislaufwirtschaftlicher Strukturen und Lebenszyklen
  • Soziale Sensibilität, interkulturelle Kompetenz und Bereitschaft zu globaler Perspektive individuellen Handelns (leicht gekürzt nach TIEMEYER 2009, 43).

Als Handlungsinhalt und –ergebnis gelten in EuKoNa nicht nur bewältigte berufspraktische Anforderungen (‚instrumentelle Handlungen‘), sondern auch ‚kognitive und metakognitive Handlungen‘, wie z.B. Prozessanalysen, ‚kommunikative Handlungen‘, wie z.B. Präsentationen und Diskussionen und ‚reflexive Handlungen‘ wie z.B. Begründungen für alternative Gestaltungsvorschläge (a.a.O., 51).

Hinsichtlich der „berufsspezifischen“ Kompetenzen wäre nach den bisherigen Ergebnissen aus dem aktuellen Münsteraner Projekt „Berufliche Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in der Ernährungsbranche“ zu überlegen, ob diese nicht besser und effektiver berufsfeldbezogen anzulegen sind, d.h. mit Gültigkeit für benachbarte Berufe innerhalb eines Berufsfeldes. Hier ginge es dann darum, bestehende Curricula auf bereits vorhandene geeignete Elemente zur Vermittlung von Nachhaltigkeitsinhalten zu prüfen und entsprechend systematisch weiter zu entwickeln. Dies umfasst möglicherweise auch die Entwicklung von (ggf. formalisierten, zertifizierten) Zusatzqualifikationen oder neuen Berufsbildpositionen (für Gruppen von Berufen innerhalb eines Berufsfeldes) und deren Verankerung in den beruflichen Ordnungsmitteln.

Insgesamt zeigt sich ein enges Zusammengehen zwischen aktuellen berufspädagogischen Leitideen und der konzeptionellen Diskussion zur beruflichen Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Hier soll nun noch auf einen Aspekt aufmerksam gemacht werden, der bisher weniger betont wurde, und zwar die Zielstellung der Verknüpfung individueller, gesellschaftlicher und beruflicher Perspektiven bei der Gestaltung von Bildungsprozessen. Hieraus ergibt sich für die Berufsbildung im Nachhaltigkeitszusammenhang eine anregende und weiter führende Herausforderung. Für die Berufsbildungsdebatte besteht die Chance, an einem beispielhaften Inhaltsbereich (wie der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung) die Verknüpfung der drei Perspektiven ‚Lernen für die eigene Lebensgestaltung‘, ‚Lernen für die gesellschaftliche Mitwirkung und Mitverantwortung‘ und ‚Lernen für das professionelle Handeln‘ zu explizieren. Für die Nachhaltigkeitsdebatte wiederum ist ein Gewinn zu erwarten, indem die komplexen beruflichen, persönlichen und gesellschaftlichen Dimensionen des Nachhaltigkeitshandelns gemäß den Zielen des Aktionsprogramms ‚Berufliche Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung‘ umfassend und systematisch zum Gegenstand von Bildungsprozessen werden.

Literatur

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BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (Hrsg.) (2003): Erste bundesweite Fachtagung „Berufsbildung für eine nachhaltige Entwicklung“, 26. und 27. März 2003 in Osnabrück. Bonn.

DIETTRICH, A./ HAHNE, K./ WINZIER, D. (2007): Berufsbildung für eine nachhaltige Entwicklung: Hintergründe, Aktivitäten, erste Ergebnisse. In: BWP, H. 5, 7-12.

HAUFF VON, M./ KLEINE, A. (2009): Nachhaltige Entwicklung, Grundlagen und Umsetzung. München.

KETTSCHAU, I. (2010): Bildung für eine nachhaltige Entwicklung aus fachdidaktischer Sicht – Anknüpfungspunkte und Entwicklungslinien. In: NÖLLE/ SCHINDLER/ TEITSCHEID (Hrsg.): Nachhaltige Entwicklung im Berufsfeld Ernährung und Hauswirtschaft. Materialien für Unterricht und Ausbildung, Lernortkooperation und weitere Anregungen. Hamburg, 216-224.

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KLEINE, A. (2009): Operationalisierung einer Nachhaltigkeitsstrategie. Ökologie, Ökonomie und Soziales integrieren. Kaiserslautern.

KULTUSMINISTERKONFERENZ (1999): Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz (KMK) für den berufsbezogenen Unterricht. (Stand 5. Februar 1999).

NÖLLE, M./ SCHINDLER, H./ TEITSCHEID, P. (Hrsg.) (2010): Nachhaltige Entwicklung im Berufsfeld Ernährung und Hauswirtschaft. Materialien für Unterricht und Ausbildung, Lernortkooperation und weitere Anregungen. Hamburg.

PIORKOWSKY, M-B. (1996): Umweltbelastungen durch Haushaltsproduktion und Konsum. In: OLTERSDORF, U./ PREUSS, T. (Hrsg.): Haushalte an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Aspekte haushaltswissenschaftlicher Forschung – gestern, heute, morgen. Frankfurt am Main, 192-226.

REVIS (2005): Bildungsziele und Kompetenzen in der Ernährungs- und Verbraucherbildung. Online : http://www.ernaehrung-und-verbraucherbildung.de/docs/kompetenzraster-vertikal-endfassung.pdf  (22-06-2011).

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TIEMEYER, E. (2009): Kompetenzorientierung im Rahmen einer beruflichen Bildung für nachhaltiges Wirtschaften – Einordnung und Handlungsebenen. In: DERS. (Hrsg.): Europäische Kompetenzentwicklung zum nachhaltigen Wirtschaften in der Ernährungsbranche. Herausforderungen, Projektergebnisse und Transferkonzept. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 40-52.

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WCED (World Commission on Environment and Development) (1987): Our common future. Oxford.


Zitieren dieses Beitrages

KETTSCHAU, I. (2011): Berufliche Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Konzepte und Entwicklungslinien. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 11, hrsg. v. KETTSCHAU, I./ GEMBALLA, K., 1-12. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft11/kettschau_ft11-ht2011.pdf (26-09-2011).



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