bwp@ Spezial 15 - September 2017

Berufliche Förderpädagogik: Von der analytischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski

Hrsg.: Martin Koch, Günter Ratschinski, Ralf Steckert, Ariane Steuber & Philipp Struck

Editorial

Beitrag von Martin Koch, Günter Ratschinski, Ralf Steckert, Ariane Steuber & Philipp Struck

EDITORIAL zur Spezial 15:
Berufliche Förderpädagogik: Von der analy­tischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski

Am 26.11.2014, fast auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Tod, fand in Hannover, in den Räumen der Werk-statt-Schule e.V. Hannover ein Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski statt. Rund 80 studierende, forschende und pädagogisch tätige Weggefährt_innen trafen hier zusammen, um auf das wissenschaftliche und pädagogische Werk Arnulf Bojanowskis zurückzublicken. Doch schon während der Veranstaltung wurde klar, dass deren Titel und Anlass missverständlich gewählt waren. Arnulf Bojanowski hat mit seiner Beruflichen Förderpädagogik (Bojanowski 2005, Bojanowski et al. 2013) zwar ein pulsierendes Werk hinterlassen, das zu erheblichen Teilen an seinem universitären Schreibtisch entstand. Doch allein die Gestalt seines von zahlreichen Stühlen umstandenen Schreibtisches verdeutlicht, dass dieses Werk in mehrfacher Hinsicht als Netzwerk verstanden sein muss. Arnulf Bojanowski kultivierte Berufliche Förderpädagogik als kommunikative Wissenschaft. Er bündelte Ideen aus diskursiven Zusammenhängen, spielte sie an interessierte Forscher_innen weiter und formulierte pädagogische Leitsätze aus in der Praxis entstandenen Innovationen. Er verstand es, Gedanken zu ihrem besonderen inhaltlichen Ausdruck zu verhelfen und ihnen dabei eine Richtung zu geben, die sie in den Kontext einer gemeinsamen Sache einband.

Im Erinnern an diese Forscherpersönlichkeit setzte sich mit dem Symposium darum etwas fort, was sich schon immer um Arnulf Bojanowski herum ereignet hatte. Die durch ihn freigesetzten Gedanken fanden zu diskursiver Bewegung zurück und brachten die Beziehungshaftigkeit einer in die Welt gesetzten Denkweise zum Ausdruck. Insofern war die Veranstaltung von einem vorwärtsgewandten Erinnern geprägt. Sie griff Themen auf, die Arnulf Bojanowski hinterlassen hatte und bearbeitete sie expressiv in einer Weise, die zwischen allen Teilnehmenden fortwirkte.

Dies betrifft auch die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge. Nach einem übergreifenden Rückblick auf seinen stets kommunikativen wissenschaftlichen Werdegang greifen die Aufsätze auf Schlüsselbegriffe aus Arnulf Bojanowskis wissenschaftlichem Oeuvre zurück, die in drei zentralen Workshops hinsichtlich ihrer weiteren inhaltlichen Ausformulierung diskutiert wurden. Dabei überschreiten sie die Form eines retrospektiven Berichtes und werden zum Anlass eines aufgreifenden Weiterdenkens genommen. Wir betrachten die vorliegende Zusammenstellung darum als einen exemplarischen Versuch, zentrale Themen der von Arnulf Bojanowski geprägten Beruflichen Förderpädagogik aufzugreifen und mit den kommunikativen Mitteln seiner Wissenschaftlichkeit weiterzudenken.

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Betrachten wir das kommunikative Schaffen und wissenschaftliche Werk Arnulf Bojanowskis differenzierter, so scheint sich hier ein merkwürdiger Bruch zwischen Inhalt und Stil vollzogen zu haben: Einerseits etablierte er Berufliche Förderpädagogik allein durch seine Arbeitsweise als gleichermaßen kommunikative wie demokratische Wissenschaft. Dies wird insbesondere an dem einleitenden Beitrag von Martin Kipp „Zum beruflichen Wirken von Arnulf Bojanowski an der Gesamthochschule Kassel“ deutlich. Hier wird mit einer besonderen Form biographischer Quellenarbeit anhand von Erinnerungen, Arbeitszeugnissen, Publikationen und Briefverkehren eine von Anfang an integrative Forscherpersönlichkeit konturiert. Der Beitrag verdeutlicht: Kaum hatte er universitären Boden betreten, hat sich Arnulf Bojanowski auch schon in die Verantwortung wissenschaftlichen Projektmanagements begeben. Er hat es demnach von Beginn an verstanden, widerstreitende Persönlichkeiten und Fraktionen in den Konsens einer gemeinsamen Inhaltlichkeit einzubinden. Dies ging jedoch nicht auf Kosten inhaltlicher Stringenz: Von den Kollegschulversuchen der 1970er Jahre bis hin zur Ausgestaltung seiner Beruflichen Förderpädagogik hat er es nachvollziehbar verstanden, um ihn herum zirkulierende Debatten um teils entlegene Bildungssektoren in den Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Reformverständnisses zu setzen.

Dieser gleichermaßen zielgerichtete wie prozesshafte Wissenschaftsstil stößt in der Konzeption seiner Beruflichen Förderpädagogik andererseits auf eine zunächst scheinbar statische Topologie. Arnulf Bojanowski hat über die gesamten 13 Jahre hinweg, in denen die er die Professur für „Sozialpädagogik für die berufliche Bildung“ an der (Leibniz) Universität Hannover innehatte, eine Matrix entwickelt, die sich über die 18 Handlungsfelder seines „Drei-Waben-Modells“ ausbreitete. Damit schloss er an die inhaltliche Leitmetapher seiner wissenschaftlichen Biographie an: Es ist unmöglich, durch das Prisma dieses Modells auf Prozesse und Subjekte der beruflichen Benachteiligtenförderung zu blicken und sie dabei auf persönliche Problematiken und Defizitkategorien zu reduzieren. Die breit angelegte Strukturierung dieser Handlungsmatrix setzt Berufliche Förderpädagogik nicht nur in den Rang einer interdisziplinären Wissenschaft. Sie holographiert außerdem jedes individuelle Verhalten in den Kontexten gesellschaftlicher Einbettungen, bringt förderpädagogische Verfahren und Menschenbilder gegen soziale Deklassierungsprozesse in Stellung und wertschätzt sogar ein scheinbares Scheitern als „produktives Bewältigungshandeln“. Damit ist eine multidimensionale Perspektive auf interaktive pädagogische Prozesse geschaffen, in die sich jedes denkbare förderpädagogische Ereignis einlesen lässt. In dem Stadium, bis zu dem Arnulf Bojanowski sein zu früh beendetes Werk entwickeln konnte, bleibt der dynamische Aspekt dieses Gesamtkonzepts jedoch zunächst auf die Möglichkeit dieses Einlesens beschränkt. Die Gesamtstruktur dieses analytischen Gebildes erscheint noch eher starr. Es ist, als habe Arnulf Bojanowski eine wissenschaftliche Landschaft vermessen, auf der nun vielfältige Prozesse sozialer Lebensbewegungen sichtbar gemacht werden können. Diese Aufgabe, Arnulf Bojanowskis Topologie zur Dynamik einer förderpädagogischen Prozesskonzeption im Stil seiner kommunikativen Wissenschaftlichkeit zu verbinden, erscheint uns als die große Herausforderung seines Erbes.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung sind auch die vier weiteren Beiträge dieser Ausgabe zu lesen. Sie nehmen keineswegs für sich in Anspruch, solch ein Konzept förderpädagogischer Beweglichkeit zu entwickeln. Vielmehr verstehen sie sich im Sinne Arnulf Bojanowskis als tastende Ausdrücke gemeinsamen Denkens, aus denen sich vielleicht einmal weitergehende Konzeptionen entwickeln.

Exemplarisch versucht jede einzelne Ausführung eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die von Arnulf Bojanowski entwickelte analytische Struktur als förderpädagogischer Gesamtprozess gedacht werden könnte. Zunächst ist jeder einzelne Beitrag einem bestimmten Handlungsfeld seines „Drei-Waben-Modells“ zugeordnet. Von dort aus werden zentrale Schlüsselbegriffe aus Arnulf Bojanowski jüngeren Veröffentlichungen aufgegriffen und in einem gesamtgesellschaftlichen Spannungsraum zwischen subjektiven Dispositionen und sozialen Deklassierungsformen als dynamisches förderpädagogisches Verhältnis gedacht.

Der von Martin Koch, Bernd Reschke und Ralf Steckert verfasste Bericht des Workshops I „Zur pädagogischen Idee der Produktionsschule“ ist unübersehbar in dem für Arnulf Bojanowski zentralen Handlungsfeld „Produktionsschule: Didaktisches Vorbild“ angesiedelt. Unter dem Titel „Das Kunstwerk des Subjekts im Produkt: Ein fragmentarisches Tableau zur Reflexion der Produktionsschule“ denken die Autoren, darüber nach, welche Möglichkeiten Produktionsschulen, wahrnehmen könnten, um zwischen den subjektiven Weltaneignungsweisen Jugendlicher und junger Erwachsener und den deklassierten Rollenformaten in vielen Bildungsgängen des Übergangssystems vermitteln zu können. Dabei fokussieren sie den Begriff „Utopische (Produktionsschul-) Horizonte“ und installieren mit „Beziehungen“, „Produktion“, „Kunst und Kreativität“ drei förderpädagogische Formen, mit denen Produktionsschulen zu Übersetzungsstandorten zwischen den Lebenswelten der jungen Menschen und gesellschaftlichen Anforderungen werden könnten.

Martin Koch, Ariane Steuber, Rita Meyer und Philipp Struck fokussieren in ihrem Beitrag „»Inklusive Beruflichkeit«. Zeitgenössische Anforderungen an eine lebensweltorientierte Berufliche Förderpädagogik“ auf der Grundlage des Workshops II Kernelemente Beruflicher Förderpädagogik. Damit verorten sie sich mit „Produktionsorientierung und Beruflichkeit“, „Curriculum und Didaktik“ sowie „Milieu und Lebenswelt“ gleich an mehreren Eckpunkten des Drei-Waben-Modells. Vor dem Hintergrund aktueller Diskurse um Employability, Inklusion und Lebensweltorientierung weisen sie Beruflicher Förderpädagogik ebenfalls die oben angesprochene Übersetzungsfunktion zwischen den Aneignungserfahrungen der jungen Menschen und zunehmenden beruflichen Anforderungen zu. Während zeitgenössische Diskurse um Inklusion in der beruflichen Bildung und dem demografischen Wandel einen Wegfall von Zugangsbarrieren zu beruflicher (Aus-) Bildung und Tätigkeit suggerieren, wachsen gleichzeitig die Ansprüche an eine „Spezielle Didaktik“ und die Ausgestaltung entsprechender Schonräume, die nach wie vor für die Förderung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen notwendig sind. Die Autor_innen skizzieren bestehende Konzepte und leiten daraus Überlegungen ab, wie eine Berufliche Förderpädagogik zum Motor vermittelnder Interaktion werden könnte.

Workshop III – „Utopische Entgegensetzungen zu Moratorium 2.0“ – wird in zwei Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Ausgangspunkt beider Aufsätze ist der bedeutsame/epochale Aufsatz „Moratorium 2.0. Oder: Wie das Übergangssystem in Sozialisations- und Individuationsprozesse eingreift“, mit dem Arnulf Bojanowski im Jahre 2012 seine pessimistische Sicht auf berufliche Exklusion im Kontext des zeitgenössischen Übergangsgeschehens ausdrückte. Wiebke Petersen und Günter Ratschinski beleuchten diese Thematik aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln: Günter Ratschinski verortet seinen Beitrag unter dem Titel „Der vergessene Teil der Generation Y. Haben sich auch die Zukunftserwartungen benachteiligten Jugendlicher verändert?“ im erweiterten Handlungsfeld „Zielgruppen“. Er stellt dar, wie sich innerhalb weniger Jahre die Rahmenbedingungen, Lebensweisen und Voraussetzungen der Adressaten einer beruflichen Förderpädagogik verändert haben und verweist damit auf die Notwendigkeit einer ständigen Aktualisierung des von Arnulf Bojanowski vorgelegten Strukturierungskonzepts. Wiebke Petersen dagegen entwickelt unter der Überschrift „Überlegungen zu „Moratorium 2.0 (…)“ oder wie Sozialisations- und Individuationsprozesse in einem künftigen Übergangssystem in der Integrationsgesellschaft gestalten werden könnten“ mit der alternativen Aufbaustufe einen Gegenentwurf. Damit verortet sie sich am entscheidenden offenen Ende von Arnulf Bojanowskis Strukturierungsmodell, nämlich der „Weiterentwicklung der Beruflichen Förderpädagogik“ und unterstreicht gleichsam noch einmal die gewaltige Herausforderung, die Arnulf Bojanowski hinterlassen hat.

Allen, die seinen kommunikativen Stil erlebt haben und davon profitierten, stellt sich unseres Erachtens die gemeinsame Aufgabe, das bestehende Strukturierungsmodell zu einer dynamischen und prozessorientierten förderpädagogischen Gesamtkonzeption zu verbinden.

Martin Koch, Günter Ratschinski, Ralf Steckert, Ariane Steuber & Philipp Struck
im September 2017

Literatur

Bojanowski, A. (2005): Umriss einer beruflichen Förderpädagogik. Systematisierungsvorschlag zu einer Pädagogik für benachteiligte Jugendliche. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./Straßer, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits. Studien zur beruflichen Benachteiligtenförderung. Bielefeld, 330-362.

Bojanowski, A. (2012): „Moratorium 2.0“. Oder: Wie das Übergangssystem in Sozialisations- und Individuationsprozesse eingreift. In: Ratschinski, G./Steuber, A. (Hrsg.): Ausbildungsreife. Kontroversen, Alternativen und Förderansätze. Wiesbaden, 115-132.

Bojanowski, A. et al. (2013) (Hrsg.): Einführung in die Berufliche Förderpädagogik. Pädagogische Basics zum Verständnis benachteiligter Jugendlicher. Münster.

 

Zitieren des Beitrags

Koch, M./Ratschinski, G./Steckert, R./Steuber, A./Struck, P. (2017): Editorial zum bwp@ Spezial 15: Berufliche Förderpädagogik: Von der analytischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski, hrsg. v. Koch, M./Ratschinski, G./Steckert, R./Steuber, A./Struck, P., 1-5. Online: http://www.bwpat.de/spezial15/editorial_spezial15.pdf (08-09-2017).