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bwp@ Ausgabe Nr. 22 | Juni 2012
Funktionen und Erträge pädagogischer Diagnostik im wirtschafts- und berufspädagogischen Bereich
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 22 sind Tade Tramm, Susan Seeber & H.-Hugo Kremer


Editorial bwp@ 22

Editorial von Tade TRAMM (Universität Hamburg), Susan SEEBER (Universität Göttingen) & H.-Hugo KREMER (Universität Paderborn)

Funktionen und Erträge pädagogischer Diagnostik im wirtschafts- und berufspädagogischen Bereich

  http://www.bwpat.de/ausgabe22/editorial_22.pdf

In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, der Berufsbildungspraxis und der Berufsbildungspolitik sind in den vergangenen Jahren Fragen der pädagogischen Diagnostik zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.

Nach KLAUER wird unter Pädagogischer Diagnostik „das Insgesamt von Erkenntnisbemühungen im Dienste aktueller pädagogischer Entscheidungen“ verstanden, wobei es „um die Feststellung von Sachverhalten, Tatsachen, Eigenschaften oder Merkmalen, Bedingungen und dergleichen“ gehe.“ Die Erkenntnisbemühung der Pädagogischen Diagnostik stehe „immer im Dienste einer pädagogischen Entscheidung, sei es einer Planungsentscheidung, einer Handlungsentscheidung, einer Feststellungs- und Bewertungsentscheidung. Sie wird alles an Informationen zu gewinnen suchen, was zu einer begründeten Entscheidung beiträgt“ (KLAUER 1978, 6-7).

Diese Sicht öffnet auch den Blick für den Umkehrschluss: Pädagogische Entscheidungen auf allen Ebenen haben immer schon Aspekte pädagogischer Diagnostik umfasst und die Fähigkeit zur pädagogischen Diagnostik ist seit jeher ein wesentliches Merkmal pädagogischer Professionalität. Ohne den differenzierten Blick auf die Ausgangsbedingungen von Lehr-Lern-Prozessen, auf deren Verlaufsmerkmale und deren Effekte ist Lehrhandeln schlechterdings nicht denkbar; Schullaufbahnentscheidungen, Einstellungsentscheidungen in eine betriebliche Ausbildung oder die Beurteilung von Schülerleistungen sind Routinetätigkeiten von Berufspädagogen. Auch Urteile über Bildungsgänge, über Schulen oder ganze Bildungssysteme sind im bildungspolitischen Diskurs keineswegs neu.

Hinzugekommen ist allerdings spätestens seit den 1990er Jahren die Einsicht in die systematische Bedeutsamkeit dieser Leistungen und in die Notwendigkeit, sie als Kompetenzbereich von Lehrkräften gezielt zu fördern. So sieht Weinert die Diagnosekompetenz von Lehren - neben der fachlichen und fachdidaktischen und der Klassenführungskompetenz - als eine von vier Schlüsselkompetenzen für erfolgreiches Lehrerhandeln und auch die KMK weist sie in ihren Professionsstandards des Lehrerberufs als eigenständige Kompetenzdimension aus. Gewachsen ist zugleich seit den Bildungssystemvergleichen der 90er Jahre auch die Erkenntnis, dass es überall dort, wo durch Prüfungen und Laufbahnentscheidungen Lebenswege und Lebenschancen junger Menschen bestimmt oder wo bildungspolitische Entscheidungen verantwortlich getroffen werden sollen, unverzichtbar ist, diese unter Nutzung wissenschaftlicher Verfahren und methodologischer Standards der Sozialwissenschaften und der Psychologie empirisch zu fundieren.

In einem Artikel für die FAZ wies Andreas Helmke zu Recht darauf hin, dass die Zeit populistischer Floskeln der Art „Vom Wiegen wird die Sau nicht fett“ oder „Nicht vermessen, sondern entwickeln“ vorbei sei. Diagnostik allein nütze zwar nicht; man müsse das eine tun, ohne das andere zu lassen. „Schulentwicklung ohne ein solides empirisches Fundament ist wie ‚Stochern im Nebel’, es gleicht einem Blindflug“ (FAZ 8.1.2009, 8).

All dies gilt uneingeschränkt auch für den Bereich der beruflichen Bildung. Damit wird ein Fragenkomplex aufgeworfen, der systematischer Forschung und intensiver Diskurse im Kreise der Fachleute bedarf. Gleichzeitig ist der Gefahr entgegenzuwirken, Pädagogische Diagnostik ausschließlich als ein hochspezialisiertes Feld erziehungswissenschaftlich-psychologischer und fachdidaktischer Forschung zu begreifen, das weitgehend abgekoppelt ist von der Alltagspraxis der pädagogisch Tätigen.. Der produktive Austausch zwischen Wissenschaft, pädagogischer und politisch-administrativer Praxis ist gerade in diesem Feld und gerade in dieser Phase der intensiven Bemühungen um eine wissenschaftliche Fundierung pädagogischer Diagnostik unverzichtbar Insofern bietet bwp@ mit dieser Ausgabe ein Forum, in dem unterschiedliche Sichtweisen auf diesen wichtigen pädagogischen Aufgabenbereich ausgetauscht werden. Wir starten bwp@ 22 mit zehn Beiträgen, die wir in drei Gruppen bündeln. Weitere Beiträge erwarten wir für die inzwischen obligatorischen Updates in den kommenden Wochen.

Teil A: Methodologische und theoretische Grundsatzfragen pädagogischer Diagnostik

Margot OHLMS eröffnet die Reihe der Beiträge zu Grundsatzfragen pädagogischer Diagnostik mit einem Forschungsbericht unter dem Titel „Diagnosekompetenz durch Kompetenzdiagnose – Beschreibung und Entwicklung diagnostischer Kompetenz bei Lehrkräften“. Hierin geht sie auf der Grundlage qualitativer Interviewauswertungen der Frage nach, “welche Vorstellungen Lehrkräfte von pädagogischer Diagnose haben und welche Veränderung durch die Teilnahme an einer schulinternen Fortbildungsreihe im Hinblick auf ihre diagnostische Kompetenz“ bewirkt wird. Die Daten zur Veränderung von Alltagsparadigmen diagnostischer Kompetenz durch eine einschlägige Fortbildungssequenz werden in dem Sinne gedeutet, „dass Lehrende eine theoretisch reflexive Auseinandersetzung mit dem Thema benötigen“ und dass es von herausragender Bedeutung ist, im Bildungsgangteam ein einheitliches Verständnis über Kompetenzstandards und die Entwicklung von Kompetenzen zu entwickeln.

Ulrike FROSCH setzt sich unter dem Titel „Pädagogische Diagnostik im Spiegel klassischer Lerntheorien - Aktuelle Herausforderungen im Kompetenzdiskurs angesichts einer ‚Theorie-Methoden-Passung‘“ mit der Frage der paradigmengerechten Gestaltung der Kompetenzerhebung im Spannungsfeld von Kognitivismus und Konstruktivismus auseinander. Im Ergebnis zeigt sie, dass derzeit weder handlungsorientierte noch kognitionstheoretische Ansätze geeignet erscheinen, der Komplexität eines mehrdimensionalen Kompetenzbegriffs im Sinne Weinerts gerecht zu werden.

In ähnlich grundsätzlicher Weise setzt sich Reinhold S. JÄGER in seinem Diskussionsbeitrag „Pädagogische Diagnostik und Förderung: Vom Erkennen zum Handeln“ mit der Frage auseinander, wie Pädagogische Diagnostik konzipiert sein muss, um die weitgespannten Ansprüche erfüllen zu können, die an eine wissenschaftliche Fundierung pädagogischer Förderung in allen Bereichen gestellt werden. Er plädiert für die Etablierung bewährter Wirkmodelle und die darauf aufbauende „Neu-)Entwicklung diagnostischer Instrumente“, bringt aber auch die Idee des „local educational scientist“ ins Spiel, „der im Kontext kumulativer Erfahrungsverwertung“ in der Lage ist, die „Voraussetzungen für die Bewährung von Wirkmodellen herzustellen“.

Teil B: Fragen der Individualdiagnostik bei Übergangs- und Karriereentscheidungen

Günter RATSCHINSKI und Philipp STRUCK berichten in ihrem Forschungsbeitrag „Entwicklungsdiagnostik der Berufswahlbereitschaft und -kompetenz“ über eine breit angelegte empirische „Konzeptüberprüfungen an Sekundarschülern in einer regionalen Längsschnittstudie“. Im Mittelpunkt stand dabei der Ansatz, in einem neuen Erfassungsinstrument „klassische Berufswahlindikatoren sensu SUPER um Konzepte neuerer Berufswahl- und Entwicklungstheorien so zu erweitern, dass die „Sensitivität der Indikatoren für Entwicklungen und Maßnahmen im Entwicklungsfenster des Berufswahlprozesses“ gestärkt wird. Die so erfassten Dimensionen der Berufswahlkompetenz bilden, den Autoren zufolge, „Maßnahmeneffekte deutlich und differenziert ab“. Dabei scheinen sich die praktischen Erfahrungen in der betrieblichen Tätigkeit und die Beratungen der Arbeitsagentur als effektivste Berufsorientierungsmaßnahmen zu erweisen.

Gaby STEINRITZ, Hans KAYSER und Birgit ZIEGLER folgen in ihrem Beitrag „Erfassung des beruflichen Aspirationsfelds Jugendlicher – IbeA, ein Diagnoseinstrument für Berufsorientierung und Forschung“ der These, dass berufliche Aspirationen im Kontext von Berufswahlprozessen nicht nur über bewusste Interessen entstehen, „sondern auch über vorbewusste Faktoren wie den Wunsch, eine bestimmte soziale Rolle in Bezug auf Geschlecht und Prestige einzunehmen“. Die Autoren begründen diesen Ansatz theoretisch unter Berufung auf Arbeiten GOTTFREDSOHNs und stellen eine eigene empirische mixed-methods-Studie zur Erfassung des beruflichen Aspirationsfeldes von Jugendlichen vor. Die daraus entwickelte zweidimensionale „kognitive Landkarte“ des beruflichen Aspirationsfeldes soll Grundlage eines digitalen Instruments zur schrittweisen Eingrenzung akzeptabler Berufe in der Berufsberatung werden.

Teil C: Pädagogische Diagnostik im Kontext der Unterrichtsentwicklung

Unter der Rubrik ‚Pädagogische Diagnostik im Kontext der Unterrichtsentwicklung‘ haben wir Beiträge zusammengeführt, die insbesondere im Zusammenhang mit Ansätzen zur Prozessdiagnostik, zur externen und internen Evaluation von Unterrichtsqualität oder als Grundlage für Angebote zur Individualisierung und Differenzierung von Bildungsprozessen anzusiedeln sind.

Viola Katharina KLOTZ und Esther WINTHER beschäftigen sich mit der aktuellen Prüfungspraxis in der kaufmännischen Berufsausbildung zwischen Prozessorientierung und Fachbezug. Der Beitrag thematisiert Fragen der  Validität und Reliabilität kaufmännischer Abschlussprüfungen anhand von Kammerprüfungen des Prüfungsbereichs ‚Geschäftsprozesse‘ von Industriekaufleuten. Die Autorinnen weisen anhand dieses Fallbeispiels sowohl konzeptionelle als auch empirische Limitationen aus. Entwicklungsbedarf wird u. a. in der Umsetzung eines prozessbezogenen Kompetenzmodells gesehen und der eher zufälligen Diagnose in hohen und niedrigen Kompetenzausprägungen.

Manuel FÖRSTER, Roland HAPP und Olga ZLATKIN-TROITSCHANSKAIA untersuchen die diagnostische Eignung des Wirtschaftskundlichen Bildungstests (WBT) zur Erfassung des volkswirtschaftlichen Fachwissens. Die Autorengruppe stellt die Notwendigkeit von diagnostischen Messverfahren heraus und weist ebenso auf spezifische Probleme für diesen Bereich hin. Dem Beitrag liegt eine Fragebogenerhebung in einer Universität und Fachhochschule zugrunde. Auch wenn der WBT nicht für die Gruppe der Hochschulstudierenden entwickelt wurde, wird dieser als valides Instrument zur Beurteilung des ökonomischen Fachwissens eingestuft. Allerdings scheint eine Weiterentwicklung für Veränderungen im Verlaufe des Studiums erforderlich.

Im Beitrag‚ Messung der Befähigung zum Umgang mit Geld und Finanzthemen: Ausgewählte Instrumente und alternative diagnostische Zugänge‘ stellt die Carmela APREA die Notwendigkeit systematisch organisierter Lern- und Bildungsprozesse zum Umgang mit Geld- und Finanzthemen heraus. Damit wird es zunehmend erforderlich, den einschlägigen Lernbedarf als Basis der Unterrichtsarbeit zu bestimmen. Hierzu werden zwei durchaus unterschiedliche Studien erörtert, in denen individualdiagnostische Instrumente aufgearbeitet und eine Grundlage für Angebote einer gegenstandsbezogenen Individualisierung des Unterrichts geschaffen werden.

Mit dem Konzept‚ funktionalen Lesens‘ werden die Besonderheiten des Lesens im beruflichen Handlungskontext von Birgit ZIEGLER, Aileen BALKENHOL, Christina KEIMES und Volker REXING aufgenommen. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Beitrag mit der Diagnostik funktionaler Lesekompetenz. Die Basis bildet die Vorstellung und Diskussion eines Modells zu funktionalen Leseanforderungen und darauf aufbauend der Erfassung von Lesefähigkeiten im beruflichen Kontext. Damit wird ein Rahmen zur Entwicklung eines Testinstruments zur Diskussion gestellt.

Anja MINDNICH wirft in ihrem Beitrag den Blick auf den Umgang von Lehrkräften mit Fehlersituationen. Unter dem Titel‚ Lehrerurteile in unterrichtlichen Fehlersituationen. Theoretische Rekonstruktion eines schulischen Alltagsphänomens‘ wird auf den Urteilsprozess im Rahmen informeller Diagnosevorgänge fokussiert. Das von Heinrich entwickelte Modell der Handlungsgenese wird von der Verfasserin als Rahmen der eigenen Modellierung herangezogen. 

Für die Beiträge zu dieser Ausgabe danken wir den Autorinnen und Autoren recht herzlich. Die vorliegenden Beiträge verdeutlichen unterschiedliche Zugänge zum Themengebiet der pädagogischen Diagnostik im wirtschafts- und berufspädagogischen Bereich. Wir hoffen, dass es mit der Ausgabe 22 gelingt, unterschiedliche Diskussionsstränge zusammenzuführen und neue Ansatzpunkte in der aktuellen Diskussion zu eröffnen. Weitere Beiträge werden in den Updates folgen.

Zugleich möchten wir uns bei den ständigen Mitarbeitern von bwp@ bedanken, die auch die Ausgabe 22 mit ihrem unermüdlichen Einsatz, engagierter redaktioneller Arbeit, einfühlsamer Autorenbetreuung, exzellenter Übersetzung der Abstracts, gewohnt souveräner und gegenüber manchen terminlichen Zumutungen langmütiger Gestaltung der Online Version und freundlichen Hinweisen zur Koordination unser Herausgebertätigkeit erst ermöglicht haben.

Tade Tramm, Susan Seeber & H.-Hugo Kremer

im Juni 2012