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bwp@ Ausgabe Nr. 20 | Juni 2011
Lernfeldansatz - 15 Jahre danach
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 20 sind Tade Tramm, H.-Hugo Kremer & Ralf Tenberg

Die Probleme mit den Problemen: Oder Missverständnisse bei der Konstruktion von Lernsituationen

Beitrag von Bernadette DILGER (Universität zu Köln)

Abstract

Lernfeldstrukturierte Lehrpläne in den Bildungsgängen der Berufsschule werden über Lernsituationen konkretisiert und implementiert. Lernsituationen stellen die Bündelung didaktischer Entscheidungen und Begründungen dar, in denen sich das Verständnis von Lernfeldern niederschlägt und aktualisiert. Damit eignen sie sich besonders als Untersuchungsgegenstand für die Erforschung des vorhandenen Verständnisses von Lehrkräften in Bezug auf die Implementation von lernfeldstrukturierten Lehrplänen. An die Gestaltung von Lernsituationen werden konzeptionell begründete Ansprüche bezüglich Problemorientierung, Situierung, Prozessorientierung, Kompetenzorientierung, wissenschaftliche Adäquatheit, Anwendungsorientierung und Selbststeuerung gestellt. Inwieweit es den Lehrerteams gelingt, diesen Ansprüchen bei der Konzeption von Lernsituationen gerecht zu werden, bzw. wie diese in der didaktischen Arbeit berücksichtigt werden, ist bisher weitgehend empirisch unerforscht. Die Ergebnisse einer Untersuchung von Lernsituationen im Umfang von ca. 480 Unterrichtsstunden aus den Berufen (Zahn-)medizinische Fachangestellte, Kaufmann / Kauffrau im Einzelhandel lassen erkennen, dass Konstruktionsprobleme insbesondere in der Definition von Problemen, der Gestaltung von Handlungsabläufen, der Kompetenzmodellierung sowie der Systematik des Kompetenzerwerbs entstehen. Die dokumentierten Lernsituationen werden in ihren didaktischen Entscheidungen rekonstruiert und in ihren Gestaltungsoptionen typisiert. Aus der Untersuchung wird eine Beschreibung von Missverständnissen in Bezug auf die Konstruktion von Lernsituationen entwickelt. Über dieses Aufzeigen von Konstruktionsproblemen, wird und kann das Verständnis von Lernsituationen geschärft werden.


The problems with the problems: Or misunderstandings in the construction of learning situations

Curricula structured along areas of learning lines in courses at vocational schools are concretised and implemented using learning situations. Learning situations represent the collection of didactic decisions and justifications, in which the understanding of areas of learning finds expression and is up-dated. Therefore they are particularly appropriate as an object of investigation for the research of the current understanding of teachers with regard to the implementation of curricula structured along areas of learning lines. Conceptually justified demands concerning problem orientation, situation, process orientation, competence orientation, academic adequacy, application orientation and self-direction are set against the design of learning situations. The extent to which the teacher teams succeed in meeting these demands in the conception of learning situations, or the extent to which these are taken into account in the didactic work, has been very little researched up till now. The results of an investigation of learning situations in some 480 lessons in the professions of medical/dental employee, trained retail salesman or saleswoman, show that construction problems, particularly in the definition of problems, the design of sequences of action, the modelling of competences, as well as the system of developing competences, arise. The learning situations documented are reconstructed in their didactic decisions and allocated a type according to their design options. From the investigation a description of misunderstandings relating to the construction of learning situations is developed. Using this demonstration of construction problems the understanding of learning situations can and will be sharpened.

1 Lernsituationen im Blick - Hintergrund

Durch die Veröffentlichung der Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe (vgl. KMK 2007), wurde 1997 die Einführung lernfeldstrukturierter Lehrpläne für den schulischen Teil der Berufsausbildung festgelegt. Die Umsetzung von lernfeldstrukturierten Lehrplänen erfolgt an den Berufsschulen und hat vielfältige Veränderungen in der berufsschulischen Arbeit mit sich gebracht. Beginnend wurde die Umsetzung mit Modellversuchen und Modellprojekten (exemplarisch sei auf die Modellversuche NELE und SELUBA vgl. BADER/ SLOANE 2000 und CULIK vgl. CULIK (o. J.) verwiesen) begleitet. Im weiteren Verlauf der Einführung und mit einer immer größeren Anzahl an Berufen, die auf einen lernfeldstrukturierten Lehrplan zurückgreifen, nimmt die Erwartung an Berufsschulen zu, dass die Umsetzung keiner weiteren ‚zusätzlichen’ Unterstützungshilfe bedarf. Nach nunmehr 15 Jahren ‚Erfahrung’ der Berufsschulen mit dem Lernfeldkonzept vor Ort stehen die Schulen vor bekannten Aufgaben und Herausforderungen, die ohne weitere Unterstützung durch die Lehrerkollegien realisiert werden können. Im Zuge der Umsetzung des Lernfeldkonzepts haben Autoren darauf verwiesen, dass sich die Aufgabenfelder für Lehrkräfte verändern, neue Aufgaben, insbesondere curriculare und evaluative Aufgaben, hinzukommen (vgl. SLOANE 2003, BUSCHFELD 2002) und sich die Arbeitsorganisationsform in den Kollegien ändert (vgl. KREMER/ SLOANE 2000, BUSCHFELD 2002).

Zwei Elemente sind in der Umsetzung lernfeldstrukturierter Lehrpläne in den Bildungsgängen der dualen Ausbildungsberufe zentral: Die Entwicklung didaktischer Jahresplanungen und die Entwicklung von Lernsituationen. In einem ersten Schritt stellt die didaktische Jahresplanung die Makroplanung dar. Sie stellt eine sachliche und zeitliche Anordnung der Lernfelder dar und nimmt eine Zuordnung auf die schulisch-strukturierte Zeitplanung vor, die um schulorganisatorische Entscheidungen ergänzt wird. In einem weiteren Schritt ist die Binnenstrukturierung der Lernfelder und deren Sequenzierung und Zuordnung zu Zeitfenstern und Ressourcen erforderlich, dafür ist in der Mikroplanung die Entwicklung von Lernsituationen konstitutiv. In den Lernsituationen werden die Vorgaben aus den Lernfeldern konkretisiert und stellen die Grundlage für die Umsetzung in den Unterricht dar. Elemente der didaktischen Jahresplanung sind innerhalb der Lernfelder die Lernsituationen, die durch die beteiligten Lehrenden entwickelt werden (vgl. BUSCHFELD 2010).

2 Verständnis von Lernsituationen

„Lernsituationen sind exemplarische curriculare Bausteine, in denen fachtheoretische Inhalte in einen Anwendungszusammenhang gebracht werden; sie sollen die Vorgaben der Lernfelder in Lehr-/Lernarrangements weiter konkretisieren“ (KMK 2007, 18). Mit diesen wenigen Hinweisen stellt die Handreichung der KMK ihr Verständnis von Lernsituationen als die Form der Umsetzung lernfeldstrukturierter Lehrpläne in den Unterricht dar. In dieser Definition lassen sich zwei Lesarten für Lernsituationen erkennen: Lernsituationen als curriculare Elemente oder Lernsituationen als Lehr-/Lernarrangements.

2.1 Lernsituationen als curriculare Elemente

Mit dem ersten Teilsatz adressiert die Definition ein Verständnis von Lernsituationen im engeren Sinn. Lernsituationen stellen dort die ‚kleinste’ curriculare Einheit dar. Folglich geht es in der Entwicklung von Lernsituationen um eine curriculare Konstruktion des Lerngegenstandes. Im Zusammenhang mit den didaktischen Grundsätzen (KMK 2007, 12 ff.) wird dabei deutlich, dass Lernsituationen Handlungsbezüge in situierten Kontexten darstellen. Lernsituationen als curriculare Einheit legen die Perspektive zu Grunde, dass die Inhalte in ihrem Verwendungskontext thematisiert werden. Mit dieser ersten Definition wird deutlich, dass in den Lernsituationen Lerngegenstände so konkretisiert werden sollen, dass sie geeignet sind, die „Kluft zwischen Wissen und Handeln“ (vgl. MANDL/ GERSTENMEIER 2000) zu überwinden, indem festgelegt wird, wozu ein Inhaltskomplex benutzt wird. Um Lernsituationen in dieser Form entwickeln zu können, bedarf es einer Rekonstruktion der Handlungsvollzüge, die in den Lernfeldern auf einer höheren Aggregationsstufe mit Referenz auf das berufliche Handlungsfeld festgelegt wurden.

Lernsituationen in einem curricularen Verständnis stellen die Formulierungen von „...problemlösungsbezogene[r] Aktivität eines reflexiven Subjektes in situativen Kontexten“ (BUSCHFELD 2003, 2) dar. Als Ergebnis der Entwicklung von Lernsituationen kann vor diesem Hintergrund eine Beschreibung des Lerngegenstandes erwartet werden, die deutlich macht, mit welchen Handlungsvollzügen sich die Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen und welcher Beitrag dadurch in der Entwicklung der Handlungskompetenz erreicht werden soll. In diesem engen Verständnis wird herausgestellt, dass damit die Perspektive der Lerner und deren Prozesse im Blick ist und noch keine Aussagen über die weitere Ausgestaltung der erforderlichen Interventionen der Lehrenden in und für die Erarbeitung von Lernsituationen festgelegt werden.

2.2 Lernsituationen als komplexe Lehr-/ Lernarrangements.

Mit dem zweiten Teil der Definition der KMK zu Lernsituationen wird die Perspektive der Verschränkung von Lern- und Lehrprozesse aufgenommen. BUSCHFELD (vgl. 2003, 2) spricht an dieser Stelle von einer Verkürzung in der aktuellen Diskussion in der Differenz von Lernhandlung und Lehrsituation. Lernsituationen im Verständnis von komplexen Lehr-/ Lernarrangements umfassen sowohl die didaktisch-curriculare, als auch die didaktisch-methodische Ebene. In diesem Verständnis umfassen Lernsituationen die zu antizipierenden Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler und darauf bezogene (Unterstützungs- und Begleit-) Handlungen der Lehrenden. An dieser Stelle wird die Umkehr der didaktischen Argumentationsweise deutlich: Bezugspunkt für die Gestaltung der didaktisch-methodischen Interventionen sind in diesem Sinne nicht mehr die erforderlichen Lehrhandlungen, um einen Inhalt zu vermitteln, die sich aus verschiedenen Kombinationen von Sozial- und Aktionsformen ergeben. Bezugspunkt ist nunmehr die Handlung der Lerner in ihrem Ablauf und mit antizipierten Schwierigkeiten bzw. mit daraus abgeleiteten Unterstützungsleistungen durch die Lehrenden. Dadurch dass in Lernsituationen Handlungen von Lernern als Ergebnishandlungen beschrieben werden, sie diese jedoch erst im Verlauf der Handlung erarbeiten, ist davon auszugehen, dass im Vollzug der Lernhandlung Bedarf an Hilfestellungen, Beratung, Hinweisen usw. entsteht, der über die didaktisch-methodische Gestaltung der Intervention aufgenommen werden muss. Mit diesem zumindest zweifachen Verständnis von Lernsituationen wird die Diskussion um Lernsituationen erschwert, da auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Reichweiten diskutiert wird.[1] Unklar wird dadurch der Erwartungshorizont an Lernsituationen, die von Lehrerinnen und Lehrern eingefordert werden. Different werden auch Gestaltungsempfehlungen für die Entwicklung von Lernsituationen.

3 Gestaltungskriterien für Lernsituationen

Im Zuge der Begleitung der Umsetzung von lernfeldstrukturierten Lehrplänen in Unterrichtskonzeptionen wurden eine Reihe von Katalogen an Gestaltungskriterien erarbeitet. Die folgende Tabelle zeigt vier ausgewählte Kataloge (vgl. BADER/ MÜLLER 2002b, BUSCHFELD 2003, SLOANE 2009 sowie  TRAMM bzw. CULIK 2004).

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Abb. 1:  Gestaltungskriterien für Lernsituationen

Im Vergleich der Gestaltungskriterien-Kataloge fällt auf, dass es zum einen einen deutlichen Unterschied innerhalb der Kataloge auf der Basis des jeweiligen Grundverständnisses (vgl. Punkt 2) gibt. Des Weiteren fallen deutliche Unterschiede in der Anbindung an Vorläufer-Diskussionen in den Katalogen auf: Finden sich bei BADER/ MÜLLER (vgl. 2002b) Aspekte, die die Frage des Bildungsgehaltes von Lerngegenständen thematisieren, wird dort insbesondere die Anbindung an die bildungstheoretische Position KLAFKIs (vgl. 1963) und die Diskussion um Handlungsorientierung als Zieldimension (vgl. BADER/ MÜLLER 2002a) sichtbar. In den Ausführungen BUSCHFELDs ist die Anbindung an die Handlungstheorie  und Problemlösetheorie deutlich (vgl. JONGEBLOED 1984). Bei SLOANE können im Strukturmodell Anleihen aus dem Berliner Modell (vgl. HEIMAN/ OTTO/ SCHULZ 1965) erkannt werden, die mit Aspekten der Handlungstheorie (vgl. HACKER 1986) verknüpft werden. Mit TRAMM werden – in dem umfänglichsten Katalog mit mehr als 20 Gestaltungsaspekte aus dem Modellversuch CULIK (vgl. o. J.) – vor allem Anleihen an die Diskussionen im Rahmen komplexer Lehr- / Lernarrangements (vgl. ACHTENHAGEN 1992) herausgestellt.

Deutlich wird, dass die Gestaltung von Lernsituationen sich an vielfältige didaktische Traditionen anbinden lässt. Schwierig dabei sind die Betonung einzelner Aspekte in den jeweiligen Katalogen und die entstehende Pfadabhängigkeit. So entsteht in der Literatur, jedoch besonders für Lehrkräfte, der Bedarf an Verständnisklärung und dem Schaffen einer gemeinsamen Konzeptionsgrundlage. Konkretisiert wird diese Unsicherheit in der Frage „Was macht eine Lernsituation zur Lernsituation?“ bzw. „Was unterscheidet eine ‚gute’ Lernsituation von einer ‚weniger guten’?“[2]

4 Orientierungsmuster für die Entwicklung von Lernsituationen

Eine Facette, die in der bisherigen Diskussion um die Entwicklung von Lernsituationen vorrangig programmatisch diskutiert wird, ist die angenommene Verbindung vom schulischen Entwicklungsraum für Handlungskompetenz zum beruflichen Anwendungsfeld. Die Frage des Transfers und transferförderlicher Aspekte wird damit zentral. Für die Entwicklung von Lernfeldern wird dazu auf die ‚didaktische Aufbereitung’ des beruflichen Handlungsfeldes verwiesen. Schwierigkeiten entstehen, wo es divergente Auffassungen des beruflichen Handlungsfeldes gibt, bzw. da in den bisherigen Ordnungsmitteln – u. a. auch nicht in den Eckpunkten oder den Berufsbildpositionen – eine Aufforderung zur systematischen Bestimmung des beruflichen Handlungsfeldes gibt.

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Abb. 2:  Orientierungsmuster für Lernsituationen

In der Entwicklung von Lernsituationen ist der Zusammenhang zwischen Lernfeld und beruflichem Handlungsfeld konstitutiv, wobei sich in der Umsetzung dieser Zusammenhang verkürzt darstellt auf den Aspekt der ‚Abbildung’ möglichst realer bzw. authentischer Aufgabenstellungen in den berufsschulischen Kontext. In diesem Zusammenhang ist die Trennung zwischen dem Handlungsergebnis, was in einer Lernsituation erreicht werden kann und dem damit verbundenen, jedoch nicht identischen, intendierten Lerneffekt zu beachten (vgl. TRAMM 2007, 119).[3] Nicht das Handlungsergebnis einer Lernhandlung kann und soll in den beruflichen Kontext übertragen werden, sondern das individuelle Lernergebnis. Der in den didaktischen Grundsätzen der KMK betonte Aspekt des ‚Lernen durch Handeln’ (vgl. KMK 2007, 12) kann in einer verengten Auslegung jedoch zur Auffassung führen, dass der konkrete Ablauf sowie das Ergebnis der Handlung möglichst direkt in das berufliche Handlungsfeld übertragbar sein sollen. Durch die hier betonte Differenz zwischen Handlungsergebnis und intendierten Lerneffekt wird der instrumentelle Zusammenhang zwischen dem Lernfeld und dem beruflichen Handlungsfeld betont. Um diesen Zusammenhang deutlich zu machen, bedarf es der Sichtweisen von ‚Lernen, weil ich handle’ und ‚Lernen, um zu handeln’.

5 Re-Konstruktion von Lernsituationen, um Missverständnisse aufdecken zu können

Nachfolgend wird eine qualitative, inhaltsanalytische Studie, in der 73 Lernsituations-Konzeptionen aus fünf beruflichen Schulen aus dem Modellversuch segel-bs im Umfang von ca. 480 Unterrichtsstunden rekonstruiert wurden, dargestellt. Grundgedanke bei der Anlage der Studie war es, dass über eine strukturierte Rekonstruktion von Lernsituationsdokumenten  die Lernsituationen vergleichbar gemacht werden können.

5.1 Zielsetzung der Studie

Zielsetzung ist es, über eine kriteriengeleitete Interpretation auf Schwierigkeiten und Probleme in der Entwicklung von Lernsituationen zu stoßen. Aus der Analyse vorliegender Beschreibungen von Lernsituationen kann auf das Verständnis von Lernsituationen geschlossen werden. Vorliegende Lernsituationsdokumentationen dienen somit als Indikatoren für das implizite Verständnis von Lernsituationen der entwickelnden Lehrerinnen und Lehrer. Für die Studie wurden Lernsituationen aus den Ausbildungsgängen „(zahn-) medizinische Fachangestellte/r“ sowie „Kaufmann / Kauffrau im Einzelhandel“ verwendet. Die Lernsituationen wurden im Rahmen des Verbundmodellversuchs segel-bs der Länder NRW und Bayern[4] von Lehrerinnen und Lehrer an fünf bayerischen Berufsschulen entwickelt.

Die Lernsituationen konnten für die Studie herangezogen werden, da sie in einer einheitlichen Struktur dokumentiert wurden und von daher einer vergleichenden Sichtweise zugänglich sind. In der Auseinandersetzung mit Lernsituationen fällt auf, dass sich in der Breite der Umsetzung in Deutschland noch kein ‚Standard’ für die Dokumentation von Lernsituationen oder ihrer Kernelemente herausgebildet hat. An vielen Stellen stehen zwar einzelne Beispiele zur Verfügung. Die Mehrheit von konkreten Lernsituationen verbleibt innerhalb der einzelnen Bildungsgänge und ist aufgrund ihres internen Arbeitspapier-Charakters oftmals nur schwer zugänglich. Von daher liegt in dem Rückgriff auf die in den Modellversuchen entwickelten Materialien ein hohes Potential, da hier unterschiedliche Lernsituationen in einer gleichen Rahmenstruktur dokumentiert vorliegen. Kritische Stimmen mögen einwenden, dass es damit zu einer Vermischung von wissenschaftlicher Begleitung und evaluativer Forschung kommt, die a) wechselseitig nicht neutral ist und b) durch die Vorgabe einer Rahmenstruktur in den Modellversuchen bereits Vorentscheidungen geprägt wurden, die dann nicht mehr zur Diskussion stehen bzw. das Verständnis der Lehrerinnen und Lehrer, die die Lernsituationen entwickelt haben, im Vorfeld verändert wurde. Diesem kritischen Einwand muss sich gestellt werden. Dennoch können die vorliegenden Lernsituationen als Beispiele für entstehende Probleme und Schwierigkeiten in der Entwicklung herangezogen werden, da sie – auch wenn unter den Sonderkonditionen entstanden – für die beteiligten Berufsschulen den Alltag der Entwicklung von Lernsituationen darstellen und die Berufsschulen auch nach dem Modellversuch mehrheitlich mit den entwickelten Lernsituationen arbeiten bzw. die Erfahrungen für die weitere Entwicklung von Lernsituationen nutzen.

5.2 Methodisches Vorgehen in der qualitativen Analyse

Die Studie wählt ein qualitatives methodisches Vorgehen, um auf die Schwierigkeiten und Probleme in den Lernsituationen aufmerksam zu machen. Für die Studie wurde ein sechs-stufiges Vorgehen gewählt, welches auf dem Rekonstruktionsparadigma aufbaut (vgl. V. GLASERSFELD 1987). Für die Rekonstruktion wurde theoriebasiert zunächst Rekonstruktionsmerkmale bestimmt, für diese Rekonstruktionsmerkmale idealtypische Ausprägungen aus Bezugstheorien heraus gewonnen und die vorliegenden Lernsituationen im anhand des Abgleichs der idealtypischen Ausprägungen mit den realen Ausprägungen kategorisierend und typisierend beschrieben. Hierin wählt die vorliegende Studie ein Verfahren, das sich von der qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (vgl. 1993) abzugrenzen ist. Die Kategorien wirken in der Rekonstruktion als strukturbildend, sie sind nicht nur als Auswertungskategorien zu interpretieren, denen Einzelaussagen aus dem vorliegenden Textmaterial – entsprechend codiert – zugewiesen wird, sondern strukturieren das vorliegende Material in einer, durch die Rekonstruktionsmerkmale bedingten, konstitutiven Form. Insofern stellt die Rekonstruktion eine ‚alternative’ Deutung des vorliegenden Materials unter der Anwendung spezifischer Strukturierungselemente dar. Im weiteren werden die methodischen Schritte im einzelnen aufgeführt.

Schritt 1: Für die Studie wurde zunächst aus den Katalogen von Gestaltungsmerkmalen für die Entwicklung von Lernsituationen (siehe Punkt 3) die Bestimmung der Rekonstruktionsmerkmale vorgenommen. Dazu wurden die Kataloge hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten untersucht und diejenigen Elemente ausgewählt, die über den jeweiligen Einzelansatz hinaus eine Bedeutung für die Entwicklung von Lernsituationen besitzen. Die besonderen Gestaltungsmerkmale, die aus dem jeweiligen Einzelansatz herausstammen wurden insofern übergangen, da versucht wurde, ein möglichst breites und generelles Verständnis von Lernsituationen zu erreichen.  Die Rekonstruktionsmerkmale wurden in drei Bereiche gruppiert:

  • Konstitutive Struktur einer Lernsituation: Problembeschreibung und Problemgehalt, Situationsdefinition, kompetenzorientierte Zielbeschreibung
  • Innere Strukturierung in der Lernsituation: Gestaltung des Handlungsablaufs, Steuerungsgrad für die Lerner in der Lernsituation
  • Äußere Struktur der Lernsituation: Verknüpfung von Lernsituationen, Systematik des Kompetenzerwerbs

Schritt 2: Über diese Rekonstruktionsmerkmale wurden die Merkmale bestimmt, anhand derer die vorliegenden 73 Lernsituationen rekonstruiert wurden. Um die Analyse weiter zu strukturieren, wurden aus Bezugstheorien idealtypische Ausprägungsformen für die Rekonstruktionsmerkmale bestimmt. Mit Anbindung an die Problemtheorie (vgl. DÖRNER 1976; AEBLI 2003 und EULER/ HAHN 2004) wurden unterschiedliche Problemtypen beschrieben, die als Deskriptoren für die Rekonstruktion der Lernsituationen dienten. Für die Situationsdefinition wurden unter Rückgriff Elemente von Situationen definiert (vgl. BECK 1996; vgl. BUSCHFELD 2003). Unter Bezug auf die allgemeine Diskussion um Kompetenzformulierung (vgl. DIPF o. J.) wurde über Formen der Kompetenzstrukturierung und der Dimensionierung von Kompetenzen ein Vergleichsmaßstab aufgebaut. Handlungstheoretische Bezüge, insbesondere unter Rückgriff auf die Modellierung von Handlungen und Handlungsphasen (vgl. HACKER 1986) wurden genutzt, um ein Beschreibungsinventar für die Handlungsabläufe zu generieren. Für den Steuerungsgrad wurden Ansätze der Selbst- und Fremdregulation und deren Dimensionierungen verwendet (vgl. KONRAD/ TRAUB 1999; SCHIEFELE/ PEKRUN 1996). Da die für die Systematik des Kompetenzerwerbs wichtige Voraussetzung eines fundierten und formulierten Verständnisses von Kompetenzstufung bzw. -niveaubestimmung für die Entwicklung von beruflicher Handlungskompetenz bisher noch nicht ausreichend in der Literatur erfolgt ist, wurde für die Analyse der Systematik von Kompetenzentwicklung einerseits auf mögliche vorhandene Logikbrüche und andererseits auf Redundanzen als Hinweise für Probleme rekurriert. Für die Frage der systematischen Kompetenzentwicklung kann dies jedoch nur erste Hinweise bieten, die Kernfrage von Abstufungen von beruflichen Handlungskompetenzen bleibt dabei weiterhin offen.

Schritt 3: Durch die in Schritt 1 und 2 vorgenommenen Vorarbeiten wurde für die Rekonstruktion eine merkmalsorientierte Beschreibung der einzelnen Lernsituation möglich und diese wurde je beteiligtem Bildungsgang in Form einer Tabelle vorgenommen. Die Lernsituation wurde dahingehend rekonstruiert, als dass sie in ihrer jeweiligen Ausprägung der Rekonstruktionsmerkmale beschrieben wurde, so entstand eine kriterienorientierte – an den Deskriptoren aus Schritt 2 sich anlehnende – Beschreibung jeder Lernsituation. Dieser Schritt stellt den interpretativen Schritt der Studie dar. Für diese Interpretation wurde das zur Verfügung stehende Material für die Lernsituation (Dokumentation der Lernsituation, Material für Schülerinnen und Schüler, Material für Lehrerinnen und Lehrer) sowie die didaktische Jahresplanung mehrfach gesichtet und unter dem jeweils spezifischen Fokus eines Rekonstruktionsmerkmals die Bedeutung des vorliegenden Materials gedeutet. Es wurde insbesondere Wert auf die möglichst konkreten, in den Dokumenten ersichtlichen Beschreibungen gelegt.

Schritt 4 - 6: Für die Schritte vier bis sechs wurden nun zunächst die einzelnen Rekonstruktionsmerkmalsbereiche dahingehend untersucht, wo die idealtypischen und realtypischen Beschreibungen deutlich voneinander abwichen. Als nächstes wurden auffällige Brüche, Inkonsistenzen und sichtbar werdende Schwierigkeiten offen gelegt. Diese werden in der Beschreibung der Ergebnisse der Studie im nächsten Punkt dargestellt.

6 Missverständnisse bei der Entwicklung von Lernsituationen

Ein problemzentrierter Blick wird nun verwendet, um auf die Schwierigkeiten und Hürden aufmerksam zu machen, die in der Entwicklung von Lernsituationen entstehen können. Dieser Blick soll dabei nicht die Mühe und das Engagement von Lehrerinnen und Lehrer, die viel konzeptionelle Überlegungen und intensive Auseinandersetzung in den Entwicklungsprozess gelegt haben, verdecken. Erst durch ihre Aktivität und durch den Einsatz kann solch eine vergleichende Analyse durchgeführt werden, die zur Weiterentwicklung der Konzeptionen für Lernsituationen führen kann.

6.1 Im Bereich der konstitutiven Struktur von Lernsituationen:

Lernsituationen ermöglichen die problembezogene Aktivität eines reflexiven Subjekts in einem situativen Kontext (vgl. BUSCHFELD 2003). Um dies zu ermöglichen müssen Lernsituationen eine Problemstellung beinhalten, die situiert ist und ausgerichtet auf spezifische Zielsetzungen. Diese drei Merkmale wurden für die Rekonstruktion genutzt.

6.1.1 Problembeschreibung und Problemgehalt von Lernsituationen:

Betrachtet man die Formulierung der vorliegenden Lernsituationen aus einer problemtheoretischen Sichtweise, ist zunächst zu hinterfragen, ob und wie ein Problemgehalt in der Lernsituation aufgebaut wurde. Nach DÖRNER (vgl. 1976) ist für das Vorhandensein einer Problemstellung –  und er grenzt sie damit von einer Aufgabe ab – mindestens eine Komponente der Trias Anfangssituation, Lösungsweg und Zielzustand unbekannt, bzw. muss neu kombiniert werden. Damit können Probleme von Fallbeispielen abgegrenzt werden, in denen alle drei Komponenten dargestellt werden und für die Schülerinnen und Schüler kein Erfordernis besteht, handelnd tätig zu werden. Auch situative Rahmenbeschreibungen lassen sich über dieses Verständnis von Problemen abgrenzen, stellen sie nur die Ausgangssituation dar, ihnen fehlt eine Konkretisierung des Ziels. Weiterhin stellen Beschreibungen des Lösungsweges keine Problemstellung im engeren Verständnis dar, sondern sind Beschreibungen von Aufgaben, da sowohl Anfangs- als auch Zielbeschreibung, der Lösungsweg und die Kombination von Schritten für die Lösung vorgegeben und im Sinne eines vorgegebenen Handlungsvollzugs beschrieben werden.  Ein Auszug aus einer Lernsituation für die zahnmedizinischen Fachangestellten kann als Beispiel für die Formulierung einer Problemstellung herangezogen werden: „Sie assistieren heute bei der Behandlung von Herrn Friedrich Unger. Der Patient besteht darauf, dass er weiterhin Amalgamfüllungen bekommen kann. (...) Nach der Behandlung hat sich einiges an Abfall auf dem Tray gesammelt, den Sie jetzt umweltgerecht entsorgen müssen.“ (A-LF3-4). Dieser Beschreibung der Lernsituation ist für die Schülerinnen und Schüler noch ein Foto eines Trays mit benutzten Instrumenten und diversen Abfallprodukten (benutze Kanülen, benutze Watte, die alte Füllung, Reste des neuen Füllmaterials usw.) beigefügt. Ein Beispiel für eine Beschreibung eines situativen Rahmens stellt folgender Ausschnitt dar:  „Seit dem 01.09. arbeiten Sie nun bereits in Ihrer Ausbildungspraxis. In den vergangenen Wochen haben Sie viel Neues – Angenehmes wie Unangenehmes – Geplantes wie Überraschendes – erlebt.“ (NU-LF1-2).

In der Analyse der Lernsituationen wird deutlich, dass es nicht als selbstverständlich und einfach erscheint, Problemstellungen in Lernsituationen zu formulieren. Betrachtet man die vorliegenden Lernsituationen mit Hilfe des Fokus ‚Problemgehalt’, können bei über der Hälfte  (52 %) der Lernsituationen ‚Probleme’ mit den Problemen ausgemacht werden. Die Lernsituationen wurden dabei mit Hilfe ihrer Stunden gewichtet, um die Bedeutung der einzelnen Lernsituation gemäß ihres Zeitanteils berücksichtigen zu können. Bei ca. einem Drittel (26 %) wird ein situativer Rahmen beschrieben, bei ca. 14 % wird eine konkrete nachzuvollziehende Ablaufbeschreibung vorgenommen und bei ca. 8 % wird ein Fallbeispiel dargestellt. Die so vorgenommene quantifizierende Sichtweise soll auf das vorliegende Missverständnis hinweisen, was ein Problem darstellt und wie ein Problemgehalt formuliert werden kann. Parallelen dazu können auch bei der Entwicklung von situierten, handlungsorientierten Aufgaben für Prüfungen und Lernerfolgskontrollen gesehen werden, die unter dem Stichwort der ‚unechten’ Situationsaufgabe in die Literatur Eingang gefunden haben (vgl. REETZ/ HEWLETT 2008).

Eine weitere Schwierigkeit, die bei der Definition von Problemen in Lernsituationen auffällt ist, dass verschiedene Problemarten innerhalb einer Lernsituation aufgenommen werden, so im folgenden Beispiel, in dem zunächst ein Problem des Arbeitsschutzes beschrieben und darüber ein Gestaltungsproblem der Praxisorganisation eingeführt wird, während der weiter formulierte Auftrag sich auf ein Informationsstrukturierungsproblem bezieht. „Ihre Kollegin Susanne ist im 3. Monat schwanger und hat die Schwangerschaft Ihrem Chef angezeigt. Das Arbeitsschutzgesetz sieht vor, dass Ihre Kollegin jetzt keine Aufgaben mehr in der Praxis übernehmen darf, die mit einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden sind. Deshalb ist Ihre Kollegin jetzt nur noch im Rezeptionsbereich tätig, weil Ihr Chef besondere Rücksicht auf die Schwangerschaft nimmt. Ihre Aufgabe ist es jetzt, für Ihre Praxis ein Merkblatt für die Behandlung von schwangeren Patientinnen zu erstellen, das alle wichtigen Angaben zur Vermeidung von Zwischenfällen enthält“ (A-LF7-2).

In der Zusammenschau der ausgewerteten Lernsituationen zeigen sich die meisten Probleme in den Lernsituationen als Informationsstrukturierungsprobleme (im Umfang von ca. 355 Stunden). Andere Problemtypen wie z. B. Gestaltungsprobleme (ca. 204 Stunden), Situationsanalysen (ca. 176 Stunden), kommunikative Probleme (ca. 106 Stunden), Regelgeleitetes Handeln (45 Stunden), Reflexionsprobleme (28 Stunden), Bewertungsprobleme oder Entscheidungsprobleme werden weniger genutzt. Es dominiert der Problemtypus der Informationsauswahl aus vorgegebenen oder zu recherchierenden Quellen, deren Strukturierung und Aufbereitung; dies auch bei Lernsituationen, die zunächst ausgehend von den Arbeits- und Geschäftsprozessen andere Problemtypen einführen.

6.1.2 Situationsdefinition in Lernsituationen:

Zur Ausgestaltung der Situation wird in den vorliegenden Lernsituationen fast ausschließlich mit Modellunternehmen oder –praxen gearbeitet. Dabei zeigen sich grundlegend zwei Varianten: Auf der einen Seite werden Modellunternehmen vorgegeben, in denen die Schülerinnen und Schüler als Auszubildende mitarbeiten und damit eine konstante Rolle in dem Modellunternehmen einnehmen. Auf der anderen Seite wird über die Ergebnisse der ersten Lernsituationen ein Modellunternehmen aufgebaut und durch die Entscheidungen der Schülerinnen und Schüler entsteht das Modellunternehmen, in diesem werden sie in unterschiedlichen Rollen tätig. Es liegen einzelne Lernsituationen darüber hinaus vor, die einen anderen situativen Rahmen aufbauen (z. B. Hilfe in der Nachbarschaft).

In der Analyse der Situationsgestaltung der Lernsituationen fällt auf, dass über die Simulation von Unternehmenspraxis in Form von Modellunternehmen oder –praxen versucht wird, einen einheitlichen situativen Rahmen zu gestalten, der Bezug nimmt zur betrieblichen Lebenswelt. Dabei werden Rollen, Organisationsstrukturen, zeitliche und örtliche Indizien festgelegt. Einer der Hauptunterschiede, die sich in der Situationsgestaltung ausmachen lässt, ist die Rollenübernahme durch die Schülerinnen und Schüler, hierzu gibt es sowohl feste als auch situativ wechselnde Rollenübernahmen in den Lernsituationen. Weitere Unterschiede lassen sich in der konkreten Rollenausgestaltung sehen: die Schülerinnen und Schüler werden in die Rolle der Auszubildenden versetzt oder in die Rolle von Fachkräften. Mit der Übernahme der Rolle der Fachkraft wird insbesondere die Perspektive der Ergebnisorientierung betont (Wie handelt eine qualifizierte Person in dieser Situation?), mit der Rollenübernahme als Auszubildende wird stärker die Entwicklungsorientierung betont (Wie erwerbe ich die erforderlichen Kompetenzen, damit ich die Situation bewältigen kann?). Über die Effekte dieser unterschiedlichen Rollenübernahmen ist bisher wenig auszusagen, da diese die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler und deren Erfahrungen aufnehmen muss. Genauso wenig sind Berichte und Studien bekannt, inwieweit sich die Schülerinnen und Schüler auf die Modellunternehmen einlassen, wie stark der Grad der Identifikation ist und wie sie die Ausgestaltung der Situation wahrnehmen.

In den Beschreibungen der Situationen lässt sich feststellen, dass diese bis auf wenige Ausnahmen textbasierte Situationsbeschreibungen sind, anhand derer die Schülerinnen und Schüler in die Situationen eingeführt werden. Weitere mediale Unterstützung (z. B. Fotos, Dokumente, Ausschnitte aus Gesprächsaufzeichnungen, Videos) werden nur vereinzelt verwendet. Hier zeigt sich eine deutliche Präferenz der entwickelnden Lehrkräfte, die Situationen über textliche Beschreibungen festzulegen. Über diese Textform werden situative Merkmale explizit formuliert. Die relevanten situativen Merkmale, z. B. Besonderheiten im Verhalten von Kunden und Patienten, werden prominent beschrieben, in Teilen auch ‚überzeichnet’. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Texte zur Situationsdarstellung intendiert kurz gehalten werden. Dadurch entsteht eine Komplexitätsreduktion, da bereits eine Auswahl relevanter Merkmale und die Betonung dieser in der Beschreibung vorgenommen wurden. Diese Situations-Strukturierung ist in authentischen Situationen oftmals nur durch vorzunehmende Analysen und nicht so eindeutig zu klären. Ein gewisser Schematismus wird ersichtlich und die Schülerinnen und Schüler können darüber eine Erwartungshaltung auf die folgenden Lernsituationen aufbauen, die eine – in authentischen Situationen erforderliche – Analyse unnötig erscheinen lässt.

6.1.3 Kompetenzorientierte Zielbeschreibung:

Lehrerinnen und Lehrer sind bei der Entwicklung von Lernsituationen einerseits gefordert, kompetenzorientierte Ziele aus den Lehrplänen im Rahmen der curricularen Analyse zu interpretieren, andererseits müssen sie aufgrund der erforderlichen Präzisierungen und Konkretisierungen selbst auch Kompetenzen für Lernsituationen formulieren (vgl. DILGER/ SLOANE 2007). Dabei werden sie zunächst bereits beim Lesen des Lehrplans mit einem mindestens zweifach zu deutenden Kompetenzverständnis konfrontiert. In der Handreichung der KMK (vgl. 2007) wird in der Bestimmung des Leitziels der Handlungskompetenz die Fähigkeit und Bereitschaft in den Dimensionen der Handlungskompetenz beschrieben. Diese Definition legt ein strukturales Kompetenzverständnis zu Grunde und versteht Kompetenz als Tiefenstruktur: einerseits als Bündel der Komponenten Fähigkeiten und Bereitschaft und  andererseits wird eine Dimensionierung der Tiefenstruktur in fachlicher, sozialer, personaler sowie methodischer, entwicklungsorientierter und kommunikativer Form vorgenommen. In den Zielbeschreibungen der Lernfelder wird über die Beschreibung der Handlung Kompetenz als Oberflächenstruktur verwendet. In der Analyse, der Interpretation und der Konkretisierung der Kompetenzen für Lernsituationen sind Lehrende gefordert, diese beiden Verständnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Dies wurde im Modellversuch segel-bs in der Form eingefordert, dass die Lehrkräfte zu den formulierten Problemen und Situationen ein Kompetenzgefüge in den vorgegebenen Dimensionen beschreiben sollten und ein Set an ‚Einzel-’Kompetenzen für jede Lernsituation definiert haben. Mit diesem Entwicklungsschritt bei Lernsituationen wird von Lehrkräften erwartet, dass sie sich mit Kompetenzmodellierung auseinandersetzen und diese vornehmen; eine Aufgabe, der sich gerade die Bildungswissenschaft mit großem Engagement und großem Aufwand widmet (vgl. DIPF o. J.). Das Formulieren und Festlegen von Kompetenzen für Lernsituationen verstärkt den Blick auf die intendierten Effekte.

In den vorliegenden 73 Lernsituationen wurden in 61 der Lernsituationen Kompetenzen formuliert. In diesen 61 Lernsituationen finden sich 675 Einzel-Aussagen, als ‚Kompetenzen’. Insofern finden sich im Durchschnitt ca. 10 Einzelaussagen je Lernsituation als Kompetenzen formuliert. Dies führt zu der oft gestellten Frage, wie viele Kompetenzen nun für eine Lernsituation sinnvoll seien. Diese Frage ist sicherlich nur in Bezug auf die Problemstellung und den situativen Rahmen zu klären und kann weniger regelhaft und schematisch bestimmt werden.

Innerhalb von Lernsituationen treten redundante Formulierungen von Einzelaussagen auf (29 Einzelaussagen). Bei 93 Aussagen werden kompetenzorientierte Zielsetzungen formuliert, die über die Lernsituationen hinausgehen. (Als ein Beispiel kann zu der in Punkt 6.1.1 genannten Lernsituation der Abfallentsorgung die folgende Kompetenzbeschreibung genannt werden: „Die Schülerinnen und Schüler vermeiden Abfall“). In 65 Aussagen werden Inhaltsbeschreibungen ohne Anwendungsbezug formuliert (z. B. „Rechte und Pflichten der Auszubildenden“). Ein großer Anteil der Einzel-Aussagen (181) widmet sich dem Informationsverarbeitungsprozess der Schülerinnen und Schüler im allgemeinen (z. B. Sie ermitteln und selektieren Informationsquellen, sie wählen und werten Informationen aus und fassen Informationen zusammen). Nach dieser groben Analyse können ca. 300 Einzel-Aussagen als kompetenzorientierte Formulierungen mit Bezug auf das in der Lernsituation zu Grunde gelegte Problem angesehen werden. Diese Zahl macht die Schwierigkeit der Kompetenzmodellierung nochmals deutlich, vor der auch die Lehrkräfte stehen, um relevante Kompetenzen zu bestimmen und diese mit entsprechenden Kompetenzstrukturen auch beschreiben zu können. Gleichzeitig ist die Festlegung der Kompetenzen in den Lernsituationen nicht nur für die einzelne Lernsituation und die Überprüfung von Lerneffekten aus der Lernsituation essentiell, sondern auch für die Systematik des Kompetenzerwerbs, da nachfolgende Lernsituationen auf Kompetenzen aufbauen, die in einer vorausgehenden Lernsituation gefördert werden sollten. Hier muss auch mit Blick auf die Literatur von einer vergleichsweise großen ‚Lücke’ gesprochen werden, auf die Lehrende stoßen, da bis dato hinsichtlich der Kompetenzstrukturierung, der Abstufung von Niveaus und insbesondere der Frage von Kompetenzentwicklungsverläufen in der beruflichen Bildung eher von Forschungsdesiderata und aktuellen Forschungsbemühungen auszugehen ist, nicht jedoch von konzeptionellen Grundlagen, auf die sich Lehrkräfte berufen können.

Die Rekonstruktion der Lernsituationen hinsichtlich der konstitutiven Struktur anhand der ausgewählten Aspekte (Problem, Situation und Kompetenz) führt zu dem Ergebnis, dass es weder eine triviale noch eindeutige Aufgabe ist, Probleme zu definieren, diese in einen Kontext einzubetten und ihre Zielausrichtung über die Kompetenzbeschreibungen zu normieren. Weitergehende Untersuchungen zur Bandbreite und Typik beruflicher Probleme fehlen als Voraussetzung für eine variantenreiche und exemplarische Gestaltung von Problemen in Lernsituationen. Deutlich wird auch, dass den Gestaltungsaspekten der Situation und deren Wirkungen bisher noch eine eher untergeordnete Rolle zugewiesen wird, die in eine - von den entwickelnden Lehrkräften präferierte – Form von textbasierten Hinführungen und Beschreibungen von Situationen führt.  Die Ausführungen zu Kompetenzen machen deutlich, dass Lehrkräften an dieser Stelle aktuell Aufgaben zukommen, für die weitergehende Forschung und konzeptionelle Hintergründe erforderlich sind.

6.2 Innere Strukturierung in der Lernsituation:

Um sich der inneren Strukturierung von Lernsituationen annähern zu können, wurden die Lernsituationen hinsichtlich der Gestaltung des Handlungsablaufes in Phasen und hinsichtlich des Steuerungsgrades für die Lernenden in den Lernsituationen rekonstruiert.

6.2.1 Gestaltung des Handlungsablaufs:

Zur Gestaltung des Handlungsablaufes werden von den Lehrerinnen und Lehrer in den Bildungsgängen verschiedene Vorgehensweisen gewählt: mehrheitlich dominiert die Grundidee der vollständigen Handlung als Orientierungsmuster. Ein Teil der  Lehrerteams beziehen sich an einzelnen Standorten dabei auf ein festliegendes Handlungsschema (z. B.
6-stufig: Orientieren, Informieren, Planen, Durchführen, Bewerten, Reflektieren) und gestalten den Handlungsablauf jeder Lernsituation anhand dieses Handlungsschemas, was für bestimmte Problemformulierungen in den Lernsituationen mechanisch wirkt. An anderen Standorten wird ebenso auf das Durchführen einer ‚vollständigen Handlung’ mit planenden, ausführenden, kontrollierend und reflektierenden Phasen geachtet, jedoch mündet dies in unterschiedliche Handlungsphasen und deren Unterteilung, je nach Problem und Situation der Lernsituation, und damit mit einem stärkeren Bezug des Handlungsablaufs zum zu Grunde liegenden Problem. In Bezug auf die oben beschriebene Situation, dass der Problemtypus der Informationsstrukturierung sehr dominiert, wird auch der Handlungsablauf an dem Verlauf der Informationsverarbeitung orientiert und hier eine Vollständigkeit der Handlung erlangt. In wenigen Lernsituationen wird keine vollständige Handlung durchlaufen, sondern der Handlungsablauf wird entweder über einzelne Fragen oder konkrete Handlungsanweisungen als Einzelschritte vorgegeben.

Bei der Rekonstruktion der Lernsituation fallen hinsichtlich des Handlungsablaufes Brüche auf: Hier können Brüche innerhalb der einzelnen Lernsituation festgestellt werden. Diese liegen z. B. zwischen eingeführter Problemstellung und konkretem Handlungsauftrag. wie im Beispiel in Punkt 6.1.1, das Beispiel mit der schwangeren Kollegin. Weitere Brüche konnten in der Rekonstruktion dahin gehend ausgemacht werden, dass die Gestaltung des Ablaufs in der Lernsituation sich nicht an dem für den Problemtypus erwartbaren Handlungsablauf orientiert, sondern weitere Handlungsschritte, die insbesondere der Informationsgewinnung und -strukturierung gewidmet sind, einen breiten Raum einnehmen. 

Die Rekonstruktion und Analyse der Lernsituationen hinsichtlich der beiden Aspekte der inneren Strukturierung der Lernsituationen verdeutlichen die Schwierigkeit, dass die Ausgestaltung von Handlungsabläufen in Bezug auf Handlungen nicht ein ‚Automatismus’ ist. Dabei bewegt sich das Pendel zwischen einer Regelgeleitetheit im Sinne eines einheitlichen Handlungsschemas für alle Lernsituationen und einer nicht erkennbaren konzeptionellen Gestaltung des Handlungsablaufes. Um Handlungsabläufe im Sinne der Problemstellung in der Lernsituation planen zu können, ist ein Verständnis für den Problemlöseprozess in seinen Phasen bezogen auf den jeweiligen Problemtyp erforderlich. In den vorliegenden Lernsituationen zeigt sich eine gewisse Normierung auf ein einmal gewähltes und dann durchgehaltenes Vorgehen unabhängig vom Problemtyp der jeweiligen Lernsituation.

6.2.2 Steuerungsgrad für die Lerner in der Lernsituation:

In Bezug auf den Steuerungsgrad der Schülerinnen und Schüler können zwei verschiedene Aspekte in der Rekonstruktion aufgenommen werden: Einerseits ist die Frage nach der Quelle eines Steuerungsimpulses (Wer übernimmt die Initiative? Wer gibt die Impulse?) und andererseits ist in Bezug auf die Steuerung auch nach den Entscheidungs- und Handlungsspielräumen zu fragen.

In Bezug auf die Impulsquelle liegen in den vorliegenden Lernsituationen fast ausnahmslos die Impulse für die Steuerung in den Händen der Lehrenden, ihrer Aktivitäten und in der von ihnen vorgenommenen Planung des Handlungsablaufes. Dies kann zum einen damit begründet werden, dass die Lernsituationen dem ersten Ausbildungsjahr entnommen wurden. Ein weiterer Faktor kann in der Natur von Lernsituationen als Unterrichtsplanung liegen, die eine bestimmte Vorstellung von Unterrichtsgeschehen antizipieren, die den Lehrkräften eine zentrale Rolle in der Steuerung (auch mit Hilfe des Kontexts) zuweisen.

Werden Entscheidungs- und Handlungsspielräume eingeräumt, so wird dies durch einen Impuls von den Lehrenden, insbesondere durch das Aufzeigen von Wahloptionen, vorgenommen. Die Wahloptionen beziehen sich dabei in der Regel auf die Wahl unterschiedlicher Informationsmaterialien oder in der Darstellung von Handlungsergebnissen. Weitergehende Entscheidungs- und Handlungsspielräume werden in die Ausführung von Gestaltungsaufgaben gelegt (z. B. in die Gestaltung eines Grundrisses der Modellpraxis). Sichtbar wird in der Rekonstruktion, dass die Entscheidungs- und Handlungsspielräume weitestgehend innerhalb einzelner Phasen des Handlungsablaufes gewährt werden, diese jedoch in den nächsten Phasen wiederum zusammengeführt werden, so dass keine oder nur kleine Pfadabhängigkeiten durch getroffene Alternativenauswahl entstehen. Die Lern- und Arbeitsprozesse der Schülerinnen und Schüler zeigen sich so in den Lernsituationen und deren Verbindung als lineare Prozesse, die an einzelnen Stellen ausdifferenziert werden, jedoch meist wieder schnell in ein gebündeltes und vereinheitlichtes Vorgehen münden.

Mit der inneren Struktur einer Lernsituation stehen insbesondere die Handlungsabläufe und deren Steuerung im Fokus. Auch hier zeigt sich wiederum, dass es eine Herausforderung darstellt, sowohl passende als auch prozesslogisch stimmige Abläufe für die Schülerinnen und Schüler zu antizipieren. Die Herausforderung wächst mit zunehmendem Anspruch, dass die Schülerinnen und Schüler selbst prozesssteuernd in den Ablauf eingreifen, da dann diese Impulse und weiteren Alternativen antizipiert und in ihren Konsequenzen geplant werden müssen.

6.3 Äußere Struktur der Lernsituation

Zur Rekonstruktion der äußeren Struktur von Lernsituationen wurde auf die Verbindungen zwischen den Lernsituationen geachtet, die einerseits in dem erneuten Aufgreifen von Elementen einer Lernsituation in anderen Lernsituationen deutlich werden oder die sich in der Systematik des Kompetenzerwerbs, d. h. inwieweit sich die Zielsetzungen aufeinander aufbauend darstellen lassen, zeigen.

6.3.1 Verknüpfung von Lernsituationen:

Der primär genutzte Gestaltungsansatz um Lernsituation miteinander zu verbinden ist die Wahl eines durchgängigen Modellunternehmens oder einer -praxis. Hierüber werden insbesondere die situativen Elemente in verschiedenen Lernsituationen erneut aufgegriffen und weitergeführt. In den (zahn-)medizinischen Bildungsgängen wird dabei z. B. ein Patientenstamm sukzessive eingeführt, und einzelne Patienten spielen mit ihrer ‚Geschichte’ in verschiedenen Lernsituationen eine Rolle. Bei den Bildungsgängen des Einzelhandels wird insbesondere über die Konstanz der Personen in dem Modellunternehmen eine Verbindung zwischen dem situativen Rahmen der Lernsituationen geschaffen. An einzelnen Stellen werden die Handlungsergebnisse von früheren Lernsituationen als Elemente in den situativen Rahmen einer späteren Lernsituation eingebunden. In einem etwas generellen Blick zeigen sich die Lernsituationen jedoch weitestgehend als in sich abgeschlossen.

Die Betrachtung der Verbindung von Lernsituationen richtet den Fokus auf die Vernetzung aller Aktivitäten eines Bildungsganges und erhöht deutlich die Komplexität in der Planungsaufgabe und den Koordinationsbedarf in der Durchführung. Je stärker die Lernsituationen untereinander verbunden werden, desto mehr wird der Anspruch einer integrierten und als konsistent empfundenen Ausbildung eingelöst, gleichzeitig steigt darüber die Abhängigkeit der Lernsituationen untereinander und der beteiligten Lehrkräfte. Die Blickrichtung muss dann vom Abarbeiten einer Lernsituation nach der anderen hin zur Frage: „Was bedeutet diese Lernsituation für das Gesamtgefüge?“ gewendet werden.

6.3.2 Systematik des Kompetenzerwerbs:

Unter der systematischen Kompetenzentwicklung soll die sachlogisch aufbauende Gestaltung der Kompetenzen erfolgen. Wie bereits unter dem Punkt 6.1.3 angedeutet wurde, stellt sich jedoch hier eine zentrale Schwierigkeit, da bisher wenig über Kompetenzentwicklungsverläufe konzeptionell bekannt ist. Von daher wurde in der Rekonstruktion insbesondere darauf geachtet, ob die Problemstellungen und die darin intendierte Kompetenz sich logisch anhand der Arbeits- und Geschäftsprozesse einordnen lassen und ob sich handlungslogische Brüche erkennen lassen. 

In den rekonstruierten Lernsituationen lassen sich wenige solcher Brüche ausfindig machen, insbesondere wurden in den meisten didaktischen Jahresplanungen die Reihenfolge der Kompetenzen, wie sie in den Lernfeldern vorgegeben sind, übernommen. An einzelnen Stellen treten logische Handlungsbrüche zwischen Lernsituationen auf, dort wo z. B. in einer frühen Lernsituation eine Handlung vorgenommen wird (z. B. Einlesen der Versichertenkarte), die jedoch erst in einem späteren Lernfeld, was auch zeitlich später in der didaktischen Jahresplanung verankert ist, als zu erwerbende Kompetenz vorgesehen ist. In den didaktischen Jahresplanungen sowie in den Lernsituationen zeigt sich hier jedoch ein fast durchgängig handlungslogisch plausibler Aufbau. Weniger deutlich lässt sich dies in Hinblick auf die ‚Entwicklungsperspektive’ von Kompetenzen und insbesondere hinsichtlich einer Höher- oder Weiterentwicklung von Kompetenzen feststellen. Die Kompetenzformulierungen innerhalb einer Lernsituation sind weitgehend für die einzelne Lernsituation abschließend formuliert und es lassen sich kaum Ansatzpunkte für das Aufgreifen und Weiterführen von einzelnen Kompetenzen finden. Relativierend kann auch hier wiederum angeführt werden, dass die Lernsituationen ausschließlich aus dem 1. Ausbildungsjahr stammen und Ansätze der Weiterentwicklung insbesondere über die Ausbildungsjahre hinweg sichtbar (gemacht) werden.

Die äußere Struktur von Lernsituationen betont also die Vernetzung und den Zusammenhang von Lernsituationen. Dieser Aspekt wurde zunächst in der Implementierung von lernfeldstrukturierten Ausbildungsgängen eher nach hinten angestellt, ging es doch zunächst um die Entwicklung von einzelnen Lernsituationen. Gleichzeitig fehlen auch an dieser Stelle für eine intentionale Gestaltung wichtige Grundlagen, insbesondere aus der Kompetenzforschung zur Unterstützung und Förderung systematischer Kompetenzentwicklungsverläufe.

7 Missverständnisse und Handlungsbedarfe

Als Gesamtergebnis der Rekonstruktion der Lernsituationen und ihrer problemfokussierten Analyse lassen sich vier ‚Problembereiche’ oder Bereiche in denen Missverständnisse festzumachen sind, festhalten und in weiteren konzeptionellen Handlungsbedarf überführen. 

  • Die Entwicklung und Formulierung von Problemen stellt Lehrerinnen und Lehrer mit ihrem fachdidaktischen Denken und Handeln vor Herausforderungen. Nicht die Auswahl und Gestaltung von ‚positiven’ Lösungen und Inhalten, sondern die Definition der ‚Lücken’, der ‚Hindernisse’, der ‚Schwellen’, der Misskonzeptionen ist erforderlich, um Probleme aufbereiten zu können. Die geforderte stärkere Problemorientierung bedarf gleichzeitig auch der stärkeren Unterstützung durch wissenschaftliche Verfahren und konzeptionelle Hinweise, wo diese ‚Probleme’ zu finden sind, wodurch sie entstehen und wie man diese beschreiben kann. Gleichzeitig erfordert es eine genauere domänenspezifische Sichtweise auf Probleme und unterschiedliche Problemtypen.
  • Der Bezug von Handlung zu Problem und zurück zur Handlung wird nicht als selbstverständlich und eindeutig interpretiert. Eine Gestaltung von Handlungen als Tätigkeiten wird vorgenommen und ausgestaltet. Nicht in allen Fällen gelingt jedoch eine auf das Problem hin ausgerichtete Handlung. Das Denken in Problemlösungsprozessen als Handlungsablauf differenziert je nach zu Grunde liegendem Problemtyp, bedarf weitergehender Forschung und Konzeptionen hinsichtlich der Vorgehensweisen in den einzelnen beruflichen Domänen. Die Forschung und die konzeptionellen Grundlagen für berufliche Handlungsprozesse und didaktische Gestaltungsprozesse sind daraufhin auszurichten.
  • Die Kompetenzmodellierung stellt die Lehrerinnen und Lehrer vor enorme Probleme. Es fehlen Grundlagen zur Kompetenzstrukturierung, zur Bestimmung von unterschiedlichen Kompetenzniveaus und zur Darstellung von Kompetenzentwicklung in Bezug auf die beruflichen Domänen. Dabei rekurriert diese ‚Lücke’ nicht vorrangig auf die empirische Forschung zur Feststellung von Kompetenzen, sondern auf eine konzeptionelle ‚Lücke’: die eines Ziel- und damit Normendiskurses.
  • Abschließend stellt sich die vernetzte Planung von Lernsituationen untereinander als Herausforderung dar. Dies führt im Kleinen dazu, dass bei der Entwicklung der Lernsituation, deren Position in der didaktischen Jahresplanung und damit das Aufgreifen von Elementen aus vorangegangenen Lernsituationen und das ‚Abliefern’ an nachfolgende Lernsituationen mit berücksichtigt werden muss. Im Großen führt dies zu einer deutlichen Stärkung der didaktischen Jahresplanung, in der gerade diese Verbindungen sichtbar und damit auch nutzbar werden.

Abschließend möchte ich nochmals allen Lehrerinnen und Lehrern im Modellversuch segel-bs für ihr Engagement in der Entwicklung der Lernsituationen, in ihren Beiträgen zu Diskussionen über Lernsituationen und in ihren Positionen in der Auseinandersetzung über einzelne Lernsituationen danken. Ohne dieses Engagement liefen wir Gefahr, dass eine grundlegende konzeptionelle Idee zu einer ‚Unterrichtsmethodik’ verkümmert und mechanisiert würde. Ihre Entwicklungsarbeit zeigt der didaktischen Forschung erst auf, wo die konzeptionellen ‚Lücken’ bestehen und an welchen Stellen weiter Entwicklungen erforderlich sind.  

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[1]     Dass dabei auch einzelne Autoren keine eindeutige Auslegung vornehmen, wird zum einen deutlich, wenn die Positionen von KREMER/ SLOANE 2000 und SLOANE 2009 verglichen werden, die zunächst ein Verständnis im Sinne der Lernsituationen als komplexe Lehr- /Lernarrangements vertreten und dann eine engere Auffassung von Lernsituationen als curriculare Einheit beschreiben (SLOANE 2009). Oder auch die Auslegung bei BUSCHFELD, der an sich eine Auffassung eher im engeren Sinne vornimmt, jedoch bei der Gestaltung des Handlungsablaufes auf die „methodischen Formen der Gestaltung der Lehr-Lernprozesse“, insbesondere handlungsorientierten Unterrichtsrepertoires, abzielt (vgl. BUSCHFELD 2003, 4).

[2]     Diese Fragen oder die Bitte, vorliegende Lernsituationen hinsichtlich ihrer Konstruktion zu kommentieren, erreichen die Autorin nicht nur von zukünftigen Lehrkräften in der Ausbildung, sondern insbesondere in der Lehrerfortbildung, aber auch als Anliegen von Landesinstituten. Sie verdeutlichen die Unsicherheit bzw. die Schwierigkeiten in der Entwicklung von Lernsituationen.

[3]     In der konkreten Entwicklungsarbeit von Lernsituationen wird diese Problematik v. a. an zwei häufig diskutierten Fragestellungen deutlich: a) Muss das Ergebnis – und damit ist zumeist das Handlungsergebnis der Lernsituation gemeint - direkt in einem beruflichen Kontext weiter verwendet werden können? Und schließt das die Erstellung von Lernhilfen wie z.B. Merkblätter, Hefteinträge als Ergebnisse von Lernsituationen aus? b) Muss die Handlungsabfolge in der Lernsituation der Prozessabfolge in den Arbeits- und Geschäftsprozessen möglichst nahe kommen? Und werden damit Handlungsschleifen, Handlungsabläufe auf unterschiedlichen Ebenen oder Verzweigungen in Handlungsabläufen kritisch gesehen?

[4]     Der Modellversuchsverbund segel-bs, ‚Selbst reguliertes Lernen in Lernfeldern der Berufsschule’ wurde von 2005 – 2009 in den Bundesländern NRW und Bayern durch die beiden Landesinstitute koordiniert. Er war im BLK-Modellversuchsprogramm ‚Skola’, ‚Selbst gesteuertes und kooperatives Lernen in der Berufsausbildung’ eingebunden. Die wissenschaftliche Begleitung wurde von Prof. Dr. Peter F. E. Sloane und der Autorin übernommen (vgl. ISB 2008).


Zitieren dieses Beitrages

DILGER, B. (2011): Die Probleme mit den Problemen: Oder Missverständnisse bei der Konstruktion von Lernsituationen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 20, 1-21. Online:  http://www.bwpat.de/ausgabe20/dilger_bwpat20.pdf  (19-11-2011).


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