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bwp@ Ausgabe Nr. 20 | Juni 2011
Lernfeldansatz - 15 Jahre danach
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 20 sind Tade Tramm, H.-Hugo Kremer & Ralf Tenberg

Wollten wir, was daraus wurde?– Eine rückblickende Einschätzung des Rahmenlehrplans Industriekaufmann/-frau

Beitrag von Detlef BUSCHFELD (Universität zu Köln)

Abstract

Der Beitrag erinnert an die Curriculumentwicklung der Ausbildungsordnung für den Ausbildungsberuf Industriekaufmann/-kauffrau im Jahre 2002. Der erstellte Rahmenlehrplan war einer der ersten bedeutenden Lehrpläne nach dem Lernfeldkonzept der KMK im Bereich der kaufmännisch-verwaltenden Berufe. Interviews mit ehemaligen Mitgliedern des Rahmenlehrplanausschusses bieten einen Einblick in die Diskussionen und eine Bewertung von Wirkungen der Lehrplanarbeit aus Sicht der Mitglieder in einem zeitlichen Abstand von etwa zehn Jahren nach Veröffentlichung des Rahmenlehrplans.


Did we really want what we ended up with? – A retrospective assessment of the framework curriculum for industrial clerks

This paper looks back at the curriculum development of the education and training regulations for the occupation of industrial clerk in 2002. The framework curriculum was one of the first significant curricula along the lines of the fields of learning concept of the KMK in the sector of the commercial and administrative occupations. Interviews with former members of the committee for the framework curriculum offer an insight into the discussions and an assessment of the effects of the work on the curriculum from the viewpoint of the members some ten years after the publication of the framework curriculum.

1 Überblick

Der Beitrag nimmt das Thema „15 Jahre Lernfeldansatz“ zum Anlass, sich an die Entwicklung des Rahmenlehrplans Industriekaufmann/-frau zu erinnern. Sich erinnern deutet die Perspektive des Beitrages an, der die Sichtweise der Mitglieder der Rahmenlehrplankommission aufgreift.[1] Das Neuordnungsverfahren des Ausbildungsberufes Industriekaufmann/-frau liegt etwa 10 Jahre zurück. Die ersten Sitzungen der Gremien fanden im Jahr 2000 statt. In Kraft getreten ist die überarbeitete Ausbildungsordnung 2002. Sie ersetzte die Ausbildungsordnung von 1975, wobei zwischenzeitlich die Länder im Jahre 1995 eigenständig eine Überarbeitung des Rahmenlehrplans vorgenommen hatten. Das Verfahren kann als eine erste Bewährungsprobe des Lernfeldansatzes im kaufmännischen Bereich angesehen werden und erlebte von Seiten der Befürworter und Gegner des Lernfeldansatzes so etwas wie besondere Aufmerksamkeit. Es ging erstmalig um einen großen, flächendeckend vertretenen und branchenbezogen heterogenen Bereich kaufmännischer Ausbildung, in dem das Lernfeldkonzept von 1996 – konsequent nach den Fassungen der Handreichung aus 1997 bzw. 1999, die eine schuljahresbezogene Verortung von Lernfeldern fordern – umgesetzt werden sollte. Die KMK stand unter Druck. Einerseits, weil die Lernfeld-Diskussion für Gegenwind sorgte, die Grundlagen, Sinn, Ausführung und Organisation von Lernfeldern in der Berufsschule in Frage stellte (HUISINGA/ LISOP/ SPEIER 1999; HANSIS 1999; BACKES-HAASE 2001). Andererseits war erkennbar, dass die bisherigen Mühen kaufmännische Rahmenlehrpläne in Lernfeldern zu strukturieren nur bedingt den Ansprüchen des KMK-Konzeptes genügen konnten oder in eher kleinen und spezialisierten Branchenberufen erfolgt waren.[2]

Auch waren die Bemühungen, den jeweils von den Ländern benannten Mitgliedern von Rahmenlehrplanausschüssen das Anliegen des Lernfeldansatzes zu vermitteln, im fortgeschrittenen Versuchsstatus von länder- und berufsübergreifenden Einführungsseminaren. Was in KMK-Rahmenlehrplänen erwünscht und was verboten sei, was noch erlaubt oder schon möglich sei beim Formulieren von Zielen, Inhalten und Zeitrichtwerten, war nicht durchgängig erkennbar, klar oder mit rundum gelungenen Beispielen belegbar.[3]

Von daher bietet die Erinnerung an den Lehrplan Industriekaufmann/-kauffrau die Möglichkeit, sich dem Lernfeldkonzept in der Deutung von Lehrplanformulierern zu nähern. Sie enthält die Diskussion der Argumente von Befürwortern und Gegnern des Konzeptes in der konkreten Auseinandersetzung mit Lehrplanpassagen und ihren in der Regel nicht mit formulierten Begründungen in einer frühen Phase des Lernfeldansatzes. Zudem bietet der Lehrplan Industrie auch genügend zeitlichen Abstand, um Wirkungen und Nebenwirkungen des Lehrplans in der Umsetzung der Ausbildung und des Berufsschulunterrichtes einzuschätzen. Es liegen hinreichend Erfahrungen und Erlebnisse der Alltagstauglichkeit vor und Berichte, wie das Formulierte gelesen und in den Ländern und Kollegien aufgenommen und tatsächlich verarbeitet wurde.

So betrachtet geht es um einen Lernfeld-Lehrplan als Beispiel. Als Beispiel für den Umgang mit dem Lernfeld-Konzept in der Formulierung von Lehrplantexten und produktiver Lehrplanrezeption (SLOANE 2003). Also auch ein Beispiel dafür, wie das Lernfeld-Konzept als Lernfeld-Lehrplan denn zum Unterricht nach Lernfeldern führt, jeweils aus Sicht von Lehrplanentwicklern. Sie äußern sich, wie sie selbst das Lernfeldkonzept rezipiert haben, wie sie warum welche Lernfelder auf diese Weise formuliert haben und welche Reaktionen und Rückmeldungen sie wiederum im Umgang mit dem von ihnen so formulierten „Lernfeld-Konzept für die Industriekaufleute“ im Rückblick nachzeichnen können. In anderen Worten: Eine kleine aber heterogene Gruppe von Personen gibt Auskunft, wie sie das Lernfeld-Konzept und ihr damaliges Lehrplankonzept Industriekaufleute heute einschätzen.[4]

Nicht Gegenstand des Beitrages ist eine Erläuterung des Lehrplanaufbaus oder eine Darstellung und Bewertung der Qualität des Lehrplans über Curriculumprinzipien oder andere Kriterien, wie dies in differenzierter Form in der Literatur schon vorliegt (BUSIAN 2006; GRAMLINGER/ STEINEMANN/ TRAMM 2004; ENGELHARDT 2002). Es ist sicherlich hilfreich, vor oder beim Lesen dieses Beitrages einen Blick in diese Quellen oder in den KMK-Rahmenlehrplan (KMK 2002) selbst zu werfen.

2 Interviews als methodische Grundform der Erinnerung

Die Protokolle der Sitzungen des Rahmenlehrplanausschusses weisen Vertreter aller 16 Bundesländer als Teilnehmer der Rahmenlehrplankommission aus. Auch dieser Umstand verweist auf die Bedeutung des Verfahrens, denn in vielen anderen Fällen verzichten einzelne Bundesländer auf die Entsendung von Experten und kooperieren diesbezüglich mit anderen Bundesländern. Für die Befragung wurde je ein Vertreter aus einem Bundesland angesprochen und gefragt, ob grundsätzlich die Bereitschaft zur Teilnahme an einem Telefoninterview besteht. Als Anliegen der Befragung wurde dabei der Titel dieses Beitrages „Wollten wir, was daraus wurde“ genannt und auf den Kontext der Themenausgabe der bwp@ hingewiesen. Insgesamt konnten von 16 möglichen Gesprächen 11 Interviews mit ehemaligen Teilnehmern im März und April des Jahres realisiert werden.[5]

Denjenigen, die ihre Bereitschaft signalisierten, wurde eine zweiseitige Information als „Erinnerungsstütze“ zugesendet und sie wurden gebeten, einen Termin für ein Telefoninterview mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin zu vereinbaren.[6] Die Interviewpartner wurden folglich von mir als aus dem Verfahren bekannte Person zunächst angesprochen, das Interview selbst wurde von Personen geführt, die nicht am Verfahren beteiligt waren. Auf die Darstellung der Vor- und Nachteile dieser methodischen Entscheidung und ihre Begründung wird hier verzichtet. Die Interviews wurden aufgezeichnet und vom Autor anschließend abgehört. Dem Beitrag liegt folglich noch keine Transkription, sondern lediglich eine „Anhörung“ von Telefongesprächen zwischen 25 und 80 Minuten Dauer zu Grunde.[7] In diesem Beitrag werden Passagen aus den Interviews wiedergegeben mit Nummerierung und Minutenangabe. Die Nummerierung entspricht nicht der Reihenfolge der geführten Interviews, sondern ist zufällig. Mehrfach gab es Hinweise oder Rückfragen in den Gesprächen, ob „offen“ geredet werden darf bzw. soll. Dies wurde eindeutig und mit Hinweis auf den erinnernden, gerade persönlichen Charakter der Untersuchung bejaht. Darum verzichte ich auf jegliche weitere Beschreibung der Gruppe der Interviewten, um den Rückschluss auf einzelne Personen zu erschweren. Mitgliedern des Lehrplanausschusses wird es wahrscheinlich dennoch gut möglich sein, einzelne Aussagen einzelnen Personen zuzuordnen. Aber eben nur diesen. Diese Entscheidung zur Anonymisierung kann umgekehrt nicht so gedeutet werden, dass die Interviewten nicht zu den Aussagen stehen und diese nicht inhaltlich vertreten würden, im Gegenteil, die Interviews weisen einen immer noch vehementen und engagierten Grundton auf. Aber auch 15 Jahre nach der ersten Handreichung scheint das Thema Lernfeld-Lehrpläne zwischen KMK und den Ländern und zwischen Konzeption und Realisierung mit Vorsicht und sprachlicher Diplomatie beladen.

Die Interviewführung erfolgte nicht nach einem gesonderten Interviewleitfaden. Bezugspunkt für die Gesprächsführung war die Information, die die Themen der Befragung bereits im Vorfeld offenlegte. Die Interviewerinnen hatten jeweils gemeinsam einige, diese Themen vertiefende und ergänzende Fragen vorbereitet, u. a. etwa eine Frage nach der Bewertung des Lehrplans in Schulnoten. Für die Interviews galt der Grundsatz, dass nicht alle Themen / Fragen behandelt werden müssen, um offen für Vertiefungen und von den Interviewten eingebrachte Themen zu bleiben. Zugleich waren die Interviewerinnen gehalten, in den Themenfeldern die Aussagen der Interviewten zu spiegeln und den Interviewpartnern so die Gelegenheit zu geben, Gedanken und Einschätzungen erneut zu verbalisieren.

3 Die Themen der Erinnerung

Die den Interviewpartnern zugeschickte zweiseitige Information gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten Abschnitt des Informationsschreibens wird die damalige Lehrplanarbeit als Bewährungsprobe pointiert dargestellt. Die Beschreibung des ersten Kapitels dieses Beitrages entspricht einer etwas ausführlicheren Fassung der Aussagen im Informationsschreiben, wobei allerdings darin ergänzend auf unterschiedliche Positionen zwischen Bundesländern hingewiesen wurde. Der zweite Abschnitt des Informationsschreibens schlägt drei curriculare Diskussionspunkte als damalige „Streitpunkte“ vor, erinnert aber auch an die Rolle der betrieblichen Sachverständigen und die Prüfung. Diese beiden Punkte werden im Folgenden erläutert. Der dritte Abschnitt des Informationsschreibens stellt mögliche Fragen zu diesen Themen vor, die entsprechend auch leitend für die Interviews sind und die Auswertung in diesem Beitrag strukturieren. Der vierte Abschnitt des Informationsschreibens enthält Hinweise zur Terminvereinbarung und den Interviewerinnen.

Die drei curricularen Diskussionspunkte der damaligen Lehrplanarbeit sind in der Information als Erinnerungsstütze so formuliert worden:

Das Verhältnis einer funktionalen Gliederung der Tätigkeiten in Industrieunternehmen („Beschaffung, Produktion, Absatz u. a.) zu dem Prinzip der „Geschäftsprozesse“ (im Kern: der Kundenauftrag / die Auftragsabwicklung) musste bestimmt und in eine Reihenfolge gebracht werden.

Das „Rechnungswesen“ stellte in vielerlei Hinsicht für kaufmännisches Denken und Handeln den Inbegriff eines systematischen und inhaltlich aufeinander aufbauenden Wissens als Muster für Fachsystematik und kaufmännische Tradition dar. Für Industrieunternehmen war die Verarbeitung von Informationen des „Rechnungswesens“ in ERP-Systemen und zur Unternehmensteuerung (Controlling) ein Kennzeichnen, in dem Tradition und Moderne schon damals aufeinander trafen.

Für das Rechnungswesen wurde bereits die Abgrenzung der Aufgaben der „Führung“ (Steuerung) in Unternehmen und der „Bearbeitung von Aufträgen“ (Sach- oder Fallbearbeitung) angesprochen. Globalisierung, gesellschaftliche Verflechtung, wirtschafts- und sozialpolitische Diskussionen waren ergänzende Punkte, die zu einer Positionierung zwischen dem Anspruch eines „kundigen Wirtschaftsbürgers“ (eben: Wirtschafts- und Sozialkunde) und dem „unternehmerisch denkenden Mitarbeiter“ (Strategien von Shareholdern und Stakeholdern) aufforderten.

Weiterhin wurde in dem Text an einen Diskussionsstrang erinnert, der mit dem Thema Prüfung verbunden war:

Prüfungsorganisatorisch war die Regelung der bundeseinheitlichen Prüfungserstellung durch die AKA aktuell, das Thema gestreckte Abschlussprüfung stand ebenso im Raum wie der Umgang mit den „Einsatzgebieten“ als curriculares Element der betrieblichen Ausbildungsordnungen und den Konsequenzen für das dritte Lehrjahr der Berufsschule.

Die im Informationstext angekündigten möglichen Leitfragen für das Gespräch lauteten:

a) Sind rückblickend die drei „zentralen“ curricularen Punkte angemessen beschrieben? Welche Gewichtung würden Sie den Punkten geben – auch im Verhältnis zu den anderen Rahmenbedingungen (etwa Prüfungen)? Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Punkte zu nennen oder wichtigere zu betonen?

b) Wie würden Sie – im Rückblick – die Intention der formulierten Lernfelder beschreiben, was sollte als „Botschaft“ ausgedrückt werden. Deckt sich diese Botschaft mit Ihrer damaligen (oder heutigen) Auffassung? Glauben Sie, dass die Botschaft „in der Praxis“ angekommen ist? Welche „Wirkung“ würden Sie dem Lehrplan zusprechen?

c) Gibt es Entwicklungen, die eingetreten sind, obwohl Sie diese eigentlich „verhindern“ wollten. Welche eingetretenen Entwicklungen haben sie überrascht? Wie einheitlich erscheint Ihnen die Umsetzung? Wie bewerten Sie die Akzeptanz des Lehrplans in der schulischen Praxis?

d) Wie wichtig ist Ihnen die Lehrplanarbeit von damals als „gemachte Erfahrung“ heute? Würden Sie Lehrplan und Deutung des Lernfeldkonzeptes heute noch so vertreten? Was würden Sie heute auf jeden Fall anders machen? Welche Empfehlung würden Sie heute der KMK (als Vertreterin des Lernfeldkonzeptes) und Kolleginnen und Kollegen als Vertreter in Rahmlehrplanausschüssen geben?

In den nun folgenden Kapiteln werden nicht alle diese Fragen beantwortet und viele im Verbund oder als gegenseitiger Kontext behandelt. In den Interviews konnten nicht alle Fragekreise jeweils explizit angesprochen werden, was wie oben beschrieben auch nicht intendiert war.

4 Bewertungen zur damaligen Lehrplan-Arbeit

Die eingenommene Perspektive fokussiert die Gedanken zu der Lehrplanarbeit, die Ereignisse und Geschehnisse in der Gruppe der Lehrplanentwickler. Im Rückblick werden durchgehend gegensätzliche Interessen und divergierende Verständnisse zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der Länder erinnert. Zudem gibt es im Rückblick eine spürbare Grundhaltung des Nachvollzugs der „Glaubenskrieger“ (9, 54’) für die unterschiedlichen Bedingungen und Einschätzungen anderer Teilnehmer hinsichtlich der Struktur des Rahmenlehrplans. Daher wird immer wieder die Kompromissbereitschaft betont, die notwendig und zugleich auch in einem kollegialen Sinne gewollt schien. Sie wird auch aus der Einschätzung genährt, dass die Gruppenmitglieder unterschiedlich vertraut mit dem Lernfeldkonzept waren, aber auch mit den fachlichen Komponenten von Geschäfts- und Arbeitsprozessen (11, 3’). In den Interviews wird jeweils deutlich, dass die damaligen individuellen Themen- und Interessenschwerpunkte der Mitglieder weitgehend die Themen des Interviews dominieren. In nur zwei Fällen war eine Übersicht über alle Diskussionslinien und somit eine etwa gleich verteilte Gesamtübersicht in dem Gespräch möglich.

Insgesamt bestätigen die Mitglieder die im Informationsschreiben genannten drei Punkte der Erinnerung als die relevanten, wobei die Geschäftsprozesse und das Rechnungswesen überwiegen. Die Prüfung als der vierte genannte Punkt wird ebenfalls eher durchgängig genannt, etwas seltener wird die Diskussion um Wirtschafts- und Sozialprozesse erinnert. Wirtschafts- und Sozialprozesse werden mit dem Lernfeld 12 thematisiert weisen und starke Bezüge zu den anderen Themen auf. Zwei eher mit der konkreten Formulierung der Lernfelder zusammenhängende Aspekte, nämlich inwieweit die Ziele hinreichend kompetenzorientiert formuliert sind und welche Reaktionen die Inhaltsbeschreibungen auslösen, finden sich in mehreren Interviews wieder und können als Ergänzung zu den im Informationsschreiben genannten Punkten angesehen werden. Diese Aspekte werden erst im nachfolgenden Kapitel (Bewertungen zum Lernfeldkonzept) aufgegriffen. Zunächst geht es um Stellungnahmen und Einschätzungen zu den vier Punkten (1) Geschäftsprozesse, (2) Rechnungswesen, (3) Prüfung und (4) Wirtschafts- und Sozialprozesse. Es gibt Stimmen, die darauf hinweisen, dass einem diese Diskussionslinien allerdings auch erst im Nachhinein so klar geworden sind (1, 2’).

(1) In einem Interview wird folgende Beschreibung über die Rolle der Geschäftsprozesse gegeben: „... bis dann vielen klar geworden ist, dass das etwas ganz Neues ist, wenn man aus diesen Strukturen (der Inhaltlichkeit, Ergänzung d. A.) ausbricht und daraus eben Prozesse macht. Und die unterschiedlichen Prozesse dann, Kernprozesse auf der einen und Supportprozessen auf der anderen, das war so mein Eindruck, war vielen gar nicht klar. Einige, da will ich mich gar nicht von ausschließen, die waren so auf dem Trip, wir machen so eine Modernisierung und dann gucken wir mal, was unter EDV-Gesichtspunkten neu rein kommen muss....“  (11, 3’f; ähnlich auch 1, 3’). Aus Sicht der Teilnehmer an der Lehrplanarbeit scheint dieses Umdenken ein wesentlicher Schritt zu sein, der auch die Beurteilung des Lehrplans prägt, denn unisono wird dies als maßgebliche Veränderung und Wirkung in der Umsetzung empfunden. Dabei ist durchgängig bei den Treibern der „Strukturreformen“ der Eindruck festzuhalten, dass dies für die Umsetzung noch nicht weit genug im Lehrplan verankert ist, während die „Modernisierer“ es als zu betonendes Ergebnis der Lehrplanarbeit deuten, dass die Geschäftsorientierung so langsam überhaupt in der Praxis angekommen und auch akzeptiert ist. Was dabei „Orientierung an Geschäftsprozessen“ eigentlich heißt und wie sich das tatsächlich durchgängig im Unterricht niederschlagen kann, ist selbst bei Strukturreformern nicht vollständig zu Ende gedacht bzw. wird als durchzuführende Konkretisierung auch noch 10 Jahre danach als ausstehend angemahnt, obwohl „Geschäftsprozessorientierung alle auf ihre Buchdeckel geschrieben haben“ (9, 29’).

In der Ausgestaltung dieser Frage, was Geschäftsprozessorientierung eigentlich heißt und wie man sie erschließen könnte, wird auf drei typische Strategien in der Umsetzung nach Fertigstellung des Rahmenlehrplans hingewiesen, nämlich erstens der Blick in die Praxis, zweitens der Blick in Lehrbücher zu prozessorientierter Betriebswirtschaftlehre bzw. Wirtschaftsinformatik und drittens die schleichende Umdeutung von Prozessen in funktionsbezogene Handlungsprodukterstellung (etwa: der Angebotsvergleich). Der Blick in die Praxis wird als wichtiger Schritt bei der Gestaltung von Fortbildungsaktivitäten nach Einführung des Lehrplans gesehen (6, 19’ ff).

Es muss genaueren Analysen vorbehalten bleiben, ob diese Restrukturierung als Erfolg des Lernfeldkonzeptes gewertet werden kann und soll, oder eben – wie jede Änderung eines curricularen Organisationsprinzips – die Initiierung von überhaupt etwas Neuem, etwa einem neuen Fach „Industrielle Geschäftsprozesse“ als Erfolg von Curriculumentwicklung gewertet wird. Die Reformer dürften eher zur ersten Interpretation tendieren während die Modernisierer eher die zweite Sichtweise bevorzugen dürften.

Thematisch wird Geschäftsprozessorientierung einerseits mit der Reihenfolge der Lernfelder und der Auflösung der materialflussorientierten Reihung von Beschaffung-Produktion-Absatz in Verbindung gebracht, andererseits wird sie über das Lernfeld 2 begründet, welches einen orientierenden Einstieg in den Zusammenhang von Geschäftsprozessen, den betriebswirtschaftlichen Zielen und dem organisatorischen Aufbau von Industrieunternehmen hat. Lernfeld 2 markiert in den Anmerkungen der Interviewten so etwas wie den Wendepunkt des Curriculums. Es ermöglicht eine Unterstützung der Geschäftsprozessorientierung in den Lernfeldern (vor allem LF 5, 6, 7, 10), sofern es nicht nur als „Übersichtslernfeld“ gedeutet wird (6, 18’). Zugleich kann es Kollegien entlasten, die die Lernfelder (5, 6, 7, 10) eher funktionsorientiert deuten, weil die Geschäftsprozessorientierung ja schon in Lernfeld 2 „abgehandelt“ wird. Das Lernfeld 2 wird als vielleicht „das einzig wirklich gelungene“ (9, 19) Lernfeld der Geschäftsprozessorientierung beschrieben. Die Modernisierer verstehen dies eher als Brücke von der Geschäftsprozessorientierung hin zu einem systematischen, traditionellen Rechnungswesenunterricht und einer funktionalen Deutung der Geschäftsprozesse.

(2) Von allen Interviewten wird betont, wie hilfreich bzw. richtig die Möglichkeit ist, eine systematische Einführung in das Rechnungswesen im Lehrplan über die Lernfelder 3 und 4 vorzusehen. Allerdings aus sehr unterschiedlichen Motiven. Von den Struktur-Reformern wird betont, dass es dadurch schon erleichtert wird, die jeweiligen im Zusammenhang mit Geschäftsprozessen notwendigen Verbuchungen (als Buchungssatz sowie in ERP- oder in Buchungssoftware) in den Lernfeldern 5, 6, (7), 10 zu integrieren. Wobei das Problem, es dann gegebenenfalls wiederholen zu müssen, weil die Schülerinnen und Schüler alles vergessen haben, eben gelöst werden muss. (6, 52’). Eine flächendeckende Integration dieser „Rechnungswesenanteile“ in die Geschäftsprozesse scheint aber nicht gegeben. Unklar bleibt in der Einschätzung der Gesamtlage der Umsetzungspraxis, ob dies von der Praxis nicht gewünscht bzw. gewollt ist oder von der Praxis nicht geleistet werden kann. Jedenfalls scheint es durchaus gängig zu sein, die „Zeitanteile“ des Rechnungswesens in den Lernfeldern 5, 6, (7), 10 in die Lernfelder 3, 4, 8 zurückzurechnen, die das „Wichtigste des Rechnungswesens dann systematisch zusammenfassen“ (10, 2’). Die Rolle des Lernfeldes 11 bleibt dabei ambivalent zwischen nicht so richtig zum Rechnungswesen gehörend, aber auch nicht richtig geschäftsprozessorientiert zu sein (4, 16’).[8]

Auch im Bereich der kaufmännischen Steuerung und Kontrolle wird so eine Linie gefunden mit der zwei Seiten unterschiedliche curriculare Deutungen des Rechnungswesens ausleben können. Die beiden Seiten lassen sich hier – anders als bei den Geschäftsprozessen – aber deutlicher in die moderaten Modernisierer und in die Traditionalisten einteilen. Die moderaten Modernisierer stehen für eine Integration der Handlungen des Verbuchens und Auswertens von Informationen zu Steuerungszwecken im Kontext der Geschäftsprozesse oder zumindest funktionalen Zuordnungen (etwa Beschaffung und Personal). Die Traditionalisten sehen dies eher im Zusammenhang mit der – ihrer Meinung und Erfahrung nach 10 Jahren Lehrplan immer noch auch für Schülerinnen und Schüler einfacher zu erschließenden – Ordnungslogik des Systems des Rechnungswesens (10, 6’). Für sie scheint die Zeit im „Rechnungswesen“ insgesamt zu knapp bemessen, weshalb Inhalte zwischen Lernfeldern und Fachlehrern verschoben werden (4, 16’).

Für die Frage der Verknüpfung des Rechnungswesens mit der Geschäftsprozessorientierung (also die Deutung, dass alle Lernfelder dieser Orientierung folgen müssten) stellt ebenfalls das Lernfeld 2 einen wichtigen Bezugspunkt dar. Deutlich wurden dabei Probleme beschrieben, die sich ergeben, wenn die Orientierung über Kostenbegriffe aus Tradition des Rechnungswesens über die Kostenabgrenzung erfolgt (7, 6’). Zugleich werden über Fragen der Prozesskostenrechnung diese Orientierung angesprochen und ermöglicht (8, 13’). Zweiter Bezugspunkt ist die Einbindung in informationstechnische Umgebungen. Hier legen die Traditionalisten die „Software-Frage“ eher in Formen der Office-Anwendungen, gelegentlich mit Exkursen zu Buchführungssoftware, aus. Von den Modernisierern wird dabei eher die ERP-Integration erwartet oder zumindest die Auswertungen (Berichte und Darstellungen) von Buchungsprogrammen als Schnittstelle als angemessener Ersatz vorgeschlagen. Das Stimmungsbild ist dabei uneinheitlich, ob dies tatsächlich in der Breite gelingt.

(3) Die Prüfungen stehen in einigen Interviews ganz oben auf der Liste der erinnerten Ereignisse. Sie bewegen die Gemüter. Teilweise wohl deshalb, weil genau nicht mit dem Rahmenlehrplan in Verbindung stehen und insofern als nicht zu beeinflussende, aber zu beachtende Größe empfunden wird. Teilweise jedoch konkret inhaltlich, weil die Ausführung der neuen bundesweiten Prüfung (die bis auf Baden-Württemberg durchgeführt wird) zu Restriktionen führen, die als contraproduktiv gesehen werden. Hier sind die Stoffkataloge zu nennen, die aber im nächsten Kapitel angesprochen werden, die Prüfungsform und die Art der Bemühungen um handlungsorientierte Prüfungsaufgaben. Insgesamt wird hier geäußert, dass sich Lehrplanrevolution und Prüfungstradition über die Jahre in einen Dialog hineingefunden haben. Es wird anerkannt, dass die Prüfungsaufgabenerstellung ein schwieriges Geschäft ist, sich jedoch in Teilen auch auf die Intentionen der Geschäftsorientierung und des Praxis- oder Handlungsbezuges hin bewegt. Gelegentlich wird bedauert, dass etwas im Stoffkatalog gestrichen wird, was im Lehrplan vorgesehen ist (2, 2’) Ausdrücklich werden neue Formen der Kooperation zwischen Schule und Betrieb hinsichtlich der Fachberichte als aus dem Lehrplan heraus positive Entwicklungen erwähnt (8, 16’). Während dies vor Ort durchaus zu als neu und sinnvoll bewerteten Formen der Zusammenarbeit führt, scheint die AKA ein Eigenleben zu führen. Der AKA kann man schwer was „beibringen“ (11, 22’), wobei die Besetzung der Ausschüsse eine wichtige Rolle spielt und dort nach und nach die Änderungen auch angenommen werden (6, 36’ f.; 1, 14’):

(4) Seltener und vergleichsweise moderat wird die Frage der Wirtschafts- und Sozialprozesse angegangen. Sie berührt einerseits den Zusammenhang zwischen dem Betrieb (bzw. den Geschäftsprozessen) und der Umwelt (bzw. den globalisierten Märkten), andererseits überhaupt die Frage, „wie viel VWL müssen die Industriekaufleute noch können?“ (8, 35). Hier wird einerseits dem Lernfeld 2 eine besondere Rolle zugewiesen (6, 4’), andererseits werden LF 1 und LF 9 als eine aufbauende Linie gesehen, die dann in LF 12 ambivalent und durchaus umstritten diffus endet. Das Lernfeld 12 wird von den Befürwortern der Geschäftsprozessorientierung (und damit gefühlter Lernfeldorientierung) eher als eine vergebene Chance gesehen (6, 6’). Das LF 9 wird in der Literatur ebenfalls unter diesem Aspekt kritisch betrachtet (zusammenfassend BUSIAN 2006, 284 f., MINNAMEIER 2004, 241). Dagegen empfinden die Modernisierer in dieser Frage eher einen Rückzugsort der fachlichen Einbindung unternehmerischen Handelns in das Gefüge des Wirtschaftssystems, was dann auch bei Fachberichten und Projektplanung von Bedeutung ist (10, 14’). Das Lernfeld 12 spielt in der Erinnerung eine besondere Rolle, weil einerseits die inhaltliche Ausrichtung, andererseits die zeitliche Lage erst ganz zum Schluss des Verfahrens und damit eilig vor dem Ende in der Form gewählt oder „eingebracht“ wurde (6, 5’). Hier wird an einziger Stelle eine Verfahrensirritation spürbar. Das Verfahren der Lehrplanerstellung wurde  ansonsten zwar als durchaus mühsam aber offen im Umgang miteinander umschrieben.

5 Bewertungen zum Lernfeld-Konzept

In der Darstellung der Lehrplanarbeit wurde deutlich, dass „der“ Lernfeldansatz bei der Entwicklung des Lehrplanes gar nicht die entscheidende Rolle spielen konnte, weil „der“ Lernfeldansatz nicht wirklich transparent oder kongruent von den Mitgliedern des Ausschusses wahrgenommen worden ist. Deshalb wählt dieser Beitrag die Perspektive, aus einem einzelnen Lehrpan die Fragestellungen und Deutungen des Lernfeldkonzeptes zu verstehen und damit Beiträge (etwa BÖHNER 2006) zu ergänzen, die den Lernfeld-Ansatz in einzelnen Lehrplänen vermuten und an einzelnen Lehrplänen prüfen. Die Deutungen sind dann weniger den Intentionen der Autoren der Handreichung zuzuschreiben, sondern den Lehrplanformulierern und ihrem teilweise auch nachgelagerten Umgang mit dem Lehrplan.

Diese Perspektive kann am Beispiel der Geschäftsprozessorientierung erläutert werden. Die Geschäftsprozessorientierung kann und wird von einigen Mitgliedern als Indiz für die Lernfeldorientiertheit des Lehrplans angesehen. In vielen Aussagen – auch genau dieser Mitglieder – wird aber sehr wohl deutlich, dass die Geschäftsprozessorientierung auch als Restrukturierung des Faches Industriebetriebslehre interpretiert werden kann und wird, insbesondere dann, wenn Prüfungsordnung und der Stoffkatalog der AKA dieses Gebiet funktional mit Begriffen zu Absatz, Produktion und Beschaffung füllt und dem Stoffkatalog die Rolle des heimlichen Lehrplans zugeschrieben wird (7, 30’).[9] Im strengen Sinne sind dann selbst die Vertreter des Lehrplanausschusses, die den Grundgedanken des Lernfeldkonzeptes befürwortend aufgreifen, eigentlich keine Vertreter des Lernfeldkonzeptes. 

Aus den Interviews ergeben sich insbesondere Hinweise auf zwei Bereiche, die enger mit dem Lernfeldkonzept als Richtlinie für Lehrplanersteller verbunden sind: (1) Zielformulierungen und Inhalte, (2) Bezugnahme auf Handlungsfelder betrieblicher Praxis. Sie werden auch als vorsichtig formulierte Hinweise und Empfehlungen an die KMK verstanden, was man bei der Erarbeitung von Lehrplänen besser machen könnte.

(1) In einem Interview wird Kritik an den Zielsetzungen deutlich, sie seien nicht „kompetenzorientiert genug“, nicht „outputbezogen wie beispielsweise im EQR gefordert“ (3, 4’) formuliert. Zu häufig seien einfach alte Lernzielformulierungen übernommen worden. Entsprechend hätten die Zielformulierungen konzeptionell strenger und eindeutiger vorgegeben werden müssen, um die Umsetzung in den Schulen zu erleichtern. In mehreren Interviews wird tendenziell gegen diese Meinung argumentiert, weil einerseits die Ziele in der Lernzielform realistisch formuliert seien bzw. dort, wo sie etwa wie im Lernfeld 12 auf konkrete Handlungen bezogen seien, unrealistisch wären, bestimmt wurden und zudem sowieso die Inhalte die Ziele dominieren, weil Zielformulieren kaum gelesen oder verstanden werden (2, 26’). Ein – hier sinngemäß wiedergegebener – Auszug aus einem Interview verdeutlicht diese Grundauffassung. „Wir haben bei uns den Lehrplan über die Inhalte erstmal auseinandergenommen, woher sollen Lehrer bei den Zielformulierungen wissen, was sie denn konkret vermitteln müssen. Sie können ja nicht die Betriebe fragen, was sie zu einem Ziel an Inhalten brauchen, wenn es da heißt, die Schüler sollten das und das ermitteln. Und die Prüfung gibt Inhalte vor, machen wir uns nichts vor, für die Schüler zählt die Prüfung“ (10, 24’). Außerdem finden sich Hinweise über bemerkenswerte Fehldeutungen der Inhaltslisten, die in einer Bemerkung auch als Maximalliste verstanden wurde.

Es ist offensichtlich, dass beide Deutungen (weder nur aufgeführte Inhalte noch systematisch erweiterte Inhaltslisten) nichts mit dem Lernfeldkonzept zu tun haben, aber als Reaktionsweise auf einen Lernfeldlehrplan und seine Bewertung einfließen. Auch der Stoffkatalog der AKA wird in dem Zusammenhang als Referenz genannt, ebenfalls eine im Grunde lehrplanfremde (wenn auch alltagsnahe) Argumentation.

Damit ist die Offenheit der Lehrpläne als Problem angesprochen – wobei dies in der Erinnerung durchaus als ein sich mit der Zeit wandelndes Phänomen beschrieben wird. So war es eben ganz am Anfang der Einführung im Jahre 2002, als es weder passende Fortbildungsunterlagen, Lehrbücher noch Prüfungsvorlagen gab, geradezu eine Strategie in den Ländern, die Offenheit eilig mit Inhalt zu füllen und dadurch Akzeptanz zu schaffen. Dies war zwar lästig aber möglich. Es war lästig, dies individuell (in den Ländern) zu tun, zugleich gut, weil es in den Länder getan werden konnte (10, 20’f). Die dabei vorzunehmenden Umordnungen und Deutungen waren entsprechend individuell und aus Sicht der Länder angemessen (in keinem Interview wird auch nur am Rande erwähnt, man hätte den Lehrplan nicht umsetzen können, was heißt: jedes Land hat einen eigenen Weg gefunden, damit umzugehen). Zugleich wird deutlich, die Zielformulierungen haben in der Praxis nur bedingt den Stellenwert, den ihnen in der Theorie zugeschrieben wird, was auch das Argument relativiert, man müsste die Zielformulierungen noch genauer und sorgfältiger auf die Kriterien ausrichten (etwa des Lernfeldansatzes oder anderer wie dem EQR).

Jeder Curriculumentwicklung immanente Punkte, wie etwa die Frage nach einem „Raster“ für die Einordnung von Zielformulierungen in Klassifizierungssysteme (BÖHNER 2006, 59) im Lernfeld-Ansatz werden von den Beteiligten nicht erwähnt, der Strukturstreit wird nicht auf dieser Ebene verortet. Es bleibt genaueren Analysen vorbehalten, ob dies methodisch bedingt an der Art der Erinnerung durch das Informationsschreiben liegen kann.

(2) Das Lernfeld-Konzept der KMK weist die Handlungsfelder betrieblicher Ausbildung als wichtigen Bezugspunkt aus. Mehrfach werden hier schwierige Diskussionen mit der betrieblichen Seite erinnert. Dies bezieht sich nicht nur auf die Einsatzgebiete und ihre Bedeutung für den Berufsschulunterricht im dritten Ausbildungsjahr, auch etwa die zeitliche Gliederung, die den Ausgangpunkt von Geschäftsprozessen, den Kunden bzw. den Absatzmarkt erst in das dritte Ausbildungsjahr verlegt, wurde als anzuerkennende Restriktion aus dem Gremium der Sachverständigen der Betriebe gesehen (5, 18’). In einem Interview wird deutlich gemacht, wie sehr die Grundlage für Lernfeld-Arbeit, eine – in diesem Fall – geschäftsprozessorientierte Struktur betrieblicher Ausbildung in dem Verfahren gefehlt hat und das Ideal eines „abgestimmten Verfahrens“ in dem Fall nicht hinreichend gelungen ist, wenn innerhalb des Verfahrens schulische oder hier die betriebliche Seite „in Vorleistung treten“ (8, 28 ’f.) müssen.

Dies betrifft auch den Umgang mit Informationstechnik und Software. Auch hier ist die Lage keineswegs eindeutig, was überhaupt gewünscht wird. So sind Stimmen vorhanden, die das tatsächliche ERP-Handling den Betrieben überlassen, weil Auszubildende, die dies im Betrieb anwenden, in der Regel die Lehrenden in der Schule regelmäßig „in die Tasche stecken“ (5, 44’). Dies würde wiederum denen ein Argument liefern, die aus ganz anderen Gründen auf den Einsatz von ERP-Software schlicht verzichten. Auch wird eher die Schaffung von Überblick und die Einsicht in Zusammenhang als Leistung der Schule betont (11, 11’), aber auch Ausgleich für die Fälle gedacht, in denen das mit ERP in Betrieben nicht so gut funktioniert. Uneingeschränkt durchgesetzt scheint sich nur die Norm von Präsentationsprogrammen zu haben, auch weil Vortrag halten zu den Aufgaben der Schule (von Lehrern und Schülern) gehört. In allen anderen Fragen von Software-Programmen herrscht eine sehr breite Deutungsvielfalt.

6 Wertschätzung des Lehrplans

Die Bewertung des Industrielehrplans durch die Beteiligten stellt aus Sicht des Autors zwei relativ neue Gesichtspunkte in der Beurteilung der Lernfeld-Lehrplanarbeit zur Diskussion. Erstens sind typische Kriterien wie Stringenz (Anwendung eines oder weniger Prinzipien bei der Konstruktion), Klarheit (Eindeutigkeit einer Vorgabe, Erreichbarkeit des Ergebnisses), und normative Orientierung (Richtung und Verbindlichkeit des Curriculums) nicht die, die einen Lehrplan im Rückblick als „wertvoll“ oder „bewährt“ erscheinen lassen. Vielmehr sind „Ermöglichung“ (8, 12’) und „Zugänglichkeit“ sowie eine normative Reibung (als alternative Deutung und Auslegung von verschiedenen, realisierbaren und somit im Alltag berechtigten Prinzipien) das, was aus Sicht dieser Gruppe zählt. So erscheint aus dieser Perspektive das Lernfeld 2 gelungen, genau weil es in verschiedene Richtungen Orientierung gibt und verschiedene Prinzipien zulässt.[10] Wenn es konkretisiert werden kann, und zwar in einer dann vor Ort (in den Ländern, in den Schulen) als hinreichend angesehener Konsequenz und einer nicht offensichtlich widersprüchlichen Form, kommt der Lehrplan vor Ort an, weil er letztlich vor Ort entsteht. So ermöglicht der Lehrplan beides Differenz und Konsistenz, was im Ergebnis sich zwar zwischen verschiedenen Orten als widersprüchlich und heterogen darstellt, aber an einem Ort als konsistent, sinnhaft und eben eigen erscheint. Insgesamt verlagert dies aber Arbeit und Anspruch auf die Schulen vor Ort, genauer auf die jeweiligen Bildungsgänge. Entsprechende Fragen, wie diese Aufgabe als Lehrerarbeit unterstützt werden kann und diese erarbeitenden Lehrplanverarbeitung vor Ort gut organisiert werden kann, rücken dann stärker in den Mittelpunkt (DILGER/ SLOANE 2007 oder BUSCHFELD 2010).

Zweitens scheint es aus Sicht der Lehrplanformulierer schon so zu sein, dass mit dem Lehrplan eine erhebliche Änderung intendiert war, ein deutliches Signal gegeben worden ist! Überwiegend wird der Lehrplan / die Neuordnung als bemerkbare Veränderung markiert, die ausschloss, einfach so wie bisher weiter zu verfahren. Wobei heute – also immerhin knapp 10 Jahre nach Einführung –, ein Reformulierungsbedarf kaum gesehen wird. Der Lehrplan scheint 10 Jahre nach der Entwicklung immer noch zukunftstauglich.

Im Bereich der Industriekaufleute scheint das Lernfeld-Konzept also angekommen (5, 52’) allerdings in seiner zu Fächern bzw. einer zur Stundenplanungsorganisation kompatiblen Form. Und, so scheint es, dies wird von den Lehrplanentwicklern in der Summe und „aus dem Bauch heraus“ (7, 33’) mit „gut“ bewertet. Eher gut minus, wenn die Fächerorientierung als Hindernis oder Hemmnis bei der Umsetzung des eigentlichen Anliegens der Lernfelder gesehen wird, eher gut, weil es überhaupt zu auch spürbaren Veränderungen und Innovationen geführt hat und diese bei Schülern auch angekommen sind und gut für die Schüler sind.[11]

Hinsichtlich der curricularen „Qualität des Lehrplans“ Industriekaufleute leistet die Untersuchung von BUSIAN (2006) eine umfangreiche und differenzierte inhaltliche Beschreibung und Einschätzung. Im Vergleich dazu hat diese erinnernde Nachfrage dem Autor vor Augen geführt, dass es vergleichsweise einfacher ist, aus einer Perspektive (des Lesens) heraus einen föderal geprägten Rahmenlehrplan etwa hinsichtlich der Ungereimtheiten und Unvollständigkeiten zu kritisieren, als einen Rahmenlehrplan in einer föderalen und für eine föderale Perspektive zu schreiben. Die Lernfeld-Frage und die Umsetzung des Lernfeld-Konzeptes im Kontext von 15 Jahre Erfahrung zu bilanzieren, ohne die föderale Hoheit in der Deutung der Rahmenlehrpläne und länderspezifischen Fortbildungen zu denken und zudem das System zweier sich zwar abstimmender, aber nicht abgestimmter Gruppen von Sachverständigen in der konkreten Ordnungsarbeit nicht in den Blick zu nehmen,  verkennt die Dynamik des Umfeldes, in den der Unterausschuss Berufliche Bildung der KMK das Lernfeldkonzept gesetzt hat. In anderen Worten: Die KMK selbst und mit ihr das Lernfeldkonzept hat in Rahmenlehrplanausschüssen eben keine Stimme. Vielleicht gibt sie sich mit der Handreichung stärker und machtvoller, als in der Entwicklung der Lehrpläne tatsächlich ist. Die Mitglieder dieses Rahmenlehrplanausschusses verstehen sich eher als Vertreter der Länder (und der eigenen Schulen) denn als Vertreter der KMK. Manche Schwierigkeiten des Lernfeldkonzeptes sind so dem Umfeld, und weniger dem Lernfeldkonzept zuzuschreiben. Und wer eine Einheitlichkeit und Verbindlichkeit eines KMK-Rahmenlehrplans in den Ländern wirklich fordert, sollte auch klären, wer denn für die einheitliche Umsetzung tatsächlich sorgen will und wie das geschehen soll. Umgekehrt ist es konzeptionell bei offenen KMK-Rahmenlehrplänen wichtig, einen hinreichenden Zeitkorridor zwischen der letzten Fassung des Rahmenlehrplans und dem ersten Unterricht von Schülerinnen und Schülern zu haben, um die Deutungsarbeit vor Ort leisten zu können (VLW 2002), bevor die ersten Schüler die erste Umsetzung des Lehrplans im Unterricht erleben.

Summierend kommen in den Interviews ein gewisser Stolz und eine Zufriedenheit mit der geleisteten Lehrplanarbeit zum Ausdruck, nämlich mit dem Rahmenlehrplan Industriekaufmann/-kauffrau das Lernfeld-Konzept soweit und tatsächlich voran gebracht zu haben. Auch wenn viele Mitglieder des Rahmenlehrplanausschusses gerne noch weiter gegangen wären, im Verbund der KMK und in den eigenen Ländern. Und es wird, nicht ausdrücklich, aber doch in den Zwischentönen erkennbar eine Form der Würdigung vermisst, eben diesen einen Kompromiss gefunden zu haben und ihn auch vertreten zu können. So gesehen wird es als Leistung empfunden, einen Lehrplan entwickelt zu haben, der zwar Anstrengung provozierte, aber keinen grundsätzlichen Krach. Vermisst wird eine Würdigung einer vergleichsweise leisen Reform, einer leisen Revolution, die langsam in der Praxis ankommt, wenn auch viel langsamer als gedacht. Eine Dekade ist dafür noch nicht lang genug. Wollten wir, was daraus wurde? Ja, weil gewollt war, die gewordene Vielfalt zu ermöglichen. Wer offene und realisierbare Lehrpläne propagiert, muss bei der Verbindlichkeit und der konzeptionellen Reinheit eben Kompromisse schließen.


[1] Der Autor war in weiten Teilen des Verfahrens als mitmischender Wissenschaftler mit Gaststatus bei den Sitzungen des Lehrplanausschusses anwesend und erinnert sich entsprechend.

[2] Nach der Handreichung von 1996 waren bis zum Startzeitpunkt des Verfahrens etwa zehn kaufmännische Lehrpläne erlassen, darunter waren Bankkaufmann/-frau; Informatikkaufmann/-frau; Kaufmann/-frau für Verkehrsservice (1997); Automobilkaufmann/-frau, Kaufmann/-frau für audiovisuelle Medien (1998); Kaufmann/-frau im Gesundheitswesen; Veranstaltungskaufmann/-frau (2000). Letzter noch nach traditioneller Fächerstruktur  geordneter Ausbildungsberuf war 1996 der Kaufmann/Kauffrau für Grundstücks- und Wohnungswirtschaft, der dann 2006 also nach nur 10 Jahren neugeordnet zum/r Immobilienkaufmann/-frau wurde. Dieser Beruf wäre ein anderer Referenzpunkt  für die Frage, was nach dem Lernfeldkonzept anders gemacht wurde als vor dem Lernfeldkonzept. Von den Berufen stand insbesondere der Bankkaufmann/-frau in der Diskussion, dazu etwa ETTMANN/ SCHERER/ WURM 2001, LEHMANN/ RICHTER 2000.

[3] Vgl. etwa die Kritik des von der KMK als „beispielhaft“ gewählten Lernfeldes 3 des/der Automobilkaufmanns/-frau in BUSCHFELD (2000, 169 ff.)

[4] Heterogen war die Gruppe im Verfahren und im Rückblick sicher mit Blick auf die Reichweite der gewünschten Umsetzung des Lernfeldkonzeptes. Sie repräsentieren, um einige Ergebnisse vorweg zu nehmen,  eine befürwortende (Lernfelder noch nicht konsequent genug umgesetzt) und eine korrigierende Sichtweise (Lernfeldkonzept muss spezifisch angepasst werden).

[5] Genau genommen handelt es sich in einem Fall um eine Person, die damals die Vertretung des Landes im Ausschuss im Hintergrund beraten hatte und die Entwicklung der Umsetzung vergleichsweise besser beurteilen konnte als die damalige Vertretung. Die Person wurde mit Zustimmung des damaligen Vertreters interviewt.

[6] Ich danke den Interviewten für ihre Bereitschaft ganz herzlich und Ines Lilienthal und Sophia Hille für die Interviewführung.

[7] Entsprechend selektiv kann zum jetzigen Zeitpunkt die Auswertung nur sein.

[8] Zu der unterschiedlichen Zuordnung von Lernfeld 11 auch BUSIAN 2006, 268.

[9] Was selbstredend eine alternative und sehr wirksame Form der Umsetzung des Lernfeldkonzeptes wäre, wenn nämlich die Prüfung mit in das Konzept einbezogen werden könnte.

[10] Wobei es aus Sicht einzelner Rezipienten dieses Lernfelds genau deswegen als misslungen gilt (BUSIAN 2006, 264).

[11] Zu den Implementationsbedingungen des Lernfeldkonzeptes KREMER 2003, 219ff.


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Zitieren dieses Beitrages

BUSCHFELD, D. (2011): Wollten wir, was daraus wurde? – Eine rückblickende Einschätzung des Rahmenlehrplans Industriekaufmann/-frau. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 20, 1-15. Online:  http://www.bwpat.de/ausgabe20/buschfeld_bwpat20.pdf  (27-06-2011).


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