bwp@ Profil 4 - September 2016

Kompetenzentwicklung im wirtschaftspädagogischen Kontext: Programmatik – Modellierung – Analyse.

Profil 4: Digitale Festschrift für SABINE MATTHÄUS

Hrsg.: Hermann G. Ebner & Jürgen Seifried

Die Lehrlingsausbildung in England: das „historische Erbe“ und aktuelle Ansätze zur Überwindung ihres randständigen Status

Die historischen Prägungen des englischen bzw. britischen Berufsbildungssystems und seine Andersartigkeit zum deutschen Ausbildungsmodell gehören zu den Grunderkenntnissen der Vergleichenden Berufsbildungsforschung und werden auch im angelsächsischen Kontext intensiv diskutiert. Im Allgemeinen wird im englischen Fall von einem nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichteten und die angelsächsische Variante der Kompetenzorientierung präferierenden Systemverständnis gesprochen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die in jüngster Zeit mehr und mehr sichtbar werdende staatliche Steuerungsfunktion in England gerade auf jenes Segment einwirkt, das als das maßgeblich in der Hand der Betriebe liegende Ausbildungsmodell schlechthin charakterisiert werden kann, nämlich die Lehrlingsausbildung (apprenticeship). Dass sich das "System" äußerlich-institutionell permanent durch Veränderungsdynamiken auszeichnet, bei denen die Berufsbildungsforschung Mühe hat, diese zeitnah zu erkennen und zu analysieren, verweist aber auch auf die Frage nach deren tatsächlicher Tragweite. Letztere soll unter Bezugnahme auf das "historische Erbe" im vorliegenden Beitrag skizziert werden.

1 Einleitung

Es ist unbestritten, dass wir es im Bereich der Berufsbildung einerseits mit "universalistischen" Herausforderungen zu tun haben, die bspw. auch das omnipräsente Problem der Jugendarbeitslosigkeit mit einschließen; andererseits zeigt sich aber doch stets das Eigengewicht nationalspezifischer Sonderwege. Es ist ebenso unbestritten, dass die Analysen zum englischen bzw. britischen Berufsbildungssystem einmütig zu der Einschätzung kommen, dass hier ein "wenig reglementiertes System mit hoher dezentraler Autonomie" existiert, dem in seinem Kernbereich, der betrieblichen Ausbildung, und hierin eingeschlossen der Lehre, von staatlicher Seite ein "marktwirtschaftliches Urvertrauen" entgegengebracht wird (Euler 1988, 126 f.). Hierbei handelt es sich um Traditionsparameter, die das Ergebnis historisch-politischer und historisch-kultureller Prägungen sind und bei denen - anders als in Deutschland - nicht von einer Entwicklungslogik gesprochen werden kann, die sich in ihrem Kern einer bewussten politischen wie auch pädagogischen "Reaktion" auf die Industrialisierung verdankt (Deißinger 1992). Das deutsche duale System kann in seiner heutigen Struktur (die mehr Beharrend-Statisches als Dynamisches verkörpert) nicht ohne Bezugnahme auf das Kammersystem verstanden werden, welches seinerseits auf das späte 19. Jahrhundert rekurriert. Auch die berufsbildungspolitischen Grundlinien seit dem Zweiten Weltkrieg stehen unverändert für die Überzeugung, dass Staat und Wirtschaft gemeinsam für die Berufsausbildung, ihre Qualität und die geordnete Weiterentwicklung ihrer Strukturen Verantwortung tragen (Greinert 1993, 26).

Man kann, wenn man die langfristigen historischen Entwicklungen in die Betrachtung mit einbezieht, auch im englischen Fall von Kontinuitätslinien sprechen (Deißinger 1992): Zum ersten richtet sich der Blick hierbei auf zwei Phänomene im Kontext der Industriellen Revolution, die als "reale Antriebe" zu jenen Strukturen geführt haben, die man heute landläufig als "VET system" bezeichnet. Hierzu zählen eine offenkundige "retardierte Sozialstaatlichkeit" im angelsächsischen Raum, was die Bildungsentwicklung allgemein betrifft, sowie die durch die Industrialisierung bzw. ihre Vorformen bereits früh vollzogene Marginalisierung berufsständischer Berufserziehung. Zum zweiten muss auf die spezifische Charakteristik der 1980er Jahre und 1990er Jahre verwiesen werden, als trotz des im Besonderen für die Ära Thatcher typischen und sichtbarer werdenden staatlichen Führungsanspruchs im Bildungsbereich (Green 1987) und der damit einhergehenden Ausweitung zentralstaatlicher Funktionen im traditionell parzellierten Berufsbildungssystem ein rechtlicher, organisatorischer und didaktisch-curricularer Neuanfang für die Lehre weitgehend ausblieb. Als interdependentes Parallelphänomen mit mehr oder weniger verstärkender Wirkung kann zudem der Kompetenzansatz (CBT) bezeichnet werden (Deißinger 2013; Jessup 1991). Ihm gilt jedoch im Folgenden nicht unsere eigentliche Aufmerksamkeit. Vielmehr soll sie auf die Lehre (apprenticeship) als solche ausgerichtet werden, spiegelt sich in ihr doch eine auffällige Ambivalenz hinsichtlich der ihr entgegengebrachten politischen und öffentlichen Wertschätzung und Beachtung wie auch des politischen Willens, sie zum Leitmodell einer modernen Berufsbildungspolitik in England zu erklären. So hat jüngst der zuständige Minister for Skills davon gesprochen, die Lehre zur "besten Lehrlingsausbildung der Welt" weiterentwickeln zu wollen (DBIS 2015, 2).

Keineswegs soll im Folgenden eine vergleichende Bewertung des deutschen und des englischen Berufsbildungssystems vorgenommen werden. Dies wäre aus wissenschaftlicher Sicht höchst fragwürdig. Vielmehr soll der "Gegenstand", mit dem wir es hier zu tun haben, hinsichtlich der o.g. Aspekte historisch-kritisch rekonstruiert werden. Hierbei ist die kulturell-historische Prägung des englischen bzw. britischen Berufsbildungssystems in seiner Andersartigkeit zum deutschen nicht von der Hand zu weisen. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, wie die mehr und mehr sichtbar werdende staatliche Steuerungsfunktion in England gerade auf jenes Segment einwirkt, das als das maßgeblich in der Hand der Betriebe liegende Ausbildungsmodell schlechthin charakterisiert werden kann, und ob wirklich von einer zukunftsweisenden Weiterentwicklung gesprochen werden kann.

Dass sich das "System" der Lehre wie auch das der anderen Berufsbildungsangebote im englischen Kontext äußerlich-institutionell permanent durch starke Veränderungsdynamiken auszeichnet — Keep spricht von "what is almost certainly the fastest changing set of institutional arrangements in the developed world" (Keep 2015, 465) - stellt die Berufsbildungsforschung vor die Aufgabe, erstere zeitnah zu erkennen und zu analysieren. Es geht aber gerade auch um die Frage nach deren tatsächlicher Tragweite. Eine Ausweitung unserer historischen Perspektive, die vor allem auf die Frage nach der "Gegenwartsbedeutsamkeit" historischer Prozesse und Weichenstellungen abzielt, liegt beim vorliegenden Text darin, dass wir das über eine kursorische historische Analyse zu identifizierende Moment der staatlichen "Non-Intervention" mit jenen jüngeren Aktivitäten der englischen bzw. britischen Berufsbildungspolitik kontrastieren wollen, die zumindest suggerieren, dass wir es aktuell mit einem wachsenden Engagement der Regierung zu tun haben, die notorische Unterreglementierung der Berufsbildung in England zu beenden und hierbei vor allem die Lehre in ihrer Bedeutung als Qualifizierungs- und Integrationsmodell in den Fokus zu rücken.

2 Historische Rekonstruktion (1): die Marginalisierung der klassischen berufsständischen Form der Berufsausbildung im Zeichen der Industriellen Revolution

Es stellt sich die Frage, weshalb es in England zu keiner mit Deutschland auch nur annähernd vergleichbaren, nachhaltigen Neubesinnung auf die Traditionsorientierung der Berufsausbildung und damit zu keiner Renaissance des berufsständischen Qualifizierungsmodells im 19. und frühen 20. Jahrhundert kam? Waren hier die "Denkvoraussetzungen" und ihre praktischen Auswirkungen von einer grundsätzlichen Andersartigkeit? Blickt man auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wie auch die bildungsgeschichtlichen Entwicklungen im Vereinigten Königreich, allen voran in England, dann kommen aus komparativer Perspektive historische Spezifika ins Spiel, welche in hohem Maße als berufspädagogisch relevant angesehen werden müssen (Deißinger 1992):

  • Zum einen ist dies der Niedergang der berufsständischen Ordnung aufgrund spezifischer sozio-politischer Rahmenbedingungen, die es den gesellschaftlichen Kräften, die erstere zu stützen und zu retten versuchten, nicht erlaubten, sie zu re-implementieren.
  • Zum andern wurde durch eine verspätete Sozialstaatlichkeit im Erziehungswesen die Chance einer Pädagogisierung der Ausbildung letztlich nicht in dem Maße eröffnet, wie es im Vergleichsfall für die deutsche Berufserziehungsgeschichte kennzeichnend war.

Bevor wir diese beiden Aspekte (ausführlich hierzu Deißinger 1992) dezidierter aufgreifen, ist auf die Vorgeschichte der Industrialisierung zu verweisen, die dadurch bestimmt ist, dass die Lehre als Regelmodell der gesellschaftlich-beruflichen Integration der nachwachsenden Generationen existierte. Erstaunlicherweise galt dies sowohl für die berufliche Ausbildungs- und Sozialisationskultur der städtischen Handwerksbetriebe seit dem Mittelalter als auch für die Einführung der "Gemeindelehre", welche zu Beginn des 17. Jahrhunderts von staatlicher bzw. kommunaler Hand als sozialpolitisches, der "sozialen Kontrolle" dienendes Instrument im Sinne einer Parallelstruktur implementiert wurde. Es sei bereits hier darauf hingewiesen, dass diese zweite, die eigentliche berufspädagogische Funktion der Lehre hinter sich lassende Instrumentalisierung den für die Gegenwart nach wie vor typischen "Doppelcharakter" der Lehrlingsausbildung in England mitbegründet hat.

2.1 Die Lehre in England in vorindustrieller Zeit

Die Berufsausbildung im vorindustriellen England (hierzu ausführlich Deißinger 1992, 28 ff.) ist Teil des Sozialgefüges der mittelalterlich-städtischen Gesellschaftsordnung. Hierbei setzten die Londoner Gilden mit der meist siebenjährigen Lehrzeit die Norm. Die Zünfte achteten streng darauf, dass nicht zu viele Ausgebildete das Gewerbe "überschwemmten", womit sie faktisch die breite Masse der Bevölkerung von einer geregelten beruflichen Ausbildung ausklammerten. Diesen Effekt verstärkte das 1563 erlassene elisabethanische Lehrlings- und Handwerkergesetz, das Statute of Apprentices. Es zielte darauf, die parzellier­ten Strukturen der mittelalterlichen lokalen zünftigen Ordnung in einen nationalen Rahmen einzubinden. Der Versuch, "die nationale Industrie und den Welthandel in das rigide Prokru­stesbett einer alten städtischen Organisationsform zu zwängen" (Hill 1977, 73), hatte jedoch nur partielle Wirksamkeit. Die breite Masse der gesellschaftlichen Unterschicht wurde demgegenüber - ebenfalls in der Regierungszeit Elisabeths I. - von einem neu erlassenen Armengesetz (Poor Law) erfasst, das ebenfalls berufspädagogisch relevante Bestimmungen enthielt: So wurde das sozial- und beschäftigungspolitische Instrument der "Gemeindelehre" (parish apprenticeship) begründet, mit dem fortan Kinder mittelloser Eltern durch Verdin­gung unter der Ägide der lokalen Friedensrichter einer Berufstätigkeit zugeführt wurden. Die "Fabrikkinder", die faktisch und symbolisch für das Elend der Kinderarbeit und den nur sehr zögerlichen Umgang des Staates mit der "sozialen Frage" seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stehen, waren oft "Gemeindelehrlinge". Es gibt hier also eine Entwicklungslinie, die schon früh andeutet, dass es offenkundig ein zweigeteiltes Verständnis der Lehre gab, das sich im Kern bis heute erhalten hat.

Von besonderer Bedeutung war, dass Buchstabe und Wirklichkeit des Statuts von 1563 keine Einheit bildeten: Das Gesetz wurde weder räumlich, noch was die einzelnen Ge­werbe betraf, universell angewandt und durchgesetzt. Dass sich die staatliche Berufsbil­dungspolitik bereits damals im Spannungsfeld von wirtschaftlicher Entwicklung und staat­lich-politi­schem Ordnungsanspruch befand, beweist der Kommentar von Adam Smith, das alte Ge­setz sei stets wörtlich ausgelegt und nur auf die Handwerke angewandt worden, die vor dem Erlass in England bestanden, jedoch nie auf solche, die erst danach aufkamen (Smith 1983, 105). Es zeigte sich, dass das Lehrlingsgesetz von 1563 nicht nur durch die sich anbahnende Kapitalisierung und Industrialisierung zu einem obsoleten Konstrukt geriet, sondern es war faktisch bereits bei seinem Erlass ein obsoleter Pfeiler der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Sozialordnung gewesen.

2.2 Der Einfluss von Industrialisierung und Manchestertum

England gilt in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur als die "Werkstatt der Welt". Dies hing nicht nur mit den wichtigen Erfindungen (Mechanischer Webstuhl, Dampfmaschine etc.) zusammen, sondern auch mit einer merkantilistische Prinzipien früh über Bord werfenden Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die "freie Wahl des Arbeitsplatzes und der Kapitalinvestition nach Ort und Erwerb" (Smith 1983, 103), deren Behinderung die wirtschaftsliberalen Ökonomen zu den Hauptübeln der merkantilistischen Wirtschaftspolitik zählten, sollten eigentlich im Statute of Apprentices durch die "Bevormundung des Lohnarbeiters", die "den Zünften abgenommen und dem Staate zuerkannt" (Steffen 1901, 424) wurde, verhindert werden. Nach Ashley erfolgte jedoch die Eliminierung der vorindustriellen Ordnungsbestimmungen bereits in vorindustrieller Zeit, im Kontext der in der Konsequenz unterlaufenen Verfügungen des Gesetzgebers. Letztere können ihrer Intention nach in drei Klassen differenziert werden (Ashley 1896, 247 f.): jene Rechtsvorschriften, die die siebenjährige Lehrzeit und damit den Standard beruflich-zünftiger Arbeit sichern sollten; jene, die darauf zielten, die Macht des Zunftwesens gegenüber den unregulierten ländlichen Gewerben zu behaupten; und in jene, die die Eigentumsverhältnisse und die Unabhängigkeit des einzelnen Handwerkers schützen sollten (hierzu ausführlich Deißinger 1992, 135 ff.).

Bei Adam Smith treffen wir auf eine Fundamentalkritik der "künstlichen Beatmung" der ständisch-vorindustriellen Wirtschaftsordnung, in der Wortlaut und Ausführungswirklichkeit erheblich divergierten (Smith 1983, 105). In der Tat war das Statut, das die siebenjährige Lehre nach der Konvention der Londoner Gilden vorschrieb, zu keinem Zeitpunkt in der neuzeitlichen englischen Sozialgeschichte ein effizientes wirtschafts- und sozialpolitisches Instrument. Der "kapitalistische Geist" entfaltete sich ab dem 17. Jahrhundert unübersehbar auch in den zünftigen Gewerben, was zwangsläufig zur schleichenden Aushöhlung der traditionellen Beruflichkeit der Ausbildung führen musste. Im Jahre 1814 wurde ein Repeal Act erlassen, das die Realitäten nachträglich sanktionierte, indem es die Einklagbarkeit der siebenjährigen Lehre als exklusiver "Berufszugangsberechtigung" aufhob. 1835 schließlich forcierte das Municipal Corporations Act den liberalistischen Angriff auf die verbliebenen Privilegien der Zünfte insofern, als die Ausübung eines Gewerbes von der Voraussetzung der "städtischen Freiheit" und damit von der Mitgliedschaft in einer Berufskorporation entkoppelt wurde. Es ist nicht unangebracht, mit diesen beiden Gesetzen die formelle Besiegelung des Endes der alten Lehrlings- und Berufsordnung zu verbinden, die eindeutig auch mit einem dramatischen Rückgang der zünftig Ausgebildeten einherging (Rappaport 1989, 21). Der weitere historische Weg Englands als einer wirtschaftsliberal geprägten Gesellschaft war damit geebnet.

Ein Rückblick auf das 17. Jahrhundert lohnt sich, um diese Dynamiken zu verstehen: So unterstrich ein Gerichtsurteil aus dem Jahre 1629 die ausschließliche Anwendbarkeit des Statute of Apprentices auf die zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung existierenden Gewerbe. 1681 wurde juristisch entschieden, dass die siebenjährige Lehre keinesfalls auf ländlich-dörfliche Gewerbebetriebe angewendet werden dürfe. Urteile dieser Art lassen sich ihrem Grundtenor nach auch noch für die Rechtsprechung des 18. Jahrhunderts belegen (Scott 1914, 44-47). Wir sehen, wie die traditionell enge Vorgabe, eine siebenjährige Lehre habe unter der Ägide einer Zunft zu erfolgen, auch durch Staat und Rechtsprechung mehr und mehr aufgeweicht wurde (Bland/Brown/Tawney 1914, 306 ff.).

Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die berufspädagogische Marginalisierung der traditionellen Berufslehre dann endgültig besiegelt. Ihr Niedergang ist wegweisend für den Entwicklungsverlauf der Berufserziehungsgeschichte in der Folgezeit. Um das Jahr 1900 ist die berufsständische Lehre, die sich dort, wo sie weiterbestand, zu einem gewerkschaftlichen Ordnungsinstrument zum Zwecke der Restringierung von Beschäftigungschancen auf segmentierten Ausbildungs- und Arbeitsmärkten entwickelt hatte, zu einer Restgröße geworden. Stattdessen prägte die Kinderarbeit vor allem dort das Bild der industriellen Produktionsstätten wie auch der Kleingewerbe, wo es zu keiner Substitution der Lehre durch die Praxis der Anlernung kam (Sheldrake/Vickerstaff 1987, 4 ff.). Der Sozialpolitiker Tawney führte vor diesem Hintergrund die Kategorie der "non-educational employments" ein (Tawney 1909,  525) und unterstrich damit den auf die unsystematische Imitatio reduzierten berufspädagogischen Anspruch, unter dem Schulabgänger in die Arbeitswelt eingeführt wurden. Daneben gab es Lehrverhältnisse in den gehobenen technischen Berufen, in denen das "Abdienen" (time-serving), ohne Prüfung, gängige Praxis war bzw. blieb. Restbestände dieser klassischen apprenticeship sind auch heute noch existent (Lane 1987, 63). Die Bemühungen der Regierung, in den 1990er Jahren mit der sog. Modern Apprenticeship die Lehre auf nicht-traditionelle Gewerbe auszudehnen, vor allem auf den Dienstleistungssektor, sind auch vor diesem Hintergrund zu betrachten.

Da es in England nicht wie in Deutschland zu einer die Gewerbefreiheit in wesentlichen Punkten korrigierenden, das Handwerk sozial und rechtlich protegierenden Gewerbegesetzgebung kam (Winkler 1976), ist es angemessen, die Diskontinuität des berufsständischen Ordnungsprinzips und damit den Niedergang der Lehre als "Königsweg" beruflicher Qualifizierung als historische "Ursachen" für die Marktorientierung des Ausbildungssystems der Gegenwart zu begreifen. Die wirkungsgeschichtlichen Implikationen ausgebliebener "Weichenstellungen" reichen dabei über die eigentliche Periode der nahezu vollständigen staatlichen Nichteinmischung in die Berufsausbildung – die Zeit zwischen 1814 und 1964 – hinaus. Symptomatisch hierfür sind die gescheiterten Fortbildungsschulgesetze in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die nach 1964 und vor allem dann in den 1970er und 1980er Jahren forcierte Instrumentalisierung der Berufsbildung als vom Staat gefördertes Mittel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.

3 Historische Rekonstruktion (2): das Ausbleiben staatlicher Steuerung am Beispiel der Fortbildungsschulgesetze von 1918 und 1944

Interessanterweise kam es in England um 1900 zu einer kritisch-positiven theoretischen Rezeption des Kerschensteinerschen "Münchner Modells". Zeitgenossen erkannten, dass hier Nutzenüberlegungen und sozialpolitisch-pädagogische Motive grundlegend waren, was die Beschulung der volksschulentlassenen Jugendlichen anging. Vor diesem Hintergrund wurden Stimmen nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Königreich aus den deutschen Er­fahrungen Nutzen ziehen könnte, obwohl man sich darüber im Klaren sein müsse, dass die divergenten "Staatsverständnisse" eine Übertragbarkeit deutscher Erfahrungen zwar wünschenswert, jedoch schwierig machten. In der folgenden Aussage eines zeitgenössischen Schul- und Sozialreformers spiegelt sich der realgeschichtliche Kontext des gesamten 19. Jahrhunderts, in dem die staatliche Erziehungspolitik in Großbritannien dem sich im Manchestertum manifestierenden Prärogativ des Ökonomischen vor dem Staatlichen untergeordnet wurde und der England bzw. Großbritannien im Allgemeinen als einen "Nachzügler" der Bildungsentwicklung und vor allem der staatlichen Verantwortung für das Schulwesen erscheinen lässt (ein Aspekt, den wir in allgemeiner bildungsgeschichtlicher Perspektive hier nicht weiter vertiefen können; siehe hierzu ausführlich Deißinger 1992):

"The crucial difference between the history of German education and that of English during the nineteenth century lies in the different use which the two countries have made of the power of the State. In England that power has been used reluctantly with deliberate rejection of any plan of national reorganisation. (...). In Germany the power of the State has been exercised unflinchingly with great forethought and precision of purpose. (...). Germany has adopted without serious misgiving the principle that national education is a function of the State: England has hesitated between two opposing theories, the theory of State control and that of private enterprise” (zit. in: Higginson 1990, 249).

Im Jahre 1908 hatte Kerschensteiner selbst eine Vortragsreise nach Edinburgh, Aberdeen, Glasgow und Dundee unternommen. Schottland stand in jener Zeit unmittelbar vor der Verabschiedung eines novellierten Fortbildungsschulpflichtgesetzes. Metz führt aus, dass die Gedanken und Erfahrungen im Zusammenhang mit der Reformbedürftigkeit der Fortbildungsschulen in Deutschland, die Kerschensteiner bei dieser Gelegenheit gegenüber den schulpolitisch Verantwortlichen vortrug, auf ein sehr positives Echo in der schottischen Presse stießen (Metz 1971, 126 ff.), in der die Kopie des "Münchner Modells" thematisiert und teilweise sogar ausdrücklich empfohlen wurde. Kerschensteiner, der zu einer Verankerung der Fortbildungsschulpflicht geraten hatte, hatte offensichtlich einen nicht unerheblichen Anteil an der Verabschiedung des schottischen Erziehungsgesetzes von 1908, das den Besuch einer continuation school über das 14. Lebensjahr hinaus obligatorisch machte. Obwohl in einem Parlamentsbericht Bezug auf das "Münchner Modell" genommen wurde - "No one has done more to develop a satisfac­tory system of Continuation Schools than the City Superintendent of Education in Munich, Dr. Kerschensteiner" (zit. in: Metz 1971, 143 f.) - war die englische Politik offenkundig nicht bereit oder nicht in der Lage, eine Schulpolitik zu verfolgen, die sich am schottischen Vorbild orientiert und damit indirekt auf das deutsche Vorbild zurückgegriffen hätte.

Dem 1918 verabschiedeten Fisher Education Act war nach den vorbereitenden Arbeiten eines Parlamentsausschusses die Zielsetzung unterlegt, "to establish a uniform Elementary School leaving age of 14, (...)", sowie "attendance (...), at Day Continuation Classes between the ages of 14 and 18" (zit. in: Maclure 1979, 169). Mit ihm wurden die Befugnisse der local education authorities ausgeweitet (Barnard 1957, 271 ff.). Die letzten Schulgebühren im Bereich der elementaren Bildung wurden beseitigt sowie die Möglichkeit, Kinder vor dem Erreichen des gesetzlich vorgeschriebenen Schulabgangsalters von 14 Jahren in eine Lehre oder Beschäftigung aufzunehmen. Ausdrücklich erwähnte das Gesetz die Notwendigkeit einer Einführung von Pflichtfortbildungsschulen, die von Lehrlingen und jungen Beschäftigten während des Tages besucht werden sollten (day continuation schools), deren organisatorische und curriculare Struktur sich am "Münchner Modell" orientieren sollten (Kerschensteiner 1930, 31).

In der Nachkriegswirklichkeit zeigte sich, dass das Gesetz außerhalb Londons kaum umgesetzt wurde (Simons 1966, 122). Die meisten der in den frühen 1920er Jahren gegründeten Fortbildungsschulen schlossen bereits nach ein bis zwei Jahren wieder, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Betriebe der Freistellung ihrer Lehrlinge und jungen Beschäftigten verweigerten. Fakt war, dass die finanzpolitische Lage des Staates in den 1920er Jahre zudem verhinderte, dass die Idee einer öffentlichen Fortbildungsschule umgesetzt werden konnte. Kerschensteiner wertete dies als markanten Unterschied zu den deutschen Verhältnissen, wo die "so beliebte, ja angebetete Zentralisation" des Schulwesens und das Phänomen der "staatlichen Lehrplanuniformen" (Kerschensteiner 1930, 32) den pädagogischen Weg wiesen. In Koinzidenz mit dem Bismarckschen Sozialstaatsprinzip waren Schulen hier schon früh "öffentliche Anstalten". Man sollte diesen Punkt nicht unterbewerten, auch wenn die Resistenz einer Bildungstradition, die sich gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen "trend away from specialisation back to general education" (Reeder 1987, 149) kennzeichnen lässt, auch Deutschland vor dem Hintergrund der neuhumanistischen Bildungstradition nicht unwesentlich prägte. Korporatistische Korrektive, die den betrieblichen Teil der Berufsausbildung neu konturierten halfen, und ein staatliches Grundverständnis politisch-rechtlicher Steuerung von Bildung waren im deutschen Kontext jedoch letztlich die treibenden und ausschlaggebenden historischen Wirkfaktoren.

In England war es interessanterweise wiederum ein allgemeines Bildungsreformgesetz, das gegen Ende eines Weltkrieges erneut den Weg in Richtung einer "Dualisierung" der Berufsausbildung zu weisen versuchte. Das Butler Education Act aus dem Jahre 1944 markierte einen erneuten Anlauf zur Durchsetzung einer landesweiten Fortbildungsschulpflicht: Die vorgesehenen County Colleges, die allerdings nie gegründet wurden (Aldrich 1992, 66), sollten gewährleisten, dass Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren dem Schulsystem nicht völlig verloren gingen. In einem Bildungsbericht wird im Rahmen einer erschreckend ernüchternden Diagnose in den 1950er Jahren auch indirekt auf dieses Bildungsgesetz zurückgeblickt (dessen allgemeine schulgeschichtliche Bedeutung gleichwohl nicht bestritten werden kann; hierzu ausführlich Evans 1978): "This report is about the education of English boys and girls aged from 15 to 18. Most of them are not being educated" (zit. in: Perry 1976, 139).

4 Die Lehrlingsausbildung in England in jüngerer Zeit: Ambivalenzen und halbherzige Reformschritte

Mit dem sog. Industrial Training Act, in dessen Folge Industrial Training Boards (ITB) zur Überwachung und Finanzierung der Lehrlingsausbildung gebildet wurden (Page 1967, 14 ff.), griff der Staat erstmals nach 1814 (!) wieder aktiv in die Organisationsstrukturen der Berufsausbildung ein und beendete zumindest formal die Phase der voluntary apprenticeships (Snell 1996, 303). Im Ergebnis hat jedoch auch das Gesetz von 1964 zu keiner grundlegenden Neuausrichtung der Berufsbildung geführt, was vor allem daran lag, dass die Regierung ihren Ordnungsanspruch gegenüber Wirtschaft und Gewerkschaften nicht durchsetzen konnte. Da man auf normierende Eingriffe verzichtete und vorrangig Umlagefinanzierungsmodalitäten in Form eines levy-grant-system schuf, blieb es beim Vertrauen der Politik und bei der Überzeugung, die Unternehmen würden sich im eigenen Interesse in der Ausbildung engagieren. Die Entwicklung führte dann in den 1970er Jahren zu jenen Jugendausbildungsprogrammen (Deißinger/Greuling 1994), die nach einschlägiger Einschätzung der Berufsbildungsforschung mitverantwortlich waren für die weitere Degeneration der Lehre als eines anerkannten Integrationsmodells (Keep/James 2011; Hogarth/Gambin 2014, 849). Ein durchaus vielversprechender Neuansatz war dann gleichwohl in den 1990er Jahren die Implementierung der sog. Modern Apprenticeship.

Unter Berücksichtigung der angesprochenen historischen Aspekte und ihrer Resultate, die Gospel von einem "very mixed and uncertain system of skill formation" sprechen lassen (Gospel 1994, 510), handelte es sich bei der Modern Apprenticeship (Ertl 1998; Fuller/Unwin 1998) um eine Innovation der britischen Berufsbildungspolitik, die zunächst auf einen Neuanfang hindeutete. Eingeführt wurde sie 1993 mit dem Ziel, die "Qualifikationslücke" im intermediär-operativen Bereich des Beschäftigungssystems, also bei den Facharbeitern und Fachangestellten, zu schließen (Vickerstaff 1998, 220). Im Kern handelte es sich aber nicht um eine Kopie der klassischen Lehrlingsausbildung, weil sich in ihr eine Verschmelzung zweier Prinzipien des New Vocationalism der Thatcher-Zeit manifestierte (Deißin­ger/Greuling 1994): Einerseits wird die Lehre seitdem öffentlich subventioniert und ist damit eine "staatlich geförderte Initiative zur Belebung des Ausbildungssystems" (Ertl 1998, 171); andererseits wurde sie dezidiert an das System nationaler Befähigungsnachweise geknüpft (National Vocational Qualifications, hierzu auch Deißinger 1994). Kritische Autoren sprechen deshalb auch von einem "Doppelcharakter" der Modern Apprenticeship, die als Vorläufer von Weiterentwicklungen bis zur Gegenwart gelten kann: "(...) as apprenticeship (...), as occupational preparation combined with vocational education, (...) as a labour market programme, part of the genus developed since the 1970s" (Ryan/Unwin 2001, 99).

Die hier zum Ausdruck kommende Ambivalenz, die auch eine gewisse Form der "Unterreglementierung" beinhaltet, kann durchaus als Ausfluss einer historischen Kontinuitätslinie gedeutet werden: Die Dichotomisierung der Lehre seit dem 17. Jahrhundert hat hier bereits grundlegende Entwicklungen vorgezeichnet, die dazu geführt haben, dass sich die traditionelle Lehre in der bürgerlichen Schicht und der "Arbeiteraristokratie" als Sozial- und Ausbildungsmodell halten konnte, während die parish apprenticeship im Rahmen der staatlichen Sozialpolitik die eher "niederen" Berufe bediente. Noch heute erkennen wir in dem Versuch, die (neuere Form der) Lehre vor allem auf den Dienstleistungsbereich auszudehnen, diese dichotomen Strukturen wieder (hierzu kritisch vor allem Fuller/Unwin 2003).

5 Das Ende der "Non-Intervention" im Zeichen aktueller Reformschritte zur Berufsausbildung im Medium der Lehre?

Entwicklungen in jüngster Zeit scheinen die Bedeutung, die die Regierung der Lehre beimisst, erneut zu unterstreichen. Interessant ist, dass neue gesetzliche Grundlagen geschaffen wurden. Mit dem sog. Apprenticeships, Skills, Children and Learning Act (House of Commons 2009; Steedman 2010, 14) verband sich vor allem das Ziel einer überfälligen Vereinheitlichung der apprenticeship. Bemerkenswert ist auch die 2008 erlassene Ausweitung der Schulpflicht auf das 18. Lebensjahr und die Einführung sog. Specification of Apprenticeship Standards for England (SASE) im Rahmen der Lehre mit der Zielvorstellung von Mindestausbildungszeiten und einer stärkeren "beruflichen" Ausrichtung der Ausbildung, die 2011 in Kraft traten (Smith/Brennan, 2013, 70 ff.). Nach dem ASCL Act bzw. den SASE umfasst der Abschluss einer Lehre im Regelfall drei Elemente, nämlich eine Kompetenzprüfung, ein sog. Technical Certificate und Schlüsselqualifikationen, die nachgewiesen werden müssen (functional skills) (Brockmann/Clarke/Winch 2010b, 93; Steedman 2010, 14).

Vor allem mit den Bestimmungen zur inhaltlichen Struktur der Standards und zu den Guided Learning Hours - hier wird ein Minimum von 280 Stunden, darunter 100 Stunden off-the-job, vorgegeben - wird durchaus ein neuer Weg beschritten (Steedman 2010, 14). Es handelt sich auch um den Versuch, berufliche Bildung (nach 1964) wieder auf wahrnehmbare legislative Fundamente zu stellen, auch wenn die berufspädagogischen Hoffnungen nach wie vor mit Skepsis verknüpft sind. In der Literatur wird u.a. darauf hingewiesen, dass das Gewicht der Kompetenzorientierung (hierzu Deißinger 2013) die Bedeutung von Schlüsselqualifikationen und des technisch-beruflichen Wissens klar dominiert. Ob sich die Kritik der Berufsbildungsforschung im Königreich in Zukunft relativieren wird oder eines Besseren belehrt werden wird, bleibt abzuwarten (Fuller/Unwin, 2011, Brockmann/Clarke/Winch 2010a).

Die Statistik jedenfalls belegt zumindest die Ausbreitung der apprenticeships: So wurden 2014/15 in England fast 500.000 Lehrverträge abgeschlossen (Delebarre 2015, 3). Lehrlingsausbildungen werden mittlerweile in rund 200 Ausbildungsprofilen angeboten, für die Frameworks bzw. (neuerdings) Standards existieren bzw. von sog. Trailblazer Groups, d.h. Unternehmen, die sich zu dieser „Ordnungsarbeit“ zusammenschließen, erarbeitet werden (Lanning 2011, 7; DBIS 2015; HM Government 2015). Die einzelnen Varianten der apprenticeship gibt es - anders als in Deutschland - auf drei Stufen, die zu unterschiedlichen Niveaus im beruflichen Qualifikationensystem (Levels 2 bis 4) führen und auf der höchsten Stufe Anschlussmöglichkeiten an die Hochschulbildung (sog. progression routes) offerieren: Intermediate Apprenticeships, Advanced Apprenticeships, Higher Apprenticeships (SFA 2016, 1). Hierin zeigen sich die gewachsene bildungspolitische Bedeutung und auch die formelle Aufwertung der Lehre. Dass kompetenzorientierte Abschlüsse (neben NVQs sind es aktuell auch die "Credits-basierten" Diplomas, Certificates und Awards) hier die Regel sind (Stanley 2010), unterstreicht gleichwohl die herausragende Bedeutung funktionaler, arbeitsplatzbezogener Outcomes sowie - unmittelbar mit dieser verknüpft - der Steuerung der "Berufsbilder" durch die Wirtschaft. Dies wurde u.a. auch vom sog. Richard Review (Richard 2012, 4-7; 18) hervorgehoben, der nichtsdestoweniger interessante Strukturänderungen angeregt hat: Hierzu zählen neben dem verpflichtenden Lernen off-the-job bspw. auch die Einrichtung betriebsübergreifender, und damit strafferer Prüfungsverantwortlichkeiten im Sinne kammerähnlicher Zuständigkeiten sowie die Reduzierung der Zahl der Standards bzw. Frameworks auf einen pro "Beruf". Vielversprechend erscheint, dass die Regierung bis Ende 2016 eine Neuentwicklung des notorisch undurchschaubaren Zertifizierungssystems angekündigt hat (HM Government 2015, 50 f.)

In einem neueren Beitrag kommt Mazenod dennoch zu einem eher kritischen Urteil, wenn sie schreibt, dass institutionelle Faktoren in den letzten Jahrzehnten eher dazu geeignet waren, die Lehre als Strukturform von Ausbildung zu schwächen als sie zu reformieren und weiterzuentwickeln (Mazenod 2016, 108). Fakt ist, dass die Uneinheitlichkeit bei den Ausbildungszeiten nach wie vor nicht verschwunden ist und eine Minimalzeit von lediglich einem Jahr für 16- bis 18jährige vorgeschrieben wird. Hinzu kommt, dass nach wie vor sehr viele Auszubildende Arbeitnehmer über 25 Jahre sind, die sich erstmals oder erneut einer Qualifizierung unterziehen, und dass überdies die unterste Niveaustufe (intermediate) bei den Abschlüssen klar dominiert (Delebarre 2015, 6-8). Kritisiert wird auch, dass die ursprüngliche Verbindlichkeit der SASE mittlerweile (Deregulation Act) wieder aufgehoben wurde und eine stärkere Flexibilität für Unternehmen bei der Gestaltung der Standards an ihre Stelle getreten ist (House of Commons 2015). So verweist die Regierung selbst auf die Absicht, die Betriebe bei der Gestaltung der Standards relativ autonom agieren zu lassen und auch bei den aktuell vorgesehenen end point assessments (wie vom Richard Review vorgeschlagen) „(…) a high degree of freedom to set out what should be assessed, how it should be assessed and by who (…)“ zuzulassen (DBIS 2015, 9). Gleichzeitig versucht die Regierung nach wie vor, an der Qualitätsfrage zu arbeiten und den Anschluss von einer apprenticeship zu den Hochschulen - hier ist das Konzept der Degree Apprenticeships zu nennen - zu verbessern (hierzu aktuell DBIS 2015, 10; HM Government 2015, 12 f.). Ambivalenzen bleiben somit, wenn es um die Frage nach der „Non-Intervention“ geht. Bezeichnend ist hierbei z.B. auch die Handhabung des starken Wunsches der Regierung, das training off-the-job in geordnete Bahnen zu lenken: 20 % der Ausbildungszeit soll es umfassen, wobei dieses eben nicht ausschließlich außerhalb des Unternehmens erfolgen muss (HM Government 2015, 51).

Keep (2015, 464) beginnt seine Analyse zu den aktuellen Entwicklungen im englischen Berufsbildungssystem mit einem provokanten Statement bezüglich der staatlichen Ordnungsfunktion und den damit verbundenen strukturellen Implikationen für die Architektur der englischen bzw. britischen Berufsbildung, aber auch mit Blick auf das Reputationsproblem nicht-akademischer Bildungswege, wenn er ausführt:

"Describing and analysing the governance systems, (…), that cover English vocational education and training (VET) is extremely difficult (…). (…) there is no overall education and training ‘system’ within which governance takes place (…), but rather a set of related but fragmented and in some instances partially over-lapping sub-systems or streams of activity – schools (…), further education (FE), apprenticeship, higher education (HE), lifelong/adult learning. Moreover, VET is a relatively low status area (…) seen as a residual catch-all category for those activities not assigned to schools or universities".

Dieses Zitat soll Schlusswort unserer Betrachtung sein und darauf hinweisen, dass es sich angesichts dieser Diagnose nach wie vor lohnt, sich mit der Berufsbildung in den angelsächsischen Ländern auseinanderzusetzen - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der "Gefährdungen", die auch mit dem deutschen dualen System assoziiert werden können: Hierbei handelt es sich allerdings weniger um das Problem der "Unordnung", sondern eher um externale Faktoren in seiner Umwelt, allen voran die Tertiarisierung (siehe hierzu aktuell Deißinger 2015).

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Zitieren des Beitrags

Deißinger, T. (2016): Die Lehrlingsausbildung in England: das „historische Erbe“ und aktuelle Ansätze zur Überwindung ihres randständigen Status. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädago­gik – online, Profil 4: Kompetenzentwicklung im wirtschaftspädagogischen Kontext: Programmatik – Modellierung – Analyse. Digi­tale Festschrift für SABINE MATTHÄUS, 1-15. Online: http://www.bwpat.de/profil4/deissinger_profil4.pdf (09-09-2016).