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bwp@ Ausgabe Nr. 16 | Juni 2009
Selbstverständnis der Disziplin
Berufs- und Wirtschaftspädagogik
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 16 sind Karin Büchter, Jens Klusmeyer & Martin Kipp

Berufliche und betriebliche Weiterbildung als Gegenstand der Berufs- und Wirtschaftspädagogik – Desiderata und neue Perspektiven für Theorie und Forschung

Beitrag von Rita MEYER (Universität Trier) & Uwe ELSHOLZ (TU Hamburg-Harburg)

Abstract

In der Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist in der Forschung eine deutliche Fokussierung auf die Erstausbildung und die Lehrerbildung bzw. formale Lehr- und Lernprozesse zu konstatieren. Berufliches und betriebliches Lernen, informelle Kompetenzentwicklung und Weiterbildung sind in den Forschungsarbeiten der Disziplin weniger  sichtbar. Dies wird deutlich, wenn man die Veröffentlichungen in der ZBW und die Tagungsbeiträge der DGFE-Sektionstagungen zugrunde legt. Wir plädieren in unserem Beitrag für eine Erweiterung des Gegenstandsbereiches und für die (Re-)Formulierung eines Forschungsverständnisses, das der betrieblichen Bildung, dem informellen Lernen und der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung gerecht wird. Deren Bedeutung hat in den vergangenen Jahren zugenommen und wird im Vergleich zur dualen Berufsausbildung zukünftig weiter an Relevanz gewinnen.

In dem Beitrag wird zunächst die Notwendigkeit der inhaltlichen Erweiterung des Gegenstandes der Disziplin begründet. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen, angesichts dieser Erweiterung zu einem neuen Forschungsverständnis zu gelangen, das der beruflichen und betrieblichen Praxis gerecht wird. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Bestandsaufnahe für die Berufsbildungsforschung und es werden aktuelle Ansätze aus der Erziehungswissenschaft und aus Nachbardisziplinen im Hinblick darauf geprüft, inwiefern sie für die disziplinäre (Neu-)Ausrichtung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik fruchtbar gemacht werden können. In einem Ausblick werden Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung der Disziplin thematisiert.

 

Vocational and in-company further training as a subject for in-company and vocational education and business studies – desiderata and new perspectives for theory and research

In the discipline of professional and vocational training and business studies a clear focus on initial training and teaching training as well as formal teaching and learning process is evident. Professional and in-company learning, informal development of competences and further education and training are less visible in the research work of the discipline. This becomes clear on the basis of the publications in the ZBW (Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik) and the conference contributions of the DGFE (German Society for Research in Education) department conferences. In this paper we make a plea for an extension of the field of study and for the (re-)formulation of an understanding of research which does proper justice to in-company education and training, informal learning and professional and in-company further education and training. Their significance has increased in recent years and, in future, they will become even more relevant in comparison with the dual system of vocational education and training. This paper, firstly, explains the necessity for the extension of the content of the field of study of the discipline. It then attempts to reach a new understanding of research in view of this extension, which does justice to professional and in-company practice. In this regard the paper then takes stock of research into vocational education and training and current approaches from educational studies and related disciplines are tested in order to see to what extent they can be of use for the disciplinary (new) orientation of professional and vocational education and training. The prospective consequences for the further development of the content and methodological orientation of the discipline are then discussed.

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In diesem Beitrag wird für eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Berufs- und Wirtschaftspädagogik und für die (Re-)Formulierung eines Theorie- und Forschungsverständnisses plädiert, das der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung als Teilbereich Beruflicher Bildung stärker gerecht wird. Der Aufsatz nimmt das Selbstverständnis der Disziplin in den Blick und will in diesem Sinn einen Beitrag zu einer „reflexiven Erziehungswissenschaft“ (FRIEBERTSHÄUSER u.a. 2006) leisten, die sich ihrer bildungs-, betriebs- und wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen stets bewusst ist und diese in die Forschungs- und Theoriekonzeptionen einbezieht.

In sechs Thesen werden die disziplinären Grenzziehungen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik kritisch beleuchtet, die strukturellen Bedingungen beruflich-betrieblicher Weiterbildung reflektiert sowie eine Erweiterung der methodologischen und methodischen Zugänge diskutiert. Es wird zunächst der Bedarf einer expliziten inhaltlichen Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Berufs- und Wirtschaftspädagogik begründet. Im Anschluss daran werden strukturelle Bedingungen der Erforschung beruflich-betrieblicher Weiterbildung thematisiert. Auf dieser Grundlage wird der Versuch unternommen, angesichts der vorangestellten Analysen zu einem neuen Forschungsverständnis zu gelangen, das der zunehmenden Bedeutung beruflicher und betrieblicher Weiterbildung gerecht wird. Dies geschieht mit Blick auf die Rahmenbedingungen, unter denen Forschung zu beruflicher und betrieblicher Weiterbildung stattfindet und in Bezug auf das in der sozialwissenschaftlichen Forschung grundsätzlich problembehaftete Verhältnis von Theorie und Praxis. In diesem Kontext werden aktuelle Ansätze aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung und aus Nachbardisziplinen daraufhin geprüft, inwiefern sie für eine Weiterentwicklung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ertragreich sein können. In einem Ausblick werden Schlussfolgerungen für die inhaltliche, theoretische und methodische Ausrichtung der Disziplin gezogen.

These 1: Mit der Fokussierung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik auf das duale System blendet die Disziplin relevante Bereiche der beruflichen Bildung aus. Dies gilt insbesondere für das Feld der beruflich-betrieblichen Weiterbildung

Für die Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist in der Forschung eine deutliche Fokussierung auf die berufliche Erstausbildung und die Lehrerbildung bzw. formale Lehr- und Lernprozesse zu konstatieren. Berufliches und betriebliches Lernen und Weiterbildung sind in den Forschungsarbeiten der Disziplin weniger sichtbar. Dies wird deutlich, wenn man die Veröffentlichungen in der ZBW und die Tagungsbeiträge der DGFE-Sektionstagungen zugrunde legt. Ein weiteres Indiz für die Randständigkeit der Weiterbildung ist auch das Fehlen einer gesonderten Arbeitsgruppe innerhalb der Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

Die berufliche Erstausbildung als eindeutigen Fokus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik identifizieren auch ARNOLD und GONON (2006) in ihrer „Einführung in die Berufspädagogik“. Hinsichtlich des disziplinären Selbstverständnisses kommen die Autoren nach einer Analyse von Festschriften zu dem Schluss: „Die BWP versteht sich demgemäß als Beobachter der Entwicklung des dualen Systems der Berufsbildung“ (vgl. ebd., 67). Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Disziplin, ihrer engen Kopplung an die Entwicklungen des Dualen Systems sowie den primären Aufgaben in der universitären Lehre – die Ausbildung von Berufsschullehrkräften – liegt diese Orientierung zwar nahe, erklärt aber nicht die Ausblendung anderer relevanter Bereiche im Feld der Berufsbildung.

Bezug nehmend auf diese Beschränkung auf den Bereich der schulischen Erstausbildung, fordern DOBISCHAT und DÜSSELDORF (2002) für die Berufsbildungsforschung ein Aufgabenprofil, das „aus der Koppelung des institutionellen Selbstverständnisses der Forschungsinstitution, ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen und auch politischen Aufgabenstellung mit den einschlägigen Bezugs- und Bedingungsfeldern der Beruflichen Bildung über das Duale System als alleinigem Bedingungsrahmen weit hinausweisen muss“ (ebd., 318). Diese Entgrenzung über das Duale System hinaus sei – so die Autoren – in der Forschungspraxis zwar durchaus vorzufinden, sie schlage sich aber bisher in der Diskussion der Disziplin nicht terminologisch nieder. Dieser Befund wird durch zwei qualitative Inhaltsanalysen von Forschungsergebnissen der letzten Jahre gestützt, die hier ergebnisorientiert zusammengefasst werden.

1.     Eine Analyse über 25 Jahrgänge der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (1979-2004) hat ergeben, dass eine wissenschaftliche Ausdifferenzierung der betrieblichen Weiterbildungsforschung nur in Ansätzen zu verzeichnen ist (vgl. zusammenfassend MEYER/ NEUMANN 2006). Im Wesentlichen zeigten sich bei der Untersuchung der rund 30 Zeitschriftenbeiträge zur betrieblichen Weiterbildung grobe Entwicklungslinien entlang von Dekaden: Während die Beiträge, die in den 1980er Jahren veröffentlicht wurden, vor allem durch die technischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen geprägt sind und mit Blick auf die Interessen der Arbeitnehmer auch eine politische Dimension aufweisen, ist in den 1990er Jahren ein deutlicher Rückgang der Beiträge insgesamt und parallel dazu eine tendenzielle Entpolitisierung zu verzeichnen. Seit Ende der 1990er Jahre wird das Lernen im Prozess der Arbeit unter dem Fokus der Gestaltung der betrieblichen Rahmenbedingungen im Kontext der Organisationsentwicklung verstärkt thematisiert. Im Rahmen der Zeitschriftenanalyse ist an der kontinuierlich abnehmenden Zahl der Beiträge deutlich geworden, dass die betriebliche Weiterbildung trotz ihrer Bedeutungszunahme in der Realität nicht im Fokus berufspädagogischer Forschung steht (vgl. ebd.). Daraus lässt sich schließen, dass diese Themen im Selbstverständnis der Disziplin ebenfalls eine untergeordnete Rolle spielen.

2.     Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse von Dissertationen und Habilitationen zeigen demgegenüber, dass es zahlreiche Qualifizierungsarbeiten mit vielfältigen methodischen Forschungszugängen gibt, die sich mit Themen jenseits des dualen Berufsausbildungssystems befassen (vgl. SCHLEIFF 2008). Ausgewertet wurden in dieser Analyse die Auflistungen der Dissertationen und Habilitationen aus den Jahren 1999-2006, die relevant für das Fachgebiet Berufs- und Wirtschaftspädagogik sind und jährlich in der ZBW veröffentlicht werden. Die Stichprobe der Titel betrug insgesamt 791 Arbeiten und die nachfolgende Tabelle zeigt, dass sich rund ein Drittel der Arbeiten mit Themen befasst, die über die zuvor beschriebene Engführung der disziplinären Betrachtung hinausweisen:

Häufigkeit  N=791

Themen

70

vorberuflicher Bereich

156

Berufsausbildung

258

Weiterbildung, Betrieb und Hochschule

256

Lehr-/Lernprozesse, Lehrerbildung und Adressatenforschung

51

Ohne klare Zuordnung

Abb. 1:   Zuordnung der Qualifizierungsarbeiten 1999-2006 nach Lernorten (vgl. SCHLEIFF 2008)         

Diese doch recht große Vielfalt und inhaltliche Breite der Qualifizierungsarbeiten schlägt sich allerdings inhaltlich kaum sichtbar im berufs- und wirtschaftspädagogischen Fachdiskurs nieder. Im Selbstverständnisdiskurs der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist dieses Phänomen allerdings nicht neu: Im Rahmen einer Rekonstruktion von forschungsmethodischen Entwicklungstrends in der Disziplin hat z.B. KLUSMEYER (2002) festgestellt, dass die Fachvertreter viel häufiger empirische Forschung betreiben, als das in den Fachzeitschriften zum Ausdruck kommt. Es spricht vieles dafür, dass diese „Schieflage“ nicht nur in methodischer sondern auch in inhaltlicher Perspektive gilt. Die berufs- und wirtschaftspädagogisch relevanten Themen in Bezug auf die berufliche und betriebliche Weiterbildung werden zwar wissenschaftlich bearbeitet, aber sie hinterlassen keine diskursiven Spuren in der Disziplin. Hier ist eine disziplinäre Schließung zu verzeichnen, deren Gründe nicht unmittelbar nachvollziehbar sind und ggf. unter dem Aspekt der Distribution relevanten Wissens in scientific communities näher betrachtet werden könnten.

Insgesamt kann die berufliche und betriebliche Weiterbildung als einer der bislang am wenigsten erforschten Bereiche der beruflichen Bildung gelten. Eine explizite und reflektierte Erweiterung des Gegenstandsbereiches und damit auch des Selbstverständnisses der Disziplin ist insofern notwendig, zumal die Bedeutung beruflich-betrieblicher Weiterbildung in den vergangenen Jahren zugenommen hat und sie im Vergleich zur dualen Berufsausbildung weiter an Relevanz gewinnen wird. Andere Disziplinen erschließen sich angesichts dieser Entwicklung den Betrieb und das Lernen in Arbeitszusammenhängen zunehmend als Forschungsgegenstand.

These 2: Beruflich-betriebliche Weiterbildung ist ein disziplinär umkämpftes Feld. Deutungsangebote der Berufs- und Wirtschaftspädagogik konkurrieren mit anderen Erklärungs- und Gestaltungs­ansätzen

Systematisierte Erkenntnisse zum betrieblichen Lernen und zum Lernen in der Arbeit liegen in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung vor allem als Ergebnisse der Modellversuchsreihen zum „Dezentralen Lernen“ vor, die in den 1990er Jahren vom Bundesinstitut für Berufsbildung durchgeführt wurden (vgl. DEHNBOSTEL/ HOLZ/ NOVAK 1996; DEHNBOSTEL 2008, 77ff.). Allerdings ist die berufliche und betriebliche Weiterbildungsforschung nicht die alleinige Domäne der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Vielmehr bearbeiten konkurrierende Disziplinen mit jeweils eigenen Deutungsangeboten das Feld der beruflich-betrieblichen Weiterbildung. Dazu gehören z.B. die Arbeits- und Organisationspsychologie, pädagogische Psychologie, Erwachsenenbildung, Industrie- bzw. Organisationssoziologie sowie betriebswirtschaftlich-ökonomisch ausgerichtete Zugänge. Dies zeigt sich u.a. in der Existenz diverser Fachzeitschriften wie „Wirtschaft + Weiterbildung“, „managerseminare“, „Personalwirtschaft“ oder „Personalführung“. Diese bei Weiterbildungsverantwortlichen und Personalentwicklern in den Unternehmen weit verbreiteten Zeitschriften befassen sich überwiegend sehr praxisnah, aber auch forschungsorientiert mit Themen der betrieblichen Weiterbildung.

Durch die jeweils disziplinär geprägten Perspektiven werden entsprechende Termini und Sichtweisen in der Praxis beruflich-betrieblicher Weiterbildung verankert – so z.B. der Begriff des „Trainings“ (der damit Weiterbildung semantisch als Sportart auffasst). Zudem wird betriebliche Weiterbildung als Teil des „Human-Ressource-Managements“ aufgefasst und die ökonomische und kurzfristige Verwertung von Trainingsmaßnahmen im Sinne eines „return-of-investment“ steht damit im Vordergrund. Dadurch kommen vielfach andere Zielvorstellungen in der Praxis zur Geltung als aus berufs- und wirtschaftspädagogischer Perspektive sinnvoll wäre. Eine pädagogische Subjektperspektive findet nur marginal Eingang in die Planung und Durchführung betrieblicher Weiterbildungsaktivitäten. Berufspädagogische Leitbilder wie die Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz und reflexiver Handlungsfähigkeit, die Entwicklung beruflicher Bildungswege oder die Entwicklung von Gestaltungskompetenz finden wenig Verbreitung in der betrieblichen Bildungspraxis. Es ist zu konstatieren, dass es anderen Disziplinen eher gelingt, anschlussfähig an die Praxis betrieblicher Weiterbildung zu sein, als der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

Sofern die Berufs- und Wirtschaftspädagogik den Anspruch erhebt, die Praxis durch die Erarbeitung von wissenschaftlich fundierten Konzepten  (vgl. CLEMENT 1999, 147) zu unterstützen, bedarf es insofern entsprechender disziplinärer Forschungsansätze zu einer gelingenden Verbindung von Theorie und Praxis. Diese gilt es in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik erst noch zu entwickeln.

These 3: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik muss ein Theorieverständnis mit entsprechendem Praxisbezug und Nutzenorientierung entwickeln

Wie kann nun ein angemessenes Theorieverständnis der Berufs- und Wirtschaftspädagogik aussehen und wie kann es entwickelt werden? Der Berufsbildungsforschung kommt die Aufgabe zu, Entwicklungen in der Realität zu beobachten und zu beschreiben, dann aber von dieser konkreten Wirklichkeit zu abstrahieren und dabei Begriffe zu entwickeln, die diese angemessen thematisieren. Die Erkenntnisse dieses Prozesses werden in Theorien überführt, wobei in der Regel bestehende Theorien weiterentwickelt werden. Gerade im Bereich der Berufsbildung ist es darüber hinaus jedoch notwendig, dass die Erkenntnisse auch wieder in die Praxis von Aus- und Weiterbildung zurückfließen.

Die Erfahrungen aus Modellversuchen haben gezeigt, dass wissenschaftliche Begleitforschung einerseits die Funktion eines Motors (vgl. DEHNBOSTEL 1998) oder sogar die eines Katalysators (vgl. ZIMMER 1995) von Innovationen in der beruflich-betrieblichen Weiterbildung übernehmen kann. Andererseits zeigen Befunde aus der Modellversuchsforschung aber auch, wie schwierig es ist, ein angemessenes Verhältnis von der Anwendung theoretischen Wissens in der Praxis und gleichzeitiger Theoriegenerierung aus der Praxis zu erzielen. Einigkeit herrscht zudem darin, dass „der Beitrag der Modellversuche bzw. der Begleitforschung zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt jenseits curriculumstrategischer Fragestellungen als relativ bescheiden eingeschätzt wird“ (TRAMM/ REINISCH 2003, 173).

Diese Problematik mangelnder Effekte und des kaum zu identifizierenden Transfers von wissenschaftlicher Forschung war auch Gegenstand eines Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), das die Verwendungszusammenhänge sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in den 1980er Jahren untersuchte (vgl. BECK/ BONß 1989). Die Praxis, so das Ergebnis, verhält sich sehr zurückhaltend gegenüber wissenschaftlichen Deutungsangeboten. Insofern muss auch die Berufsbildungsforschung zur Kenntnis nehmen, dass die Ansprüche der Praxis an sie als forschende und Erkenntnis generierende Disziplin eher gering sind und dass große, „oft sogar zu große Autonomiespielräume aller Instanzen der praktischen Verwendung gegenüber den jeweiligen Wissensangeboten“ (ebd., 10) bestehen. Zu fragen ist jedoch, warum wissenschaftliche Ergebnisse von Praktikern kaum zur Kenntnis genommen werden. Hier liegt wiederum die Vermutung nahe, dass die Berufsbildungsforschung eine der Praxis angemessene und verwendungsorientierte Aufarbeitung ihrer Erkenntnisse gegenwärtig nicht leistet, mit ihren Theorien keine adäquaten Deutungsangebote liefert und zudem die handelnden Akteure mit der Umsetzung ihrer Ergebnisse weitgehend allein lässt.

Damit steht nicht nur die Frage eines adäquaten Theorieverständnisses im Raum, sondern auch die Frage angemessener Theorieanwendung und entsprechender konstruktiver und gestalterischer Unterstützung der Bildungspraxis wird virulent. In diesem Zusammenhang erscheint ein Blick auf benachbarte Disziplinen lohnend, die sich mit ähnlichen Herausforderungen bereits intensiv beschäftigen.

These 4: Die Rezeption disziplinübergreifender, sozialwissenschaftlich orientierter Forschungsansätze kann zur Entwicklung eines neuen Theorie- und Forschungsverständnisses für die Berufs- und Wirtschafts­pädagogik beitragen

Bei näherer Betrachtung benachbarter Disziplinen fällt auf, dass es bereits verschiedene Ansätze gibt, die die besonderen Bedingungen der Forschung in diesem Feld thematisieren. Es geht diesen Forschungszugängen vielfach darum, das eigene Forschungsverständnis weiter zu entwickeln. Diese Ansätze könnten auch für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik Impulse zur Diskussion eines neuen inhaltlichen und methodologischen Selbstverständnisses geben.

Neben Ansätzen aus der pädagogischen Psychologie (vgl. u.a. STARK/ MANDL/ HERZMANN 2007) ist besonders ein Ansatz aus soziologischer Perspektive interessant, in dem das Forschungsverständnis von Sozialwissenschaftlern im Feld organisationsbezogener Forschung und Beratung thematisiert wird. LATNIAK und WILKESMANN (2005) unterscheiden dabei im Bezug auf das Theorie/Praxis-Verhältnis drei unterschiedliche Zugänge und konstatieren einen „neuen Modus“ der Wissenschaft. Zwischen dienstleistungsorientierter Organisationsberatung und theoriegeleiteter Forschung machen sie einen dritten Typus als „anwendungsorientierte Forschung“ aus. Durch die zunehmende Einbindung der Forschung in direkte Anwendungskontexte erfolgt demnach eine problemorientierte Wissensproduktion, woraus zum einen veränderte Qualitätsanforderungen an Forschung erwachsen und sich zum anderen der Legitimationsdruck der Wissensproduktion erhöht. Forschung vermischt sich hier mit Beratung, was dazu führt, dass nicht zuletzt aufgrund der implizierten Kundenorientierung die traditionellen Maßstäbe der quantitativen und auch der qualitativen Sozialforschung tendenziell außer Kraft gesetzt werden. WILKESMANN und LATNIAK fordern daher, dass neue Standards für die Bedingungen der Durchführung und Umsetzung anwendungsorientierter Forschung entwickelt werden und liefern selbst erste Ansatzpunkte: sie plädieren dafür, dass bei den Forschern eine Verbindung von theoretischem Wissen und praktischem Können bestehen sollte, die eine direkte Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis der Institutionen ermöglicht. Darüber hinaus sollte Forschung gegenstandsadäquat und reflexiv gestaltet sein, d.h. es sind Methoden einzusetzen, die den Kommunikationsprozess zwischen dem Forscher und seinem Feld strukturieren und den Reflexionsprozess der Praktiker unterstützen. Nicht zuletzt fordern sie die Anschlussfähigkeit anwendungsorientierten Wissens an den wissenschaftlichen Diskurs einerseits und den praktischen Diskurs andererseits, wobei die Güte der Forschung daran zu messen ist, inwiefern dieser „Brückenschlag“ gelingt. Die Frage der Gütekriterien anwendungsorientierter Forschung stellt sich auch für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik und für das Feld der beruflich-betrieblichen Weiterbildung im Besonderen. Neben dem skizzierten Ansatz sind dabei auch Vorarbeiten aus der qualitativen Forschung (STEINKE 1999) und zu Gütekriterien von Handlungsforschung aufzunehmen (vgl. ELSHOLZ 2006, 89ff.).

Für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist darüber hinaus auch der von LATNIAK und WILKESMANN fokussierte Theoriebegriff relevant, der den Autoren zufolge bei anwendungsorientierter Sozialwissenschaft einen anderen Charakter bekommt. Bisher sei ein weitgehend naturwissenschaftlich geprägter Theoriebegriff vorherrschend. Danach führt eine Theorie zur Bildung von Modellen, die dann an den durch kontrollierte Verfahren gewonnenen Daten empirisch überprüft werden. Ziel ist jeweils die Falsifizierung der Theorie, was zu einem sukzessiven Erkenntnisgewinn führen soll. Demgegenüber steht ein alternativer eher wissenssoziologisch orientierter Theoriebegriff anwendungsorientierter Sozialforschung. In einem konstruktivistischen Verständnis von Theoriebildung werden hier theoretische Konzepte als sozial konstituierte Ergebnisse begriffen, an dessen Zustandekommen Theorie und Praxis beteiligt sind (vgl. ebd., 77ff.).

Gegen eine zu starke Orientierung am naturwissenschaftlichen Paradigma argumentiert auch REINMANN (2007), allerdings explizit mit Blick auf die Entwicklungen in der Bildungsforschung. Diese fasst sie als Human- und Sozialwissenschaft auf und kritisiert das derzeit dominante und aus ihrer Sicht verkürzte Forschungs- und Theorieverständnis, das sich zu stark an einem naturwissenschaftlichen Forschungsverständnis orientiere (vgl. ebd., 207f.). Dieses Verständnis verhindere die Generierung von Bildungsinnovationen. REINMANN plädiert deswegen für eine zusätzliche Orientierung an den ingenieurwissenschaftlichen Paradigmen. Deren Berücksichtigung könne zu einer Stärkung von Bildungsinnovationen führen, da die Ingenieurwissenschaften in ihrem Selbstverständnis den Nutzen und die Anwendung ihrer Forschung von vornherein implizieren. Ingenieurwissenschaften verbinden die Suche nach Inventionen, d.h. nach neuen Erfindungen mit deren Umsetzung in der Praxis, also die Theorienentwicklung mit der Theorieanwendung. Erst in der Anwendung, so die Innovationsforschung, werden Inventionen auch zu Innovationen. Entsprechend entstehen Bildungsinnovationen erst dann, wenn theoretische Erkenntnisse auch praktisch wirksam werden. 

Auch für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik gilt, dass naturwissenschaftlich geprägte Lehr-Lernforschung, die Laborbedingungen nachzuahmen versucht, kaum zu brauchbaren Resultaten für die Bildungspraxis führt (vgl. ebd., 208f.). An ein stärker sozialwissenschaftlich geprägtes Verständnis von Forschung und Theorie wäre auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik anzuknüpfen, um ein adäquates Theorie- und Forschungsverständnis im Bezug auf die beruflich-betriebliche Weiterbildung zu entwickeln.

These 5: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik muss ein eigenes, ihren Gegenständen und Feldern angemessenes, disziplinäres Forschungsverständnis einer praxisbezogenen Handlungsforschung entwickeln

In den Sozialwissenschaften wird die Auffassung vertreten, dass wissenschaftliche Handlungserklärungen zwar auf die (Re-)Konstruktion von relevanten Ordnungen zielen, dass sich daraus jedoch keine objektiven Wissensbestände und auch keine „Großtheorie“ mehr ableiten lässt (vgl. REICHERTZ 2000; MARTENS 2003). Für die Berufsbildungsforschung ist insofern zu bedenken, dass Entscheidungen (auch für Forschungskonzeptionen), die auf der Basis von vermeintlich gültigem, weil regelgeleitetem Wissen erfolgen und Handlungsempfehlungen, die daraus abgeleitet werden, auf Prämissen beruhen können, die ihrerseits infrage zu stellen sind.

Die Senatskommission für Berufsbildungsforschung, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingesetzt wurde, hat bereits Anfang der 1990er Jahre in ihrem Gutachten zur Berufsbildungsforschung ausdrücklich eine „Handlungsforschung“ empfohlen (vgl. DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT/ KOMMISSION FÜR BERUFSBILDUNGSFORSCHUNG 1990). Im Rahmen wissenschaftlicher Begleituntersuchungen soll damit die Praxis der Berufsbildung unterstützt, beschrieben und analysiert werden. Durch die Arbeit mit „exakten Methoden der empirischen Sozialforschung [...] soll ein Entwicklungsprozess, ein Innovationsprozess in der Praxis – durch ‚Zugabe‘ von Wissenschaft, etwa im Sinne von Beratung, möglicherweise auch unter Einschluss empirischer Untersuchungen – optimiert werden“ (ebd., 87). Es ging damals um eine explizite Erweiterung des Forschungsverständnisses, die von der Disziplin zum Teil auch aufgegriffen wurde. So unterscheidet SLOANE (2006) bezogen auf die Erkenntnis- und Handlungsinteressen für die Modellversuchsforschung drei verschiedene Forschungstypen:

·         Distanzierte Forschung betrachtet die Praxis als Objekt von Forschung. Wesentliches Ziel ist die Theorieüberprüfung, nachgeordnet wird auch die Theoriebildung als Forschungsaktivität akzeptiert.

·         Intervenierende Forschung folgt dem Ansatz der Handlungsforschung. Die Praxis ist hier Gegenstand von Veränderung und Verbesserung durch den Forschenden. Wichtige Bestandteile des Vorgehens sind der Diskurs mit den Akteuren und die Durchführung von Aktionen. In den Aktionen verwischt die Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis. Im Zentrum steht primär die Theorieanwendung.

·         Responsive Forschung verbindet demgegenüber Erkenntnisgewinnung mit Praxisgestaltung im Rahmen der Entwicklung, Erprobung und Evaluation von Innovationsprojekten. Evaluationsergebnisse werden nach diesem Verständnis an die Praxis zurückgespiegelt und bilden den Gegenstand gemeinsamer Reflexion. Dabei bleibt die Praxis jedoch unverändert für ihre Handlungen und Entscheidungen verantwortlich.

Wissenschaftliche Forschung bezieht sich in diesem Verständnis eines responsiven Ansatzes auf die Handlungsschwerpunkte Theoriebildung, -überprüfung und auch auf die konkrete Anwendung (vgl. SLOANE 2006, 623). Dieses von SLOANE für die Modellversuchsforschung herausgearbeitete Forschungsverständnis gilt es für die Disziplin und die Forschung in der beruflich-betrieblichen Weiterbildung weiter zu entwickeln.

Die Verknüpfung von Theorie und Praxis kann mit Blick auf das Feld der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung als eine der größten Herausforderungen an die Berufsbildungsforschung identifiziert werden. Im Rahmen einer handlungsorientierten Berufsbildungsforschung gilt es, die theoretischen Erkenntnisse aufzuarbeiten, sie für die Praxisgestaltung bereitzustellen, ihre Umsetzung und Anwendung in der Praxis zu erfassen, zu analysieren und die Ergebnisse wiederum so aufzubereiten, dass sie ihrerseits zur Weiterentwicklung der Theorie beitragen. Für einen solchen zyklischen Prozess braucht es allerdings auch veränderte Methoden. Es liegt insofern nahe, in einer interdisziplinären Perspektive Forschungszugänge darauf hin zu prüfen, ob und inwiefern sie sich eignen, eine inhaltliche und methodische Perspektivenerweiterung für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu realisieren. Am Beispiel der ethnographischen Forschung wird dies im Folgenden getan.

These 6: Ethnographische Forschungsmethoden können zur Erweiterung des disziplinären Methodenspektrums beitragen

Ethnographische Forschung spielt in angelsächsischen Ländern in den Educational Sciences eine zentrale Rolle. In Deutschland kann für die Erziehungswissenschaft eine Bedeutungszunahme seit den 1990er-Jahren verzeichnet werden (vgl. zusammenfassend ZINNECKER 2000). Die Schulpädagogik (BREIDENSTEIN 2008), aber auch die Kindheitsforschung (CORSARO 1997; HONIG 2002), die Sozialpädagogik (HÜNERSDORF 2008) und die Erwachsenbildung (KADE/ SEITTER 2007; SEITTER 2002), haben in den letzten Jahren verstärkt mit ethnographischen Methoden geforscht und damit auch zur methodologischen und methodischen Weiterentwicklung dieses Forschungsansatzes beigetragen. In der Berufsbildungsforschung ist dieser Forschungsansatz bisher nur vereinzelt zur Kenntnis genommen worden (vgl. z.B. BAHL 2004; SCHAR 1998; FEUERSTEIN 1998; RAUNER 1998). Angesichts dessen, dass die Handlungsforschung zur Beschreibung und Analyse der beruflichen und betrieblichen Handlungsfelder wie oben eingeführt Grenzen aufweist, stellt sich die Frage, ob und inwiefern ethnographische Forschung für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik einen Beitrag zu leisten vermag.

Der Beitrag der Ethnographie liegt darin, zum pädagogischen Verstehen sozialer und institutioneller Felder und den ihnen jeweils zugrunde liegenden kulturellen Mustern beizutragen. Ethnographische Forschung wird in Abgrenzung zur Laborforschung als Feldforschung verstanden, d.h. die sozialen Handlungsformen von Menschen werden in ihrer alltäglichen Umgebung erfasst. Es ist Aufgabe des ethnographischen Forschers, seine eigene Perspektive weitest möglich abzulegen, um die spezifische Perspektive der Personen im Feld einschließlich ihrer subjektiven Sinnzuschreibungen nachvollziehen zu können. Es handelt sich im Vergleich zu herkömmlicher teilnehmender Beobachtung um eine Steigerung der Partizipation im Feld, in dessen Mittelpunkt die Beobachtung aus der Perspektive der Akteure im Feld steht (vgl. ZINNECKER 2000, 385). Im Fokus steht die Kontextualisierung sozialer Interaktionen und Umgangsformen und zwar explizit derer, die zur Alltagskultur gehören und sich dadurch üblichen Erhebungsinstrumenten (z.B. Befragungen) entziehen. Hier deutet sich an, dass sich diese Methode z.B. gerade für die Explikation des impliziten und informellen Lernens in der Weiterbildung eignen und damit Aufschluss über bisher Unbekanntes geben könnte.

Merkmale ethnographischen Verstehens sind nach FRIEBERTSHÄUSER (2008): eine Mehrperspektivität als Erkenntnishaltung, in dem Sinn, dass einerseits auch die Forschenden ihre aus der ihnen zugeschriebenen Rolle innerhalb der erforschten Kultur und Faktoren wie Alter, Geschlecht etc. resultierende spezifische Sicht in den kulturellen Kontext einbringen (vgl. ebd., 56) und damit auf die Praxis wirken. Andererseits machen sie sich durch Selbstreflexion ihre eigene wissenschaftliche Perspektive immer wieder bewusst. Nach dem dialogischen Prinzip verstehen sich die Forscher als Teil einer gemeinsam konstituierten Realität, an der sie durch Kommunikation und Interpretation mitwirken. Letztlich dient die Reflexivität als Analyseinstrument, weil das systematische Verstehen (auch des Nicht-Gesagten) im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht.

Mit Blick auf das Theorie/Praxis Verhältnis lassen sich für die Ethnographie unterschiedliche Ansätze kennzeichnen (vgl. KRÜGER 2000): die klassische Ethnographie in der Tradition der Kulturanthropologie ist als ein deskriptives Konzept zu verstehen, weil sie primär das Ziel verfolgt, Beschreibungen einer fremden Lebenswelt oder spezifischen Kultur anzufertigen. Die Ethnomethodologie untersucht demgegenüber, „wie Menschen in sozialen Situationen Sinn herstellten, aufrechterhalten und verändern“ (ebd., 330). Hier geht es auf einer zweiten Ebene der Beobachtung um die Rekonstruktion der Regeln und Ordnung des sozialen Handelns und die Methoden ihres Entstehens. Die reflexive Ethnographie geht noch einen Schritt weiter und betont, dass der Forschungsprozess selbst ein „permanenter Aushandlungsprozess über die Wahrnehmung von Lebenswelten ist“ (ebd., 331). Forscher und Erforschte treten in einen intensiven Dialog ein und tauschen ihre jeweiligen Perspektiven aus. Es geht also nicht um die Repräsentation eines bisher unerforschten Lernkontextes (wie z.B. des betrieblichen Lernens) sondern es geht darum, im Sinne eines empirischen Konstruktivismus soziale Wirklichkeiten im Forschungsprozess interaktiv herzustellen. Es spricht aus berufs- und betriebspädagogischer Perspektive einiges dafür, dass diese Art der Forschung im Sinne der (Re-)konstruktion sozialer Ordnungen ihrerseits einen Beitrag sowohl zur individuellen Kompetenzentwicklung als auch zur betrieblichen Organisationsentwicklung leisten kann. Im Forschungsprozess und in der Interaktion von Forscher und Erforschten werden Anlässe zur Reflexion gegeben, die ihrerseits Lernprozesse auslösen können (vgl. GILLEN 2007).

Ethnographische Forschung kann aber auch einen Beitrag im Diskurs um das Selbstverständnis der Disziplin leisten: Eine reflexive Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die ihren eigenen Standpunkt hinterfragt, könnte sich so in ihrem Selbstverständnis ebenfalls weiterentwickeln. Eine Orientierung auf eine ethnographische Arbeit, die explizit auf Veränderung bezogen ist, herrscht in der Disziplin der Erwachsenenbildung bereits vor (vgl. SEITTER 2002). Sie könnte auch für die BWP ─ gerade auf der Basis der vielfach reflektieren Erfahrungen aus der Modellversuchsforschung und der Handlungsforschung ─ mit dem Fokus auf Prozesse des beruflichen und betrieblichen Lernens methodologisch zu einer berufspädagogischen Ethnographie weiterentwickelt werden. Mit Blick auf die Generierung disziplinspezifischer Forschungsmethoden und Theorieansätze wäre dies dann wiederum auch als eine Professionalisierungsstrategie der Disziplin zu werten. Dies kommt auch dem Modell reflexiver Praxis, das SLOANE (2006) für die Berufsbildungsforschung formuliert hat, nahe: „Berufsbildungsforschung kann in diesem Modell als eine Form der Feldforschung begriffen werden, bei der sich Forscherinnen auf das soziale System einlassen, Erfahrungen in diesem Feld sammeln und dies im Kontext des sozialen Systems Berufsbildungsforschung reflektieren“ (ebd., 617).

Zusammenfassung und Ausblick

Mit Blick auf die dargelegten Argumente lässt sich zusammenfassen, dass berufliche und betriebliche Weiterbildungsforschung bisher in der Disziplin der Berufs- und Wirtschaftspädagogik eher randständig ist. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass es keinen eigenen Theoriediskurs gibt. Ausgehend von der These, dass „zur Unterstützung eines rationalen Entscheidungsprozesses […] wissenschaftlich fundierte Analysen und begründete Konzepte mit eigenem Prognosewert benötigt“ werden (CLEMENT 1999, 147), hat CLEMENT im Rahmen einer Sammelrezension nach einer „brauchbaren“ Theorie betrieblicher Weiterbildung gesucht. Dabei kommt sie zu dem Fazit, dass eine Vielzahl von Veröffentlichungen kaum geeignete Theorien liefern und dass trotz zahlreicher Forschungsaktivitäten im Bereich der betrieblichen Weiterbildung nicht vom Vorhandensein einer betrieblichen Weiterbildungstheorie gesprochen werden kann. Hieraus lässt sich schließen, dass die betriebliche Weiterbildungsforschung als Teildisziplin der Berufsbildungsforschung erst noch zu etablieren ist. Nicht zuletzt aus professionspolitischer Sicht spricht vieles dafür, theoretische und methodische Ansätze im Rahmen einer theoriegeleiteten und zugleich praxisbezogenen berufspädagogischen Forschung intensiv weiter zu verfolgen. Es geht in diesem Zusammenhang auch darum, die Zuständigkeit der Disziplin für das Feld der Weiterbildung zu reklamieren und zu legitimieren.

Erforderlich ist die Entwicklung eines angemessenen Theorieverständnisses, das auch in der Praxis wirksam werden kann und sich nicht ausschließlich am naturwissenschaftlichen Paradigma orientiert. Hier deutet sich an, dass ein eher konstruktivistisches Theorieverständnis der beruflich-betrieblichen Weiterbildung angemessener sein könnte. Nachbardisziplinen können in diesem Prozess wichtige Impulse liefern.

Es geht darüber hinaus um die Entwicklung eines Forschungsverständnisses, das Bildungsinnovationen generiert – neben der Handlungsforschung stellt eine Orientierung an ethnographischen Methoden einen weiter zu entwickelnden Ansatz dar. Gütekriterien und Qualitätsstandards für eine solche Art der Forschung sind bisher unzureichend ausgewiesen. Sie gilt es zu entwickeln und zu etablieren. Schließlich geht es aber auch um die Entwicklung einer Kultur der „reflexiven Erziehungswissenschaft“, die die eigenen Voraussetzungen, Methoden und Ziele permanent reflektiert. Perspektivisch müsste die Berufsbildungsforschung verstärkt in methodologischen Diskursen eine weitere theoretische Fundierung ihrer Forschungskonzeptionen leisten und sich in diesem Vorgehen auch selbst thematisieren. Dazu sollte mit diesem Aufsatz ein Beitrag geleistet werden.


Literatur

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Zitieren dieses Beitrages

MEYER, R./ ELSHOLZ, U. (2009): Berufliche und betriebliche Weiterbildung als Gegenstandder Berufs- und Wirtschaftspädagogik – Desiderata und neue Perspektiven für Theorieund Forschung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 16, 1-15. Online: www.bwpat.de/ausgabe16/meyer_elsholz_bwpat16.pdf (30-06-2009).

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