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bwp@ Ausgabe Nr. 23 | Dezember 2012
Akademisierung der Berufsbildung
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 23 sind Karin Büchter, Dietmar Frommberger & H.-Hugo Kremer

Bildungstypen und ihr Habitus: Von der Durchlässigkeit zur sozialen Öffnung der Hochschule

Beitrag von Daniela AHRENS (Universität Bremen)


Abstract

Gegenwärtig beobachten wir hinsichtlich des Ausbaus eines verbesserten Hochschulzugangs einen Bias auf der strukturellen Ebene. Zwar ist auf ordnungspolitischer Ebene die Machbarkeit hergestellt worden, dennoch bleiben die Zahlen der beruflich Qualifizierten unter den Studienanfängern hinter den Erwartungen zurück. Angesichts der bislang vorherrschenden hohen institutionellen Versäulung des deutschen Bildungssystems ist davon auszugehen, dass neben der strukturellen Ebene, kulturelle und soziale Faktoren von zentraler Bedeutung bei dem Übergang von der beruflichen zur hochschulischen Bildung sind. Grundannahme ist, dass die Öffnung der Hochschule für beruflich Qualifizierte in erster Linie angebotsorientiert erfolgt und nicht mit einer sozialen Öffnung gleichzusetzen ist. Die tradierten institutionellen Schließungsprozesse gehen einher mit unterschiedlichen institutionellen Wissenskulturen und Handlungslogiken. Den Übergang zwischen diesen verschiedenen Bildungssystemen zu meistern, bedeutet daher immer auch den Umgang mit differenten Lern- und Wissensmilieus und „Bildungsphilosophien“. Im Anschluss an Bourdieus Habituskonzept (1991) diskutiert der Beitrag Fragten der „kulturellen Passung“. Neben den fachlichen Aspekten entscheidet der jeweilige Lernhabitus darüber, ob und wie sich Berufsbiographien und Bildungstypen entwickeln, wie Wissen angeeignet wird. Eine Untersuchung über die verschiedenen Handlungsschemata sowie damit einhergehende Habitusdifferenzen würde nicht nur die plakative Gegenüberstellung von Erfahrungswissen versus Theorie überwinden, sondern auch der zunehmenden Ausdifferenzierung von Bildungstypen, ihren jeweiligen Problemen bei dem Überwinden von Bildungssystemgrenzen Rechnung tragen.         

 

Educational types and their habitus: From permeability to the social opening of the higher education institution

Currently, with regard to the expansion of improved access to higher education, a bias at the structural level can be observed. In terms of the political level it is true to say that its feasibility has been created, but the number of new students with vocational qualifications still lags behind expectations. In view of the until now prevailing highly institutional divisions in the German education system, it can be assumed that, alongside the structural level, cultural and social factors are of key significance at the transition from vocational to higher education. The fundamental assumption is that the opening of higher education for those with vocational qualifications takes place primarily with regard to the provision offered and is not to be compared with a social opening. The traditional institutional processes of closing down accompany various institutional cultures of knowledge and logics of action. Coping with the transition between these different education systems therefore always means dealing with different learning and knowledge milieus and ‘educational philosophies’. Following Bourdieu’s concept of habitus (1991) this paper discusses questions of ‘cultural fit’. As well as the subject-specific aspects, the respective learning habitus decides whether and how vocational biographies and educational types develop and how knowledge is acquired. An examination of the different patterns of action, as well as corresponding differences in habitus, would not only overcome the striking opposition of experience knowledge as opposed to theory, but also the increasing differentiation of educational types, in order to take account of the respective problems when overcoming barriers between educational systems. 

1 Einleitung: Durchlässigkeit

Während im wissenschaftlichen Diskurs die Begriffsbestimmungen der Wissensgesellschaft vielfältig sind, verfolgt die auf europäischer Ebene initiierte bildungspolitische Debatte mit ihrem Bezug zur Wissensgesellschaft als Legitimationshintergrund für Reformmaßnahmen einen eindeutigen Kurs. Auf europäischer Ebene fungiert die Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft als Wissensgesellschaft als Begründungshorizont für eine Erhöhung des Akademikeranteils durch den Ausbau der Zugangsmöglichkeiten zur tertiären Bildung in den Mitgliedsstaaten. Angetrieben durch die neuen Anforderungen einer Wissensgesellschaft steht die Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung auf der bildungspolitischen Reformagenda. Die insbesondere von der OECD formulierte Forderung nach einer Erhöhung des Akademikeranteils fällt in Deutschland mit seinem prestigereichen dualen Ausbildungssystem auf einen anderen Resonanzboden als in Ländern, deren Bildungssystem stärker schulisch orientiert ist. Nicht zuletzt die hohe Wertschätzung und Attraktivität des dualen Systems führen dazu, dass sich der Aufstiegswettbewerb in Deutschland insofern in Grenzen hält, dass beruflich Qualifizierte bislang nur in geringem Maße ein Studium beginnen. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass danach zu fragen, ob kulturelle Unterschiede, Differenzen im Habitus, die geringe Anzahl von Studienanfängern zu erklären vermögen. Die Überlegung ist, dass der Übergang zwischen diesen verschiedenen Bildungssystemen, immer auch bedeutet, den Umgang mit differenten Lern- und Wissensmilieus und „Bildungsphilosophien“ zu meistern. Diese Vermutung drängt sich auf, wenn man berücksichtigt, dass auf ordnungspolitischer Ebene die bisherigen Schließungsmechanismen des beruflichen und tertiären Bildungssystems gelockert wurden.

An dieser Stelle ist eine begriffliche Präzisierung notwendig: Der Beitrag bezieht sich auf den so genannten Dritten Bildungsweg. Gegenüber dem Zweiten Bildungsweg erfolgt beim Dritten Bildungsweg die Hochschulzugangsberechtigung auf der Basis berufsqualifizierender Abschlüsse. Entscheidend für den Dritten Bildungsweg ist das „ohne“, und zwar „ohne zusätzlichen Schulbesuch über eine berufliche Ausbildung und Tätigkeit“ (WOLTER 1994 zit. nach FREITAG 2012, 51).

Der Begriff der Durchlässigkeit ist im wissenschaftlichen ebenso wie im bildungspolitischen Diskurs durchweg positiv besetzt. Insbesondere auf bildungspolitischer Ebene ist der Begriff en vogue und lässt sich als eine institutionelle Antwort auf das normative Postulat des lebenslangen Lernens verstehen. Mit dem Begriff der Durchlässigkeit werden hohe normative Implikationen verbunden. Durchlässigkeit verspricht ein höheres Maß an Bildungsgerechtigkeit, der Förderung individueller Bildungsmobilität und damit der Förderung sozialer Integration und Statusverbesserung. Der Akzent liegt auf den Übergangsmöglichkeiten der gerade in Deutschland bislang weitgehend voneinander abgeschotteten beruflichen und tertiären Bildungsgänge sowie der Förderung der individuellen und sozialen Mobilität.

Neben den wirtschaftlichen und arbeitsmarktrelevanten Gründen spielt die europäische (Berufs-)Bildungspolitik eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Durchlässigkeit der bislang institutionell voneinander getrennten Bildungswege und der Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte. Auf bildungs- und ordnungspolitischer Ebene ist mit der Bologna-Erklärung aus dem Jahr 1999 sowie den Beschlüssen von Kopenhagen (2002) die von BAETHGE (2007) als „deutsches Bildungsschisma“ beschriebene institutionelle Versäulung der beruflichen und allgemeinen bzw. hochschulischen Bildung unter Druck geraten.

Die europäischen Beschlüsse zielen auf eine bessere Vergleichbarkeit nationaler Bildungsabschlüsse und Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemen (vgl. KUDA/ KAßEBAUM 2012). Zentrale Instrumente hierbei sind der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) sowie dessen nationale Übersetzung (DQR), mittels derer berufliche und akademische Abschlüsse miteinander vergleichbar werden sollen. Für die Umsetzung in Deutschland war insbesondere der KMK-Beschluss aus dem Jahr 2002 wegbereitend (KMK 2002). Er regelt, dass 50% eines Studiums durch gleichwertige außerhochschulisch erworbene Kompetenzen angerechnet werden können (KMK 2009). Auf dem Dresdner Bildungsgipfel „Aufstieg durch Bildung“ im Jahr 2008 haben Bund und Länder sich auf die Förderung eines „Aufstiegspakets“ geeinigt. Eine der formulierten Vereinbarungen zielte darauf, mehr beruflich Qualifizierte ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung den Eintritt in ein Hochschulstudium zu erleichtern. Wegweisend für dieses Vorhaben war der KMK-Beschluss „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“ vom 6. März 2009. Danach erhalten erstens Meister und Absolventen beruflicher Fort- und Weiterbildungsprüfungen die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung. Zweitens führen eine mindestens zweijährige abgeschlossene Berufsausbildung sowie eine mindestens dreijährige Berufspraxis und eine erfolgreich abgeschlossene Eignungsfeststellungsprüfung zur fachgebundenen Studiumsberechtigung. Drittens können die Länder weitere Regelungen beschließen, die nach einem Jahr erfolgreichen Studierens von den anderen Ländern anzuerkennen sind. Mit diesem Beschluss sollten die Bildungsmobilität gefördert und die sehr heterogenen Bestimmungen der einzelnen Länder harmonisiert werden. Angesichts der föderalen Struktur des Bildungswesens kommt es jedoch zu einer enormen Bandbreite bei der Umsetzung des Harmonisierungsgebots[1] .

Die Forderung nach einer Durchlässigkeit bislang voneinander getrennter Bildungssysteme setzt Verfahren und Modelle der Vergleichbarkeit der jeweiligen Lernergebnisse voraus. Die BMBF-Initiative ANKOM (Anrechnung beruflicher Kompetenzen für Hochschulstudiengänge) entwickelte in diesem Zusammenhang Anrechnungsleitlinien und –modelle für berufliche Kompetenzen auf ein Hochschulstudium. Zentrales Ergebnis der ANKOM-Initiative ist, dass beruflich erworbene Qualifikationen auf ein Studium anrechen- und transferierbar sind (vgl. STAMM-RIEMER/ LOROFF/ HARTMANN 2011). Darüber hinaus hat die ANKOM-Initiative gezeigt, dass die Art des Anrechnungsverfahrens – individuell oder pauschal – weder von der Art der Hochschule noch von der jeweiligen Fachdisziplin abhängt, sondern vielmehr von der jeweiligen Hochschulkultur, d.h. von dem Vertrauen in die Qualität und dem Niveau in die berufliche Bildung (STAMM-RIEMER/ LOROFF/ HARTMANN 2011, 69).

Mit der Frage nach der Anrechnung erfolgt eine Perspektivenverlagerung: Es geht nicht mehr um die Berechtigung für ein Studium, sondern um die Frage der Vergleichbarkeit und Zuordnung beruflicher Kompetenzen und Studiumsanforderungen. Es geht um die Überwindung eines ausschließlich auf schulischen Leistungen basierendes Berechtigungssystem. Die Forderung nach einer besseren Durchlässigkeit bislang voneinander abgeschotteter Bildungssysteme führt(e) zu einem Aufbrechen des „monopolistischen Anspruchs des gymnasialen Allgemeinbildungskonzepts“ (WOLTER 2008, 83). Bislang fungierten schulische Abschlüsse als rechtliche oder rechtsähnliche Ansprüche auf die Zulassung in weiterführende Bildungseinrichtungen (vgl. FROMMBERGER 2009). Dieses Berechtigungssystems basierte in erster Linie auf Abschlüssen in der Allgemeinbildung und erweist sich beim Hochschulzugang als äußerst stabil: Im Zeitraum von 1995 bis 2008 betrug der Anteil des Abiturs an den Neuzulassungen an Universitäten nie unter 90 % (vgl. WOLTER 2010, 211).

Der Verweis auf Durchlässigkeit bezieht sich auf verschiedene Ebenen (vgl. FREITAG 2012; MINKS 2011): Neben der strukturellen Ebene, die die Wirksamkeit der formal hergestellten Zugangsberechtigungen und Übergangsmöglichkeiten umfasst, erfolgt Durchlässigkeit auf der horizontalen Ebene, wenn es beispielsweise um die Anrechnung beruflicher Kompetenzen geht. Auf der vertikalen Ebene adressiert Durchlässigkeit den Durchstieg in höherwertige Bildungswege. Auf der formalen, ordnungspolitischen Ebene werden Möglichkeitsbedingungen geschaffen. Ob diese wahrgenommen werden, hängt jedoch von weiteren Aspekten ab. Die Autorinnen KUPFER und MUCKE (MUCKE/ KUPFER 2011, 223) nennen fünf Bereiche, deren Weiterentwicklung notwendig ist, um den Zugang zur Hochschule für beruflich Qualifizierte zu verbessern: Umsetzung der Lernergebnisforschung in den Ordnungsmitteln und der Prüfungspraxis, zielgruppenorientierte Umsetzung der Zugangsmöglichkeiten zu weiterführenden Bildungsangeboten, Entwicklung bedarfsorientierter Studienangebote, Schaffung zielgruppenorientierter Finanzierungsmöglichkeiten und der systematische Ausbau von sachgerechten Informationen und zielgruppenspezifischer Beratung. Ohne auf die genannten Punkte in diesem Beitrag im Einzelnen eingehen zu können, verweisen sie darauf, wie voraussetzungsreich sich die Inanspruchnahme der geschaffenen Möglichkeiten der Durchlässigkeit auf institutioneller und curricularer Ebene darstellt. Dass die Realisierung der Durchlässigkeitsmöglichkeiten von Merkmalen auf individueller Ebene abhängig ist, wird von WOLTER (2010) betont. WOLTER sieht wesentliches Gründe für den geringen Anteil beruflich Qualifizierter unter den Studierenden in „Mechanismen der Selbstselektion“ (WOLTER 2010, 215) und spricht von einem „recht steinigen Weg, auf dem viele Hürden zu überwinden und Herausforderungen zu meistern sind“ (ebd. 214). Um den Weg in ein Studium erfolgreich zu beschreiten, seien individuelle Kompetenzen wie Motivation, Engagement und Leistungsbereitschaft notwendig.

Es ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs selbstverständlich, ob und inwiefern die formale Durchlässigkeit auch zu einer sozialen Durchlässigkeit führt[2] . Gegenwärtig begegnet uns ein nur schwach ausgeprägter Forschungsstand zum Thema selektive Hochschulbildung und Dritter Bildungsweg, insbesondere auch zu der Frage nach den Lern- und Studienkulturen der verschiedenen Bildungstypen und ihrer Integration in den Lernort Hochschule. Treffend formuliert FREITAG in diesem Zusammenhang: „Es muss konstatiert werden, dass die bildungspolitischen Zielsetzungen weitaus ausgereifter sind als die Erkenntnisse und Ergebnisse“ (FREITAG 2012, 107). Standardisierte Erhebungsverfahren zum Dritten Bildungsweg fehlen bislang in Deutschland und lassen sich als ein Indiz für die geringe Priorität dieses Bildungsaufstiegs interpretieren. Die Autoren des Centrums für Hochschulentwicklung kommen in ihrer empirischen Analyse zu dem ernüchternden Fazit, dass das Studium ohne Abitur bislang eine „schwer durchschaubare Grauzone“ (CHE 2009, 118) sei. Seit der Einführung der BA/MA-Studiengänge existieren ebenso wenig subjekt- und biographieorientierte Untersuchungen zu nicht-traditionell Studierenden. Empirisches Wissen über nicht-traditionell Studierende beruht überwiegend auf Untersuchungen der 1980er und 1990er Jahre. Die Autoren ALHEIT, RHEINLÄNDER und WATERMANN betonen die Notwendigkeit biographisch orientierter Forschung angesichts der „Passungsproblematik“ deutscher Universitäten für Bildungsaufsteiger (ALHEIT/ RHEINLÄNDER/ WATERMANN 2008, 582).

Angesichts der bislang geringen Anzahl der so genannten nicht-traditionell Studierenden, die über einen hochschulrechtlich geregelten Weg (im Gegensatz zu jenen Personen, die ihre Studienberechtigung durch schulrechtlich geregelte Verfahren erlangen und dem so genannten Zweiten Bildungsweg zuzurechnen sind) ein Studium beginnen, ist davon auszugehen, dass neben den Fragen der Anrechenbarkeit beruflicher Kompetenzen auf Studienanforderungen und ihrer Zuordnung, kulturelle und soziale Faktoren sowie Fragen der Lern-, Studier- und Wissenskulturen von zentraler Bedeutung sind bei dem Übergang von der beruflichen zur hochschulischen Bildung (FREITAG 2012, 109). WOLTERS (2010) These der stärkeren Berücksichtigung individueller Merkmale bei der Frage nach der Studiumsaufnahme beruflich Qualifizierter wird hier zugunsten ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit erweitert. Das heißt, der Blick richtet sich nicht auf das einzelne Individuum, sondern auf das vergesellschaftete Subjekt. Übertragen auf die Frage nach der kulturellen Passung hinsichtlich des Wechsels beruflich Qualifizierter an die Hochschule liegt die Vermutung nahe, dass beruflich Qualifizierte nicht nur Träger eines eher anwendungs- und praxisorientierten Wissens sind, sondern sich beim betrieblich beruflichen Bildungstypus eine andere Wissenskultur, eine andere Haltung und ein spezifischer Habitus entwickelt als beim akademischen Bildungstypus. Im folgenden Abschnitt soll diese These im Anschluss an BOURDIEUS Habituskonzept (1991) näher erläutert werden.

2 Bildungstypen und Wissenskulturen

Im Zuge der Diskussion um Durchlässigkeit, europäischer Vergleichbarkeit und lebenslangem Lernen wird die Frage der Studierfähigkeit respektive deren Bedeutung und inhaltliche Ausgestaltung neu und kontrovers diskutiert. Dabei läuft die Diskussion Gefahr, ein Bildungssystem zugunsten des anderen auf- bzw. abzuwerten – je nach Interesse des jeweiligen Beobachters geht es entweder um die Verberuflichung der Hochschule oder um eine stärkere Verwissenschaftlichung der beruflichen Bildung. So wirft BECKER (2012) die Frage nach einer neuen Definition von Studierfähigkeit auf, die stärker als bislang die fachbezogene Handlungsfähigkeit zu berücksichtigen habe. BECKER geht es um die Sichtbarmachung der Potenziale in der Berufsbildung, die zu einer Studierfähigkeit führen. Hochschulen sollten danach stärker als bislang geschehen, ihr Lehrangebot an den „Praktikern“ (ebd., 151) ausrichten und berufliches Handeln stärker zum „Bezugspunkt eines wissenschaftlichen Studiums“ machen.

Die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen beruflicher, allgemeiner und akademischer Ausbildung konzentriert sich um die Bewertung der verschiedenen Wissensformen. Bildungsaufstieg war und ist bislang immer auch mit anderen Lern- und Wissensformen verknüpft und zwar vom eher praxis- und anwendungsorientierten hin zu abstrakten, systemischen Wissen. Angesichts der Bedeutungszunahme praxisorientierter Studieninhalte im Zuge der Neustrukturierung des BA-/MA-Studiums sowie der Höherqualifizierung in der Berufsbildung, lässt sich jedoch die Monopolstellung der gymnasialen Bildung und ebenso wenig aufrecht erhalten wie eine pauschale Aufwertung des Praxisbezugs der beruflichen Bildung. Ebenso wie abstraktes Wissen nicht ohne Erfahrungsgenese denkbar ist, ist erfahrungsgeleitetes Wissen auf kognitive Lernprozesse angewiesen. Das sich wandelnde Verhältnis von Arbeit und Bildung in der Wissensgesellschaft dahingehend zu interpretieren, dass wir ein Mehr an Wissenschaft benötigen, wäre trivial. Es geht nicht um die Diskreditierung der einen oder anderen Wissensform. Es geht vielmehr einerseits darum, dass die verschiedenen Wissensformen neue Verknüpfungen eingehen. Diese Formen der Wissenserzeugung sind bereits in den 1990er Jahren mit der Unterscheidung von Wissen „Modus I“ und „Modus II“ beschrieben worden (GIBBONS et al. 1994) und gewinnen heute erneut an Aktualität (vgl. PFEIFFER 2012). Anderseits wissen wir bislang wenig über die unterschiedlichen Lernstile, Handlungsschemata, Wahrnehmungsmuster und kulturellen Einbettung von Bildungs- und Lernprozessen.

In ihren Gutachten für die Hans Böckler Stiftung unterscheiden SPÖTTL et al. (2009) zwischen einem betrieblich-beruflichen und einem akademischen Bildungstyp. Dabei betonen die Autoren, dass es sich dabei um eine idealtypische Unterscheidung handelt. Die Unterscheidung in einen beruflich-betrieblichen und einen akademischen Bildungstyp verweist nicht nur auf unterschiedliche institutionelle Ablaufmuster, sondern auch auf unterschiedliche Lern- und Wissenskulturen. Obgleich wir in einer Wissensgesellschaft leben, ist der Begriff „Wissenskultur“ bislang wenig ausdifferenziert. Der Begriff der Wissenskultur wird bei KNORR CETINA am Beispiel naturwissenschaftlicher Handlungspraktiken (Hochenergiephysik und Molekularbiologie) untersucht. Es geht um die Strategien und Prinzipien der Erzeugung und Validierung von Wissen, dass eine Privilegierung von Wissen a priori die jeweiligen Erzeugungskontexte von Wissen außer Acht lässt. Dabei legt KNORR CETINA die Betonung „auf Wissen, wie es ausgeübt wird“ (KNORR CETINA 2002, 18). Nicht die Art oder die Inhalte, sondern die „ganze Bandbreite von Strukturen, Mechanismen und Arrangements, die der Erzeugung des Wissens dienen“ (ebd.) zeichnet die jeweilige Wissenskultur aus. Kultur wird in diesem Zusammenhang als eine spezifische Form der Praxis verstanden. Mit der Rede von Bildungstypen werden daher in diesem Argumentationszusammenhang unterschiedlichen Wissenskulturen und Handlungslogiken verstanden. Neben der wichtigen Frage der Gleichwertigkeit, geht es um die Frage, inwiefern mit den verschiedenen Bildungstypen auch ein unterschiedlicher Habitus einhergeht.

Die jeweiligen Bildungstypen sind durch unterschiedliche Referenzsysteme gekennzeichnet, die den Lernprozess der Bildungstypen prägen: Auf der einen Seite orientiert sich die Kompetenzentwicklung an den Arbeitsprozessen, auf der andere Seite leiten die jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen den Qualifizierungsprozess. Während der betrieblich-berufliche Bildungstypus auf die Ausbildung beruflicher Handlungskompetenz zielt, stehen beim akademischen Bildungstypus systematisches wissenschaftsorientiertes Wissen im Vordergrund der Kompetenzentwicklung. Konstitutiv für den betrieblich-beruflichen Bildungstyp sei der Bezug zur Facharbeit und die duale Organisation der Ausbildung (ebd., 13). SPÖTTL et al. (2009) plädieren für eine stärkere Profilierung des betrieblich-beruflichen Bildungstypus‘ im Zuge der Debatte um eine Akademisierung der Arbeitswelt angesichts der Bedeutung des erfahrungsbasierten Lernens im Arbeitsprozess. Der Vorteil dieses Bildungstypus‘ läge – so die These der Autoren – in der engen Verzahnung schulischer und betrieblicher Bildung gegenüber eines akademischen Bildungstypus‘, dessen Praxisphasen sequentiell angeordnet und nur in geringem Maße stattfinden.

Diese zum Teil recht holzschnittartige Unterscheidung zweier Bildungstypen vernachlässigt, dass die Bildungstypen aufgrund ihrer differierenden Lernwege einen unterschiedlichen Habitus ausbilden. Neben der sozialisierenden Funktion beruflicher Bildung entwickelt sich über den Beruf eine soziale Identität und soziale Positionierung in der Gesellschaft. Angesprochen ist damit die Vermutung, dass Fertigkeiten, Können, Lernformen und -ansprüche immer auch habitusgebunden sind, d.h. dass Bildungs- und Lernprozesse nicht nur eng mit sozialen Zugehörigkeiten zusammenhängen, sondern auch die Wahrnehmung und Deutung von Lern- und Bildungsbedingungen prägen.

3 Der Lernhabitus im Anschluss an Bourdieu

Die Aktualität BOURDIEUS offenbart sich hinsichtlich der aktuellen Befunde empirischer Bildungsforschung zur Herkunftsabhängigkeit von Bildungsprozessen sowie der heute noch zu beobachtenden ständischen Kanalisierung von Bildungswegen (VESTER 2006). Sie bestätigen Bourdieus These der „Illusion der Chancengleichheit“ (BOURDIEU/ PASSERON 1971). Im Jahr 1971 haben PIERRE BOURDIEU und JEAN-CLAUDE PASSERON hinsichtlich der Bildungsexpansion die „Illusion der Chancengleichheit“ ins Spiel gebracht und hervorgehoben, dass Bildung keineswegs per se zu einer Kompensation führt, sondern vielmehr auch die Reproduktion ungleicher Lebensverhältnisse provoziert. Danach ist der Abbau struktureller Selektionsmechanismen lediglich eine „Scheingleichheit“ und verkennt „die kulturellen Gewohnheiten einer Klasse“ (BOURDIEU/ PASSERON 1971, 40). So konnte beispielsweise auch der selektive Hochschulzugang durch die Bildungsexpansion der 1970er und 1980er Jahre nicht abgebaut werden. Im Gegenteil: Hatten Beamtenkinder im Jahr 1982 eine 9-mal bessere Chance als Arbeiterkinder, ein Studium zu beginnen, ist dieses Chancenverhältnis im Jahr 2000 um das 19-fache gestiegen (vgl. BECKER 2009). Neben institutionellen Zugangsregelungen scheinen andere, herkunfts- und sozialisationsbedingte ebenso wie kulturelle Faktoren ausschlaggebend dafür zu sein, ob ein tertiärer Bildungsweg eingeschlagen wird. Stellt man in Rechnung, dass Bildungspolitik immer auch Sozialpolitik ist, haben sich die Hoffnungen auf ein Mehr an Chancengleichheit und Verringerung sozialer Ungleichheiten durch ordnungspolitische Reformen nur in geringem Maße erfüllt. Der Erfolg der Öffnung von Hochschulen zeigt sich unter anderem im Alter der Studienanfänger. Während beispielsweise in Schweden die Studienanfängerquote von Personen, die älter als 25 Jahre sind, bei 11,2 % liegt, beträgt der Anteil in Deutschland nur 3,9 % (vgl. ORR/RIECHERS 2010, 46). Der „Run“ auf die Hochschulen bleibt bislang aus. Der Anteil der beruflich Qualifizierten unter den Studienanfängern lag im Jahr 2010 lediglich bei 1,9%, wobei der Anstieg in erster Linie zugunsten der Fachhochschulen ausfiel (CHE 2009, 15, WOLTER 2010, 211).

Als Gesellschaftstheoretiker setzt sich der französische Soziologe BOURDIEU mit dem Zusammenspiel zwischen Bildungssystem, Sozialisation und soziale Ungleichheiten auseinander. Insbesondere in der Soziologie, aber auch in der Pädagogik sind seine Arbeiten aufgegriffen worden (vgl. u.a. LIEBAU 1987). BOURDIEUS Interesse galt vor allem der Sozialstruktur Frankreichs und der Rolle des Bildungssystems. Seine zentralen Begriffe sind der „soziale Raum“ und der Habitus. BOURDIEU versteht die Gesellschaft als einen sozialen Raum innerhalb dessen sich ungleichheitswirksame soziale Felder abzeichnen. Danach beruhen Bildungsungleichheiten immer auch auf Unterschiede des Habitus, der sich durch Gewohnheiten des Handelns und Wahrnehmens ausdrückt. Habitusdifferenzen führen – so die These BOURDIEUS – zu Unterschieden in der Wahrnehmung und Realisierung von Bildungsprozessen. Diese These bestätigen auch andere empirische Untersuchungen. So lassen sich zwischen 1979 und dem Jahr 2000 keine wesentlichen Veränderungen feststellen hinsichtlich schichtspezifischer Bildungsaspirationen. Einschränkend muss hier jedoch gesagt werden, dass diese Untersuchungen sich in erster Linie auf elterliche Bildungsentscheidungen hinsichtlich der Schulwahl ihrer Kinder beziehen (BECKER/ LAUTERBACH 2004).

Gesellschaftliche Auseinandersetzungen werden bei BOURDIEU immer auch als symbolische Auseinandersetzungen verstanden, in dem Sinne, dass es sich um Auseinandersetzungen um Sichtweisen, Klassifikationen und Kategorien handelt, mittels derer wir die Welt wahrnehmen und deuten (vgl. KRAIS/ GEBAUER 2002). Die Schule und hier in erster Linie die Hochschule fungieren in diesem Zusammenhang als Vertreter der „legitimen Kultur“. Danach kennzeichnen sich Bildungseinrichtungen durch einen Doppelcharakter „als Lernanstalt und als Stätte der klassenbezogenen Akkulturation“ (VESTER 2006, 49). Die Kritik richtet sich hier an einen vom akademischen Milieu geprägten verengten kognitivistisch verengten Lern- und Bildungsbegriff, der als legitim erachtet wird und infolgedessen an implizites und anwendungsbezogenes Wissen vielfach nicht angeknüpft wird. BOURDIEU spricht in diesem Zusammenhang von „symbolischen Kämpfen“ und wendet sich gegen eine Hierarchisierung jeglichen Wissens aus zugunsten einer stärkeren Bezugnahme auf den Habitus in Bildungsprozessen.

BOURDIEU begreift den Habitus als modus operandi als generatives Struktur- und Handlungskonzept. Das Habituskonzept betont die Wechselseitigkeit von inkorporierten sozialen Strukturen und einer Handlungspraxis, die gleichermaßen Produkt und Erzeugungsprinzip dieser sozialen Strukturen ist. Handlungsmuster prägen den Habitus und werden vom Habitus generiert. Aus dieser Perspektive ist das Subjekt immer nur in seinem sozialen Kontext zu beobachten, das heißt, die Reproduktion sozialer Ungleichheiten ist gleichermaßen auf der System- und Handlungsebene zu beobachten. Die Gesellschaft erscheint hier nicht als etwas Äußeres, als Zumutung und Restriktion, vielmehr erzeugen sich Gesellschaft und Individuum wechselseitig. „Mit dem Habitus sind wir in der Welt und haben die Welt in uns“ (KRAIS/ GEBAUR 2002, 76). Auf Bildungsverläufe gewandt, bedeutet dies, dass lebensweltliche Erfahrungen gleichermaßen Karriereaspirationen und Bildungsentscheidungen ermöglichen und limitieren. Der Habitus fungiert als eine Vermittlung sozialer Strukturen und individueller Praxis. Er ist „strukturierte Struktur“ und „strukturierende Struktur“ (REHBEIN 2006, 97). BOURDIEU versteht den Habitus als ein „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, die als „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ fungieren (BOURDIEU 1987, 98). Anhand des Habitusbegriffs will Bourdieu die Regelmäßigkeiten des Handelns erfassen und die Reproduktion sozialer Strukturen erklären. Als inkorporiertes Dispositionssystem gibt der Habitus

„dem Akteur eine generierenden und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, dass diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendenten Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in die Praxis umsetzt“ (BOURDIEU 2001, 175).

Im Anschluss an BOURDIEU sind unsere Wahrnehmungs-, Deutungs- und Beurteilungsschemata lebensweltlich geprägt. BOURDIEU warnt vor der „biographischen Illusion“ (1988), und die damit einhergehende Verhaftung beim Subjekt in biographischen Analysen. Biographische Analysen lassen nach BOURDIEU die gesellschaftliche Bestimmtheit individueller Biographien außer Acht. Daher bevorzugt BOURDIEU auch den Begriff des Akteurs (französisch „agent“) anstelle des Subjektbegriffs. Neben dem Subjekt können auch Milieus und Bildungseinrichtungen als Aggregierungsebenen des Habitus verstanden werden.

Der Habitus setzt sich aus drei grundlegenden Kapitalformen zusammen: das soziale Kapital, das kulturelle und das ökonomische Kapital. Dabei entscheidet die Höhe und Art des Kapitals sowie die Art und Weise ihres Zusammenspiels über die gesellschaftliche Stellung und Partizipationschancen des Einzelnen. Die von BOURDIEU im Zuge seines Habitusmodells ausformulierten Kapitalsorten stellen die relevanten Variablen dar, nach denen sich die Position eines Akteurs innerhalb eines Feldes richtet. Der soziale Raum konstituiert sich demzufolge durch die verschiedenen Sorten von Macht und Kapital, die innerhalb der einzelnen Felder jeweils im Kurs sind (BOURDIEU 1985, 10)[3]. Die gesellschaftliche Stellung in einem Feld wird durch folgende Kriterien gekennzeichnet: Erstens nach dem Gesamtumfang des verfügbaren Kapitals; zweitens nach der Art der Zusammensetzung dieses Kapitals.

Obgleich das ökonomische Kapital in seiner Bedeutung von BOURDIEU als grundlegender als die anderen beiden Kapitalformen eingestuft wird, überwindet er mit seinem Ansatz nicht nur einen rein ökonomisch verstandenen Kapitalbegriff, sondern weist darauf hin, dass der Wert des Kapitals gesellschaftlich ausgehandelt wird. Damit werden die wechselseitige Konvertierbarkeit der Kapitalarten sowie damit verbundene Transformations- und Reibungsverluste zu einer empirischen Frage. Anstelle einer vorab postulierten Herkunftsselektivität zielt diese Perspektive auf eine Analyse von Bildungsungleichheiten anhand der Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und institutionalisierten Bildungsprozessen einerseits und dem individuellen Wissen und Können, das im Aushandlungsprozess bewertet, an- oder aberkannt und zu kulturellem Kapital wird.

Mit BOURDIEU lässt sich die Frage der kulturellen Passung auf verschiedenen Ebenen differenzieren. Diese können hier nur skizziert werden und müssten einer weiteren empirischen Operationalisierung unterzogen werden. Auf der Ebene des kulturellen Kapitals, also der Frage nach der Verwertung des Bildungskapitals zeigt sich beispielsweise, dass nach wie vor institutionelle Schließungsmechanismen am Wirken sind. So verfügen bislang nur wenige Hochschulen über einen „Anrechnungsbeauftragten“ (MUCKE/ KUPFER 2011, 224) und „in der Praxis spielt die Anrechnung beruflich erworbener Kompetenzen an den meisten Hochschulen bisher nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle“ (ebd.). In einer Untersuchung zur Umsetzung der Berufsbildungshochschulzugangsverordnung an der Ruhr-Universität Bochum im Auftrag der Hans Böckler Stiftung befürworten die Autoren die „Notwendigkeit der Ausweitung von Brücken- und Vorbereitungskursen“ sowie die Einführung von Kursen in die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens (BUCHHOLZ et al. 2012, 62), um beruflich Qualifizierte den Übergang in die Hochschule zu erleichtern. Die Studie zeigt, dass beruflich Qualifizierte universitäre Wissensvermittlung und universitäres Lernen anders verarbeiten, deuten und verstehen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang BOURDIEUS Überlegungen zum Praxisbegriff. Als eine Art „praktischer Sinn“ spricht Bourdieu jenes Wissen an, dass sich einerseits in konkreten Situationen äußert, sich nur schwer versprachlichen lässt und andererseits die Akteure befähigt, das Verhalten ihrer Interaktionspartner zu deuten (vgl. ALKEMEYER/ BRÜMMER/ PILLE 2010). Die Praxeologie von BOURDIEU sensibilisiert uns darüber hinaus für die körperliche Dimension von Sozialisationsprozessen und eine stärkere Hinwendung zu Materialitäten und Körperlichkeiten. Die sozialen wissensbasierten Praktiken müssen nicht zwangsläufig eine intersubjektive oder interaktive Struktur besitzen, denn im Fokus stehen zum einen die Gebrauchs- und Umgangsweisen mit Artefakten, zum anderen geraten so auch die sozialen Praktiken in den Fokus, die als „Technologien des Selbst“ (FOUCAULT) verinnerlichert sind und keineswegs immer eine Explizierungsfähigkeit oder Explizierungsbedürftigkeit voraussetzen. Es geht um die nicht-sprachlichen, körperlichen Bestandteile sozialer Praktiken als wichtige Ergänzung zu rein kognitivistischen Ansätzen. „Das Soziale ist in den körperlichen Praktiken, in Haltungen, Bewegungen, Gesten und Verhaltensweisen selbst gegenwärtig und damit auch mittels der sozialisierten Sinne eines feldspezifisch gebildeten und in diesem Sinne ‚wissenden‘ Körpers erfassbar“ (ALKEMEYER/ BRÜMMER/ PILLE 2010, 234). Hervorzuheben ist, dass die Körperlichkeit des Handelns aus praxeologischer Perspektive auch intellektuelle Tätigkeiten wie etwa Lesen oder Schreiben umfasst – sich also keineswegs auf sichtbare ‚körperlich aktive‘ gerätebezogene Tätigkeiten beschränkt. Den Praxisbegriff allein auf den betrieblich-beruflichen Bildungstyp zu beziehen, greift daher zu kurz.

Auf der Ebene des ökonomischen Kapitals lassen sich Fragen nach den Studienformaten, der Vereinbarkeit von Beruf und Studium ansiedeln. Veränderte Bildungsstrategien stoßen bei der Umsetzung vielfach noch auf Widerstände angesichts der Unvereinbarkeit von Studienorganisation und arbeits- und lebensweltlichen Bezügen. Eine aktuelle Untersuchung der berufsbegleitenden und dualen Studiengänge bestätigt diesen Eindruck. Der Studie zufolge sind lediglich 5% aller Bachelorstudiengänge berufsbegleitend studierbar (vgl. MINKS. 2011). Hinsichtlich des sozialen Kapitals richtet sich der Fokus auf die Relevanz von Peers, Familien, aber auch Praxisgemeinschaften und Lernorte. Dass Lernprozesse nicht in einem sozialen Vakuum stattfinden, sondern in je spezifischen sozialen und institutionellen Rahmen, ist zwar unbestritten, aber wie diese differenten Erfahrungen sich auf Lernergebnisse und -aspirationen auswirken, wird bislang in der berufspädagogischen und besonders in der fachdidaktischen Forschung vernachlässigt.

4 Fazit

Wir beobachten derzeit gleichermaßen eine Anreicherung beruflicher Bildung durch eine stärkere Wissensbasierung und eine zunehmende Sensibilisierung für Praxisanteile in der akademischen Bildung. Gleichzeitig sind auf formaler Ebene Rahmen geschaffen worden, um die Durchlässigkeit zwischen den beiden Bildungssystemen zu vereinfachen. Dennoch erreichen die Reformeuphemismen im Zuge der Europäisierung des Berufsbildungssystems und der Hochschulen ihre Adressaten nur unzureichend. Der Beitrag hat diese Passungsproblematik vor dem Hintergrund des Habituskonzepts von BOURDIEU diskutiert. Die Differenzierung in die verschiedenen Kapitalien kann hier fruchtbare Anstöße geben. Neben den fachlichen Aspekten entscheidet der jeweilige Lernhabitus darüber, ob und wie sich Berufsbiographien und Bildungstypen entwickeln, wie Wissen angeeignet wird. Eine Untersuchung über die verschiedenen Handlungsschemata sowie damit einhergehende Habitusdifferenzen würde nicht nur die plakative Gegenüberstellung von Erfahrungswissen versus Theorie überwinden, sondern auch der zunehmenden Ausdifferenzierung von Bildungstypen, ihren jeweiligen Problemen bei dem Überwinden von Bildungssystemgrenzen Rechnung tragen. Auf institutioneller Ebene liefert BOURDIEU Impulse für eine stärkere Berücksichtigung der „symbolischen Kämpfe“, der Spieleinsätze der Kapitalien und der Habitusdifferenzen bei der Vermittlung von Wissen.

Darüber hinaus gelänge es, detailliertere Informationen zu den jeweiligen Bildungstypen, ihren Wertorientierungen, Einstellungen, Motiven und Bildungsaspirationen zu gewinnen. Im Anschluss daran ließen sich Aussagen darüber machen, wie (domänenspezifische) berufliche Sozialisationsprozesse nicht nur den beruflichen Habitus prägen, sondern auch Effekte auf weitere Lern- und Bildungsprozesse haben. Dies wäre eine wichtige Ergänzung zu der gegenwärtigen Outcome-Orientierung und der damit einhergehenden Fokussierung auf die Lernergebnisse.

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Opens internal link in current window[1] Dies betrifft beispielsweise den Katalog der anrechenbaren Fortbildungsabschlüsse. Die KMK (2011) bietet zwar eine synoptische Darstellung der länderspezifischen Eigenheiten der Hochschulzugangsberechtigung an, aber auch diese Übersicht unterstreicht eher die Unterschiedlichkeit als eine geordnete Übersicht.

 

Opens internal link in current window[2] Der Begriff der „sozialen Öffnung“ des Hochschulzugangs tauchte bereits in den 1970er Jahren im Zuge der Studien- und Hochschulreformprojekte auf. Damals wollte man die ungleiche soziale Zusammensetzung der Studierenden reformieren und das Studium stärker mit gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen verknüpfen. Auch wenn heute der öffentliche Diskurs in Deutschland eher durch den „Fachkräftemangel“ beherrscht wird, zeigen sich deutliche Parallelen (vgl. WOLTER 2010).

 

Opens internal link in current window[3] Das Verhältnis zwischen Habitus und Feld kennzeichnet sich durch eine wechselseitige Ermöglichung, d.h. soziale Felder bilden sich nicht ohne Habitus aus, und gleichzeitig ist der Habitus selbst das Produkt der Relation mit den jeweiligen sozialen Feldern.

 


Zitieren dieses Beitrages

AHRENS, D. (2012): Bildungstypen und ihr Habitus: Von der Durchlässigkeit zur sozialen Öffnung der Hochschule. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 23, 1-14. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe23/ahrens_bwpat23.pdf  (12-12-2012).


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