bwp@ Spezial 19 - August 2023

Retrieving and recontextualising VET theory

Hrsg.: Bill Esmond, Thilo J. Ketschau, Johannes K. Schmees, Christian Steib & Volker Wedekind

Subjekt(de)konstruktion und Kontingenz – ein autobiografisch inspirierter Beitrag zum berufsbildungstheoretischen Diskurs

Beitrag von Günter Kutscha
Schlüsselwörter: Aufklärung, Autobiografie, Autonomie, Berufsbildungstheorie, Bildung, kontingente Subjektivität, Kontingenz, Moderne, Postmoderne, Subjekt

Kernpunkt berufsbildungstheoretischer Diskurse im deutschsprachigen Raum ist das Verhältnis von Bildung und Beruf. Der im Bildungsbegriff vorausgesetzte Subjektbezug ist aus Sicht des Verfassers nach wie vor maßgeblich von der Idee des autonomen Subjekts als Leitziel pädagogischen Handelns geprägt. Sie geht zurück auf die Protagonisten der Aufklärung (namentlich Immanuel Kant) und deren Einfluss auf die Moderne. Kritische Vorbehalte gegenüber der Moderne und der damit verbundenen Idee des autonomen Subjekts hat es schon seit deren Anfängen gegeben. Im postmodernen Diskurs spitzt sich die Auseinandersetzung mit der Moderne im Schlagwort vom „Tod des Subjekts“ zu. Der vorliegende Beitrag zielt aus guten Gründen nicht darauf ab, der Berufsbildungstheorie einen Paradigmenwechsel vom „Subjekt der Moderne“ zum „postmodernen Subjekt“ nahezulegen. Stattdessen sollen Fragestellungen aus der Kontroverse Postmoderne versus Moderne im Hinblick auf die im berufsbildungstheoretischen Diskurs vernachlässigte Problematik des Zusammenhangs von biografischer Kontingenz und Subjektivität thematisiert und zur Diskussion gestellt werden. Den Ausführungen aus erziehungswissenschaftlich-systematischer Sicht und mit Blick auf den berufsbildungswissenschaftlichen Diskurs werden autobiografische Notizen des Autors vorangestellt. Sie haben den Zweck, Brüche und nicht vorhersehbare biografische Entwicklungen beim statistisch unwahrscheinlichen Aufstieg aus prekären Lebensverhältnissen in eine beruflich privilegierte Laufbahn zu veranschaulichen und auf die Relevanz autoethnografischer Studien hinzuweisen.

T. S. Eliot:
The Cocktail Party

Act One, Scene One

Unidentified Guest:
„... When you’ve dressed for a party
And are going downstairs, with everything about you
Arranged to support you in the role you have chosen,
Then sometimes, when you come to the bottom step
There is one step more than your feet expected
And you come down with a jolt. Just for a moment
You have the experience of being an object
At the mercy of a malevolent staircase …“

1 Vorbemerkungen[1]

Es muss nicht notwendigerweise die „boshafte“ (malevolent) Stufe am unteren Ende der Treppe sein, auf die unsere Füße beim Heruntergehen nicht eingestellt sind und die uns ruckartig stolpern oder stürzen lässt. Immer wieder sind wir mit Vorkommnissen und Widerfahrnissen konfrontiert, bei denen wir im Straucheln abstürzen oder uns auffangen können und die uns vor die Frage stellen, ob es notwendig war oder hätte anders kommen können und wie unser Leben durch das Nicht-Unmögliche oder Nicht-Notwendige hätte anders verlaufen können. Die Gewissheit über uns „selbst“ oder über die „Anderen“ kann dabei aus dem Ruder geraten und im Kuddelmuddel emotional-kognitiver Befindlichkeiten enden: Wer bin „Ich“ als Produkt meiner Erfahrungen und Wahrnehmungen, und wer sind „Wir“ als das Aufeinandertreffen von „Mir“ und „Ihr“ als die „Anderen“? Beim Zitat aus der „Cocktail Party“ von T. S. Eliot geht es um die Trennung eines Ehepaares, also um die Dekonstruktion einer bis zum Lebensende erhofften Bindung. Eine solche Beziehung ist nicht unmöglich, folgt aber auch nicht der strengen Notwendigkeit mathematischer Gesetze. Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Mit diesem landläufig umschriebenen Thema und der damit korrespondierenden Kontingenzproblematik befasst sich aus erziehungswissenschaftlicher und berufsbildungstheoretischer Sicht der vorliegende Text. Vorangestellt ist ein Exkurs mit ausgewählten autobiografischen Notizen des Autors (Teil 2). Alles hätte anders sein können als in diesen Notizen erzählt wird, auch die „eigene“ Wahrnehmung der Biografie. Wahrnehmung im Vollzug der Wahrnehmung kann sich nicht selbst wahrnehmen (vgl. Wiesing 2009), ebenso wenig wie sich das Auge beim Sehen selbst sehen kann.

Selbstredend sind meine „Erinnerungssplitter“ völlig subjektiver Art, auch wenn im „Mich“ der subjektiven Wahrnehmungen intersubjektive Beziehungen und strukturelle Verhältnisse zum Ausdruck kommen. Als „Exkurs“ gekennzeichnet können sie von Lesern und Leserinnen mit Neigung zu streng systematischen Ansprüchen übersprungen werden. Für mich selbst sind diese Erinnerungen anregend als Hinter- oder Untergrund der Auseinandersetzung mit Subjektivität, auch meines professionellen Interesses an „Subjektivität“ im Vollzug beruflicher Bildung. In einem kleinen „Selbstexperiment“ habe ich mich dem Versuch unterzogen, mich zu erinnern, also meine Wahrnehmungen aus Kindheit und Jugend zu rekonstruieren und diese Erinnerungen aufzuschreiben.[2] Dem liegt die durchaus strittige Auffassung zugrunde: Wer sich als Erziehungswissenschaftler mit dem Subjekt der Erziehung beschäftigt, tut gut daran, sich auf Suche nach seinem eigenen „Subjekt“ oder „Selbst“ zu begeben. Ohne Hilfe von Sigmund Freud vielleicht vergebliche (Selbst-) Liebesmüh. Aber aus meiner Sicht erhellend. Dabei drängte sich mir die Frage auf, wer eigentlich das „Subjekt“ (das unzugängliche „Ich“) meiner Erinnerungen sei, das auf das „Mich“ als Objekt dieser Erinnerungen blickt und sich darin konstruiert. Die Differenz von „I“ und „me“ im Auge zu behalten, kann inspirierend und irritierend sein (vgl. Mead 1934).

Im Anschluss an die in den autobiografischen Erinnerungssplittern thematisierten subjektiven Kontingenzerfahrungen wird der Zusammenhang von Subjektivität und Kontingenz im dritten Teil der vorliegenden Abhandlung aus (meta)theoretischer Sicht behandelt. Meine Überlegungen zum Verhältnis von Subjekt(de)konstruktion und Kontingenz aus erziehungswissenschaftlicher und berufsbildungstheoretischer Perspektive sind im engeren Sinne nicht „subjektiver“ Art, wohl aber hoch selektiv, womit (unvermeidbar) biografisch motivierte Akzente gesetzt werden. Das betrifft sowohl den Schwerpunkt auf dem Konzept der „kontingenten Subjektivität“ als auch den kritischen Bezug auf die Berufsbildungstheorie unter Aspekten der, nach meiner Auffassung, im berufsbildungstheoretischen Diskurs vernachlässigten Subjekt(ivierungs)problematik. Die theoretischen Ausführungen können als Interpretationsrahmen für meine eigene Berufsbiografie gelesen und als Anstoß für die im Fazit ausgesprochene Empfehlung verstanden werden, den berufsbildungstheoretischen Diskurs um die Dimension des Zusammenhangs von Bildung, Subjektivität und Kontingenz zu vertiefen. Dabei geht es nicht darum, der Berufs- und Wirtschaftspädagogik anmaßend einen „Paradigmenwechsel“ vom „modernen“ zum „postmodernen Subjekt“ nahezulegen, sondern um das Anliegen, eine Diskussion über die Berücksichtigung der Kontingenzperspektive im Sinne von Aspektvielfalt und offenen Fragen der Berufsbildungstheorie anzuregen (Teile 4 und 5). Das schließt nicht zuletzt den Austausch von Systematischer Pädagogik und Berufsbildungswissenschaft ein. Ein schwerwiegendes Defizit sehe ich darin, dass im Zuge der berufs- und wirtschaftspädagogischen Neuorientierung am Kompetenz- zu Lasten des Bildungskonzepts der Diskurs über das „postmoderne Subjekt“ weitgehend außer Acht gelassen und als Differenz zum Subjektkonzept der Moderne nicht systematisch in die berufsbildungstheoretische Selbstreflexion einbezogen wurde.

2 Exkurs: Autobiografische Notizen anlässlich der Frage nach dem Verhältnis von Subjekt(de)konstruktion und Kontingenz

2.1 Nachkriegserinnerungen aus früher Kindheit – Der Fremde

Winter 1946/47. Es ist bitterkalt. Die Situation ist mir so präsent, dass ich sie nur im Präsenz erzählen kann. Unsere Mutter wohnt als Kriegerwitwe nach Evakuierung aus dem völlig zerbombten Wilhelmshaven mit ihren beiden Söhnen, meinem Bruder (geboren 1941) und mir (1943), in einem Zweizimmer-Behelfsheim am Rande eines ostfriesischen Bauerndorfs. Für mich ist das „Behelfsheim“ keine vorübergehende Notunterkunft. Es ist für viele Jahre meine Lebenswelt. Jetzt, wovon ich erzähle, wird die Wohnküche tagsüber mit selbst gestochenem Torf aus dem nahegelegenen Moor beheizt. Der Winterabend ist hereingebrochen. Noch glimmen Reste von Torf. Flackerndes Kerzenlicht erhellt spärlich den Raum. Mutter sitzt, nackte Hände in einem leeren Kartoffelsack, frierend mit meinem Bruder und mir dicht vor dem Herd. Einsam zu dritt. Ich spüre Angst bei unserer Mutter und bei mir ein Gefühl von Schutzlosigkeit. Kinder suchen Schutz und Trost. Unsere Mutter sucht selbst danach. Mir stehen keine Worte für meine Beklommenheit zur Verfügung. Es ist ein Gefühl ohne Worte. Ein Gefühl, das sich in der Sprache eines Erwachsenen nachträglich nur schwer wiedergeben lässt.

Klopfen an der Tür. Mutter erwidert nicht. Blickt auf die knarrende Türklinke. Die Umrisse eines Mannes betreten den dunklen Bereich unseres Zimmers. Beim Nähern erkenne ich zwei grobe schmutzige Hände. Voll mit rohen Kartoffeln. Der Fremde legt sie auf den Tisch. Mutter lächelt ihn an. Er blickt zurück. Ich spüre, ängstlich auf sein Gesicht fixiert, eine Annäherung an unsere Mutter, die ich nicht einzuordnen vermag. Auch dafür gibt es keine Worte. Nur diffuses Echo aus der erlebten, aber nicht verstandenen Welt meiner frühen Kindheit. Mutter verlässt mit dem Fremden unsere Wohnküche. Schließt die Tür hinter sich. Kehrt nach unendlich empfundener Dauer allein zurück. Legt die Kartoffeln in den Kartoffelsack … und schweigt.

2.2 Disrupte Familienverhältnisse als Entwicklungspotential

Wer war mein Vater? Ich lernte ihn als den „gefallenen“ Mann meiner Mutter im Bilderrahmen an der Wohnküchenwand unseres Behelfsheims kennen. Ein Mann mit schwarzhaariger Fasonfrisur, feinen Gesichtszügen, großen dunklen Augen und schmalem Mund. Er sah anders aus als die Männer unserer Nachbarschaft. Vaters Vorfahren lebten in Polen. Er selbst wurde im Jahr 1896 als Sohn des Bergmanns Johann Kucza in Rudska Kuznica nahe Kattowitz geboren. Dort wuchs er auf, kümmerte sich nach dem Tod seiner Mutter Sofie um seine jüngeren Geschwister (Sofie geriet im Mai 1921 bei den deutsch-polnischen Aufständen nahe Annaberg in einen tödlichen Schusswechsel) und zog in den 1920er Jahren mit seinem Vater nach Wuppertal-Elberfeld. Dort heiratete er die Tochter eines Fabrikanten, in dessen Firma er als ungelernter Monteur arbeitete. Seine Frau nahm sich das Leben. Mit meiner Halbschwester aus dieser Ehe zog er nach Wilhelmshaven, wo er als Monteur bei der Kriegsmarine meine Mutter kennenlernte und heiratete (1940).

Mein Vater hat mich nie gesehen. Sein letzter Brief an unsere Mutter kam aus dem „Feld“ in der Bretagne. Er ist mit dem 29. Juli 1944 datiert. Zehn Tage später starb unser Vater in der Festung Lorient „für Führer, Volk und Vaterland“ den „Heldentod vor dem Feind“, wie es der zuständige Stabschef und Kapitän zur See in „aufrichtigem Mitgefühl“ und mit einem „Heil Hitler“-Gruß meiner Mutter kurz vor Weihnachten mitteilte (Brief vom 20. Dezember 1944). „Die beigefügte Urkunde“, hieß es im Brief, „soll Ausdruck dafür sein, daß Ihr Ehemann in den Reihen der Kriegsmarine nie vergessen wird“. Unser Vater hat es bei Einzug an die Westfront im Alter von 46 Jahren zum „Verwaltungsobergefreiten“ gebracht. Er wurde offenbar schnell vergessen; über die Grablage konnte keine Auskunft erteilt werden.

Das Foto an unserer Wohnzimmerwand hatte unsere Mutter, so ihre spätere Erzählung, gegen Bezahlung in Form eines Anzugs unseres Vaters fachmännisch einrahmen lassen. Dort hing es. Bis unser Stiefvater es voller Wut herunter riss und es wortlos auf den Boden warf. Der schwarz lackierte Rahmen zerbrach, das Glas zersplitterte. Mutter zog die angerissene Fotografie wimmernd und behutsam aus den Scherben. Dann schrie sie auf. Ich stand voller Schrecken daneben, zog mich dann zurück in unseren Torfschuppen. Der Schrecken wich allmählich einem dumpfen Gefühl von Hoffnung und Erleichterung darüber, dass das Vater-Phantom für immer aus unserem alltäglichen Lebenszusammenhang verschwunden sein würde.

Der „Fremde“ aus früher Kindheit war inzwischen unser Stiefvater geworden. „Jonny“, so nannte ihn unsere Mutter. Jonny war zehn Jahre jünger als sie, gelernter Maurer. Für meine Mutter als Kriegerwitwe mit zwei Kindern offenbar eine „Nachkriegsinvestition“. Jonnys Eltern besaßen eine kleine Landwirtschaft als Nebenerwerbsstelle in der Nähe unserer Wohnung. Daraus erhielten wir Gemüse und Milch, manchmal Fleisch.

Die Hochzeit unserer Mutter und Jonny fand im Sommer 1947 statt. Bei strahlendem Sonnenschein. Das Brautpaar hatte sich dem Anlass entsprechend fein gemacht. Mit einem Kostüm aus Mutters ersten Ehe und einem geliehenen Anzug für ihren neuen Mann. So standen sie da. Am Brunnen vor unserem Behelfsheim. Bereit zum Weg in die kleine Dorfkirche, in der die Trauung stattfinden sollte. Mein Bruder hatte sich versteckt. Ich sah dem Brautpaar zu. Mit einer Kinderschubkarre in den Händen. Voll mit schöner bunter Kreide. Karre und Kreide hatte mir Mutters älteste Schwester zur Beruhigung meiner mutmaßlich verletzten Gefühle geschenkt. Es war nicht geplant, was nun geschah. Nichts im Kinderkopf, was bewusst meine Handlung steuerte. Meine Beine rannten einfach los. Mit Karre und Kreide. Direkt zu auf das mit schwarzer, dezent gestreifter, aber in Übergröße leicht schlottrig wirkenden Hose bekleidete Schienbein des Bräutigams. Jonny sprang in die Höhe. Mit schmerzverzerrtem Gesicht. Fluchend. Ohne Rücksicht auf Mutter, ihre Schwester und die wenigen Gäste aus der Nachbarschaft. Erschrocken und ängstlich sah ich dem aus Selbstkontrolle geratenen Mann zu. Er presste sich an den Brunnenrand. Tief atmend. Mutter stand neben ihm, ihn beruhigend. Ihre Schwester redete auf mich ein. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte, legte die Kreide wieder sorgfältig in die Kinderschubkarre und hatte bei aller Erschrockenheit das stolze Gefühl, gewonnen zu haben.

Ich bin mit der „Schubkarre“ meiner Kindheit durchs Leben gezogen. Gegen herkunftsbedingte Barrieren, aber ohne Schamgefühle oder spürbares Empfinden sozialer Benachteiligung.[3] Das habe ich – resistent gegenüber tiefenpsychologischer Fremddeutung – meinem Stiefvater zu verdanken. Der Stiefvater als mein praktischer Erzieher tat nichts, was die Pädagogik von einem „Erzieher“ erwartet. Im Gegenteil, aber mit Erfolg für meine weitere Entwicklung. Er förderte meinen Eigensinn und mein Gefühl der Unabhängigkeit von sozialen Erwartungen. In den Ferien durfte ich ihn auf Baustellen begleiten und Mörtelfugen glätten. Stundenlang. Ich brachte es zu hoher Perfektion. Kein Mörtel haftete am Mauerwerk, wenn ich es mit eigener Maurerkelle und Maurerfuge bearbeitet hatte. Mein Stiefvater zeigte es stolz seinen Kollegen. Am wöchentlichen Zahltag ging er in die Dorfkneipe und besoff sich. Mutter schickte mich, ihn abzuholen. Er ließ es zu, nur mir. Linkerhand schob ich mühsam sein schweres Fahrrad mit Werkzeugtasche; meine rechte Schulter nutzte er, um sich beim Gang nach Hause hin und wieder abzustützen. Unterwegs fragte er in regelmäßigen Abständen: „Jung, hest du dat Rad?“ Und ich war stolz, seine Frage bejahen zu können. Daraufhin kamen in gebrochener Sprache lobende Bemerkungen. Mutter empfing uns an der Haustür, trennte uns mit der Aufforderung an mich, zu verschwinden, und begann ein fürchterliches Geschimpfe. Ich zog mich zurück in den schon erwähnten Torfschuppen.

Die Trennung meiner Nachkriegseltern fand ich bedauerlich, weil der Kontakt zu meinem Stiefvater verloren ging. Wohltuend fand ich die Ruhe, die in unser Behelfsheim einkehrte. Mutter zog bald mit meinem Bruder und mir nach Emden, ihrer Heimatstadt. Dort ist sie im Jahr 1915 als jüngstes von sieben Kindern geboren. Ihre Eltern entstammten einer ostfriesischen Landarbeiter- und Fischerfamilie.

2.3 Aus- und Durchbrüche im Jugendalter

Unsere Mutter hatte eine Wohnung in einer von Flüchtlingen und Evakuierten frequentierten Baracken- und Neubausiedlung gefunden. Es handelt sich um einen Stadtteil, der in den 1930er Jahren als Arbeitersiedlung entstand. Als Jugendlicher nahm ich diese Wohngegend eher als Siedlung strebsamer Neubürger mit einem Hang zur Spießigkeit wahr. Die Männer waren überwiegend im Emder Hafen als (Hilfs-)Arbeiter tätig, legten korrekt ihre Vorgärten an und leisteten sich von ihrem Lohn so früh wie möglich einen Fernseher, mit dem sie und ihre Familien sich gemeinsam das Wochenende teilten.

In Emden besuchte ich die Realschule. Das negative Image unserer Siedlung war verbunden mit direkter und unterschwelliger Ausgrenzung. Das machte den Kontakt zu meinen Mitschülern und Mitschülerinnen nicht einfach. Als mir schließlich Nichtversetzung und sogar Entlassung aus der Schule angedroht wurde, zog ich die Reißleine. Ich verließ im Jahr 1960 sechzehnjährig die Realschule als „Klassenbester“ und erhielt dafür als Auszeichnung die „Atomwelt – Wunderwelt“ von Issac Asimov. Das Buch habe ich mehrfach gelesen und damals stolz auf dem Nachttisch aufbewahrt. Heute steht es als Trophäe in einem meiner überdimensionierten Bücherregale.

Der „blendende“ Realschulabschluss war für mich zunächst ein „Durchbruch“. Dann folgte die Niederlage. Es war mein dezidierter Berufswunsch, Schiffsbauer bei den Rheinstahl-Nordseewerken zu werden, um danach ein Fachschulstudium (die Fachhochschule bestand noch nicht) für Schiffsbauingenieure anzuschließen. Mein Abschlusszeugnis an der Realschule gab mir die Hoffnung, bei den Nordseewerken als Lehrling eingestellt zu werden. Doch nach dem Gesundheitstest erhielt ich eine schriftliche Absage wegen starker Kurzsichtigkeit und Gleichgewichtsstörungen (von denen ich weder etwas wusste noch spürte). Die Nachricht mit dem Schlussstrich unter meinen Bewerbungsaktivitäten traf am frühen Vormittag ein. Für mich niederschmetternd. Noch am selben Tag packte ich in Abwesenheit unserer Mutter einige Wäschestücke, ein Fahrtenmesser, ein paar Lebensmittelkonserven und meine Spardose in meinen Pfadfinderrucksack, schnallte darüber einen Schlafsack und ging – ohne Haustürschlüssel. Drei Tage versuchte ich bei einem Überseefrachtschiff anzuheuern. Vergeblich, weil es mein Alter, fehlende Zustimmung von Erziehungsberechtigten und nicht vorhandener Pass nicht zuließen. Nachts schlief ich auf dem Gelände einer Werft, auf der ich in den Schulferien zum Holzentladen gearbeitet hatte, um mir mit dem Geld aus wirklich schwerer Kinderarbeit meine Pfadfinderausrüstung, Bücher und Fahrten leisten zu können. In der dritten Nacht wurde ich vom Wachdienst aufgescheucht. Ich verließ unfreiwillig das Gelände, trieb mich für den Rest der Nacht im Hafen herum und ging nach Hause. Es war kurz nach sechs Uhr. Durch das Küchenfenster sah ich schon Licht. Mutter schloss die Tür auf und sagte mit verweinten Augen: „Da bist du ja.“ Mehr nicht. Wir haben nicht über meinen Ausbruchsversuch gesprochen. Aber mir war klar, dass ich auf diese Weise mein Leben nicht in den Griff kriegen würde. Mehr oder weniger zufällig bewarb ich mich auf eine Stellenanzeige bei der örtlichen Sparkasse, wo ich sofort angenommen wurde, und absolvierte eine Lehre im kommunalen Spar- und Kreditwesen. Mit „gutem“ Erfolg.

Schon nach wenigen Tagen hatte ich die Lehre abbrechen wollen. Nicht aus Unzufriedenheit mit der Arbeitsumgebung oder dem Ausbildungspersonal, sondern weil ich der Tätigkeit als Sparkassenkaufmann keinen Sinn abgewinnen konnte. Was bedeutet „Sinn“ im Zusammenhang mit der Berufswahl oder der beruflichen Tätigkeit? Hätte eine gute Berufs- und Erwerbsorientierung mir helfen können? Ich weiß es nicht. Ausschlaggebend war für mich, die Lehre zum Abschluss zu bringen. Was trieb mich an? Auch das weiß ich nicht genau. Wie auch immer. Ausbildung und Arbeit haben mich verändert. Im wissenschaftlichen Diskurs wird von der Bedeutung der Berufsausbildung und Erwerbsarbeit für das Subjekt, von „Subjektivierung“ gesprochen (Kraus 2022). Aber wer und was ist das „Subjekt“? Nur eine Metapher? Aber wofür?

2.4 Sozialer Aufstieg – eine statistisch „unwahrscheinliche“ Bildungs- und Berufslaufbahn

Letztere Fragen kommen bei der Darlegung des Lebenslaufs in beruflichen Bewerbungsverfahren nicht oder nur selten vor. Für derartige Zwecke lässt sich meine Vita reducta kurz und bündig wie folgt zusammenfassen: Realschulabschluss mit Mittlerer Reife (1960), Berufsausbildung im kommunalen Sparkassen- und Kreditwesen mit „gutem“ Abschluss als Bankkaufmann (1960 bis 1962), Besuch des Wirtschaftsgymnasiums mit Abschluss der Allgemeinen Hochschulreife und einer Empfehlung für eine Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes (1963 bis 1966), Studium der Wirtschaftswissenschaften, des Rechts, der Soziologie und der Wirtschaftspädagogik mit dem Abschluss als Diplom-Handelslehrer an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1966 bis 1970), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft und postgraduiertes Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Volkswirtschaftslehre mit dem Abschluss als „Doktor der Philosophie“ (summa cum laude) an der Universität Münster (1970 bis 1975), Mitarbeiter in der Wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs Kollegstufe in Nordrhein-Westfalen unter der Leitung von Herwig Blankertz (1974 bis 1976), Professuren für Wirtschaftspädagogik an der Ruhr-Universität Bochum (1976/77), für Wirtschaftswissenschaften und ihre Didaktik an der neu gegründeten Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (1977 bis 1981), für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung an der Universität Duisburg-Essen (1981 bis zur Emeritierung 2008).

Diese Auflistung macht den Eindruck einer eher peinlichen selbstbezogenen Erfolgsdarstellung. Soll sie aber nicht sein. Der darin vor dem Hintergrund meiner Kindheit und Jugend zusammengefasste „Aufstieg“ ist nur eines von vielen Beispielen statistisch unwahrscheinlicher Bildungs- und Berufslaufbahnen. Aufsteiger durch Bildungsprozesse sind kein Seltenheitsphänomen; sie werden geradezu als „Prototyp der Moderne“ bezeichnet (Alheit/Schömer 2009). Statistisch betrachtet, ist die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus armen und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen hoch signifikant. Indes geht die an „Gesetzen der Wahrscheinlichkeit“ orientierte ungleichheitsbezogene Bildungsforschung – wie Albert Scherr (2014, 292) formuliert – mit einem theoretisch unzureichenden Verständnis sozialer Subjektivität einher. Das heißt:

„Die auch eigensinnige Auseinandersetzung von Einzelnen, Familien und Gruppen mit den ihnen zugemuteten Bedingungen und Erfahrungen, ihre über das bloße Ausagieren verinnerlichter Dispositionen und den Nachvollzug sozialer Erwartungen hinausgehenden Praktiken, Entwürfe und Strategien werden vernachlässigt“ (Scherr 2014, 292).

Im Fall meiner eigenen Biografie liegt die Interpretation nahe, ich wollte der als bedrückend erfahrenen Lebenswelt durch Bildungsanstrengungen entkommen. Mag sein. Jedenfalls habe ich nie das Gefühl an mich herangelassen, „benachteiligt“ (worden) zu sein. Warum? Offenbar ist der Genese individueller Subjektivität und systematisch nicht näher bestimmbarer Komplexität und Eigendynamik von Aufstiegsprozessen mit der Auswertung quantitativer Individualdaten nicht beizukommen. Es handelt sich dabei „um (psycho-)soziale Prozesse, die eine Veränderung habitueller Dispositionen anstoßen und erfordern“ (Scherr 2014, 303). Sie können sich als Belastungen darstellen, aber auch als „Anstoß für reflexive Bildungsprozesse wirksam werden“ (Scherr 2014, 303). Die damit zusammenhängenden Fragen und Probleme sollen hier weder für den Fall der eigenen Biografie aufgearbeitet noch im Hinblick auf die soziologische Bildungsforschung vertieft werden. Vielmehr konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf den pädagogischen Diskurs, um das im Zusammenhang mit „unwahrscheinlichen Bildungsprozessen“ (aber nicht nur dort!) virulente Problem der Subjektivität, wie in den Vorbemerkungen angekündigt, aus tendenziell pädagogisch-systematischer Sicht und mit Blick auf eine „Philosophie berufs- und erwerbsorientierter Bildung“ zu erörtern. Hierbei steht als Erkenntnis leitendes Interesse der Zusammenhang von Subjektivität und Kontingenz im Vordergrund, und zwar als eine mögliche, aus meiner Sicht lohnenswerte Beobachterperspektive, auch im Hinblick auf meine eigene Biografie. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

3 Subjektivität und Kontingenz – Aspekte aus erziehungswissenschaftlicher Sicht

3.1 „Chamaeleon“ versus „Selbst“

Die in den biografischen Notizen angesprochenen „Entwicklungsaufgaben“ (vgl. Havighurst 1974) betreffen Probleme fragiler Beziehungen in der primären Sozialisation, milieubedingter Konflikte im Schulalltag und kontingenter Berufswahlereignisse. Es mag Zusammenhänge zwischen den dabei zeitlich nacheinander gemachten Erfahrungen geben, aber nicht notwendigerweise. Andere Entwicklungen meiner Biografie wären unter dem Einfluss existentiell herausfordernder „Dramen“ wie der ersten gescheiterten Liebesbeziehungen im Jugendalter oder der Tod nahestehender Bezugspersonen nicht unmöglich gewesen.[4] Die berufliche Laufbahn des Autors sieht zwar – von außen betrachtet – stromlinienförmig aus. Sie beruht aber nicht nur auf Resilienz und eigenen Leistungen, sondern hängt unauflöslich mit kontingenten Ereignissen der Umwelt, insbesondere den Einflüssen anderer Personen zusammen, und zwar so, wie diese Kontingenz in „ökologischen Entwicklungskontexten“ (vgl. Bronfenbrenner 1981) vom Autor der hier geteilten „Erinnerungssplitter“ erlebt und vom jeweiligen (ebenfalls kontingenten) „Mich der Wahrnehmung“ hervorgebracht wurde (vgl. Wiesing 2009). Sie erlauben keinen Einblick in den Zusammenhang, mit dem die Idee (oder Ideologie?) subjektiver Identität verbunden ist.

Identität über Erinnerungen und Subjektkonstruktionen herstellen zu wollen, um für Konsistenz in der eigenen Biografie zu sorgen, ist ein fragwürdiges, wenn nicht aussichtsloses Unterfangen. Ergiebiger, wenn auch beschwerlicher scheint es zu sein, sich in „selbstreferentieller Kontingenz“ verstehen und akzeptieren zu lernen. So hat es Hans Bokelmann formuliert. Ihm habe ich maßgeblich meinen Weg vom Behelfsheim zur Alma Mater, vom Studierenden aus prekären Verhältnissen zur hochdotierten Professur für Erziehungswissenschaft zu verdanken.[5] Im Resümee der Schlussvorlesung anlässlich seiner Emeritierung, veröffentlicht unter dem Titel „Der Mensch – ein Chamaeleon“, heißt es:

„Der sinnlich-konkrete, leibhaftige Mensch ist vielteilig: ohne einheitlichen oder gar vereinseitigten Halt; nicht autonomes ‚Subjekt‘ … Dieser nicht festgelegte, bedingt freie Mensch ist höchst verletzlich und antastbar, indem er sich im Entgrenzen und Begrenzen mit anderen zu bestimmen versucht.“ (Bokelmann 2000, 660)[6]

Das war „postmodern“ gedacht.

In der wissenschaftlichen Literatur wird abstrakt davon gesprochen, der postmoderne Diskurs reflektiere den umfassenden kulturellen Transformationsprozess der Moderne und dessen Konsequenzen für das Subjekt. Jean-Francois Lyotard kommt dem Kern der Postmoderne im Hinblick das „postmoderne Subjekt“ näher: „Das Beunruhigende für den Menschen ist, daß ihm seine (angebliche) Identität als ‚menschliches Wesen‘ entgleitet ...“ (Lyotard 1985, 79f.).

Hans Bokelmann verzichtete darauf, Menschen abstrakt als „Subjekt“, gar als „autonomes Subjekt“ zu kategorisieren. Und er grenzte sich damit ab vom pädagogisch-emphatischen Anspruch der „Erziehung“ als „Befreiung des Menschen zu sich selbst“, mit dem Herwig Blankertz „Die Geschichte der Pädagogik“ schließt (Blankertz 1982, 302).[7] Was ist „Befreiung“? Und noch einmal penetrant gefragt: Wer und was ist das „Selbst“ dieser „Befreiung? Kann man zum „Subjekt“ oder „Selbst“ erziehen oder erzogen werden? Wäre es im Erziehungsprozess nicht zielführender, heranwachsende Menschen beim Umgang mit der Kontingenz ihrer Lebenswelt und ihres Lebens zu unterstützen und sich von der Vorstellung zu verabschieden, es gäbe einen „Lebenslauf“, in dem das nach pädagogischem Anspruch autonome „Selbst“ im Hinter- und Untergrund Regie führt?

Das „Selbst“, von dem Herwig Blankertz spricht, ist emphatisch-emanzipatorisch gemeint und impliziert in der Tradition europäischen Bildungsdenkens die Ideen von „Freiheit“ und „Mündigkeit“. Als „Selbstkompetenz“ ist es im Zuge der normativen Subjektivierung von Arbeit (vgl. Baethge 1991) inzwischen funktional vereinnahmt worden: transformiert in ein „Selbstbemeisterungsselbst“, „das sich äquivalent zum unternehmerischen Selbst verhält und unter Erfolgszwang agiert“ (Reichenbach 2004, 197). Die neuen Formen der Subjektivierung entpuppen sich, so Michael Wimmer (2016) in Anlehnung an Michel Foucault, als Konfiguration von Macht, Wissen und Selbsttechnologie und seien den Gesetzen der Markteffizienz und Systemerhaltung verpflichtet. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zeichnen sich innerhalb erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Diskurse Tendenzen zur Entsorgung des Bildungs- und Berufsbegriffs vom Ballast sowohl traditioneller als auch kritischer Subjektbezüge ab (vgl. u. a. Elster 2007; Voß/Pongratz 1998).

3.2 Postmoderne Subjektkritik kontra autonomes Subjekt der Moderne

Der Rückblick auf die Biografie meiner Kindheit und Jugend und auf meinen beruflichen Werdegang legt die Banalität nahe: Es hätte auch anders kommen können. Bei der Entscheidung für den Studienplatz an der Universität in Frankfurt am Main waren nicht wissenschaftliche Erwägungen, sondern persönliche Umstände maßgebend. Mit dem Abschluss als Diplom-Handelslehrer (1970) entschied ich mich nicht für die übliche Ausbildung im Schuldienst an kaufmännisch-beruflichen Schulen, sondern folgte dem Wechsel Hans Bokelmanns vom Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik auf die Professur für Allgemeine Pädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Münster (vgl. Kutscha 2019a). Kurz zuvor hatte Herwig Blankertz ebendort nach seiner Tätigkeit am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik an der Freien Universität Berlin (1966 bis 1970) den Ruf auf die Professur für Pädagogik und Philosophie angenommen (vgl. Kutscha 2019b). Wenig später übernahm er die Leitung der Wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs Kollegstufe in Nordrhein-Westfalen, in der ich dann als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Aus meiner Sicht ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu meiner Laufbahn als Hochschullehrer.

Das alles war für mich nicht voraussehbar und planbar. Noch einmal: „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt“. Mit dieser Volksweisheit veranschaulicht Norbert Ricken den Kern dessen, was mutatis mutandis mit „Kontingenz“ gemeint ist und von ihm in einem darauf gerichteten Forschungsprojekt und in seiner Dissertation „Subjektivität und Kontingenz“ (1999a) grundlagentheoretisch bearbeitet wurde.[8] Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis von Subjektivität und Kontingenz beziehen sich schwerpunktmäßig auf seine Arbeit. Auslöser der Kontingenzstudien von Norbert Ricken war der im Theorienpluralismus sichtbar gewordene Selbstverständigungs- und Begründungsstreit innerhalb der (systematischen) Erziehungswissenschaft und das darin involvierte Problem des Subjekts als einer zugleich umstrittenen wie (scheinbar) nicht aufgebbaren pädagogischen Grundkategorie. Sein Ansatz und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen im Konzept der „kontingenten Subjektivität“ verdienen aus meiner Sicht besonderes Interesse, weil die dabei hergestellte Verbindung von Subjekt und Kontingenz es erlaubt, die Zentralität des Subjektbegriffs zu dekonstruieren, ohne die – insbesondere bei Blankertz – im pädagogischen Subjekt- bzw. Selbstkonzept implizierte edukative Eigenstruktur der Erziehung zu negieren oder auszublenden.

Zunächst: Worum geht es überhaupt, wenn über „Kontingenz“ gesprochen wird? Ricken knüpft an den aristotelischen Kontingenzbegriff an. Danach ist Kontingenz etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist. Gegebenes wird dabei als Nichtnotwendigkeit und im Hinblick auf mögliches Andersseinkönnen wahrgenommen. Das scheint auf den ersten Blick banal und als Banalität für Theorie und Praxis pädagogischen Handelns tabu zu sein. Jedenfalls ist Umgang mit und Bewältigung von Kontingenz eher selten Thema der (Berufs-) Pädagogik. „Thema der Pädagogik ist die Erziehung“ heißt es kurz und bündig bei Herwig Blankertz (1982, 306) in der oben zitierten „[Die] Geschichte der Pädagogik“. Bei „Erziehung“ ist das Subjekt der Erziehung mitgedacht, und zwar bei Herwig Blankertz – wie bereits angedeutet – als autonomes, auf Mündigkeit hin angelegtes Subjekt. Seinen Ansatz (der emanzipatorischen Pädagogik) mit Norbert Rickens Konzept der „kontingenten Subjektivität“ zu konfrontieren, schließt ein, sich dem „Diskurs menschlicher Selbstbeschreibungen“ zuzuwenden (Ricken 1999b, 211). Ricken wählt hierzu zwei Einstiegspunkte: Immanuel Kants Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung“ als „Magna Charta“ der Aufklärung und die davon maßgeblich beeinflusste Moderne sowie Michel Foucault als einen der Protagonisten postmoderner Subjektkritik.

Immanuel Kants berühmter „Wahlspruch“ bei der Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ lautete bekanntlich: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1783/1964, 53). Das zugrundeliegende Subjektverständnis basiert auf vernünftiger Selbstbestimmung und Autonomie. Die durch Vernunft konstituierte Autonomie des Menschen ist für Immanuel Kants Überlegungen Legitimation für die Würde des Menschen und des Subjekts als Zweck „an sich“. Die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten für die Theorie der Erziehung ergeben sich daraus, dass der Mensch bei Geburt noch nicht imstande ist, vernünftig zu handeln. Folgerichtig heißt es: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (Kant 1803/1964, 699). Pädagogik hat mithin eine „paradoxale Grundstruktur“ (Wimmer 2016, 29); sie besteht nach Immanuel Kant in dem „größesten Probleme der Erziehung“, „wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Kant 1803/1964, 711). Erziehung als Prozess der Subjektivierung lässt sich bei Immanuel Kant als „noch nicht, aber dann“-Struktur charakterisieren. Ihr liegen Vernunft und Autonomie des Subjekts als konstitutive Bedingung der Möglichkeit von Erziehung zugrunde, aber Erziehung beginnt „noch nicht“ mit dem mündigen Subjekt, sondern mit „Zwang“, damit „dann“ durch Erziehung ein sich seines Verstandes bedienender Mensch entsteht.

Aus dem breiten Spektrum kritischer Einwände gegen das Konzept des autonomen Subjekts bei Immanuel Kant sei hier auf grundsätzliche Einwände aus dem Umkreis der Poststrukturalisten, namentlich auf die Position von Michel Foucault verwiesen. Sie können verstanden werden als „Plädoyer gegen neuzeitlich-modern propagierte Anmaßung, Selbstüberhebung und Selbstüberanstrengung“ (Ricken 1999b, 213) und spitzten sich zu im Slogan vom „Tod des Subjekts“. Michel Foucault vermeidet insbesondere in der Spätphase seines Werks solche Radikalisierung, hält aber fest an seiner grundlegenden Kritik an „Illusionen vom autonomen Subjekt“ (Meyer-Drawe 2000). Was Michel Foucaults Auseinandersetzung mit Immanuel Kant betrifft, sei an dieser Stelle die kleine Schrift „Qu’est-ce que les Lumières?“ („Was ist Aufklärung?“) hervorgehoben.[9] Sie ist kurz vor seinem Tod (1984) veröffentlicht worden und geht auf eine Vorlesung aus dem Jahr 1983 am Collège de France in Paris zurück, wo Michel Foucault Inhaber des Lehrstuhls „Geschichte der Denksysteme“ war.

Mit Immanuel Kant teilt Michel Foucault in dieser Schrift den Standpunkt, dass „Aufklärung“ nicht nur der Prozess sei, durch den Individuen ihre persönliche Gedankenfreiheit in Anspruch nehmen und diese ihnen garantiert wird. Aufklärung gäbe es nur, wenn individuell und kollektiv freier Gebrauch sowie universeller und öffentlicher Gebrauch unter dem Primat der Vernunft gleichermaßen zur Geltung kommen (können). Das bringt Michel Foucault zur Frage: Wie kann die öffentliche Nutzung der Vernunft und des Verstandes sichergestellt werden? „Aufklärung“ wird bei Foucault unter diesem Aspekt zu einem politischen Problem und einer Machtfrage. Modernität unter dem Anspruch von Aufklärung sei keine Tatsache, sondern der Wunsch, die Gegenwart zu „heroisieren“. Heroisierung als „Haltung der Moderne“ sei verbunden mit der Entschlossenheit, sich die Gegenwart nicht anders vorzustellen als sie ist; sie nicht zu verwandeln, indem man sie zerstört. Foucault plädiert für eine „Haltung“ und ein „Ethos“, in dem die Kritik an dem, was wir sind, sowohl eine historische Analyse der uns gesetzten Grenzen als auch ein Test ihrer möglichen Überschreitung ist.[10] Dieses philosophische Ethos charakterisiert Foucault als „grenzwertige Haltung“ bzw. „attitude limite“, als Kritik von Grenzen und Reflexion darüber. Es ist eine Ablehnung dessen, was Foucault gern „Erpressung“ bzw. „chantage“ der Aufklärung nennt: moralische Verpflichtung auf den Verstand des vermeintlich autonomen Subjekts mit dem Anspruch auf Wahrheit, ein Anspruch, der unter historischen Machtverhältnissen nicht einzulösen sei. Auf das Subjekt bezogen, stellen sich bei Michel Foucault Anschlussfragen wie diese: Wie haben wir uns als Subjekte unseres Wissens konstituiert? Wie haben wir uns als Subjekte konstituiert, die Macht ausüben oder erleiden? Wie haben wir uns als moralische Subjekte unseres Handelns konstituiert? Michel Foucault schätzt die Möglichkeit der Beantwortung dieser Fragen skeptisch ein. „Es ist wahr, dass wir die Hoffnung aufgeben müssen, jemals Zugang zu einem Standpunkt zu erhalten, der uns Zugang zu vollständiger und endgültiger Kenntnis dessen verschaffen könnte, was unsere historischen Grenzen darstellen könnte“ (Foucault 1984).[11]

Autonomie erweist sich auf diesem Hintergrund, wie Norbert Ricken (1999b, 217) in seiner Besprechung des Ansatzes von Foucault festhält, „nicht nur als ‚angemaßte Selbstillusionierung‘, sondern als Figur einer subtilen Machtausübung“. Bezogen auf die von Immanuel Kant konzipierte Subjektbehauptung wird der Streit ums Subjekt als „Streit um dessen Kontingenz“ gelesen und interpretiert. Für die Erziehungswissenschaft ergibt sich daraus eine grundsätzlich neue Sichtweise im Umgang mit Problemen, die sich stellen, wenn sich das „Subjekt“ dem unmittelbaren „Zugriff“ der Erziehung oder (konkreter) den beabsichtigen Einwirkungen seitens der beteiligten Erziehungsakteure entzieht. Bezieht man Subjektivität und Kontingenz aufeinander, wie Norbert Ricken in seinen Arbeiten, eröffnen sich Perspektiven nicht nur für ein neues Verständnis menschlicher Selbstdeutungen, sondern auch für die Reformulierung pädagogischer Fragestellungen und Interventionen in Bezug auf die unterschiedlichen Handlungsfelder der Pädagogik, etwa der beruflichen Bildung.

3.3 „Kontingente Subjektivität“

Dem Subjektkonzept der Moderne bzw. Postmoderne von Immanuel Kant und Michel Foucault begegnet Norbert Ricken mit dem Entwurf der „kontingenten Subjektivität“. Weder fällt Kontingenz in dieser Perspektive mit Beliebigkeit und Willkür in eins noch ist Subjektivität als geschlossenes Selbst konfiguriert. Subjektivität muss nach Norbert Ricken als kontingent begriffen werden, weil – und darin teilt er die Auffassung Michel Foucaults – die historische Rekonstruktion und die dabei aufgedeckten Machtstrukturen deutlich machen, dass die mit ihm verbundenen emphatischen Hoffnungen auf praktische, theoretische und moralisch-ethische Emanzipation letztlich nicht in Erfüllung gegangen sind (und nicht in Erfüllung gehen können). Das unterstreicht die bei Michel Foucault herausgearbeitete Ambivalenz der Aufklärung am Beispiel von Immanuel Kant und die Dekonstruktion des „modernen Subjekts“.

Aber wie lassen sich Subjektivität und Kontingenz im Konzept der ‚kontingenten Subjektivität‘ verknüpfen, ohne wiederum in Widersprüche zu geraten? Norbert Ricken plädiert dafür, das Verständnis vom Menschen in seiner anthropologischen Konstitution und im Hinblick auf seine Subjektivität „als Problem offenzuhalten“ (Ricken 1999b, 220). So lasse sich

„Subjektivität aus einer kontingenztheoretischen Perspektive zunächst als ein ‚praktisches Selbstverhältnis‘ verstehen, sich zu sich selbst und damit zu allen und zu allem anderen verhalten zu müssen, ohne sich selbst oder andere wie anderes zu einem Fixpunkt ausbauen zu können“ (Ricken 1999b, 221).

Die hiermit angesprochene „Relationierung“ konstituiert „Subjektivität“ als Modalität menschlicher Entwicklung. Somit verschwindet das Subjekt nicht, wie es bei den radikalen Poststrukturalisten postuliert wird, aber es ist als „Ich-Subjekt“ nicht direkt zugänglich, weder vom Subjekt selbst noch von anderen. Mit anderen Worten: „das Selbst lässt sich nicht als ursprüngliches Ich, sondern nur als ein Sich verstehen, das sich im Ich erzählt“ (Ricken 1999b, 223).[12]

Norbert Rickens Konzept der kontingenten Subjektivität ist unverkennbar vom „Humanismus des anderen Menschen“ bei Emanuel Levinas (1989) mitbeeinflusst. Gegenüber der solipsistischen Struktur eines in sich zentrierten und sich als autonom begründenden Subjekts versucht Emanuel Levinas eine andere, nicht im Selbst begründete Ausrichtung zu gewinnen. Sie ist zentriert auf die Verantwortlichkeit des Subjekts für den Anderen. Auch wenn Norbert Ricken sich kritisch mit der bedingungslosen Fixierung des Subjekts auf den „Anderen“ auseinandersetzt und sich davon abgrenzt, ist in seinem Konzept der Bezug auf den ‚Anderen“ als Voraussetzung für Subjektivitätsentwicklung konstitutiv. Da dies aber nicht nur für das „Ich“ bzw. „Selbst“ des Subjekts, sondern auch für das „Ich“ bzw. „Selbst“ der Anderen gilt und der Mensch sich selbst nur als Relation zu anderen Menschen verstehe, lasse sich kontingente Subjektivität weder als Autonomie noch als Heteronomie beschreiben, sondern sie müsse als das nicht-definite „Zwischen“ von Ich und Anderen verstanden (Ricken 1999b, 224) und perspektivisch dem pädagogischen Denken und Handeln zugrunde gelegt werden (Ricken 1999b, 224).

Die Kernthese bei Norbert Rickens Ausführungen zu den pädagogischen Implikationen der kontingenten Subjektivität lautet: „Anderswerden statt Selbstwerden“. Es geht nicht nur um „Relationalität“ und „Konditionalität“ des Menschen, sondern um die Möglichkeit und Ermöglichung, anders werden zu können, es geht um „Selbstveränderung durch Welterfahrung“ (Ricken 1999b, 231). Im Rückbezug auf Hans Bokelmann (2000), auf dessen Abschlussvorlesung an dieser Stelle noch einmal verwiesen sei, schließt sich die Frage an: „Wie können Kinder und Jugendliche sich selbst erlernen, sprich: entdecken, was sie sein wollen, und fragen, wer sie sind; und in eins hiermit: wie sie ‚Wirklichkeiten‘, die sie nicht sind – andere Menschen, menschengeschaffene und politische Ordnungen sowie außermenschliche Natur – erfahren, beurteilen und mitgestalten können. Welterlernen und Sichselbsterlernen machen pädagogisches Handeln erst möglich“ (Bokelmann 2000, 652).

Zur Diskussion steht mithin: Kontingente Subjektivierung als Lernprozess. Lernen berührt dabei wesentlich die Angewiesenheit auf andere, die Lernen als Anderswerden allererst ermöglichen. Die eigene Konstitution im Lernprozess aber könne nicht von außen beobachtet und sozusagen „objektiviert“ werden, so Norbert Ricken, sie sei allemal nur als Lebensgeschichte erzählbar und so fortdauernd auf Selbstverständigung bezogen (Ricken 1999b, 231).

4 Kontingente Subjektivität als Herausforderung an den berufsbildungstheoretischen Diskurs

Mein Studium der Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (1966 bis 1970) fand statt in der Wendezeit von der „klassischen“, in Anlehnung an Eduard Sprangers kulturpädagogisch begründeten Berufsbildungstheorie zur „Neuorientierung der Wissenschaftstheorie der Berufspädagogik“ (vgl. Lipsmeier 1975)[13]. Dieser Vorgang war überlagert vom sozialwissenschaftlichen Paradigmenstreit zwischen Vertretern der Kritischen Theorie (vgl. Adorno et al. 1969) und dem von Karl Popper (1966) vertretenen Kritischen Rationalismus. Kernstück berufsbildungstheoretischen Denkens war die Kardinalfrage der Berufserziehung als Problem der Bildung durch den Beruf. Spranger hatte sie als gelöst betrachtet, indem er „Beruf“ in seiner Ganzheitlichkeit als „Kulturaufgabe“ auffasste und ihn in diesem Sinne bildungstheoretisch als „Mittel zur persönlichen Selbstvollendung“ rechtfertigte (Spranger 1920/1975, 47). Das kulturphilosophische Berufsverständnis Eduard Sprangers und der damit verbundene Ansatz beruflicher Bildung stieß schon in den 1920er Jahren auf dezidierte Kritik, so bei Anna Siemsen (1926, 163) mit ihrer Kritik an der Idealisierung des Berufs und der dabei unterstellten Harmonie zwischen „innerem Beruf“ und „äußerem Beruf“ unter völliger Vernachlässigung voranschreitender industrieller Erwerbsarbeit. Dennoch konnte sich die kulturphilosophische Berufsbildungstheorie als Legitimationsbasis bis nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland behaupten (vgl. Kutscha 2017).

Angesichts der Automatisierung industrieller Arbeitsprozesse in den 1950er Jahren verschärfte sich die Frage, ob und in welchen Formen der Beruf überhaupt noch eine zukunftsfähige Referenzgröße für Theorie und Forschung auf dem Gebiet der beruflichen Bildung sein könne. Der Glaube an die erzieherische Kraft der Berufsgesinnung sei in der industriellen Arbeitswelt pure Illusion, so Schwarzlose (1954). Und abgesehen vom „Beruf“ sei auch ‚Bildung‘ kein „Zauberwort“ zur „Rettung der Menschen“ hieß es bei Heinrich Abel (1963, 196), Professor für Berufspädagogik am Berufspädagogischen Institut in Frankfurt am Main und später an der Technischen Universität Darmstadt. Heinrich Abel gehörte zu den Initiatoren der empirischen Berufsbildungsforschung in Deutschland und zu den schärfsten Gegnern sowohl der kulturphilosophischen Berufsbildungstheorie als auch von deren Kritikern wie Herwig Blankertz.

Im Zusammenhang mit der wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist mit Antonius Lipsmeier (1975, 246 ff.) die Auseinandersetzung zwischen Heinrich Abel (1965) und Herwig Blankertz (1965) hervorzuheben. Heinrich Abel ließ sich in seiner Habilitationsschrift über das „Berufsproblem im gewerblichen Ausbildungs- und Schulwesen Deutschlands“ (1963) von der folgenden These leiten: „Pädagogisches Denken und Handeln haben ihr Tätigkeitsfeld im Mittelraum zwischen normativen Forderungen und historisch wie empirisch festgestellten Tatsachen“ (Abel 1963, 3). Das war eine Absage an den Versuch, Berufspädagogik und berufliche Bildung mit den Möglichkeiten berufsbildungstheoretischer Argumentation legitimieren zu können. Ansätze in Anlehnung an Eduard Spranger stellte Abel unter „Ideologieverdacht“; der bildungstheoretischen Position von Blankertz maß er nur „akademische Bedeutung“ bei. Blankertz hingegen setzte bei seiner Kritik nicht an Abels historischen und empirischen Befunden an, sondern an dessen in seinen Augen bildungstheoretisch unreflektierter Verarbeitung dieser Befunde. Bei der späteren Auswertung der Abel-Blankertz-Kontroverse stellte Hermann Lange den „transzendentalen Anspruch Blankertz‘ auf überzeitliche Gültigkeit seiner subjekttheoretischen Position“ und das damit einhergehende „gesellschaftstheoretische Defizit“ in Frage (Lange 1999, 14). Eher wissenschafts- und bildungspolitisch akzentuiert ist die Kritik des Mannheimer Wirtschaftspädagogen Jürgen Zabeck an der von ihm gebrandmarkten „neomarxistischen Perspektive“ einer – Herwig Blankertz aus Theodor W. Adornos „Theorie der Halbbildung“ zitierend – „Menschheit ohne Status und Übervorteilung“ (Adorno 1962, 172). Dem „bloßen Gedankenspiel“ der emanzipatorischen Pädagogik (Zabeck 2009, 133) stellte Jürgen Zabeck das Leitbild der von ihm vertretenen „systemtheoretischen Berufs- und Wirtschaftspädagogik“ entgegen: „Der Eingliederung des Menschen in das Beschäftigungssystem kommt absolute Priorität zu“ (Zabeck 1975, S. 158).

In der Kritik am idealisierten Berufsbegriff der kulturphilosophischen Berufsbildungstheorie stimmten Herwig Blankertz und Jürgen Zabeck weitgehend überein (vgl. Kutscha 2020). Kern der Kontroverse von kritisch-emanzipatorischem und systemtheoretisch-funktionalistischem Paradigma war die Fixierung auf das (an Immanuel Kant orientierte) Postulat subjektiver Mündigkeit bei Herwig Blankertz auf der einen Seite und den Primat systemadäquater Funktionstüchtigkeit bei Jürgen Zabeck auf der anderen. Eine solche Polarisierung erwies sich für die Entwicklung der Berufsbildungstheorie als nicht weiterführend. Einerseits wird die kritisch-emanzipatorische Berufsbildungstheorie nicht davon absehen können, dass „Bildung“ (als „Ausstattung zum Verhalten in der Welt“, so Saul B. Robinsohn 1975/1967) Anschlussfähigkeit in Bezug auf gesellschaftliche, speziell auch betriebliche Leistungserwartungen voraussetzt und dabei die Eigendynamik der damit korrespondierenden Umweltsysteme wie die des Beschäftigungssystems einzukalkulieren hat. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Funktionsfähigkeit des betrieblichen Sozialsystems und die Entwicklung von Wirtschaft und Technik mehr denn je rückgebunden bleiben an Handlungssubjekte, die sowohl in der Lage sein müssen, selbstständig handeln zu können, als auch bereit sind, selbstständig handeln zu wollen und für die Folgen ihres Handelns Verantwortung zu übernehmen. Um es mit Helmut Heid (2018, 63) zu formulieren: „Prinzipiell gilt, dass die Entwicklung jeder Produktionstechnik und jeder Arbeitsorganisation sich ‚am Menschen‘ orientieren muss …“.

In einem viel beachteten Aufsatz zum „Paradigmenpluralismus als wissenschaftliches Programm“ versuchte Jürgen Zabeck (1978) eine konstruktive Perspektive zur Überwindung des Paradigmenstreits in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik aufzuzeigen. Dieser Versuch zielte nicht auf eine „Schlichtung“ der methodologischen Auseinandersetzungen über paradigmatische Differenzen in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ab, sondern war darauf gerichtet, „dem Erkenntnisprozess unter prinzipieller Anerkennung der inzwischen eingetretenen innerdisziplinären Ausdifferenzierung neue Schubkraft zu geben …“ (Zabeck 2009, 123). Das ist zum Bedauern von Jürgen Zabeck nicht gelungen. Nicht weil es weiterhin grundsätzliche Differenzen in den forschungsmethodischen Ansätzen der Berufsbildungsforschung gäbe, sondern weil – wie es Jürgen Zabeck (2009, 121) im Rückblick beurteilt – „ein [offenbar zuvor lebendiges] wissenschaftstheoretisches Interesse erloschen“ sei, zerbrösele auch „die Basis für methodologische Auseinandersetzungen“. Die Hinwendung zur Kompetenzforschung und (tendenziell) die Ablösung des Bildungsbegriffs durch das Kompetenzkonzept haben diese Entwicklung seit den 1980er Jahren verstärkt. Damit freilich verloren der im Bildungskonzept implizierte Subjektbezug und die damit unter pädagogischen Aspekten unverzichtbaren theoretischen Fragestellungen an Aufmerksamkeit und die Berufsbildungstheorie an Relevanz für die Selbstverständigung innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Cum grano salis: Der Bildungsbegriff wurde inflationär verbreitet, aber theoretisch nicht weiterentwickelt. Apodiktisch hieß es in der Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Berufsbildungsforschung an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland“ (1990, 63): „Berufsbildungsforschung steht unter dem Anspruch des Bildungsprinzips.“ Dieses Postulat steht nach wie vor im Raum. Aber ohne bildungs- und damit subjekttheoretischen Bezug. Ob „Bildung“ oder „Kompetenz“, in beiden Fällen stellt sich die Frage, welches Menschenbild der Einwirkung auf den beruflichen Erziehungsprozess zugrunde liegt und welche berufspädagogischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind.

Schärfer und weniger „diplomatisch“ als hier im Rückblick dargestellt, hat Ingrid Lisop den berufsbildungstheoretisch defizitären Zustand der Berufs- und Wirtschaftspädagogik aufs Korn genommen:

„Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik hat meines Erachtens keinen disziplinspezifischen Gesamtbeitrag zur Bildungstheorie geleistet … Sieht man von den sogenannten Klassikern ab – allesamt keine Berufs- und Wirtschaftspädagogen –, so lässt sich die Berufsbildungstheorie bestenfalls als Konglomerat von Anspruchsformulierungen zur sogenannten Beruflichkeit fassen …“ (Lisop 2009, 80f.).

Auf eine Kurzform gebracht: „Fetischismus statt Theorie“ (Lisop 2009, 80). Ingrid Lisops Fetischismusvorwurf versteht sich als Ideologiekritik. Der kategoriale Zusammenhang von Bildung, Beruf und Subjekt verhindere den Zugang zum „Objektfeld“ der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Demgegenüber könnte (aus meiner Sicht) der „dynamische Subjektbegriff“ im Sinne von „Subjektivierung“ als Prozess der Bewältigung und Verarbeitung kontingenter Lebens- und (speziell) Berufserfahrungen dazu beitragen, die praktisch-existentiellen Probleme Heranwachsender in Beziehungen zu anderen Menschen der primären und sekundären Sozialisation oder mit sich selbst in den Blick zu nehmen. Grundlegend dafür wäre im Fall der beruflichen Bildung, den immanenten „Widerspruch im Begriff der Berufsbildung“ (Schapfel-Kaiser 2003) weder zu negieren noch ihn als dialektische Synthese „hoch“ oder „weg“ zu philosophieren, sondern ihn im „Lernen an und Lernen mit der Biographie in der beruflichen Bildung“ auf konkrete Erfahrungen im Lebenslauf und speziell im Arbeitsprozess zu beziehen und zu verarbeiten. Franz Schapfel-Kaiser zeigt an Praxisansätzen im Spannungsfeld zwischen „funktionaler Zurichtung des Individuums und seiner Subjektentfaltung“ Bildungspotentiale auf, die die „Gefahr eines übersteigerten Subjektbegriffs“ zu vermeiden und alltagsweltliche Sozialbeziehungen sowie gesellschaftliche Strukturen und Anforderungen kritisch mit dem biografischen Lernprozess in Verbindung zu bringen versuchen.

Stellt Bildung, somit auch Bildung im Medium des Berufs, ein „Moment der Subjekt-Konstitution“ im Überschneidungsbereich von individueller Entwicklung und gesellschaftlicher Reproduktion dar (vgl. Schäfer 2019, 16f.), so ist „kontingente Subjektivität“ auf eben diesen Zusammenhang verwiesen. Sie ist kein Gegenkonzept zum Bildungskonzept der emanzipatorischen Berufsbildungstheorie, sondern eine kritische Erweiterung um die Dimension „Anderswerden statt Selbstwerden“. Die Wechselwirkung von Selbst und Welt im Bildungsprozess, auf die Wilhelm von Humboldt rekurrierte, ist in der Kritischen Berufsbildungstheorie – insbesondere bei Herwig Blankertz – vorzugsweise in der Perspektive der Selbstbestimmung bzw. Mündigkeit und der kritischen Distanz zu gesellschaftlichen Verhältnissen rezipiert worden. Darin liegt ein Fortschritt gegenüber Ansätzen der kultphilosophisch und funktionalistisch begründeten Berufsbildungstheorie gleichermaßen. Indes verkürzt die emanzipatorische Berufsbildungstheorie individuelle Mündigkeit tendenziell auf Autonomie und Kritikfähigkeit des vernunftbegabten Subjekts.

Im Begriff der kontingenten Subjektivität ist „biographisches Lernen“ (vgl. Schapfel-Kaiser 2003) durch das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft konstituiert, aber auch mit Widersprüchen konfrontiert, die aus dem „Anderswerden“ als anthropologische Differenz der menschlichen Genese resultiert. Man könnte so die dem Konzept der „kontingenten Subjektivität“ zugrundeliegende Verbindung von Relationalität und Konditionalität als „doppelte Dialektik“ bezeichnen: als Dialektik des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum einerseits und dessen „dialektische“ Konstitution als kontingente Subjektivität anderseits. Kontingenz ist dabei nicht nur als Zugewinn an „Freiheit“ zu verstehen, wie sie bei Herwig Blankertz in der „Definition der Bildung als die Freiheit zu Urteil und Kritik“ unterstellt wird (Blankertz 1974, 68), sondern auch als „Zwang“, sich dem Nicht-Identischen im Umgang mit sich selbst sowie mit anderen und dem Anderen stellen zu müssen.

Die Relevanz des kontingenzpädagogischen Ansatzes in Theorie und Praxis der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist in vielen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen naheliegend. Hervorzuheben sind die unterschiedlichen, von den Heranwachsenden nicht zu beeinflussenden Voraussetzungen der Berufswahl, die Konfrontation der Auszubildenden und Erwerbstätigen mit den dynamischen Veränderungen in der Arbeitswelt, die Inklusion von Menschen mit Migrationshintergrund in das nationale System der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die durch nicht vorhersehbare strukturelle Krisen verursachten Brüche in Bildungs- und Erwerbsbiografien (z. B. Ausbildungsabbrüche, Arbeitslosigkeit) und nicht zuletzt die Herausforderungen der Klimakrise, speziell im Hinblick auf die nicht absehbaren Belastungen für die jüngere Generation. In allen diesen Fällen geht es um nicht voraussehbare Veränderungen in der Umwelt der Individuen, und in allen Umweltveränderungen sind die darin verwickelten und davon betroffenen Menschen damit konfrontiert, Kontingenz bewältigen und sich dabei den Herausforderungen stellen zu müssen, sich selbst zu verändern. Paradox formuliert: Kontingenz bedeutet Notwendigkeit, mit dem Nicht-Notwendigen wie Nicht-Unmöglichen leben und lernen zu müssen.

5 Schlussbemerkungen, Perspektiven und offene Fragen

5.1 Kontingenz und moralische Verantwortung

Der vorliegende Text ist bei aller Unvollkommenheit und Kritikbedürftigkeit der Versuch einer Argumentation für die Notwendigkeit, die Frage nach der Subjektivität heranwachsender Menschen in Erziehungs- und Bildungsprozessen stellen zu müssen. Indes sollte sich die Berufsbildungstheorie bei der Suche nach theoretisch tragfähigen und praktisch tauglichen Antworten vom Begriff des „Subjekts“ als „definitorische Substanzbehauptung“ (Ricken 1999b, 209) verabschieden und sich theoretischen und praxisbezogenen Fragen zuwenden, die auf Bewältigung von Kontingenz und die Ermöglichung gerichtet sind, anders sein und werden zu können. Mit „Anderswerden“ ist hier die Fähigkeit des Einzelnen gemeint, sich in sozialer Interaktion mit anderen entwickeln, ja auch verändern und sich mit der kontingenten Umwelt und der eigenen Kontingenz verantwortlich auseinandersetzen zu können. Unter kontingenzpädagogischen Aspekten wird hierbei auch das Postulat der „Mündigkeit“ zu prüfen sein. Darin eingeschlossen Fragen nach vernünftigen Formen des Unvernünftigseins (vgl. Poschardt 2020, 130 ff.) und die Einsicht, dass Mündigkeit nicht als „solche“ zu haben ist, sondern – wenn überhaupt – nur als lebenslange Selbstaufklärung in Interaktion mit anderen erworben und ermöglicht werden kann. Das zentrale Problem, das sich bei der subjektivierungs- und kontingenztheoretischen Orientierung der Erziehungswissenschaft insgesamt und speziell im Fall der Berufs- und Wirtschaftspädagogik stellt, ist die Frage, wie Subjektivität und Kontingenz unter dem Anspruch moralischer Verantwortung aufeinander zu beziehen sind. Über „Kontingenz“ zu reden, ohne sich über moralische Verpflichtungen im Kontext menschlichen Zusammenlebens zu verständigen, läuft ins Leere. Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik – so mein Plädoyer – darf sich dieser Problematik nicht entziehen, wenn sie mit dem Ansatz kontingenter Subjektivität nicht im Fahrwasser einer „Gesellschaft der Singularitäten“ mitschwimmen (vgl. Reckwitz 2017) und sich den gesellschaftlichen Herausforderungen im „Zeitalter der Resilienz“ bei der Herstellung einer lebenswerten Welt (Rifkin 2022) stellen will.[14]

5.2 Kontingente Subjektivität und empirische Berufsbildungsforschung

Es gibt nicht viele Forschungsfelder der Geisteswissenschaften, in denen in den vergangenen Jahren so viele produktive und interdisziplinär eng verknüpfte (in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nicht rezipierte) Studien vorgelegt wurden wie im Bereich der Subjektforschung (vgl. hierzu Kreknin/Marquardt 2016). Das betrifft speziell auch Fragen nach dem „digitalisierten Subjekt“ im Grenzbereich zwischen Fiktion und Alltagswelt und den darin sich entwickelnden vielfältigen Praktiken neuer Subjektkonstruktion – auch und nicht zuletzt im Prozess der Arbeit. Die berufsbildungstheoretische Orientierung am Konzept der „kontingenten Subjektivität“ brächte die Berufs- und Wirtschaftspädagogik allerdings nur dann voran, wenn sie der empirischen Berufsbildungsforschung zugänglich gemacht, von dieser facettenreich im interdisziplinären Verbund (oder zumindest Austausch) untersucht und in handlungspraktische Empfehlungen und Anregungen umgesetzt würde. Der Biografieforschung kommt dabei eine wichtige Bedeutung im Sinne der Präzisierung und Differenzierung empirischer Daten zu (vgl. Chang 2022; Krüger/Marotzki 2006). Wobei zu betonen ist: Die Erforschung der „kontingenten Subjektivität“ im Prozess beruflicher Bildung und Arbeit lässt sich nicht zureichend nach Regeln positivistischer Empirie bewältigen. Hinter der positivistischen Vorschrift, dass die Versuchspersonen aus der Forschungssituation in der gleichen Verfassung entlassen werden müssten, wie sie hineingekommen seien, steckt ein statistisches und statisches Modell von Interaktion im Forschungszusammenhang (vgl. Fuchs 1971; Kutscha 1974). Eine einseitige normative Verpflichtung auf positivistische Forschungsstandards können der wissenschaftlichen Wahrnehmung und Bearbeitung von Problemen kontingenter Subjektivität nicht gerecht werden.[15]

5.3 Kontingente Subjektivität unter erwerbsorientierter Perspektive

Wie bereits mit Verweis auf Forschungsarbeiten zum biografischen Lernen in der beruflichen Bildung angedeutet wurde (vgl. Schapfel-Kaiser 2003), haben Subjektivierung und subjektorientierte berufliche Bildung seit geraumer Zeit Beachtung in verschiedenen Bereichen der Berufsbildungswissenschaft (im weitesten Sinne) gefunden. Allerdings schränkt der für den deutschsprachigen Bereich vorherrschende Bezug auf beruflich organisierte Arbeit das Spektrum subjektivierungsrelevanter Fragen deutlich ein. Das gilt zum Beispiel für das Segment informeller oder für die international unterschiedlichen Formen nicht beruflich standardisierter Erwerbsarbeit. Mit dem Ansatz der „Employability“ (vgl. Kraus 2006) bzw. der „erwerbsorientierten Bildung“ (vgl. Kraus 2022) werden Probleme der Subjektivierung nicht mehr ausschließlich auf das Konzept der beruflich organisierten (Aus- und Weiter-)Bildung sowie Arbeit bezogen, sondern in der „Perspektive des Subjekts auf Erwerbstätigkeit“ erweitert und vertieft (Kraus 2022, 515)[16]. Diese Öffnung der wissenschaftlichen Beobachterperspektive schließt sinnvollerweise alle Formen der mit Erwerb verbundenen Formen der Qualifizierung und Arbeit ein, trägt zum international vergleichenden Diskurs bei und ist bereichernd für disziplinübergreifende Anschlüsse, zum Beispiel auf Gebieten soziologischer Forschung zur Subjektivierung der Arbeit (vgl. z. B. Böhle 2017; Bosančić et. al. 2022; Geimer/Amling/Bosančić 2018).

5.4 Verantwortliches und solidarisches Handeln versus Pseudosouveränität „autonomer Handlungssubjekte“

Betont wird bei Kraus (2022, 516) ein „ambivalenter Subjektbegriff“, dem ein Menschenbild zugrunde liegt, das nicht durch Selbstbezüglichkeit des Subjekts, sondern durch „Sozialität“ gekennzeichnet ist (vgl. in Anschluss an Foucault: Bosančić et. al. 2022, zitiert nach Kraus 2022, 517). Berührungspunkte zum Thema „kontingente Subjektivität“ liegen auf der Hand. Das müsste für unterschiedliche Berufs- und Tätigkeitsbereiche im Einzelnen näher überprüft und untersucht werden. So stellt sich das berufsübergreifende Subjektivierungsthema beispielsweise beim Verkaufspersonal im Einzelhandel (vgl. Thole 2021) spezifisch anders dar als in der Care-Arbeit (vgl. Friese 2018). Im Übrigen wäre zu klären, welche Aspekte der Kontingenzproblematik unter anderen Bezeichnungen mit bereits vorhandenen Theorie- und Forschungsansätzen korrespondieren. Als Beispiel sei auf das Konzept des Transformationslernens (Mezirow 1997) verwiesen. Es wird u. a. im Zusammenhang mit professionellem Handeln in der Altenpflegeausbildung rezipiert und bezeichnet die „Fähigkeit, Problemlösungen kooperativ zu gestalten und sich selbst progressiv zu verändern“ (Weber-Frieg 2018, 82). Auch dieser Ansatz hängt mit der „nicht-notwendig – nicht unmöglich“-Komponente von Arbeitssituationen und Subjektivierungsanforderungen zusammen, ist aber stark auf Identität und Subjektorientierung im Sinne der Befähigung zur Professionalität autonomer Handlungssubjekte ausgerichtet und verkennt damit Voraussetzungen und Anforderungen verantwortlichen Handelns in kontingenten Handlungssituationen. Biografische (Zusammen-)Brüche oder kumulative Resignation im Arbeitsalltag unter dem Einfluss nicht bewältigter Kontingenzerfahrungen werden dabei weitgehend ausgeklammert.

5.5 Berufsbildungstheorie als Diskurs statt „großer Erzählung“

Wie Subjektivierung und Kontingenz verantwortlich in praktische Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Arbeitsvollzüge umgesetzt und auf theoretischer Ebene systematisch zueinander in Beziehung gebracht und methodologisch reflexiv verarbeitet werden können, sollte eine Herausforderung für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Verbund mit anderen Disziplinen sein. Dabei ist Reflexion als philosophischer Diskurs über grundlegende Fragen berufs- und erwerbsorientierter Bildung unverzichtbar (vgl. Ketschau 2018). „Die Schwierigkeit der Situation besteht darin, Subjektivität weiterhin als kritische Kategorie des Verstehens mitmenschlicher Praxis zu bewahren, ohne der Verführung durch Allmachtsphantasien zu erliegen“ (Meyer-Drawe 2000, 152). So die eine Seite der Komplexität von Subjektivität und Kontingenz; die andere betrifft die Vereinnahmung und Korrumpierung von Subjektivität und deren Eigen-Sinn (Bolder/Dobischat 2009) für den Verschleiß menschlicher Potentiale durch Priorisierung ökonomischer Effizienz und Macht.[17] Das Verhältnis dieser disparaten und vielfältig vernetzten „Seiten“ von Bildung, Arbeit und Subjektivität bedarf permanenter Beobachtung und diskursiver Klärung, nicht eines finalen berufsbildungstheoretischen „Überbaus“. Bei allem Vorbehalt gegenüber spekulativen Irrwegen der postmodernen Bewegung ist die Berufsbildungstheorie aus meiner Sicht gut beraten (vgl. Geißler/Kutscha 1992), dem Bericht über „Das postmoderne Wissen“ von Jean-Francois Lyotard in der Einsicht zu folgen:

„In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur, also der postmodernen Gesellschaft, der postindustriellen Kultur, stellt sich die Frage der Legitimierung des Wissens in anderer Weise. Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren …“ (Lyotard 1986, 112).

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[1]     Es ist mir ein besonderes Anliegen, befreundeten Kolleginnen und Kollegen für ihre wohlwollenden, immer aber auch nachdenkenswerten Rückmeldungen auf das Wagnis einer autobiografischen Veröffentlichung zu danken.

[2]     Die autobiografischen Notizen enthalten kurze Auszüge aus diesen Aufzeichnungen. Sie betreffen kontingente Schnittstellen meiner persönlichen „Subjektivierung“, so wie ich sie empfinde. Für mich war die Niederschrift meiner Erinnerungen ein „Kampf“ gegen die von mir im Beruf des Wissenschaftlers antrainierte und perpetuierte Wissenschaftssprache. Autoethnografisch gesehen (vgl. Chang 2022) stellt sich hierbei insbesondere das folgende Problem: Wie lassen sich Erfahrungen aus früher Kindheit und Jugend „zuverlässig“ rekonstruieren und nichtsprachliche Ereignisse in die Sprache von Erwachsenen übersetzen?

[3]     Das bedürfte einer näheren Analyse. Nach Auskunft von ChatGPT gibt es wissenschaftliche Hinweise darauf, dass Männer dazu neigen, ihre soziale Herkunft und die daraus resultierenden Benachteiligungen herunterzuspielen oder zu ignorieren, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Quellen sind nicht benannt, aber ich neige in diesem Fall dazu, der Künstlichen Intelligenz zu vertrauen. Einen einfühlsamen genderspezifischen Blick in die emotionale Welt der sozialen Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen aus unterschichtigen Milieus vermittelt Annie Erneaux in „Die Scham“ (2021).

[4]     Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Insofern handelt es sich bei den vorliegenden „Erinnerungsnotizen“ letztlich um eine autobiografische „Konstruktion“. Das gilt für jede andere Selbstbeschreibung auch.

[5]     Zur wissenschaftlichen Biografie von Hans Bokelmann siehe Kutscha (2019a).

[6]    Hans Bokelmann bezieht sich mit der Chamäleon-Metapher auf Giovanni Pico Della Mirandola und dessen „Rede über die Würde des Menschen“ (1486). Diese gilt als eine der berühmtesten Texte der Renaissance. Als Programmschrift ist sie Zeugnis eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesses und unter diesem Aspekt von aktueller Relevanz. Der Mensch wird bei Giovanni Pico Della Mirandola gesehen als „zusammengesetzt aus vielem (commixtio pluromorum) … nicht festgelegt, nicht festlegbar durch andere, vielmöglich und wandlungsfähig in sich, frei im Wollen. Hierin liege seine Würde“ (Bokelmann 2000, 648).

[7]    Zur pädagogischen Historiografie der Pädagogikgeschichte bei Herwig Blankertz siehe Zumhof/Oberdorf 2022.

[8]    Für den Zugang zu Norbert Rickens Studie „Subjektivität und Kontingenz“ empfehlenswert ist die Besprechung von Röhr 2000.

[9]    Vgl. Foucault, M. (1984): Qu’est-ce que les Lumières. In: Dits et Ecrits, tome IV, 1984, 562-578. Zitate im Text nehmen (ohne Seitenangaben) Bezug auf Online: https://foucault.info/documents/foucault.questcequeLesLumieres.fr/ (Download 15.03.2023).

[10]   Den Zusammenhang von Aufklärung und Kritik als einer „individuellen und zugleich kollektiven Haltung“ und „die Frage der Erkenntnis im Hinblick auf die Herrschaft“ behandelt Foucault (1992, 41) thesenartig zugespitzt in seinem posthum veröffentlichten Vortrag „Qu’est-ce que critique?“ (Foucault 1990), deutsche Ausgabe: „Was ist Kritik“? (Foucault 1992).

[11] Original: „… Il est vrai qu’il faut renoncer à l’espoir d’accéder jamais à un point de vue qui pourrait nous donner accès à la connaissance complète et définitive de ce qui peut constituer nos limites historiques.“

[12]    In diesem Sinne ist der Versuch meiner autobiografischen Notizen zu verstehen.

[13]   Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das berufsbildungstheoretische Diskursspektrum in der Bundesrepublik Deutschland; zur Theorie und Praxis der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in der Deutschen Demokratischen Republik siehe Klaus Friedrich Pott (2021).

[14]   Im englisch-sprachigen Original lautet der Untertitel des Buchs von Rifkin (2022): „Reimagining Existence on a Rewilding Earth“. Die irreführende Übersetzung des Buchtitels ins Deutsche „Leben neu Denken auf einer wilden Erde“ trifft nicht das von Rifkin verwendete Konzept „Rewilding Earth“. Mit „Rewilding Earth“ wird bei Rifkin die Wiederherstellung einer ökologisch verträglichen Umwelt und das Anliegen zum Ausdruck gebracht, jeden Aspekt unserer Existenz neu zu überdenken, um das Leben auf der Erde im humanen Sinne wieder zu revitalisieren bzw. lebenswert zu gestalten. In diesem Sinne sind hier von mir der Bezug auf Jeremy Rifkin und die daran anknüpfende Herausforderung zu verstehen, das Konzept der „kontingenten Subjektivität“ mit der unverzichtbaren Frage nach dem „Sinn“ einer gemeinsamen, aber „kontingenten Welt“ zu verbinden. Von diesem Diskurs sollte sich auch die berufs- und erwerbsorientierte Pädagogik nicht dispensieren.

[15]   Das soll kein prinzipieller Einwand gegen das Paradigma des Kritischen Rationalismus (vgl. Popper 1966; Beck 2010) sein, wohl aber ein Vorbehalt gegenüber dem damit verbundenen methodologischen Anspruch auf Ausschließlichkeit (vgl. Kutscha 2010).

[16]   Auf praktische Aspekte und Konsequenzen kann hier nicht näher eingegangen werden. Zu Recht weist Katrin Kraus auf Herausforderungen der „Integration verschiedener Lebensbereiche“ als Ansatzpunkte für erwerbsorientierte Bildung hin (Kraus 2022, 524f.).

[17]   Zur berufsbildungstheoretisch vernachlässigten politisch-ökonomischen Dimension als Pendent zum kontingenztheoretischen Ansatz siehe Günter Kutscha (2019c).

Zitieren des Beitrags

Kutscha, G. (2023): Subjekt(de)konstruktion und Kontingenz – ein autobiografisch inspirierter Beitrag zum berufsbildungstheoretischen Diskurs. In: bwp@ Spezial 19: Retrieving and recontextualising VET theory. Hrsg. v. Esmond, B./Ketschau, T. J./Schmees, J. K./Steib, C./Wedekind, V., 1-25. Online: https://www.bwpat.de/spezial19/kutscha_de_spezial19.pdf (30.08.2023).