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bwp@ Ausgabe Nr. 16 | Juni 2009
Selbstverständnis der Disziplin
Berufs- und Wirtschaftspädagogik
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 16 sind Karin Büchter, Jens Klusmeyer & Martin Kipp

Anschluss verpasst? Plädoyer für eine berufsbildungstheoretische Aufarbeitung der biografieorientierten Bildungsforschung

Beitrag von Tim UNGER (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)

Abstract

Fast zeitgleich mit dem Tode HERWIG BLANKERTZ hat sich in den Erziehungswissenschaften eine bildungstheoretische Zäsur vollzogen. Erziehungswissenschaftler wie PEUKERT, MAROTZKI, ECARIUS, KOLLER, ALHEIT oder NOHL können stellvertretend für eine Weiterentwicklung der Bildungsforschung angesehen werden, die erstens auf ein deutlich erweitertes Spektrum an Bezugstheorien zurückgreift, zweitens mittels einer darauf abgestimmten erfahrungswissenschaftlichen Forschungslogik agiert und hierbei mit Methoden qualitativer Sozialforschung operiert und die drittens oftmals explizit grundlagentheoretisch orientiert ist. Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik hat sich in der Berufsbildungstheorie bislang allenfalls marginal mit diesen Weiterentwicklungen der qualitativen Bildungsforschung auseinandergesetzt. Mit Blick auf die berufsbildungstheoretische Positionierung der Disziplin kann von einem regelrechten Bruch bzw. einem verpassten Anschluss an die entwickelten Bildungsbegriffe und Forschungsinteressen insbesondere der biografieorientierten Bildungsforschung gesprochen werden. Das Ziel des Beitrages ist es, exemplarisch die Innovationspotenziale der biografieorientierten Bildungsforschung für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Beispiel der Auseinandersetzung mit berufsbildungstheoretischen Grundfragen zu entwerfen.


Left behind? A plea for a vocational education theory-based review of biography-oriented educational research

An educational theory caesura in educational studies took place almost simultaneously with the death of HERWIG BLANKERTZ. Educational researchers such as PEUKERT, MAROTZKI, ECARIUS, KOLLER, ALHEIT or NOHL can be viewed as representatives of a development in educational research which, firstly, falls back on a significantly extended range of relevant theories and, secondly, which acts using a research logic based on experience tailored towards those theories and, in so doing, uses methods of qualitative social research and, thirdly, which are often explicitly oriented towards fundamental theories. The pedagogy of vocational training and education and business studies has only been concerned in marginal terms with these further developments in qualitative education research. With a view to the vocational education theoretical positioning of the discipline this means that one can speak of a complete break or a missed connection with the educational concepts and research interests and, in particular, biography-oriented educational research. The aim of the paper is to outline and exemplify the innovation potential of biography-oriented education research for the pedagogy of vocational education and training and business studies using the example of the examination of theoretical fundamental questions in vocational education.

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1 Vorbemerkungen – Merkmale berufsbildungstheoretischer Forschung

Im ersten Abschnitt werde ich die Kriterien der Auseinandersetzung mit den Innovationspotenzialen der biografieorientierten Bildungsforschung erörtern. Vorausgesetzt wird dabei, dass der Begriff der Berufsbildung ein Grundbegriff der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist, sowie die Einsicht, dass eine Weiterentwicklung von Berufsbildungstheorie entlang spezifischer Kriterien erfolgen sollte. Im Beitrag wird in der gebotenen Kürze auf ausgewählte Kriterien zurückgegriffen, die sich insbesondere auf allgemeine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Überlegungen beziehen.

1. Kriterium: Begründung des erneuten Stellens der berufsbildungstheoretischen Leitfragen

Im Allgemeinen geht es bei jeder Berufsbildungstheorie um die Beantwortung der Leitfragen, was genau unter dem Anspruch auf Bildung im und durch den Beruf verstanden werden muss und welches die Bedingungen der Möglichkeit von Berufsbildung sind. Hierin besteht nicht nur das Grundanliegen, sondern zugleich die Markierung des Gegenstandsbereichs der Berufsbildung. Entscheidend ist hier zunächst nur, inwieweit es dem Forscher gelingt, die Notwendigkeit seiner grundlagentheoretisch orientierten Forschung aufzuzeigen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese klassischen berufsbildungstheoretischen Leitfragen „einfach nur zu stellen“, sondern darum, ihren disziplinären Zweck angesichts des dokumentarischen Sinns des historisch vermittelten theoretischen, sozialen und kulturellen Kontextes berufs- und wirtschaftspädagogischen Handelns erneut auszulegen. Berufsbildungstheoretische Forschung leistet darin einen wesentlichen Beitrag zur Selbstvergewisserung der Disziplin, weil im Begriff der Berufsbildung ein zentraler pädagogischer Anspruch vertreten und legitimiert wird, der konstitutiv für jede pädagogische Disziplin ist. Das erneute Stellen der berufsbildungstheoretischen Leitfragen ist demnach auch mit der Weiterentwicklung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik und ihrer Ausrichtung als einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin verbunden.

2. Kriterium: explizite erkenntnistheoretische Verortung der im Bildungs- und Berufsbegriff behaupteten Subjekt-Welt-Relation

Jeder Bildungsanspruch bestimmt eine spezifische Relation zwischen Mensch und Welt. Bildungstheorie ist somit eine erkenntnistheoretische Angelegenheit und muss in diesem Zusammenhang im Forschungsprozess Rechenschaft darüber ablegen, was genau Subjektivität, Weltkonstitution und die Subjekt-Welt-Relation kennzeichnet, sodass von Bildungsprozessen gesprochen werden kann. Eine explizite erkenntnistheoretische Verortung des zu entwickelnden Berufsbildungsbegriffs ist deshalb notwendig, weil die Gegenstandsdefinition der Berufsbildung vom erkenntnistheoretischen Gehalt des in der Arbeit zugrunde gelegten Bildungsbegriffs quasi abhängig ist. Soll ein grundlagentheoretischer Anspruch aufrechterhalten werden, dann muss der Berufsbildungsbegriff auch hinsichtlich seiner subjekttheoretischen Implikationen reflektiert und begründet werden, will er sich nicht den berechtigten Vorwürfen der unbemerkten Beliebigkeit (bspw. des Subjektivierungsverständnisses) und der schleichenden Dogmatik des Subjektivierungsanspruches aussetzen.

3. Kriterium: explizite wissenschaftstheoretische Verortung der Forschungslogik

Erst nachdem die gegenstandskonstituierenden Leitfragen reformuliert, die erkenntnistheoretischen Implikationen reflektiert und deren im weiteren Vorgehen zu befolgende Spuren identifiziert worden sind, kann die Auseinandersetzung mit den methodologischen Rahmungen der eigentlichen berufsbildungstheoretischen Untersuchungen begonnen werden. Gemeint ist die Bestimmung der Forschungslogik und der infrage kommenden Methoden der berufsbildungstheoretischen Forschung. Berufsbildungstheoretische Grundlagenforschung kann unterschiedlichen Forschungslogiken verpflichtet werden (bspw. theoretisch-analytischen, historisch-analytischen oder erfahrungswissenschaftlichen Verfahren), je nachdem, worin die Notwendigkeit einer Reformulierung der Leitfragen gesehen wird.

4. Kriterium: Abgrenzungen des Bedeutungsgehaltes und soziokulturelle Gegenwartsbedeutung

Die im Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse sollten dazu führen, das Problem der Beziehung des Berufsbildungsbegriffs gegenüber den ihm nahestehenden trans- und intradisziplinären Begriffen erneut stellen und plausibler auslegen zu können. Hierbei sollten eine systemische Begrenzung der Bedeutungsgehalte und eine erneute Auseinandersetzung mit der soziokulturellen Gegenwartsbedeutung des Geltungsanspruchs der Berufsbildung vorgenommen werden (vgl. 1. Kriterium).

Erst dann, wenn wenigstens diese vier Kriterien erfüllt sind, lässt sich meines Erachtens die Erfüllung des grundlagentheoretischen Anspruchs einer berufsbildungstheoretischen Arbeit genauer einschätzen.

Ich gehe weiterhin davon aus, dass mit der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie nach HERWIG BLANKERTZ der wohl disziplinhistorisch letzte Versuch unternommen worden ist, eine solche Berufsbildungstheorie zu entwerfen, die den Begriff der Berufsbildung systematisch als einen Grundbegriff der Berufs- und Wirtschaftspädagogik auslegt und dabei explizit auf einen allgemeinen Bildungsbegriff zurückgreift.[1] Setzt man sich mit dem umfangreichen Schriftwerk von BLANKERTZ auseinander, dann wird relativ schnell deutlich, dass er sich in genau diesem Sinne mit Berufsbildungstheorie beschäftigt und ihre verschiedenen Themendimensionen systemisch verarbeitet hat: Die kritisch-emanzipatorische Berufsbildungstheorie verortet die beiden zentralen Leitfragen vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Realitäten, insbesondere den Herausforderungen der zunehmenden Wissenschaftszentrierung (1. Kriterium); sie reflektiert die erkenntnistheoretischen Implikationen ihrer Bezugstheorien, genauer, die in den neuhumanistischen Bildungstheorien implizit enthaltenen Subjekt-Welt-Relationen (2. Kriterium); sie begründet mit dem Vorgehen der problemgeschichtlichen Analysen die Wahl einer Forschungslogik zur Beantwortung der Leitfragen (3. Kriterium); schließlich ist sie auch um eine klare begriffliche Differenzierung von Berufsbildungsprozessen gegenüber beruflichen Lernprozessen bemüht und auch darum, die didaktischen Konsequenzen dieser Differenzierung im Kollegschulversuch zu erproben (4. Kriterium)[2]. Auffallend im Vergleich zu anderen Ansätzen ist bei BLANKERTZ die Stringenz der grundlagentheoretischen Abstimmung aller Kriterien aufeinander. Genau diese Stringenz wurde seit den Ausarbeitungen der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nicht mehr umfassend hergestellt. Aus diesem Grund werde ich mich in meinen Ausführungen zunächst auf einige Grundaussagen von HERWIG BLANKERTZ beziehen.

Die Intention dieses Beitrags besteht darin, solche Perspektiven für eine Weiterentwicklung der Berufsbildungstheorie zu eröffnen, die sich ergeben, wenn man ausgewählte Aspekte der biografieorientierten Bildungsforschung entlang dieser vier Kriterien abarbeitet. Hierbei werde ich mich in der gebotenen Kürze nur an ausgewählten Kriterien orientieren und beanspruche damit ausdrücklich nicht, an dieser Stelle auf alle hier relevanten berufsbildungstheoretischen Argumentationen eingehen zu wollen. Die Auseinandersetzung mit der kritisch-emanzipatorischen und den biografieorientierten (Berufs-)Bildungstheorien kann letztlich eine zusätzliche Perspektive eröffnen, das Selbstverständnis der Disziplin entlang des Bildungsbegriffs auszulegen.

Zuvor sind jedoch noch zwei weitere Einschränkungen meines Arbeitsanspruchs zu machen. Erstens kann eine ausführlichere Darstellung der neueren Ansätze an dieser Stelle nicht erfolgen. Ich werde deshalb im Wesentlichen mit Verweisen arbeiten müssen und kann nur an den Stellen, wo es unumgänglich ist, kurze argumentative Erläuterungen einfließen lassen. Zweitens bin ich der Auffassung, dass trotz der subjekttheoretischen und forschungslogischen Defizite die BLANKERTZsche Argumentation nach wie vor als Grundlage einer modernen Theorie der Berufsbildung dienen kann. Aus Platzgründen kann ich auf diese Einschätzung nicht systematisch eingehen, sondern lediglich auf meine derzeit in Arbeit befindliche Habilitationsschrift verweisen.[3] Ich werde im Folgenden zunächst kurz auf die hier relevanten Defizite der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie zu sprechen kommen und dabei versuchen, im konstruktiven Sinne Akzente weiterführender Forschung zu setzen.

2 Zur Notwendigkeit berufsbildungstheoretischer Revisionen

Worin könnte derzeit die Notwendigkeit einer berufsbildungstheoretischen Revision gesehen werden? Vor dem Hintergrund der seit den 1980er Jahren sich verschärfenden Diskussionen über die Ausprägungen und Konsequenzen der Erosionen von Beruf und Beruflichkeit für den Bereich der Berufsbildung[4] liegt es nahe, nicht nur das primäre Defizit der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie, sondern der disziplinären Relevanz von Berufsbildungstheorie im Grundsätzlichen darin zu sehen, dass mit dem drohenden Verlust der Berufskategorie auch der Berufsbildungstheorie einer ihrer Bedingungsfaktoren abhandenzukommen scheint. Es ließe sich bspw. aussagen: „Gibt es keinen Beruf mehr, dann ist eine Theorie der Berufsbildung überflüssig geworden.“ Überflüssig in dem Sinne, dass die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Aufrechterhaltens des Bildungsanspruchs im spezifischen Kontext des Berufs gar nicht mehr gestellt zu werden braucht, weil es ihn, den Beruf, gar nicht mehr „so richtig“ gibt. Fortfahrend könnte argumentiert werden, dass, weil die inhaltlichen Bestimmungen des Berufshandelns zunehmend kontingent werden und auch, weil eine sich am Ausbildungsberuf orientierende Konstanz der berufsbiografischen Karrieremuster immer seltener zu beobachten ist,[5] es deshalb auch keine wissenschaftliche Instanz mehr geben muss, die neben der allgemeinen Pädagogik noch eine spezifische Theorie der Berufsbildung entwickelt. Es scheint, als würde die Erosionsproblematik nicht nur am Berufsbegriff, sondern auch an der gegenstandskonstituierenden Funktionsnotwendigkeit der Berufsbildungstheorie (Kriterium 1) nagen.

Eine solche Infragestellung von Berufsbildungstheorie im Grundsätzlichen verfehlt jedoch diejenigen Defizite des BLANKERTZschen Ansatzes, die aufgegriffen werden müssen, wenn die Schnittstellen zur neueren allgemeinen Pädagogik aufgezeigt werden sollen. Denn solange sich im sozialweltlichen Kontext der Berufstätigkeit und der schulisch organisierten Lernprozesse die Prinzipien der Wissenschaftspropädeutik und Kritikfähigkeit verankern lassen, spricht eine Erosion von Beruf und Beruflichkeit nicht gegen die Möglichkeit von Berufsbildungsprozessen, wie sie BLANKERTZ begründet hatte. Das, was meiner Ansicht nach eine Infragestellung der BLANKERTZschen Argumentation viel stärker herausfordert, ist

· die mit seinem auf KANT und ADORNO gründenden Kritikbegriff nicht einzufangenden veränderten Anforderungen an Subjektivierung in hochkomplexen Gesellschaften[6]: Wie kann bspw. die Freiheit des Subjekts auf der Ebene des berufsbiografischen Handelns erreicht werden, wenn sich die Ablauf- und Erwartungsmuster beruflicher Lebensläufe durch Kontingenz, Pluralität und das Ringen um Anerkennungswürdigkeit auszeichnen? Die Kriterien der Wissenschaftspropädeutik und Kritik basieren auf einem Subjektbegriff, der im Vorgang des Entäußerns und Erhaltens bzw. in der Hingabe an die sachlogische Struktur des Lerngegenstands die Erfüllung des pädagogischen Freiheitsanspruchs erkennt. Genau das steht jedoch in einem Prozess der (berufs-)biografischen Reflexion nicht im Vordergrund. Vielmehr kehrt sich die Aufmerksamkeit des Lerners nach innen bzw. er grenzt sich – wie wir im Folgenden bei den Ausführungen von JÖRISSEN/ MAROTZKI noch sehen werden – gegenüber den lebensgeschichtlich entwickelten Welt- und Selbstreferenzen ab.

· der vernachlässigte Stellenwert der erfahrungswissenschaftlichen Forschung im Zuge der berufsbildungstheoretischen Grundlagenarbeit. Für BLANKERTZ war es im Wesentlichen ausreichend, die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bildung im und durch den Beruf fast ausschließlich auf der Basis problemgeschichtlicher Forschung zu beantworten. Ein solches Vorgehen ist wichtig, es ist unabdingbar, um die Voraussetzungen des Bildungsbegriffs in den Blick zu bekommen. Es ist jedoch nicht hinreichend, um die Bedingungen hochkomplexer Gesellschaften für Berufsbildungsprozesse in Gänze zu bearbeiten. Bereits die Einsichten, dass aufgrund der unüberschaubaren Wissenschaftsentwicklung und des gebrochenen Traditionszusammenhangs unserer Gesellschaft die Bestimmung eines materialen Bildungsbegriffs unmöglich geworden sei, hätten bei BLANKERTZ dazu führen müssen, die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeiten des Subjektivierungsanspruchs auch empirisch zu organisieren, um die hier relevanten Auswirkungen von Kontingenz berufsbildungstheoretisch angemessen auslegen zu können.

Die BLANKERTZsche Argumentation zur Begründung der Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung, die darin zugrunde liegenden problemgeschichtlichen Analysen sowie die didaktischen Konzeptionen des Kollegschulversuchs waren meines Erachtens bedeutende Meilensteine berufsbildungstheoretischer Forschung. Die kritisch-emanzipatorische Berufsbildungstheorie beruht aber auf subjekt- und gesellschaftstheoretischen Theoremen, die angesichts der hochgradig komplexen gesamtgesellschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nur bedingt anschlussfähig an die damit verbundenen Lernherausforderungen in hochkomplexen Gesellschaften sind.

Welche Anlässe einer veränderten bildungstheoretischen Grundlagenforschung lagen im Vergleich dazu aus der Sicht der erziehungswissenschaftlichen Bildungstheorien seit den 1980er Jahren vor und welche Parallelen lassen sich möglicherweise zur Ausgangssituation der aktuellen berufsbildungstheoretischen Forschung ziehen?

Zunächst ist festzustellen, dass der Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung des Bildungsbegriffs in der Erziehungswissenschaft in den veränderten Anforderungen an Subjektivierung in hochkomplexen Gesellschaften gesehen wird. Eine der ersten Bildungstheorien, die sich explizit mit den pädagogischen Implikationen postmoderner Gesellschaften auseinandersetzt, ist die strukturale Bildungstheorie von WINFRIED MAROTZKI (1990). Auch MAROTZKI beginnt seine Untersuchungen mit einer zeitdiagnostischen Präambel bildungstheoretischer Forschung: „Den Ausgang von gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungslagen zu nehmen, kann zunächst dadurch plausibel gemacht werden, dass jede pädagogische Aufgabenbestimmung einen gesellschaftlichen Bezug sowohl auf Gegenwart als auch auf Vergangenheit und Zukunft besitzt. Erziehung und Bildung finden in einer geschichtlichen Situation statt, die eine geschichtliche Hypothek wie auch Möglichkeitshorizonte beinhaltet“ (ders., 19). Den konkreten Anlass für eine bildungstheoretische Revision sieht MAROTZKI in den nicht hinreichend reflektierten Konsequenzen der soziologischen Arbeiten zur Individualisierung und Kontingenzsteigerung von bspw. ULRICH BECK. MAROTZKI konstatiert: „Wenn die skizzierten zeitdiagnostischen Überlegungen die gegenwärtige geschichtliche Situation nicht gänzlich verfehlen, dann steht zentral zur Debatte, was Lern- und Bildungsprozesse in einer solchen geschichtlichen Zeit des Überganges für den einzelnen heißen und bedeuten können […] Es gibt also gute Gründe dafür, die Aufmerksamkeit stärker auf die Struktur, Beschaffenheit und Voraussetzungen von Lern- bzw. Bildungsprozessen aus der Blickrichtung der Konstitutionsproblematik von Subjektivität zu richten“ (ders., 30). In seinen jüngsten Publikationen bezieht sich MAROTZKI (JÖRISSEN/ MAROTZKI 2009, 16ff.) unter Bezugnahme auf die Arbeiten von HEITMEYER (1997) und GIDDENS (1996) ebenfalls auf die Kontingenzproblematik und markiert als den zentralen Bedingungsrahmen einer bildungstheoretischen Auslegung des Subjektivierungsanspruchs nach wie vor die krisenhaften Signaturen hochkomplexer Gesellschaften.[7]

Aus der Sicht der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist damit zunächst noch nichts wesentlich Neues angesprochen. Schließlich beziehen sich viele Berufs- und Wirtschaftspädagogen im Kontext der Auseinandersetzung mit den Erosionsthesen von Beruf und Beruflichkeit sowie die konstruktivistisch orientierten Lehr-Lerntheoretiker oftmals auf genau dieselben Arbeiten, wie dies MAROTZKI tut. Die Pointe ist jedoch die, dass er diese „zeitdiagnostischen Überlegungen“, bevor er sie pädagogisch auslegt, zuerst auf ihre erkenntnistheoretischen Implikationen hin reflektiert und nach forschungslogischen Konsequenzen für Bildungsforschung Ausschau hält. Darin erst findet er die Begründung dafür, einen pädagogischen Anspruch auf Freiheitserweiterung zu legitimieren, die Mikrostrukturen von Bildungsprozessen in der Kategorie der Biografie zu verorten und hier schließlich die Abgrenzung zwischen Bildung und Lernen neu definieren zu können. Damit greift MAROTZKI Entwicklungen in den Erziehungswissenschaften und ihren Nachbardisziplinen auf, die in der Biografieforschung einen Schlüssel zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen postmoderner Gesellschaften auf die Menschen sehen: „Biographie ist als Konzept strukturell auf der Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt und eröffnet somit die Möglichkeit, Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld subjektiver und objektiver Analysen zu erfassen […] Allgemeine Fragen der Subjektivitätskonstitution, des Verhältnisses von Lernen und Bildung, von innerweltlicher Orientierung und Werttransformation können zudem mit dem Instrumentarium der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung empirisch untersucht werden“ (KRÜGER/ MAROTZKI 2006, 8).

Wichtig für den Fortgang der berufsbildungstheoretischen Forschung scheint mir erstens die Einsicht zu sein, dass die theoretischen Konturen der biografieorientierten Bildungstheorien auf denselben zeitdiagnostischen Befunden beruhen, wie sie auch im Kontext der Erosionsdiskussion in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik angeführt werden. Jedoch weisen die in den Erziehungswissenschaften begründeten Subjektivierungsansprüche und die forschungslogischen Konsequenzen in eine andere Richtung, als dies in der Berufsbildungsforschung seit BLANKERTZ weitestgehend praktiziert worden ist.

Wichtig ist zweitens, dass es nicht nur die Veränderungen des Berufsbegriffs und der sozioökonomischen Realitäten sind, die eine Revision der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie notwendig werden lassen oder die gar die Zeitgemäßheit von Berufsbildungstheorie überhaupt hinterfragen. Vielmehr muss gefragt werden, ob sich mit der veränderten Auslegung des Bildungsbegriffs nicht auch die Schnittstellen zwischen allgemeiner Pädagogik und der Berufs- und Wirtschaftspädagogik als erziehungswissenschaftlicher Teildisziplin verschoben haben.

Es liegt zunächst nahe, die Frage zu stellen, ob Berufs- und Wirtschaftspädagogen bzw. Berufsbildungstheoretiker sich überhaupt in die Richtung einer biografieorientierten Bildungsforschung bewegen müssen. Schließlich, so ließe sich zugespitzt argumentieren, müsse doch nicht „jeder auf einmal“ Biografieforschung betreiben und außerdem sei insbesondere die Fachdidaktik auf eine Biografieforschung betreibende allgemeine Pädagogik nicht angewiesen, sondern vorrangig auf die entsprechenden Fachdisziplinen. An dieser Stelle wird es notwendig, die Reichweite der bisherigen Ergebnisse der neueren Bildungstheorien zu verdeutlichen.

3 Subjektivierungsanspruch und Forschungsinteresse der biografieorientierten Bildungsforschung

Inwieweit kann die Auseinandersetzung mit der biografieorientierten Bildungsforschung für Berufsbildungstheoretiker gewinnbringend sein? Folgende Antwort lässt sich geben: Die Biografieforschung eröffnet Berufsbildungstheoretikern ein neues Verständnis von Bildungsprozessen, die sich in den hochkomplexen beruflichen Sozialwelten postmoderner Gesellschaften vollziehen können. Sie legt darin den pädagogischen Freiheitsanspruch neu aus (2. Kriterium) und bietet valide Verfahren, Bildungsprozesse empirisch zu untersuchen (3. Kriterium). Sie kann das Spektrum der Berufsbildungsforschung somit bereichern und das Verständnis von Berufsbildungsprozessen bspw. dahingehend erweitern, dass die berufsbiografischen Anforderungen prozessorientierter Arbeit berufspädagogisch ausgelegt werden könnten (1. Kriterium). Beispielsweise dadurch, dass nicht nur das Entstehen und Verändern der (beruflichen) Weltreferenzen der Erwerbstätigen, sondern die Wandlungsprozesse ihrer beruflichen Identität und ihrer auf das Berufsleben sich beziehenden Selbstreferenzen zum Gegenstand der Berufsbildungsforschung erhoben werden. Die vielfach diskutierten Erosionserscheinungen von Beruf und Beruflichkeit und die Fragen nach den Auswirkungen fragmentaler Strukturen in der beruflichen Bildung auf die Lernenden verdichten sich meines Erachtens zunehmend auf die Problemstellung, wie es die Erwerbstätigen eigentlich schaffen (können), eine berufliche Identität und eine berufsbiografische Handlungsfähigkeit aufzubauen, wenn doch die institutionalisierten Muster und Erwartungshaltungen an Berufsbiografien zunehmend kontingent werden. Mit einer biografieorientierten Berufsbildungsforschung würde eine vielversprechende Forschungsperspektive vorliegen, eine disziplinspezifische Sicht auf diejenigen Phänomene einzunehmen, die im Bereich der industriesoziologischen (VOß 2007; PONGRATZ/ VOß 2004) und arbeitspsychologischen Forschung (HOFF/ EWERS 2002) zum Arbeitskraftunternehmer oftmals aufgeworfen werden. Arbeitskraftunternehmer sind u. a. deshalb ein berufs- und wirtschaftspädagogisch interessantes Phänomen, weil sich die Handlungsanforderungen zur Bewältigung der entgrenzten Arbeits- und Lebenssituationen auf die berufsbiografische Dimension erstrecken. Hier könnte bspw. das Verhältnis zwischen institutionalisierten beruflichen Karrierepfaden mit den faktisch entwickelten berufsbiografischen Lebensorientierungen der Erwerbstätigen erfahrungswissenschaftlich erhoben, kontrastiert und vor bildungstheoretischem Hintergrund analysiert werden.

Was kennzeichnet die biografieorientierte Bildungsforschung und worin genau bestünde der Zugewinn für die Berufsbildungstheorie?

Unter das Label der Biografieforschung lassen sich mittlerweile unterschiedliche Forschungsrichtungen und methodische Verfahren einordnen. In dem hier diskutierten Zusammenhang geht es um die biografieorientierte Bildungsforschung und damit um eine spezifische Richtung innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung. Biografieorientierte Bildungsforschung ist nicht gleichzusetzen mit der Übergangs- und Sequenzforschung der soziologischen Lebenslaufforschung (vgl. SACKMANN/ WINGENS 2001) und auch nicht mit Studien zu den berufsbiografischen Gestaltungmodi oder zur berufsbiografischen Selbststeuerung (vgl. WITZEL/ KÜHN 2000; PREIßER 2002).

Die biografieorientierte Bildungsforschung konzentriert sich dagegen auf die Frage, wie Menschen unter den Bedingungen ihrer sozialweltlichen Verflechtungen (insbesondere in der Postmoderne) eine biografische Ordnung in der Form von Lebensorientierungen herstellen, diese tentativ variieren und schließlich auch wandeln können.[8] MAROTZKI beschreibt dieses Forschungsinteresse folgendermaßen: „Ziel Qualitativer Forschung ist das Aufzeigen von Strukturen des Verhältnisses des Subjektes zu sich und seiner Lebenswelt. Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung als qualitative Bildungsforschung gewinnt ihren Ort, indem sie sich auf individuelle Lern- und Bildungsprozesse bezieht und versucht, den verschlungenen Pfaden biographischer Ordnungsbildung unter den Bedingungen einer sich rasant entwickelnden Moderne (bzw. Postmoderne) zu folgen. In einer Gesellschaft, die sich durch Pluralisierung von Sinnhorizonten und Lebensstilen auszeichnet, kann erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ein Wissen über verschiedene individuelle Sinnwelten, Lebens- und Problemlösungsstile, Lern- und Orientierungsmuster bereitstellen und in diesem Sinne an einer modernen Morphologie des Lebens arbeiten“ (2006, 113).

Eine so verstandene Bildungsforschung untersucht die Prozesse der Identitätsentwicklung der Menschen. Es geht ihr darum, die entwickelten Lebensorientierungen der Menschen zu rekonstruieren und zu verstehen, wie die handelnden Akteure sich in ihre Sozialwelten einfädeln, wie sie einen sinnhaften Aufbau der Beziehung zwischen personaler Identität und sozialweltlichen Kontexten herstellen und wie sie darin eine Freiheitserweiterung erfahren können. Eine biografieorientierte Berufsbildungsforschung wird Berufsbildungsprozesse also nicht mit der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz gleich setzen. Vielmehr wird sie eine eigenständige Auslegung von Berufsbildungsprozessen anbieten, die meines Erachtens im Sinne einer Ergänzung bestehender berufspädagogischer Ansprüche auf Freiheitserweiterung des Subjekts anzusehen ist. Da hier nicht beabsichtigt ist, die verschiedenen Ansätze der biografieorientierten Bildungsforschung vorzustellen, werde ich mich im Folgenden auf eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten WINFRIED MAROTZKIS beschränken, der 1990 eine wegweisende bildungstheoretische Arbeit vorgelegt und eine Vielzahl erziehungswissenschaftlicher Biografieforscher beeinflusst hat.

Der biografieorientierte Bildungsbegriff MAROTZKIS steht in der Tradition des interpretativen Paradigmas[9] und lässt sich meines Erachtens hinsichtlich des Freiheitsverständnisses nicht gleich setzen mit der von BLANKERTZ aufgegriffenen Argumentationslinie des Neuhumanismus und der kritischen Theorie.[10] Ein Grund hierfür ist die unterschiedliche erkenntnistheoretische Bestimmung des Subjekt-Welt-Verhältnisses und die daraus zu ziehende forschungslogische Konsequenz der Unabdingbarkeit einer sich an den personalen und sozialweltlichen Sinnstrukturen orientierenden erfahrungswissenschaftlichen Forschung.

Wie bei BLANKERTZ steht auch in MAROTZKIS Theorie der strukturalen Bildung der Subjektivierungsanspruch in der Form der Freiheitserweiterung im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Der Anspruch auf Freiheit reduziert sich hier jedoch nicht auf eine „Freiheit in Urteil und Kritik“. Freiheitserweiterung im Sinne MAROTZKIS ist eine Erweiterung der Möglichkeiten des Subjekts, die grundlegenden Bezüge zu sich selbst und zur Welt infrage stellen, variieren und wandeln zu können. Bei BLANKERTZ wird im Vergleich dazu mit dem Prinzip der Kritik ein Subjektivierungsanspruch vertreten, der die pädagogisch legitimierbaren Entwicklungsansprüche etwas anders auslegt: Wenn ein Mensch im BLANKERTZschen Sinne Kritik ausübt, wenn er urteilt und bewertet, dann befindet er sich in einem spezifischen Modus der Wirklichkeitsauslegung. Spezifisch deshalb, weil die pädagogische Güte davon abhängt, inwieweit es dem Lerner dabei gelingt, sich an einen sachlogischen Gehalt zu entäußern und sich darin zu erhalten, kurz, Unbestimmtheit in Bestimmtheit zu verwandeln. Blankertz war davon ausgegangen, mit den Prinzipien der Wissenschaftspropädeutik und der Kritik einen pädagogischen Rettungsanker für das seine Freiheitspotenziale in einer wissenschaftszentrierten Gesellschaft nicht umfassend auslebende Individuum gefunden zu haben. Dieser Rettungsanker ist aus heutiger Sicht insofern eine engführende Auslegung von Freiheit, weil diese auf den Vollzug solcher Kalküle reduziert wird, die eine intersubjektive Anerkennungswürdigkeit durch größtmögliche Sachlichkeit der Selbst- und Weltreferenz herstellen soll. Ich bin der Auffassung, dass dies nicht die einzig mögliche Form der Subjektivierung und Freiheitserweiterung darstellt, die eine pädagogisch legitime Perspektive der menschenwürdigen Entwicklung im und durch den Beruf eröffnet.

Dagegen legt bspw. die strukturale Bildungstheorie den Schwerpunkt darauf, die Signatur moderner Gesellschaften, die Kontingenzerfahrung, bildungstheoretisch auszulegen: „Der durchgehende Gedanke, den wir hier verfolgen, ist der, dass Bildung nicht (länger) als Überführung von Unbestimmtheit in Bestimmtheit gedacht werden kann. Daraus folgt natürlich nicht, dass auf die Herstellung von Bestimmtheit verzichtet werden soll“ (JÖRISSEN/ MAROTZKI 2009, 20). Unbestimmtheiten meinen denjenigen Prozess, in dem das Wissen der Welt- und Selbstaufordnung eines Menschen fragil wird und infolgedessen die Routinen und Gewohnheiten der Wirklichkeitsaufordnung vom Akteur selbst zur Disposition gestellt werden. Solche Unbestimmtheitserfahrungen sind Bildungsprozesse. Nach JÖRISSEN/ MAROTZKI lassen sich hierbei zwei Arten von Bildungsprozessen (I und II) unterscheiden. In Bildungsprozessen I geht es „um die Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung“, wobei die Autoren unter Weltaufordnung das verstehen, „was im weitesten Sinne als Selbst- und Weltbild bezeichnet wird: Menschen haben kulturelle Schemata entwickelt, die es erlauben, Erfahrungen zu sortieren und zu bewerten, die ihnen aber zugleich die Mittel an die Hand geben, zu sagen, wer sie sind und wie sie die Welt sehen“ (Dies., 24). In Bildungsprozessen I kann ein Mensch mehrere solcher „kulturellen Schemata“ des Weltbezugs variieren bzw. es handelt sich um solche Erfahrungen des Subjekts, in denen es sich „verschiedene Arten des Weltbezugs zugänglich macht“ (dies., 24). Bildungsprozesse I sind kurzum solche Vorgänge, in denen wir die Erfahrung der Dezentrierung und Pluralisierung unseres Weltbildes durchleben müssen. Berufsbildungstheoretisch interessant wird dann jedoch die Frage – soviel kann ich den Ausführungen des folgenden Kapitels vorwegnehmen – wieweit das Zulassen von Fragilität, Tentativität und Wandlung von Bestimmtheit in Unbestimmtheit in der beruflichen Erstausbildung überhaupt zugelassen werden können. Der alte Streit um die Bedingung der Möglichkeit von Berufsbildung, das problematische Verhältnis zwischen Berufsbildungsanspruch und Utilität lässt sich nun nicht mehr mit der Formel „Freiheit in Urteil und Kritik“ auflösen, weil das Prinzip der Kritik eben nicht adäquat ist, den in der strukturalen Bildungstheorie erhobenen Subjektivierungsanspruch einzulösen. Deutlicher wird das Problem, wenn man sich vergegenwärtigt, was JÖRISSEN/ MAROTZKI unter Bildungsprozessen II verstehen und wenn man sich dann die Frage stellt, ob eine entsprechende Berufsbildung II möglich wäre. Der Unterschied zwischen Bildung I und II besteht darin, dass der Lerner sich in seiner Selbstbezüglichkeit hinterfragt: „Wenn wir unsere verschiedenen Möglichkeiten, die Welt zu ordnen, nicht mehr auf einen Nenner bringen können, dann wird uns jede mögliche Weltreferenz, über die wir verfügen – und sei sie noch so komplex –, in radikaler Weise als etwas Relatives bewusst. Wir werden dann auf uns zurückgeworfen, auf die Begrenztheit unserer Konstruktionsmöglichkeiten. Im Scheitern von Lösungsmöglichkeiten angesichts radikal erfahrener Paradoxien liegt also ein besonderes Bildungspotential: Denn auch im Falle eines solchen (emphatisch ausgedrückt) „Weltverlustes“ müssen wir irgendwie agieren, weitermachen. Wir beginnen dann (möglicherweise, aber nicht zwingend), den „Urheber“ dieser Erfahrungsschemata – uns selbst – zu beobachten. Wir versuchen dann quasi, uns als Beobachter in den Blick zu bekommen, uns beim Beobachten der Welt zu beobachten. Wir werden zu Selbstbeobachtern. Dies ist gemeint, wenn wir von der Steigerung des Selbstbezugs im Kontext von Bildung II sprechen“ (dies., 25).

Bildungsprozesse sind dieser Lesart zufolge untrennbar verbunden mit den (berufs-) biografisch aufgeschichteten Lebensorientierungen eines Menschen. Die forschungslogische Konsequenz aus dieser Einsicht sind ein erfahrungswissenschaftliches, rekonstruktiv-interpretatives Verständnis von Bildungsforschung sowie der Einsatz biografieorientierter Verfahren der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Daten. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bildung im und durch den Beruf wird demzufolge nicht ohne erfahrungswissenschaftliche Forschung beantwortet werden können.

Biografieorientierte Bildungsforschung beginnt stets mit einer Einzelfallanalyse und zielt darauf ab, das Entstehen, Aufbrechen und Verändern der Selbst- und Weltreferenzen des Informanten nachzuzeichnen. Sie verfolgt ausdrücklich kein therapeutisches oder tiefenpsychologisches Interesse. Vielmehr besteht das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse darin, den biografischen roten Faden bzw. die „Biographie als Erfahrungszusammenhang“ (SCHULZE 2006, 40) zu verstehen, zu analysieren und letztlich im kontrastiven Vergleich mit anderen Fällen Theorien zum leitenden Erkenntnisinteresse zu generieren, „wie es Menschen gelingt, sich in hochkomplexen Gesellschaften zu orientieren“ (MAROTZKI 2006, 60). Biografie als Erfahrungszusammenhang erhebt Lebenserfahrungen als Forschungsgegenstand: „Lebenserfahrungen sind Erkenntnis- und Steuerungsleistungen besonderer Art. Das Wissen, das in ihnen aufgehoben ist, das Erfahrungswissen, unterscheidet sich von sonstigem Sach- und Tatsachenwissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in mehrfacher Hinsicht […] Neben dem Wohlfühlen im Gewohnten und Vertrauten sind es insbesondere solche Erlebnisse, in denen bisher Gewohntes unterbrochen und Vertrautes irritiert wird. Das sind Erlebnisse von Brüchen und Einbrüchen, Diskrepanzen und Konflikten, Unerwartetem und Überraschendem […] Sie geben Anstöße zu Selbsterfahrungen und biographischen Wandlungsprozessen. Aber sie weisen zugleich hin auf Reibungen, Risse und Umbrüche im kulturellen und gesellschaftlichen Gefüge“ (SCHULZE 2006, 40).[11] Eine an Lebenserfahrungen und Bildungsprozessen I und II ausgerichtete Biografieforschung verfolgt ganz wesentlich einen zeitdiagnostischen Erkenntnisanspruch. Sie will aufklären über die Qualität der Erfahrungsräume, der darin konstituierten Orientierungsrahmen für Identitätsarbeit und damit letztlich über die Auswirkungen, die hochkomplexe Gesellschaften auf die Menschen ausüben. Biografieforschung ist kein Selbstzweck. Biografien werden deshalb zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung, weil sie Zugänge eröffnen können, die sich gegenüber den in (halb-)standardisierten Verfahren angesprochenen Wirklichkeitsbereichen verschließen. Das Geflecht aus Lebenserfahrungen, biografischen Wandlungsprozessen, tentativen Wirklichkeitsauslegungen und Störungen von Gewohnheiten bleibt uns auch im Alltag zunächst und zumeist intransparent. Legt man den von JÖRISSEN/ MAROTZKI ausgearbeiteten Bildungsbegriff zugrunde, werden die Bezüge zwischen Bildungsprozessen und Biografieforschung sichtbar: In der Rekonstruktion von Biografien werden die Prozesse des Entstehens und der Auswirkungen von Heteronomie und Freiheitserweiterung analysiert. Biografieforschung erweist sich darin als ein bewährtes Verfahren, um solche Bildungsprozesse zu rekonstruieren, in denen Menschen Wandlungsprozesse der Selbstidentität unter den Rahmungen moderner Arbeits- und Sozialwelten durchleben.

Die derzeit sicherlich am häufigsten eingesetzte Methode der biografieorientierten Bildungsforschung ist das autobiografisch-narrative Interview.[12] Darin wird mittels eines sorgfältig zu entwickelnden Erzählstimulus der Informant aufgefordert, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Aufgrund verschiedener Zugzwänge des Erzählens während der Interviewsituation entstehen letztlich in der Regel recht umfangreiche Transkripte, die unterschiedliche Textsorten (des Erzählens, Beschreibens und Argumentierens) enthalten und die je nach Forschungsinteresse unterschiedlich ausgewertet werden können. Hierbei haben mittlerweile mehrere Vorgehensweisen ihre Verbreitung gefunden, die im Kern jedoch zumeist auf die erzähltheoretischen Arbeiten FRITZ SCHÜTZES zurückzuführen sind. SCHÜTZE hat in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt unterschiedliche kognitive Figuren des autobiografischen Stehgreiferzählens[13] rekonstruiert und eine entsprechende Auswertungssystematik entwickelt, die insbesondere darauf abzielt, die Prozessstrukturen des Lebenslaufs[14] und hierbei insbesondere die biografische Gesamtformung zu rekonstruieren. Hierzu wird das Transkript zunächst einer formalen Textanalyse unterzogen mit dem Ziel, die lebensgeschichtlichen Sedimente der Erfahrungsaufschichtung auf der Grundlage sprachlich-formaler und inhaltlicher Merkmale des Erzählens zu identifizieren. Das Textmaterial wird hierbei sequenziell analysiert und es werden bspw. suprasegmentale, segmentale und subsegmentale Texteinheiten bestimmt, die letztlich auch mittels computerunterstützter Auswertungssoftware (wie bspw. ATLAS.ti oder MAXQDA) kodiert werden können. Anschließend erfolgt die Strukturelle Beschreibung des Falls, in der die Prozessstrukturen des Lebenslaufs in geraffter Form aus der Perspektive des Erzählers dargestellt werden sollen. Die nachfolgende Rekonstruktion der biografischen Gesamtformung ist der in bildungstheoretischer Hinsicht entscheidende Auswertungsschritt, da es hier darum geht, die Lebensorientierung, die sich wie ein roter Faden durch die Prozessstrukturen zieht, zu beschreiben. Die Kontrastierung mit anderen Fällen, das Beschreiben von Eckfällen und Schlüsselkategorien bei der Typenbildung sowie die Theoretisierung der Ergebnisse führen letztlich in der Regel dazu, idealtypische Konstrukte zu gewinnen. Diese Idealtypen „verkörpern“ diejenigen Muster der lebensgeschichtlichen Verkettungen der Prozessstrukturen, die zum Entstehen typischer (beruflicher) Lebensorientierungen typischer Vertreter der im Sample repräsentierten sozialen Gruppierung anzusehen sind. Mit anderen Worten ist das Hauptinteresse der biografieorientierten Bildungsforschung nicht lediglich das Generieren von Hypothesen, sondern das des Gewinnens von Theorien bzw. die Widerlegung bestehender Theorien.

Meines Erachtens bietet die biografieorientierte Bildungsforschung zwar einerseits große Potenziale zur Weiterentwicklung der Berufsbildungstheorie. Andererseits darf nicht der Fehler unternommen werden, die bestehenden Methoden und Forschungsfragen, die in der Regel in den Erziehungswissenschaften in diesem Zusammenhang aufgestellt werden, blindlings zu übernehmen. Abschließend werde ich ausgewählte Merkmale einer die biografieorientierte Perspektive integrierenden Berufsbildungstheorie vorstellen und exemplarisch zeigen, welche Forschungsfragen eine biografieorientierte Berufsbildungsforschung kennzeichnen könnten.

4 Ausgewählte Perspektiven einer biografieorientierten Berufsbildungsforschung

Die bisherigen Ausführungen haben möglicherweise den Eindruck vermittelt, als bestünde ein Bruch zwischen der biografieorientierten und der BLANKERTZschen Auslegung von Bildungsprozessen, der ohne Weiteres kaum zu kitten sein dürfte. Festzuhalten ist zunächst, dass beide den pädagogischen Anspruch auf Freiheitserweiterung vertreten, hierbei jedoch unterschiedlichen Interpretationsrichtungen folgen. Im Weiteren werde ich aus Platzgründen zugegebenermaßen einen argumentativen Sprung unternehmen müssen, da ich nicht darauf verzichten möchte, Perspektiven einer an dieser Stelle ansetzenden Weiterentwicklung der Berufsbildungsforschung zu eröffnen.

Berufsbildung verstehe ich grundsätzlich als einen solchen Lernprozess, in dem sich der pädagogische Anspruch auf Freiheitserweiterung im und durch den Beruf realisiert. Es handelt sich dabei um solche Lernprozesse, die sich in der Auseinandersetzung mit den sachlogischen oder sozialweltlichen Rahmungen des Berufs vollziehen und die dazu führen, dass der Lerner die Erfahrung einer Distanzierung, Tentativität und/oder einer Wandlung seiner entsprechenden Selbst- und Weltreferenzen durchlebt.

Meines Erachtens wird in den von JÖRISSEN/ MAROTZKI differenzierten beiden Arten von Bildungsprozessen (I und II) derjenige Modus des Hinwendens des Subjekts zu den sachlogischen Gehalten des Lerngegenstands etwas vernachlässigt, der von Autoren wie BLANKERTZ oder auch KLAFKI in das bildungstheoretische Zentrum gestellt wird.[15] Der bildungstheoretische Anspruch auf Subjektivierung hing insbesondere bei BLANKERTZ damit zusammen, wieweit es dem Lerner gelingt, die Hingabe an die Sachlichkeit im neuhumanistischen Sinne zu vollziehen und davon, sich der zugemuteten Intentionalität gegenüber kritisch distanzieren zu können (BLANKERTZ 1972, 183). Wenngleich das Entstehen einer differenzierten Weltsicht und die Kritik sicherlich in den Bereich von Bildungsprozessen I zuzuordnen sind, bleibt für mich noch unklar, wieweit das „Sich-Entäußern und Sich-Erhalten“[16] im unmittelbaren Umgang des Lerners mit den Lerninhalten ein Bestandteil von Bildung I sein könnte, da es sich hierbei um eine prinzipiell andere Erfahrungsqualität handelt. Mein Vorschlag ist, bei der Zusammenführung biografieorientierter und kritisch-emanzipatorischer Bildungstheorie drei verschiedene Arten von Berufsbildungsprozessen voneinander zu unterscheiden:

· Diejenigen Lernprozesse, in denen ein Mensch eine Freiheitserweiterung erfährt, weil er sich mit den sachlogischen Gehalten des Arbeits- und Geschäftsprozesses im Modus des Sich-Entäußerns und Sich-Erhaltens auseinandersetzt und sich darin eine auf konkrete Situationen bezogene Kritikfähigkeit bewahren kann, sind Berufsbildungsprozesse erster Ordnung.

· Diejenigen Lernprozesse, in denen ein Mensch eine Freiheitserweiterung erfährt, weil er sich reflexiv mit seinen beruflichen Weltreferenzen auseinandersetzt, sind Berufsbildungsprozesse zweiter Ordnung. Dazu zählen auch hier die Kritik und Distanz, das tentative Erproben sowie die Wandlung der nun jedoch berufsbiografisch entstandenen Muster der Wirklichkeitsauslegung, die sich bspw. auf den Umgang mit typischen Handlungsaufgaben beziehen können oder auch auf die sozialen Rahmungen des Berufshandelns. Gegenstand dieser Reflexionen sind somit die faktisch relevanten Erfahrungsinterpunktionen der beruflichen Identität eines Erwerbstätigen, die sich berufsbiografisch aufgeschichtet haben und mittels derer ein sinnhafter Aufbau der Lebenswelt des Berufs organisiert wird. Es geht kurz gesagt um berufstypische Gewohnheiten des Alltagshandelns, die sich bei dieser Art von Berufsbildungsprozessen ändern. Das sind solche Prozesse, in denen sich das bisherige Prinzip des berufsrelevanten Wissens auflockert und der Lerner das Deutungsprinzip seines einzigartigen beruflichen Weltbildes verändert.

· Diejenigen Lernprozesse, in denen ein Mensch eine Freiheitserweiterung erfährt, weil er sich reflexiv mit seinen beruflichen Selbstreferenzen auseinandersetzt, sind Berufsbildungsprozesse dritter Ordnung. Gegenstand der Reflexionen sind auch hier die Muster der berufsbiografischen Erfahrungsaufschichtung. Im Unterschied zur zweiten Art von Berufsbildungsprozessen sind hier die Selbstreferenzen eines Erwerbstätigen der Gegenstand des Lernens. Der Lerner wird sich seiner selbst dadurch reflexiv zugänglich, weil er das sozusagen „postmoderne Faktum“ der Dezentriertheit seiner beruflichen Weltreferenzen erfährt. In der Folge des Durchlebens von Bildungsprozessen zweiter Ordnung kann ihm bewusst werden, dass sowohl sein handlungsrelevantes Wissen als auch seine beruflichen Lebensorientierungen prinzipiell etwas Wandelbares sind. Solche Erfahrungen können dann zu Berufsbildungsprozessen werden, wenn sich hierin ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein seiner selbst einstellt.

Meiner Meinung nach handelt es bei den Berufsbildungsprozessen zweiter und dritter Ordnung um diejenigen berufsbildungstheoretisch legitimen Ansprüche, die gerade in Hinsicht der Erosionsdiskussionen von Beruf und Beruflichkeit, insbesondere aber mit Blick auf die prognostizierten Auswirkungen des Typus des Arbeitskraftunternehmers auf die Erwerbstätigen ergänzend formuliert werden können. Gerade beim Phänomen des Arbeitskraftunternehmers stellt sich die Anforderung an die Disziplin, eine pädagogisch legitime Perspektive der Förderung der Erwerbstätigen zu entwickeln, die über ein bloßes „Belastungsmanagement“ hinausgeht. Forschungsmethodisch könnte der Einsatz autobiografisch-narrativer Interviews bspw. in Kombination mit Organisationsanalysen ein valides Verfahren sein, die Auswirkungen prozessorientierter Arbeit auf die Möglichkeiten für Berufsbildungsprozesse detailliert rekonstruieren und analysieren zu können und daraufhin Maßnahmen pädagogischer Intervention zu entwickeln.

Entscheidend ist bei einem solchen Verständnis von Berufsbildung, dass mit den drei Arten von Berufsbildungsprozessen unterschiedliche Formen der Freiheitserweiterung des Lerners vorliegen, die er im und durch den Beruf vollziehen kann. Das zentrale Forschungsinteresse einer erfahrungswissenschaftlichen Berufsbildungsforschung besteht darin, über die Bedingungskonstellationen für Bildungsprozesse in der Sozialwelt des Berufs aufzuklären. Exemplarisch könnten hier folgende Fragen zugrunde gelegt werden:

· Welche Typen von Anlässen führen dazu, dass Erwerbstätige gewohnte Handlungsroutinen aufbrechen, diese tentativ variieren und schließlich ihre berufsrelevanten Selbst- und Weltreferenzen verändern?

· Welche Spielräume für tentative Suchbewegungen eröffnen unterschiedliche betriebliche Karrieremuster in ausgewählten Ausbildungsberufen?

· Auf welche Art und Weise werden in Ausbildungsberufen institutionalisierte Ablaufmuster einer typischen Berufskarriere an Auszubildende herangetragen und welcher Stellenwert wird darin berufsbiografischen Wandlungsprozessen und dem konstruktiven Umgang einer dezentrierten Lebenseinstellung eingeräumt?

· Unterscheiden sich fragmentierte Formen der Berufsbildung gegenüber anderen Formen dadurch, dass sie in unterschiedlicher Ausprägung die Gewohnheiten des Arbeitshandelns und berufsbiografische Lebensorientierungen flexibilisieren?

Plädoyers und autobiografische Erzählungen haben etwas gemeinsam. Sie enden in der Regel damit, dass durch den Redner eine Erzählkoda gesetzt wird. Auch dieser Beitrag endet mit einer Erzählkoda, und zwar einer solchen, die den Erzählgerüstsatz seines zweiten numerischen Segments aufgreift, der sinngemäß aussagt, dass eine berufsbildungstheoretische Revision notwendig ist: „Erfahrung nutzen. Zukunft sichern“.[17]



[1]     Damit sage ich ausdrücklich nicht, dass es in der Zeit nach BLANKERTZ keine erwähnenswerte berufsbildungstheoretische Forschung gegeben hat. Jedoch wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Anschlussfähigkeit der grundlagentheoretisch orientierten Berufsbildungsforschung an die biografieorientierte Bildungstheorie nicht gesucht und systematisch entwickelt.

[2]     Vgl. zu Kriterium 1 und 3 bspw. BLANKERTZ (1972); zu Kriterium 2 und 4 bspw. BLANKERTZ (1963).

[3]     Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie sowie insbesondere der biografieorientierten Bildungsforschung erfolgt derzeit im Rahmen der Ausarbeitung meiner Habilitationsschrift zum Thema „Bildung und Beruflichkeit. Theoretische Architektur und empirische Fallstudien zu einer Theorie der strukturalen Berufsbildung“.

[4]     Vgl. dazu GEIßLER (1998), ZABECK (1999), LIPSMEIER (1998); SLOANE (2000); GONON (1997); BACKES-HAASE (2001); besonders lesenswert sind auch an dieser Stelle immer noch die Arbeiten zur subjektorientierten Berufstheorie nach BECK/ BRATER/ DAHEIM (1980); vgl. aber auch neuere Impulse in der Form der Auseinandersetzung mit den Folgen der Prognose des Arbeitskraftunternehmers nach PONGRATZ/ VOß (2004) bei KRAUS (2006); ELSTER (2007); UNGER (2009a, 2007).

[5]     Vgl. BOLDER (2004) bzw. BECKER (2004); die auf der Grundlage lebenslaufsoziologischer Untersuchungen die Einsicht vertreten, dass die Dominanz kontinuierlicher Erwerbsverläufe sogar einen historischen Ausnahmefall darstellt.

[6]     Vgl. zur Kritik am Subjekt- und Freiheitsbegriff von HERWIG BLANKERTZ die Ausführungen in UNGER (2009b).

[7]     HEITMEYER differenziert drei Krisentypen der Moderne: Strukturkrisen wie bspw. die Folgen globalisierter Märkte auf der makrogesellschaftlichen Ebene, Regulationskrisen im Sinne der subjektiv zu verarbeitenden Kontingenzerfahrungen von Wertesystemen und Kohäsionskrisen als Anerkennungsprobleme einer zunehmend individualisierten Lebensführung.

[8]     Die Differenzen zwischen unterschiedlichen autobiografischen Formaten in unterschiedlichen Epochen hat bspw. PETER ALHEIT (ALHEIT/  BRANDT 2006) sehr plastisch aufgezeigt. Grundlage seiner Studien waren über 300 autobiografische Quellentexte, die im DFG-Projekt „Ästhesiologische Komponenten von Bildungsmilieus. Eine Untersuchung von Wissensordnungen des Alltags um 1800, um 1900 und in der Gegenwart.“ analysiert worden sind.

[9]     Vgl. dazu BERGER/ LUCKMANN (2004); SCHÜTZ (2004).

[10]   Vgl. zur bereits problematischen Integration des Neuhumanismus und der kritischen Theorie in der kritisch-emanzipatorischen Berufsbildungstheorie die Arbeit von RUHLOFF (1989).

[11]   Vgl. hierzu die Weiterentwicklung des Deutungsmusteransatzes durch einen Emotionsmusteransatz bei ARNOLD (2004) sowie die Arbeiten von NITTEL (2004) über den Zusammenhang von beruflichen Selbstbeschreibungen und Biografie.

[12]   Vgl. zu den methodologischen und methodischen Merkmalen SCHÜTZE (1983); hilfreiche forschungspraktische Hinweise finden sich bei DETKA (2005).

[13]   Siehe dazu SCHÜTZE (1984).

[14]   Das sind institutionalisierte Ablauf- und Erwartungsmuster, Verlaufskurven, intentionale Handlungsschemata und die biografische Gesamtformung, vgl. SCHÜTZE (1981).

[15]   Möglicherweise deutet das auch auf einen der Gründe hin, weshalb in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in bislang nur geringem Umfang eine Auseinandersetzung mit biografieorientierten Bildungstheorien stattgefunden hat.

[16]   Noch THEODOR BALLAUFF (2000) legt in seinen bildungshistorischen Analysen das Sich-Entäußern und Sich-Erhalten als die Grundfiguration von Bildungsprozessen aus.

[17]   Wortlaut des Titels der Festschrift anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Deutschen Instituts für Interne Revision e. V. (DIIR 2008).


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Zitieren dieses Beitrages

UNGER, T. (2009): Anschluss verpasst? Plädoyer für eine berufsbildungstheoretische Aufarbeitungder biografieorientierten Bildungsforschung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik– online, Ausgabe 16, 1-19. Online:http://www.bwpat.de/ausgabe16/unger_bwpat16.pdf (30-06-2009).

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