bwp@ Spezial 15 - September 2017

Berufliche Förderpädagogik: Von der analytischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski

Hrsg.: Martin Koch, Günter Ratschinski, Ralf Steckert, Ariane Steuber & Philipp Struck

Der vergessene Teil der Generation Y. Haben sich auch die Zukunftserwartungen benachteiligter Jugendlicher verändert?

1 Einleitung

Arnulf Bojanowski hat das Übergangssystem als Sozialisationsinstanz definiert und gefragt, ob es den Jugendlichen in ihrer Entwicklungsphase gerecht wird. Ist die Entwicklungsoffenheit des Moratoriums gegeben? Liegen strukturelle oder individuelle Problemlagen vor, wenn der Einstieg in die Ausbildung nicht gelingt? Was bewirken Ausgrenzungen und das Vorenthalten von „Beruflichkeit“? Wie werden Urteile der Unreife, der Unvollkommenheit aufgenommen?

Arnulfs Position war klar. Er hat immer Partei für die Jugendlichen ergriffen und versucht, das System und die Rahmenbedingungen zu verändern, die ihre Entfaltung behindern. Er hat Prekarisierung angeprangert und die Vergabepraxis der Maßnahmen an die Träger. Und er hat die Kumulation von Benachteiligungen im sozialen Umfeld der „Benachteiligten“ ausgemacht, die es ihnen schwermacht, als „Egotaktiker“ zeitgemäßen Anforderungen „neoliberaler Lebensmuster“ gerecht zu werden (Bojanowski 2012b).

In diesem Beitrag sollen anhand von Ergebnissen der Jugend- und Adoleszenz-Forschung die Veränderungen der Sozialisationskontexte von Jugend beschrieben werden und es soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich diese Kontexte für Jugendliche mit verschiedenen Berufs- und Arbeitsstatus unterscheiden.

1.1 Einstieg in Ausbildung

Die Übergangszeit zwischen Schulende und Ausbildungsbeginn wird stetig länger. Die Hälfte der Hauptschul- und ein Drittel der Realschulabsolventen müssen eineinhalb Jahre warten, bis sie in Ausbildung gelangen (Eberhard et al. 2013). Im dritten Jahr nach Schulende haben nur 60% der Hauptschüler eine Ausbildung aufgenommen, wenn sie mit einer Berufsvorbereitung gestartet sind (Reißig 2016). Die mittlere Verweildauer im beruflichen Übergangssystem beträgt inzwischen 16 Monate (Beicht/Eberhard 2013). So ist das Durchschnittsalter bei Ausbildungsbeginn in letzten zwei Dekaden von 18,5 auf 20 Jahre gestiegen (Uhly 2015).

Diese Verzögerung ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Sie ist auch Teil einer allgemein ausgedehnten Phase des Erwachsenwerdens, das seit Arnett (2000) in der internationalen Literatur mit „Emerging Adulthood“ bezeichnet wird und als eigenständige Entwicklungsphase definiert ist. Marker des Erwachsenwerdens wie Heirat, Berufseintritt, Familiengründung erfolgen in westlichen Industrienationen in den letzten Dekaden deutlich verzögert und hoch variabel. Zwischen 18 und 25 Jahren ist der Berufs-, Familien- und Wohnstatus kaum vorhersagbar. Die Phase ist gekennzeichnet durch verlängerte Exploration der eigenen (auch beruflichen) Identität, durch Selbstfokussierung und durch Instabilität und Experimentierfreudigkeit. Berufliche und private Ziele werden verfolgt und revidiert, wie sich an Studien- und Ausbildungsabbrüchen und häufigen Wohnortwechseln ablesen lässt (Seiffge-Krenke 2015).

Vor dem Hintergrund verschiedener soziokultureller Strömungen ist auch eine Verbreitung individualisierter Wertsysteme beobachtbar, die sich v.a. im Streben nach beruflicher Selbstverwirklichung zeigt. Die Generation Y will mehr Freiheit, Anerkennung und Berücksichtigung ihrer privaten Lebenswelt und Bedürfnisse (Hurrelmann/Albrecht 2014). Ob das für alle „Emerging Adults“ gilt, ist fraglich. Was ist mit der „Forgotten Half“ (um im Jargon zu bleiben), die nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft aufwächst?

Sie erhalten seltener finanzielle Unterstützung durch ihre Eltern, sondern eher durch öffentliche Förderprogramme. Das Bundesprogramm zur Benachteiligtenförderung hat 1980 mit seiner Namensgebung die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Verantwortung gelenkt, Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Drei Dekaden später wurden die Probleme mit dem Hinweis auf mangelnde Ausbildungsreife in der Person der Ausbildungsbewerber gesucht. Verbunden damit war jedoch auch der Appell, aktiv zu werden und die Berufsvorbereitung in und nach der Schule zu intensivieren. 2004 wurde vom Bund, den Ländern und der Wirtschaft ein Pakt für Ausbildung geschlossen und u.a. Maßnahmen zur Zusammenarbeit von Schule und Wirtschaft und zu Einstiegspraktika vereinbart (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland 2006).

1.2 Situation auf dem Arbeitsmarkt

Seit 2006 – zwei Jahre nach dem Pakt für Ausbildung – ist eine Menge passiert. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt hat sich entspannt. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren ist gesunken (Rhein/Stüber 2014) und die Chancen auf Ausbildungsstellen haben sich seitdem deutlich verbessert (Krewerth/Eberhard/Gei 2014).

Parallel dazu wurden Angebote zur Berufs- und Stellenfindung ausgebaut, die Berufsorientierung und -vorbereitung in den Schulen wurde erweitert und die Zusammenarbeit mit Betrieben wurde intensiviert. Die berufliche Benachteiligtenförderung der Bundesregierung erlebte einen Paradigmenwechsel von kurativen zur präventiven Maßnahmen. Berufsvorbereitung setzt nicht erst nach Schulende ein, sondern schon während der Sekundarschulzeit (Heister et al. 2012). Es gab das Programm Schule-Wirtschaft, in dem die Zusammenarbeit erprobt wurde (Deeken/Butz 2010). Es gab spezielle Programme zur „Beruflichen Qualifizierung von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf“ (Kompetenzen fördern) und zurzeit läuft das Berufsorientierungsprogramm des Bundes, das wir wissenschaftlich begleiten.

Auch die Bundesländer werden aktiv. Baden-Württemberg führt zum Schuljahr 2016/2017 das Fach Wirtschaft und Berufsorientierung ein (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2015). „Ab der siebten, in den Gymnasien ab der 8. Klasse wird es in allen weiterführenden Schulen Pflicht. In den Gymnasien drei Stunden pro Woche, in Real- und Gemeinschaftsschulen sogar fünf Wochenstunden.“ (SZ vom 06.11.15)

Dennoch wird der Berufswahlprozess für die meisten Schulabgänger subjektiv nicht leichter. Auch von den erfolgreichen Bewerbern hatte nur jeder dritte Hauptschüler 2012 keine Probleme eine Ausbildungsstelle zu finden, wie die letzte Bewerberbefragung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) ergab (Krewerth et al. 2014). In der BIBB-Bewerberbefragung werden ca. 3.000 Jugendliche aus den Kundenlisten der Arbeitsagentur erfasst. Das sind Jugendliche, die dem Markt als Bewerber zur Verfügung stehen, die also schon eine wichtige Hürde genommen haben. Hauptgründe für die Einmündungsprobleme sind: ein eingeschränktes Berufswahlspektrum und fehlende Angebote in strukturschwachen Gebieten, aber auch grundlegende Veränderungen der Arbeitswelt.

Insgesamt sind Prognosen nicht mehr sicher und es wird mehr Flexibilität verlangt. Wir haben nicht nur mehr Teilzeitbeschäftigte, mehr Zeitverträge, sondern auch die Beschäftigungsdauer ist zumindest bei jungen Leuten deutlich gesunken (insgesamt nicht), in 10 Jahren um 30% von 2,5 auf 1,8 Jahre (Rhein/Stüber 2014). Sozialer Wandel wirkt immer zuerst bei Jugendlichen (Pinquart/Silbereisen 2007).

Formale Bildungsabschlüsse bieten nicht mehr im gleichen Maße Gewähr für Beschäftigung wie früher. Es sind zusätzliche Kompetenzen notwendig, um den komplexeren Anforderungen moderner Arbeitsverhältnisse gerecht zu werden.

1.3 Passungsprobleme

Der Ausbildungsmarkt steht in den letzten Jahren vor wachsenden Passungsproblemen. Sowohl die Zahl der unversorgten Bewerber um Ausbildungsstellen steigt (Versorgungsproblem) als auch die Zahl der unbesetzten Lehrstellen (Besetzungsproblem) (Matthes/Ulrich 2014). Daran konnten doppelte Abiturjahrgänge und die Abschaffung der Wehrpflicht nur vorübergehend etwas ändern.

Fachkräftemangel ist auch dadurch bedingt, dass die Zahl der Jugendlichen sinkt. Langfristig ist der Geburtenrückgang ein ernstes Problem. Der aktuelle und prognostizierte Arbeitskräftebedarf besteht weniger im akademischen Bereich, sondern vor allem bei Arbeitnehmern, die eine betriebliche Lehre oder eine Berufsfachschule abgeschlossen haben (Nida-Rümelin 2014). Neben den sinkenden Zahlen trägt deshalb auch die steigende Studienneigung der Schulabgänger zum Fachkräftemangel bei. Wir verzeichnen eine anhaltende Bildungsexpansion.

Aber es gibt auch zunehmend mehr unversorgte Bewerber, sogar unter den ausbildungsreifen Jugendlichen. Nach Daten aus den Geschäftsstatistiken der BA und BiBB-Erhebungen stehen 13,6% suchenden Jugendlichen 6,2% freien Ausbildungsstellen gegenüber (Matthes/Ulrich 2014).

2 Anspruchsvolle Bewerber

Berufsentscheidungen passen sich den veränderten Arbeitsverhältnissen an. Nach wie vor sind sie weitreichend. Berufswähler platzieren sich in der Hierarchie der Gesellschaft, sie entscheiden sich für einen Lebensstil, sie finden einen Weg der Work-Life-Balance und sie entscheiden sich für Wege ihrer persönlichen Entwicklung (Ratschinski 2013).

Die Angebotsseite für Berufswähler hat sich jedoch verändert. Berufe bieten keine Planungssicherheit mehr. Das in der Ausbildung Gelernte hat angesichts des schnellen technologischen Wandels nur eine geringe Halbwertzeit und nicht alle Arbeit gebende und ausbildende Betriebe können sich im globalen Wettbewerb behaupten. Arbeitgeber überlassen die Investitionen in Fort- und Weiterbildungen zunehmend den Arbeitnehmern und stellen seltener Karriereleitern bereit. Die Sicherstellung der „Employability“ ist Sache der Mitarbeiter.

Kein Wunder, dass die meisten jungen Menschen die Berufsentscheidung als schwierig erleben, wie z.B. die McDonalds Ausbildungsstudie ergab (McDonalds Deutschland Inc. 2013, 55). Dennoch schauen Jugendliche optimistisch in die Zukunft. Sie sind überzeugt, die Zukunft durch eigene Leistungen positiv beeinflussen zu können und sehen mit Hoffnung in die Zukunft (ebd., 13). Aber wenn man der Presse und einigen Veröffentlichungen traut, haben sich die Wertorientierungen verändert.

2.1 Generation Y

Die Generation Y der Jugendlichen, die von Mitte der 1980er bis 2000er Jahre geboren wurden und die jetzt in den Arbeitsmarkt drängen, hat andere Ansprüche an Beruf und Arbeit. Sie sind mit Handy und Internet aufgewachsen und können ganz natürlich damit umgehen. Das sind „Digital Natives“, wie manche sagen, die eine technikaffine Lebensweise pflegen. Die besten Informationen über sie erhält man naheliegender Weise über Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Digital_Native. Aber auch Personalberatungsunternehmen geben regelmäßig die Ergebnisse ihrer Befragungen bekannt (Ernst & Young GmbH 2013).

Diese Jugendlichen kennen den Arbeitsmarkt, sie wissen, wie gefragt sie sind und treten entsprechend selbstbewusst auf. Sie wissen aber auch, dass sie ihre Karrierepläne flexibel halten müssen. Sie schmieden kurzfristigere Pläne, die zu ihrem aktuellen Lebensstil passen (Bieber 2013, 228). Bindungen an Berufe und Betriebe werden zu persönlichen Projekten, die zielorientiert und zeitbegrenzt sind (Savickas 2011).

Karriere ist für viele nicht mehr Selbstzweck. Sie fragen bei der Einstellung seltener danach, wann der Chefposten frei wird, sondern häufiger, wann sie ihr erstes Sabbatjahr nehmen können. Freunde und Familie sind wichtiger, der Stellenwert der Arbeit wird reduziert, Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird angestrebt. Entfaltungschancen werden gesucht, Selbstbestimmung, Autonomie werden wichtiger und Selbstverwirklichung bekommt einen hohen Stellenwert. Früher hat man eine ähnliche Einstellung Postmaterialismus genannt. Nicht Gehalt, Sicherheit und Karriere sind wichtig, sondern Selbstverwirklichung.

Beides gilt jedoch nicht für alle, sondern eher für die Gewinner von gesellschaftlichen Entwicklungen. Inwieweit die Beobachtungen verallgemeinerbar sind, kann bezweifelt werden. Internationale Studien haben gezeigt, dass weder die Bindung an die Betriebe gesunken ist, noch die Wechselbereitschaft zugenommen hat  (Brenker/Bajwa 2013). Für die meisten ist es wichtig, eine Arbeit in der Heimatregion zu finden (Granato/Matthes/Schnitzler/Ulrich/Weiß 2016). Ernst & Young haben Studienabsolventen befragt, meist der Wirtschafts- und der Ingenieurwissenschaften. Die neuen Aspirationen und Wertorientierungen gelten noch für Minderheiten, wenn auch mit zunehmender Tendenz. Drei von vier streben nach wie vor Führungspositionen an. So revolutionär sind also die Veränderungen nicht.

Für Jugendliche mit schlechten Startbedingungen hat Sicherheit immer noch einen hohen Stellenwert. Und für Jugendliche mit Migrationshintergrund stellt sich die Wertediskussion anders dar.

2.2 Berufswahlverhalten aus zwei Perspektiven

Auch bezogen auf das Berufswahlverhalten ergeben sich zwei gegensätzliche Perspektiven: Zum einen gibt es den rational entscheidenden Berufswähler, der aktiv und selbständig nach Informationen über Berufe sucht, vielfältige Ressourcen nutzt – v.a. das Internet – Ansprüche stellt und subjektiv sinnstiftende Entscheidungen trifft.

Zum anderen sehen sich viele junge Menschen mit Zugangsproblemen zum Arbeitsmarkt konfrontiert. Hier fehlen wählbare Optionen und Ressourcen, Erwartungshaltungen demotivieren und die Suche nach Kompromissen und Bewältigungsparcours dominiert (Balz 2010). Sie glauben seltener, dass jeder seines Glückes Schmied ist (McDonalds Deutschland Inc 2013). Berufe, die für sie zugänglich sind, haben schlechtere Arbeitsbedingungen und deutlich höhere Abbruchquoten (DGB Bundesvorstand - Abteilung Jugend 2014), so dass der Einstieg in Ausbildung nicht gleichbedeutend mit dem Einstieg in den Beruf ist.

2.3 Ansprüche schwacher Bewerber

Aber auch diese Jugendlichen haben Ansprüche. Die Generation ist so oft gelobt worden wie keine vorher, sowohl in der Schule als auch zuhause (Hurrelmann/Albrecht 2014). Sie suchen – ebenso wie alle – eine Arbeit, die Spaß macht. Das ist mit 71% die größte Erwartung vor dem sicheren Arbeitsplatz mit 64% (McDonalds Deutschland Inc 2013, 31).

Umgangsformen sind nicht nur für Arbeitgeber wichtig, sondern auch für Auszubildende. Die meisten Ausbildungen werden nach Konflikten mit Vorgesetzten abgebrochen. Die Bedingungen des Aufwachsens ändern sich: Eltern und Lehrer sind nachsichtiger, behandeln Kinder eher gleichberechtigt. Wenn Betriebe nicht mitziehen, erhöht das die Abbruchquote. Eine Kollegin hat das „Respekt“ genannt. Jugendliche erwarten „Respekt“. Das kennt man aus dem Sprachjargon der Migrantenjugendlichen. Sie wollen Aufgaben, die ihnen sinnvoll und verständlich erscheinen. Sie sollten nicht als Abwertung oder Machtausübung erlebt werden (Clement 2014).

 „Flexible Arbeitszeiten, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Work-Life-Balance“ sind „die großen Anliegen der Generation Y. Belastungen und Unsicherheiten haben extrem zugenommen“. Die Schule setzt sie unter Druck und das Arbeitsleben ist härter geworden. „Deshalb haben sie schon früh ein Gespür dafür entwickelt, wo ihre Grenzen liegen. Die Generation Y stellt ihre Forderungen also nicht, weil sie „anspruchsvoll“, „verwöhnt“ oder „arbeitsscheu“ wäre, wie es manchmal heißt. Es ist vielmehr der Versuch auch ohne Burnout langfristig engagiert und motiviert arbeiten zu können. Denn Dienst nach Vorschrift ist nie ihre Sache gewesen.“ (Hurrelmann/Albrecht 2014, 176)

Egotaktiken zur Problemlösung (ebd., 178) gelten für moderne Jugendliche, gleich welcher Herkunft. Dazu gehören Offenhalten der Entscheidungen, Selbstdisziplin und Selbstoptimierung (Sport wird zum modischen Lifestyle-Accessoire) und ein strategisches Bündnis mit den Eltern: Eltern finanzieren alles. 38% der 22-25jährigen nutzen das All-inclusive-Angebot von „Hotel Mama“. „Auch bei der übergroßen Mehrheit der sozial schwächeren Ypsiloner funktionieren die Strategien der Stressabwehr“ (ebd., 181).

2.4 Aktuelle Entwicklungen

Aktuelle Erhebungen zeigen, dass die Ansprüche der Generation Y abgeschwächt werden. Work-Life-Balance ist zwar nach wie vor Ziel der oberen und mittleren Schichten, aber Migrations- und Unterschicht-Jugendliche entscheiden sich entweder für Beruf und Karriere oder für Familie und Kinder. Viele haben Zweifel, „angesichts ihrer höchst unsicheren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und den momentan schwer berechenbaren Arbeitsbedingungen (befristete Verträge, unsichere Laufzeiten, eventuelle Ortswechsel usw.), sowohl eine gute Kindererziehung als auch eine sichere Berufslaufbahn verwirklichen zu können“ (Leven/Quenzel/Hurrelmann 2015, 62).

Familiengründung ist nach wie vor Ziel der meisten deutschen Jugendlichen. Der Anteil ist jedoch in den letzten Jahren deutlich reduziert. In der Shellstudie 2015 stimmten nur noch 62% der Aussage zu: „Man braucht eine Familie, um glücklich zu sein“. Vorher war der Prozentsatz bis 2010 ständig gewachsen, von 70% im Jahr 2002 über 72% 2006 auf 76% im Jahr 2010 (Leven et al. 2015, 58). Auch Kinderwünsche werden seltener. 2010 wünschten sich noch 43% Kinder, 2015 sind es nur noch 41%. Diese Tendenzen sind ausgeprägter bei männlichen Jugendlichen, Jugendlichen aus Ballungsräumen und besonders bei Jugendlichen der unteren Sozialschicht. Unter Migranten sind solche Veränderungen nicht zu beobachten. Familie und Kinder haben einen ungebrochen hohen Stellenwert. 71% haben Familiengründungen vor und 55% wünschen sich Kinder.

3 Jugendliche im Übergangsbereich

Jugendliche nutzen das Übergangssystem durchaus als Moratorium und als Möglichkeit ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern. 30% der Jugendlichen, die eine Übergangsmaßnahme bis zum Ende durchlaufen haben, konnten einen zusätzlichen Schulabschluss erwerben (Wei 2015).

Und viele erleben die Wartezeit nicht als nutzlose Umwege oder Sackgassen. Sie beurteilen die Erfahrungen als für sie wichtig und nützlich. Im DJI-Übergangspanel, in dem die Entwicklung von Hauptschulabsolventen sechs Jahre begleitet wurde, waren 80% sicher, dass ihnen die Angebote nutzen werden (Reißig 2016, 22). Noch positiver fielen die Bewertungen im BIBB-Übergangspanel 2006 aus, obwohl über zwei Drittel in Maßnahmen des Übergangsbereichs eingemündet sind, weil sie keine Lehrstelle fanden. 85% berichten von (eher oder sehr) hoher Freude an der Maßnahmenteilnahme, 82% sahen darin einen eher hohen oder sehr hohen fachlichen Nutzen, 79% sahen einen hohen Nutzen für die persönliche Entwicklung und 86% für den weiteren beruflichen Werdegang (Ulrich 2008, 13). Ähnliche Ergebnisse werden aus regionalen Studien berichtet (Rahn/Bührmann/Hartkopf 2015).

Möglicherweise wirkt ein allgemeines Prinzip, das wir aus biographischen Retrospektiven kennen: Biographische Entscheidungen werden rückblickend (post hoc) rationalisiert, auch wenn ursprünglich anderes geplant war (Lynn 2009).

3.1 Schulische Berufsorientierung

Praktikern der Benachteiligtenförderung war lange klar, dass für die 70% der Schüler, die keinen höherwertigen Abschluss erreichen, ein Jahr Berufsorientierung nach Ende der allgemeinbildenden Schulzeit nicht ausreicht, um diese Schüler angemessen auf die Ausbildung vorzubereiten. Das Benachteiligtenprogramm des Bundes wurde deshalb 25 Jahre nach seiner Einführung um Maßnahmen der schulischen Berufsorientierung erweitert (Pahl 2005). Vom aktuellen Berufsorientierungsprogramm des Bundes haben inzwischen über 800.000 Haupt- und Realschüler der Klassen 7 bis 9 profitiert (www.berufsorientierungsprogramm.de). Die Frage, welche Programminhalte vermittelt werden sollen, ist gleichzeitig eine Operationalisierung der Ausbildungsfähigkeit und -bereitschaft. Der erschwerte Zugang zum Arbeitsmarkt verlangt ein Repertoire an Bewältigungskompetenzen, die nicht nur zur beruflichen Selbstwirksamkeit beitragen (Seiffge-Krenke/Persike/Luyckx 2013), sondern auch auf ein Berufsleben vorbereiten, das weniger vorhersagbar ist. Wir haben dafür das Konzept der Berufswahlreife neueren Entwicklungen angepasst und als Berufswahlkompetenz zur Zielgröße erfolgreicher Berufsorientierung gemacht (Ratschinski/Sommer/Struck 2013). Auch zu diesem Thema hat Arnulf Bojanowski wichtige Anregungen gegeben (Bojanowski 2012a; Ratschinski/Bojanowski 2013).

Literatur

Arnett, J. J. (2000): Emerging adulthood. A theory of development from the late teens through the twenties. In: American Psychologist, 55, 5, 469-480.

Balz, H.-J. (2010): Berufswahl, Übergang Schule – Beruf, benachteiligte Jugendliche. In: Huber, G. L. (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Pädagogische Psychologie, Beratung, Prävention und Intervention in Problemsituationen. Weinheim, 52.

Beicht, U./Eberhard, V. (2013): Ergebnisse empirischer Analysen zum Übergangssystem auf Basis der BIBB-Übergangsstudie 2011. Die Deutsche Schule, 105, 1, 10-27.

Bieber, P. (2013): Digital Natives rekrutieren. In: Appel, W./Michel-Dittgen, B. (Hrsg.): Digital Natives. Was Personaler über die Generation Y wissen sollten. Wiesbaden, 225-237.

Bojanowski, A. (2012a): Jugend im Übergang - oder: Unter welchen jugendpädagogischen Bedingungen machen wir eigentlich Kompetenzfeststellung? In: Stadt Offenbach: Amt für Arbeitsförderung Statistik und Integration (Hrsg.): Berufsorientierung und Kompetenzen. Methoden – Tools – Projekte. Bielefeld, 127-142.

Bojanowski, A. (2012b): "Moratorium 2.0". Oder: Wie das Übergangssystem in Sozialisations- und Individuationsprozesse eingreift. In: Ratschinski. G./Steuber. A. (Hrsg.): Ausbildungsreife. Kontroversen, Alternativen und Förderansätze. Wiesbaden, 115-132.

Brenker, M./Bajwa, N. (2013): Generation Y – Revolution am Arbeitsplatz abgesagt. The Inquisitive Mind. Online: http://de.in-mind.org/article/generation-y-revolution-am-arbeitsplatz-abgesagt (23.09.2014).

Clement, U. (2014): Eine Frage der Ehre. Was Jugendlichen den Einstieg ins Berufsleben erleichtert. In: Sturm, H./Schulze, K./Glüsing-Alsleben, A./Großberger, L./Thomsen, G./ Wald/Zschiesche, T. (Hrsg.): Die Zukunft sichern: Jugend, Ausbildung, Teilhabe. AvDual – Dualisierung und Regionalisierung der Ausbildungsvorbereitung in Hamburg. Hamburg, 125-134.

Deeken, S./Butz, B. (2010): Berufsorientierung. Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Expertise im Auftrag des Good Practice Center (GPC) im Bundesinstitut für Berufsbildung. Bonn.

DGB Bundesvorstand – Abteilung Jugend (Hrsg.) (2014): Ausbildungsreport 2014. Berlin: Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB). Online: http://www.jugend.dgb.de/ausbildung (01.10.2014).

Eberhard, V./Beicht, U./Krewerth, A./Ulrich, J. G. (2013): Perspektiven beim Übergang Schule – Berufsausbildung. Methodik und erste Ergebnisse der BiBB-Übergangsstudie 2011. Bonn.

Ernst & Young GmbH (2013): Absolventenstudie 2012-2013. Ergebnisbericht. Hamburg. Online: www.ey.com/Publication/.../EY-Absolventenbefragung-2013-Studie.pdf (02.06.2014).

Granato, M./Matthes, S./Schnitzler, A./Ulrich, J. G./Weiß, U. (2016): Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“? Berufsorientierung von Jugendlichen am Beispiel zweier verwandter und dennoch unterschiedlich nachgefragter Berufe. BIBB Report, 10, 1, 1-18.

Heister, M./Puhlmann, A./Acker, C./Bylinski, U./Dionisius, R./Gutschow, K. et al. (2012): Schwerpunktthema. Übergänge von der Schule in die Ausbildung. In: Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2012. Bonn, 373-394.

Hurrelmann, K./Albrecht, E. (2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim.

Krewerth, A./Eberhard, V./Gei, J. (2014): Orientierung im Ausbildungsdschungel. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), 43, 1, 20-24.

Leven, I./Quenzel, G./Hurrelmann, K. (2015): Familie, Bildung, Beruf, Zukunft: Am besten alles. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.): 17. Shell Jugendstudie. Jugend 2015. Frankfurt a. M., 47-110.

Lynn, P. (2009): Methods for longitudinal surveys. In: Lynn, P. (Hrsg.): Methodology for longitudinal surveys. Chichester, 1-19.

Matthes, S./Ulrich, J. G. (2014): Wachsende Passungsprobleme auf den Ausbildungsmarkt. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), 43, 1, 5-7.

McDonalds Deutschland Inc. (Hrsg.) (2013): McDonalds Ausbildungsstudie 2013: Pragmatisch glücklich. Azubis zwischen Couch und Karriere. Eine Repräsentativbefragung junger Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren. München.

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2015): Bildungsplan 2016. Allgemein bildende Schulen. Sekundarstufe I. Stuttgart.

Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland (2006): Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife. Ein Konzept für die Praxis, erarbeitet vom "Expertenkreis Ausbildungsreife" im Auftrag des Pakt-Lenkungsausschusses, vorgelegt zur Sitzung des Paktlenkungsausschusses am 30. Januar 2006. Berlin.

Nida-Rümelin, J. (2014): Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Bonn.

Pahl, V. (2005): Grußworte zur Tagung. In: Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Benachteiligtenförderung. 25 Jahre berufliche Benachteiligtenförderung – vom Modellprogramm zur Daueraufgabe. Bonn, 11-18.

Pinquart, M./Silbereisen, R. K. (2007): Sozialer Wandel. In: Hasselhorn, M./Schneider, W. (Hrsg.): Handbuch der Psychologie, Band 7: Entwicklungspsychologie. Göttingen, 443-453.

Rahn, S./Bührmann, T./Hartkopf, E. (2015): Geplantes Verhalten im Übergangsprozess? Berufsorientierungs- und Übergangsprozesse von Schülerinnen und Schülern einjähriger Bildungsgänge des Übergangssegments. In: Seifried, J./Seeber, S./Ziegler, B. (Hrsg.): Jahrbuch der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung 2015. Opladen, 59-71.

Ratschinski, G. (2013): Veränderung und Veränderbarkeit – Vorberufliche Sozialisation. In: Huber, G. L. (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Pädagogische Psychologie, Bedingungen pädagogischer Einflussnahme. Weinheim.

Ratschinski, G./Bojanowski, A. (2013): Benachteiligtenförderung in der Berufsorientierung. In: Brüggemann, T./Rahn, S. (Hrsg.): Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Münster, 185-197.

Ratschinski, G./Sommer, J./Struck, P. (2013): Evaluation des BMBF-Programms zur "Förderung der Berufsorientierung in überbetrieblichen und vergleichbaren Berufsbildungsstätten" – erster Zwischenbericht. Bonn: BMBF. Online: http://www.berufsorientierungsprogramm.de/html/de/103_583.php (17.03.2014).

Reißig, B. (2016): Übergänge von der Schule in den Beruf. Forschungsbefunde und Herausforderungen. In: Kühnel, W./Zifonun, D. (Hrsg.): Übergangspraxis. Zur Gestaltung des Übergangs von der Schule in den Beruf. Weinheim, 12-28.

Rhein, T./Stüber, H. (2014): Beschäftigungsdauer im Zeitvergleich. Bei Jüngeren ist die Stabilität der Beschäftigung gesunken. IAB-Kurzbericht 3/2014, 1-6.

Savickas, M. L. (2011): Career counseling. Washington, D.C.: American Psychological Association.

Seiffge-Krenke, I. (2015): "Emerging Adulthood": Forschungsbefunde zu objektiven Markern, Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsrisiken. In: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 63, 3, 165-173.

Seiffge-Krenke, I./Persike, M./Luyckx, K. (2013): Factors contributing to different agency in work and study: A View on the "Forgotten Half". Emerging Adulthood, 1, 4, 283-292.

Uhly, A. (2015): Alter der Auszubildenden und Ausbildungsbeteiligung der Jugendlichen im dualen System. In: Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2015. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn, 163-171.

Ulrich, J. G. (2008): Jugendliche im Übergangssystem – eine Bestandsaufnahme. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, bwp@ Spezial 4 - HT2008, 1-21. Online: http://www.bwpat.de/ht2008/ws12/ulrich_ws12-ht2008_spezial4.pdf (14.01.2016).

Weiß, R. (2015): Viel hilft nicht immer viel: Wirkung von Fördermaßnahmen im Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung – Einführung und Überblick. In: Solga, H./Weiß, R. (Hrsg.): Wirkungen von Fördermaßnahmen im Übergangssystem. Forschungsstand, Kritik, Desiderata. Bielefeld, 7-23.

Zitieren des Beitrags

Ratschinski, G. (2017): Der vergessene Teil der Generation Y. Haben sich auch die Zukunftserwartungen benachteiligter Jugendlicher verändert? In: bwp@ Spezial 15: Berufliche Förderpädagogik: Von der analy­tischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski, hrsg. v. Koch, M./Ratschinski, G./ Steckert, R./Steuber, A./Struck, P., 1-10. Online: http://www.bwpat.de/spezial15/ratschinski_spezial15.pdf  (08-09-2017).