bwp@ Spezial 10 - November 2015

Berufsbildungsforschung im Gesundheitsbereich

Hrsg.: Ulrike Weyland, Marisa Kaufhold, Annette Nauerth & Elke Rosowski

Die besondere Ungewissheit im Handeln – bildungstheoretisch und empirisch fundierte Kompetenzerfassung am Beispiel gerontopsychiatrischer Pflegepraxis

Professionelle Pflege wird vor dem Hintergrund demografischer Entwicklung immer wichtiger. Damit gewinnen in diesem Berufsfeld Bildungsgänge, die an bestehenden sowie zukünftigen Versorgungsbedarfen ausgerichtet werden, weiter an Bedeutung. Bei der Entwicklung pflegeberuflicher Curricula sind jedoch erhebliche Defizite zu beobachten. So wird u.a. die Perspektive der beruflichen Praxis oftmals unzureichend berücksichtigt. Darüber hinaus ist in den meisten bundes- oder landesweit geregelten Aus- und Weiterbildungen für die Pflegeberufe eine bildungstheoretische Fundierung nicht erkennbar.

Die dargestellten Aspekte aufgreifend, wird im Folgenden ein mögliches Vorgehen für eine bildungstheoretisch und empirisch fundierte Konstruktion von Curricula in der pflegeberuflichen Bildung dargestellt. Hierzu wurden in der zugrunde liegenden Forschungsarbeit[1] die „Schlüsselprobleme“ im Arbeitsfeld der gerontopsychiatrischen Pflege aus der Perspektive der dort tätigen Pflegekräfte empirisch analysiert. Als Ergebnis konnte die „Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln“ entwickelt werden. Zu dieser wurden – im Sinne eines kausalen Handlungsmodells – zudem Ursachen, intervenierende Bedingungen sowie Handlungsstrategien und Konsequenzen für das untersuchte Arbeitsfeld ausgearbeitet.

Um auf diesen Wege analysierte Schlüsselprobleme darüber hinaus zur Grundlage eines entsprechenden Curriculums machen zu können, wurden zudem aus der „Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln“ – unter Anwendung der Interaktionistischen Pflegedidaktik – im Berufsfeld benötigte Kompetenzen abgeleitet.


[1] Der zugrunde liegende Beitrag greift dabei zentrale Aspekte aus der Dissertation des Autors auf (vgl. Evers 2012).

1 Ausgangslage

Aufgrund vielfältiger Entwicklungen und sich ändernder Rahmenbedingungen kommt der Qualifikations- und Curriculumforschung eine wesentliche Rolle zu – sie stellt eine anspruchsvolle wissenschaftliche Aufgabe im Rahmen der Bildungsforschung dar (vgl. Buchmann/Huisinga 2006, 1). Diese Aussage ist u.a. in der Einführung des Lernfeldkonzeptes in die berufliche Bildung begründet, denn seitdem haben praxisnahe Arbeitssituationen für den Entwicklungsprozess beruflicher Curricula zunehmend an Bedeutung gewonnen (vgl. Pätzold/Rauner 2006, 9). Um derartige Situationen im Sinne der Berufswissenschaft bzw. der bildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung analysieren zu können, bietet sich nach übereinstimmender Meinung zahlreicher Autoren ein empirischer Zugang zum Berufsfeld an (vgl. Becker/Spöttl 2008, 17; Huisinga/Buchmann 2006, 29ff.). Somit sollte ein zentraler Schwerpunkt berufswissenschaftlicher Forschung die systematische und empirische Untersuchung der in Berufen organisierten Arbeit sein; dies verbunden mit dem Ziel, „[…] gewonnene Erkenntnisse für die Gestaltung von Berufsbildern, Curricula und beruflichen Lernens zu nutzen“ (Becker/Spöttl 2008, 24). Die empirische Analyse einer beruflichen Praxis erfährt dabei in der berufswissenschaftlichen Forschung eine breite Akzeptanz. Ist sie doch neben anderen relevanten Parametern wie z.B. den gesellschaftlich gewichtigen Bildungsansprüchen eine der Säulen für die Gestaltung von Berufsbildern und Curricula (vgl. Becker/Spöttl 2008, 32).

Hinsichtlich der geforderten empirischen Fundierung beruflicher Bildung sind in der gängigen Forschungspraxis bislang jedoch erhebliche Defizite zu erkennen:

„Eine konsequente Hinwendung zu einer empirischen Berufsbildungs- und Qualifikationsforschung fand in den vergangenen Jahrzehnten nicht statt, so dass bis heute vor allem Wissen über Berufsarbeit und Arbeitsprozesse und deren Zusammenhänge in vielen Gebieten nur unzureichend erschlossen ist. Dies gilt insbesondere für Erkenntnisse zur Unterstützung der Kompetenzentwicklung für einen Beruf“ (Becker/Spöttl 2008, 15).

In der logischen Folge daraus können Curricula auch nicht konsequent aus der Perspektive der beruflichen Praxis heraus konstruiert werden (vgl. ebd.). Einschränkend muss in diesem Kontext zudem auf eine Erkenntnis verwiesen werden, die bereits Rauner (1999, 343) machen musste, dass nämlich berufliche Curricula bzw. entsprechende Ordnungsmittel nicht zwangsläufig Ergebnis berufswissenschaftlicher Untersuchungen sind. Sie sind vorrangig Resultat interessengeleiteter Aushandlungsprozesse, zu denen die berufswissenschaftliche Forschung einen argumentativen Beitrag leisten kann. Vor diesem Hintergrund wird der Beitrag berufswissenschaftlicher Forschung an der Entwicklung beruflicher Curricula eher skeptisch eingeschätzt (vgl. Becker/Spöttl 2008, 34). Die steigende Relevanz des Forschungsfeldes im Gesamten ist jedoch unbestritten.

Grundsätzlich wird als Begründungsrahmen für die berufliche Bildung innerhalb Deutschlands – entsprechend den Empfehlungen und Rahmenrichtlinien der Kultusministerkonferenz – auf die drei Elemente Bildungsauftrag, Berufsfähigkeit und berufliche Kompetenzentwicklung zurückgegriffen. Hiernach sind in den Curricula und Rahmenlehrplänen beruflicher Bildungsgänge der leitende Bildungsanspruch sowie eine Orientierung an den zu erwerbenden Kompetenzen explizit berücksichtigt (vgl. Rauner/Grollmann/Martens 2007, 4f.). Diesbezüglich nimmt die pflegeberufliche Bildung im Vergleich zu anderen beruflichen Bildungsgängen jedoch eine Sonderstellung ein: Die einschlägigen Ausbildungen werden auf der Grundlage eigenständiger, bundeseinheitlicher Berufszulassungsgesetze durchgeführt. Sie finden damit außerhalb des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) und damit auch außerhalb des „dualen Systems“ statt (vgl. Becker/Meifort 2006, 151). Dies hat u. a. zur Folge, dass jedes Bundesland einzeln für die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung der genannten pflegebezogenen Berufsgesetze zuständig ist und diese entsprechend individuell gestalten kann; die für andere Berufsausbildungen geltenden übergeordneten Rahmenrichtlinien und Empfehlungen der KMK finden nicht zwingend Anwendung. Als Konsequenz der fehlenden gemeinsamen Vorgaben haben sich bundesweit sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen zur Durchführung der Pflegeausbildungen entwickelt. Hier sind z. B. die Verortung der Schulen, die vorausgesetzte Qualifikation der dort tätigen Lehrkräfte oder die Erhebung von Schulgeld zu nennen. Vergleichbare Rahmenbedingungen zur Durchführung der bundesweit geltenden Berufsgesetze sind somit nicht gegeben. Dies gilt auch für möglichst verbindliche curriculare Vorgaben (vgl. Vogel 2006, 404).

In der Folge daraus lassen sich in den bundesweit geltenden Berufsgesetzen der Pflegeberufe keine expliziten Aussagen zum Thema Bildung finden; auch hier gestaltet sich die Situation länderspezifisch sehr unterschiedlich. Von einem einheitlichen Bildungsauftrag oder einer einheitlichen und verbindlichen Umsetzung einer Kompetenzorientierung kann folglich nicht die Rede sein. Diese Problematik spitzt sich zudem innerhalb fachspezifischer Bildungsmöglichkeiten der Pflegeberufe weiter zu: Betrachtet man hier die fachlich relevanten Fort- und Weiterbildungen z. B. in der Palliativpflege oder der gerontopsychiatrischen Pflege, muss festgestellt werden, dass sich die Situation im bundesweiten Vergleich sehr heterogen darstellt:

„Nur in einzelnen Berufen existieren verbindliche, staatlich geregelte Vorgaben für das Durchlaufen einer so genannten Fachweiterbildung. […] Interessant ist hierbei zu beobachten, dass sogar die Zahl der staatlich anerkannten Fachweiterbildungen von Bundesland zu Bundesland variiert“ (Evers/Nauerth 2008, 255f.).

Die Ausgangslage zusammenfassend lassen sich die in den vorliegenden Bildungsgängen für das Berufsfeld der Pflege erkennbaren zentralen Mängel somit wie folgt benennen:

  • Fehlende Verständigung auf ein leitendes Bildungsverständnis – dies trifft sowohl für die bundesweit geltenden berufsrechtlichen Grundlagen als auch gerade für die Regelungen und Curricula zu relevanten Fachweiterbildungen zu.
  • Unzureichende, in großen Teilen fehlende empirische Fundierung der Curricula – demnach findet keine berufswissenschaftliche Analyse des Berufsfeldes statt; sofern Curricula vorhanden sind, wurden diese ohne Berücksichtigung der Perspektive der in der Praxis tätigen Pflegekräfte entwickelt.
  • Unzureichende bzw. fehlende Beschreibung der zu erwerbenden Kompetenzen.

Die dargestellten Defizite aufgreifend sollen mit der zugrundeliegenden Untersuchung Grundlagen für eine bildungstheoretisch und empirisch fundierte Konstruktion von Curricula in der pflegeberuflichen Bildung geschaffen werden. Mit Blick auf die steigende Bedeutung des Arbeitsfeldes der gerontopsychiatrischen Pflege wird das noch zu skizzierende Vorgehen exemplarisch in eben diesem Arbeitsfeld angewandt. Als Ergebnis der empirischen Analyse des Arbeitsfeldes wird eine Theorie zu den bedeutsamen Arbeitssituationen der gerontopsychiatrischen Pflege aus Perspektive der Pflegekräfte entwickelt. Diese soll dann wiederum Grundlage für die normative Ableitung von Kompetenzen sein, die im Arbeitsfeld benötigt werden.

Um die hierzu leitenden Überlegungen sowie das daraus resultierende Vorgehen darlegen zu können, werden im Folgenden zunächst einige zentrale Aspekte der theoretischen Verankerung aufgegriffen.

2 Theoretische Verankerung

Innerhalb der beschriebenen Untersuchung sind zunächst die theoretischen Überlegungen und Kennzeichen einer berufswissenschaftlichen Qualifikationsforschung von Bedeutung. Darauf aufbauend wird als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen kurz ein idealtypischer Konstruktionsprozess von Curricula gekennzeichnet, der die weiteren Überlegungen der Untersuchung entscheidend bestimmt. Die in diesem Zusammenhang gemachten Ausführungen fließen dann mit ein in die kritische Auseinandersetzung zum leitenden Bildungsverständnis. Abschließend wird das Konzept der Kompetenz im Feld der beruflichen Bildung thematisiert. Damit werden die Grundlagen für eine bildungstheoretisch und zugleich empirische Fundierung von Curricula geschaffen.

2.1 Kennzeichen berufswissenschaftlicher Qualifikationsforschung

Berufsbilder und berufliche Curricula werden in der Regel auf der Grundlage von Qualifikationsanforderungen entwickelt (vgl. Becker/Spöttl 2008, 17f.). Folglich richtet sich die Qualifikationsforschung grundlegend

„[…] auf die Analyse des Zusammenhangs zwischen berufsförmig organisierter Arbeit, den darin inkorporierten Kompetenzen als der subjektiven Seite der Qualifikationsanforderungen, der Entwicklung von Berufsbildern sowie der Begründung von Ausbildungsinhalten, -zielen und -strukturen beruflicher Bildung unter Bezugnahme auf die für einen Beruf charakteristischen Arbeitsaufgaben und Handlungsfelder“ (Rauner 2006a, 240).

Die konkrete Ausgestaltung einer Qualifikationsforschung ist geprägt durch den jeweiligen Forschungskontext. Dieser nimmt z. B. immer auch Einfluss auf die zur Anwendung kommenden Methoden (vgl. Rauner 2006a, 242). Grundsätzlich lassen sich jedoch unterschiedliche Ausrichtungen der Qualifikationsforschung finden (vgl. Rauner 2006, 418f.). Aufgrund ihrer Zielsetzung ist für die zugrunde liegende Untersuchung die berufswissenschaftliche Ausrichtung der Qualifikationsforschung von Relevanz, verfolgt diese doch das Ziel „[…] die für einen Beruf charakteristischen Aufgaben und die in diesen inkorporierten Qualifikationsanforderungen zu identifizieren und zu untersuchen, welchen didaktischen Stellenwert diese Aufgaben für die Kompetenzentwicklung haben“ (Becker/Spöttl 2008, 27). Der berufswissenschaftlichen Qualifikationsforschung geht es folglich in erster Linie darum, die zur Ausübung eines Berufes benötigten Kompetenzen und die hierfür erforderlichen Lernprozesse zu ermitteln und damit die Konstruktion und Revision beruflicher Bildungsprozesse zu ermöglichen (vgl. Becker/Spöttl 2008). Hierbei ist auffällig, dass die Berufswissenschaften davon ausgehen, dass eine empirische Qualifikationsforschung die Grundlagen für den curricularen Entwicklungsprozess und damit auch für das Curriculum selbst schafft. Es wäre jedoch zu weit gegriffen, davon auszugehen, dass mit einer empirischen Qualifikationsforschung bereits das Curriculum selbst entwickelt werden könnte. Hierzu sind weitere Konstruktionsschritte notwendig (vgl. ebd.).

Um Daten der beruflichen Praxis erheben zu können, kommt in der beruflichen Qualifikationsforschung eine Vielzahl von Methoden zur Anwendung (vgl. z. B. Diekmann 2005, 17ff.), die sich drei übergeordneten Erhebungsverfahren zuordnen lassen; der Beobachtung, der Befragung und der Dokumentenanalyse (vgl. Bortz/Döring 2006, 307). Zur Analyse einer beruflichen Praxis greift die berufswissenschaftliche Qualifikationsforschung dabei auf verschiedenartige Instrumentarien zurück[1], die ihrerseits wieder die genannten unterschiedlichen Methoden zum Einsatz bringen. Neben Arbeitsbeobachtungen sind hier immer auch handlungsorientierte Fachinterviews oder Fachdiskussionen zu nennen.

Nach Einschätzung von Darmann-Finck/Foth (2011, 171) hat sich gerade für den pflegeberuflichen Bereich in Deutschland eine berufswissenschaftliche Qualifikationsforschung etabliert. Denn im Unterschied zur sozialwissenschaftlich angeleiteten Qualifikationsforschung umfasst diese Ausrichtung auch arbeitswissenschaftliche, arbeitspsychologische, industriesoziologische, berufspädagogische und curriculare Felder. Berufswissenschaftliche Qualifikationsforschung versucht somit, die Zusammenhänge zwischen den im beruflichen Handeln wirksamen Kompetenzen aufzuzeigen und so Ziele, Inhalte und Strukturen beruflicher Bildung zu legitimieren (vgl. ebd., 171f.). Mit dieser Aussage bringen die beiden Autoren gleichzeitig auch den unmittelbar erkennbaren Zusammenhang zwischen berufswissenschaftlicher Qualifikationsforschung und der Konstruktion von Curricula zum Ausdruck: Auch für sie stellen die Ergebnisse einer entsprechend ausgerichteten empirischen Qualifikationsforschung die Grundlage für die weitere Entwicklung von Curricula dar.

2.2 Die prozesshafte Entwicklung von Curricula

In der Literatur findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze zum Begriff „Curriculum“. Diese führt zu einer Unschärfe im Verständnis (vgl. Jongebloed 2006, 209). In einer engeren Definition ist damit ein Dokument gemeint, in dem festgelegt wird, welche Lernergebnisse mit einem Bildungsangebot intendiert werden und anhand welcher Inhalte und Methoden und in welchen Schritten diese erreicht werden sollen (vgl. Oelke 2008, 1f.). Als Beispiel für ein engeres Verständnis kann Knigge-Demal (2001, 42) genannt werden. In Anlehnung an die Ausführungen Robinsohns (1967) wird nach ihr ein Curriculum als „[…] ein Dokument verstanden, in dem mehr oder weniger differenziert festgelegt ist, zu welchen Lernergebnissen Unterricht führen soll“. Hierzu muss jedoch ergänzt werden, dass Knigge-Demal (2001, 42ff.) in ihren weiteren Ausführungen den diesen Dokumenten zugrunde liegenden Konstruktionsprozess ebenso darstellt. Damit spricht sie nach Auffassung von Oelke (2008, 1f.) gleichzeitig ein eher weites Verständnis des Begriffs „Curriculum“ an, nimmt sie doch ergänzend zum Dokument auch Bedingungen und Prozesse der Konstruktion und Implementierung sowie der Evaluation mit in den Blick (vgl. ebd.).

Das diesem Beitrag zugrunde liegende Verständnis zum Begriff „Curriculum“ geht über diese Aspekte hinaus und bezieht sich nicht nur auf die möglichst konkrete Ablaufplanung und Ausgestaltung eines Bildungsgangs. Stattdessen und ergänzend zur Planung und Ausgestaltung sind immer auch die zuvor und im Anschluss zu leistenden Konstruktionsschritte unter Berücksichtigung der bedingenden Kontexte zu beachten (in Anlehnung an Jongebloed 2006, 210). Als Curriculum wird somit der gesamte Planungs- und Umsetzungsprozess – von der Legitimation der einzelnen Konstruktionsschritte bis hin zur Evaluation und daraus folgenden Revision des Entwickelten – verstanden. Der in Anspruch genommene Curriculumbegriff betrifft folglich Inhalte und Ziele beruflicher Bildung (die zwar in einem Dokument festgehalten werden), umfasst daneben aber auch Aspekte der Organisation und Planung, Realisation und Evaluation von Lern- und Lehrprozessen. Er umgreift damit sowohl die Makro- als auch die Mikroebene curricularer Planung, Durchführung, Kontrolle und Reflexion (vgl. Reetz/Seyd 2006, 227). Ein in diesem Sinne idealtypischer Konstruktionsprozess könnte dabei wie in Abbildung 1 dargestellt aussehen. Ohne auf die einzelnen Schritte dieses idealtypischen Konstruktionsprozesses von Curricula eingehen zu können (s. vertiefend hierzu Evers 2012, 37ff.), sollen dennoch zwei für die Untersuchung zentrale Aspekte kurz aufgegriffen werden. Demnach ist zu Beginn des Entwicklungsprozesses das leitende Bildungsverständnis zu klären und zu definieren. Dies sollte sowohl auf bildungspolitischer Ebene (zur Schaffung der daraus resultierenden notwendigen Rahmenbedingungen sowie zur Formulierung von Rahmenlehrplänen) als auch in den Bildungseinrichtungen selbst (zur konkreten Umsetzung der Curricula sowie zur Ausgestaltung der Lern- und Lehrprozesse) erfolgen. Das leitende Bildungsverständnis nimmt nach Auffassung des Autors nämlich wesentlichen Einfluss auf alle weiteren Schritte während der Konstruktion, aber auch auf die Umsetzung des Curriculums in die Praxis. Vor dem Hintergrund der Klärung des Bildungsverständnisses wird dann das jeweilige Berufsfeld umfassend empirisch analysiert. Hierbei ist die Berücksichtigung der drei leitenden Gestaltungsprinzipien – Situations-, Wissenschafts- und Persönlichkeitsprinzip (vgl. Reetz/Seyd 2006) – von zentraler Bedeutung.

Abbildung 1:  Ein idealtypischer curricularer Konstruktionsprozess (vgl. Evers 2012, 38)Abbildung 1: Ein idealtypischer curricularer Konstruktionsprozess (vgl. Evers 2012, 38)

Als erster und die weiteren Konstruktionsschritte beeinflussender Aspekt des Konstruktionsprozesses von Curricula ist somit die Bestimmung des leitenden Bildungsverständnisses zu nennen. Auf die hierzu leitenden Überlegungen wird im Folgenden eingegangen.

2.3 Der bildungstheoretische Begründungsrahmen

Die Verständigung bzw. Festlegung auf gemeinsame Bildungsziele kann sowohl durch gesetzliche bzw. ordnungspolitische Vorgaben als auch in der Diskussion der an dem jeweiligen Bildungsgang beteiligten Akteure geschehen. Hierfür ist jedoch zunächst zu klären, was unter Bildung verstanden wird und wie Bildungsziele in eben diesem Sinne formuliert werden können. Dabei lässt sich, verteilt über die verschiedenen Phasen der Diskussion zu dem, was Bildung kennzeichnet, eine Vielzahl unterschiedlicher Verständnisse mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen finden.

Eine wesentliche und auch in der Pflegebildung oft rezipierte Weiterentwicklung eines neuhumanistischen Bildungsbegriffs stellen die bildungstheoretischen Grundlagen der kritisch-konstruktiven Didaktik Klafkis dar. Unter Bezugnahme u. a. auf Humboldt, Kant und Hegel versucht Klafki mit seinen seit 1963 stetig erweiterten Ausführungen, die „[…] Rückbindung aller Bildungsbemühungen an die soziale Lebensrealität der Menschen“ (Klafki 2007, 37) sicherzustellen. Genau dieser Aspekt ist nach seiner Auffassung von keinem der genannten Vordenker umfassend aufgegriffen worden (vgl. ebd.). Zudem kritisiert er im Hinblick auf die Ausführungen Humboldts zur Gestaltung von Bildung, dass nach diesen „Bildung“ im Allgemeinen losgelöst von beruflichen Bildungsprozessen stattfinden müsse (vgl. ebd., 35f.).

Obwohl Klafki auch in der Weiterentwicklung seiner „kritisch-konstruktiven Didaktik“ betont, dass jede Didaktik bildungstheoretisch fundiert sein muss, macht er ergänzend dazu deutlich, dass vor dem Hintergrund sozialweltlicher Entwicklungen neben dem historisch-hermeneutischen Ansatz einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik auch der erfahrungswissenschaftliche (empirische) und gesellschaftskritisch-ideologiekritische Ansatz relevant ist (vgl. Klafki 2007, 9). Beim Ansatz der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft bzw. Didaktik handelt es sich nach seiner Auffassung somit um ein in sich konsistentes, integratives Konzept, „[…] das eine Neuinterpretation von Hermeneutik, Empirie und Gesellschafts- sowie Ideologiekritik in pädagogischer Perspektive einschließt […]“ (Klafki 2007, 9). Dabei geht Klafki auch heute noch grundsätzlich davon aus, dass auf den Bildungsbegriff als Ziel- und Orientierungsmaßstab pädagogischer Bemühungen trotz vielfältiger und in Teilen berechtigter Kritiken nicht verzichtet werden kann (vgl. ebd., 43f.).

Für die zugrunde liegende Untersuchung sind mit Blick auf die intendierte bildungstheoretische Fundierung von Curricula zunächst die ersten drei Studien innerhalb seiner Ausführungen von besonderem Interesse – denn in diesen beschäftigt er sich mit den leitenden bildungstheoretischen Grundlagen und gesellschaftlichen Entwicklungen (erste und zweite Studie), um dann in seiner dritten Studie den Grundriss seiner kritisch-konstruktiven Didaktik darzulegen (vgl. Klafki 2007, 15ff.).

In Auseinandersetzung mit den genannten neuhumanistischen Bildungsansätzen und unter Berücksichtigung sozialweltlicher Realitäten kommt Klafki dabei zunächst zu dem Schluss: „Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen“ (Klafki 2007, 49). Nach diesem Verständnis muss Bildung als selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten verstanden werden:

  • „Als Fähigkeit zu Selbstbestimmung jedes Einzelnen über seine individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zwischenmenschlicher, beruflicher, ethischer, religiöser Art;
  • als Mitbestimmungsfähigkeit, insofern jeder Anspruch, Möglichkeit und Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hat;
  • als Solidaritätsfähigkeit, insofern der eigene Anspruch auf Selbst- und Mitbestimmung nur gerechtfertigt werden kann, wenn er nicht nur mit der Anerkennung, sondern mit dem Einsatz für diejenigen und dem Zusammenschluss mit ihnen verbunden ist, denen eben solche Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse, Unterprivilegierung, politischer Einschränkungen oder Unterdrückungen vorenthalten oder begrenzt werden“ (Klafki 2007, 52).

Unter Bezugnahme auf die o. g. Formel sollte Bildung immer auch auf die Auseinandersetzung mit den zentralen Problemen der Gegenwart gerichtet sein:

„Im Mittelpunkt eines heute als pädagogisch verbindlich zu bestimmenden Allgemeinen der Bildung wird, so meine ich, das stehen müssen, was uns alle und voraussehbar die nachwachsende Generation zentral angeht, mit anderen Worten: Schlüsselprobleme unserer gesellschaftlichen und individuellen Existenz“ (Klafki 2007, 29).

Die Fokussierung auf „epochaltypische Schlüsselprobleme“ (ebd., 56) erfolgt bei Klafki vor dem Hintergrund des so genannten Kanonproblems. Denn die Frage, ob und wie ein Kanon, d. h. ein Katalog verbindlichen Wissens und verbindlicher Maßstäbe für alle Mitglieder einer Gesellschaft, vor dem Hintergrund einer Pluralität von Wissensformen, Wertorientierungen und kulturellen Deutungsmustern definiert werden kann, ist zumindest aus seiner Sicht bislang unbeantwortet. Klafki geht vielmehr davon aus, dass diese Frage mit Blick auf ein kritisches, historisch-gesellschaftlich-politisches und zugleich pädagogisches Bewusstsein neu überdacht werden muss (vgl. Klafki 2007, 56). Seine Kernthese lautet somit:

„Allgemeinbildung bedeutet in dieser Hinsicht ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart, und – soweit vorhersehbar – von der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller, angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken. Abkürzend kann man von der Konzentration auf die epochaltypischen Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermutlichen Zukunft sprechen“ (Klafki 2007, 56).

Mit der Fokussierung auf übergreifende Schlüsselprobleme verzichtet Klafki auf die Benennung konkreter Bildungsinhalte. Stattdessen nimmt er mit seinem Bildungsverständnis interdisziplinäre, fächerübergreifend zu bearbeitende, multidimensionale Problemstellungen, die alle Menschen angehen, in den Blick (vgl. Darmann-Finck 2010, 153). Jedoch führt Klafki gleichzeitig an, dass eine umfassende Darstellung aller Schlüsselprobleme einer eigenen gegenwarts- und zugleich zukunftsbezogenen Theorie bedürfte. Gerade dieser Aspekt wird durch das noch darzulegende konkrete Vorgehen aufgegriffen.

Aufgrund der weiten Verbreitung im Bereich der pflegeberuflichen Bildung (vgl. z. B. die pflegedidaktischen Ansätze von Darmann-Finck 2010 oder Wittneben 2009) greift auch die zugrunde liegende Untersuchung auf dieses leitende Verständnis insbesondere im Hinblick auf die Schlüsselprobleme einer beruflichen Praxis zurück.

Ergänzend muss in diesem Kontext zudem festgehalten werden, dass die Begriffe „Bildung“ und „Kompetenz“ in der gegenwärtigen pädagogischen Diskussion in vielfältiger Weise miteinander verknüpft sind. Jedoch gehen sie keineswegs ineinander auf (vgl. Pongratz/Reichenbach/Wimmer 2007, 7). Zwar nehmen beide Konzepte insbesondere die individuellen und auf Persönlichkeitsentwicklung ausgerichteten Aspekte in den Blick. Jedoch sind Kompetenzen im Verständnis der nachstehenden Ausführungen immer darauf ausgerichtet, Situationen bewältigen zu können. Sie verfolgen somit einen konkreten Zweck. Bildung, z. B. im humboldtschen Sinne, ist zunächst jedoch nicht auf die Befähigung für eine bestimmte Tätigkeit fixiert[2]. In diesem Verständnis bildet sich der Mensch nicht, um bestimmte Dinge zu wissen oder zu können. Er setzt sich stattdessen mit der Welt auseinander, um seine eigenen, individuellen Kräfte ausbilden zu können (vgl. Kreitz 2007, 101). Unmittelbar hieraus kann ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Konzepten und den in ihnen zum Ausdruck kommenden Handlungsaspekten identifiziert werden: Während unter Kompetenz die Handlungsfähigkeit bezogen auf ein konkretes Handlungsziel verstanden wird, zielt der Bildungsbegriff zwar auf die Handlungsfähigkeit des Individuums ab, ohne dabei jedoch eine konkrete Zielperspektive in den Blick zu nehmen (vgl. Vonken 2005, 53). Vor diesem Hintergrund wird das Konzept der Kompetenz nun etwas detaillierter betrachtet.

2.4 Kompetenzkonzepte in der beruflichen Bildung

Der Kompetenzbegriff ist nicht nur in Deutschland, sondern auch im internationalen Kontext einer der meist diskutierten Zielbegriffe der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung (vgl. Linten/Prüstel 2010, 3). Im Bildungsbereich wird der Begriff dabei u. a. aufgegriffen, um veränderte Anforderungen der Lebens- und Arbeitswelt sowie damit verbundene Ziele von Bildungsgängen zu charakterisieren. Allerdings ist einschränkend festzustellen, dass der Kompetenzbegriff mittlerweile inflationär verwendet wird: Fast alle pädagogischen Zielaussagen werden heute als Kompetenzen etikettiert, ohne dass sich hierbei zwischen einem empirisch fundierten und einem frei verwendeten Konzept unterscheiden lässt (vgl. Oelkers/Reusser 2008, 23). In den zurückliegenden Jahren hat sich zudem ein außerordentliches Interesse an der Untersuchung von Kompetenzen entwickelt. Im Feld der Erziehungswissenschaft stehen dabei vor allem Kompetenzmodelle und Kompetenzdiagnostik im Mittelpunkt einschlägiger Forschungsaktivitäten. Mit der damit einhergehenden theoretischen Diskussion des Kompetenzbegriffs und den umfangreichen (empirischen) Bemühungen zur Prüfung tragfähiger Modelle sollen bisher ungelöste Probleme wie die Messung von Kompetenzen bearbeitet werden (vgl. Prenzel/Gogolin/Krüger 2007, 5).

Eine erschöpfende Darstellung der Diskussionen zum Kompetenzverständnis ist aufgrund der unüberschaubaren Zahl an Verständnissen und dazugehörigen Veröffentlichungen nur schwerlich möglich (vgl. u. a. Hartig/Klieme 2007; Klieme et al. 2007). Hierbei ist zudem zu berücksichtigen, dass nach Auffassung einer Vielzahl von Autoren der Kompetenzbegriff immer im jeweiligen Kontext zu verstehen ist und folglich nicht allgemeingültig sein kann (vgl. u. a. Brand/Hofmeister/Tramm 2005, 3). Sollen nun – wie in der zugrundeliegenden Arbeit der Fall – aus beruflich relevanten Situationen die Kompetenzen abgeleitet werden, die für eine Bewältigung eben dieser Situationen notwendig sind, muss deutlich gemacht werden, welche Grundannahmen zum Kompetenzkonzept leitend sind. Trotz aller erkennbaren Akzentuierungen und Gegensätze in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (im Falle des vorliegenden Beitrages insbesondere aus dem Feld der Sozial- und der Erziehungswissenschaften) lassen sich nämlich gemeinsame Aspekte zum Konzept der Kompetenz finden. Zur besseren Nachvollziehbarkeit werden diese grafisch dargestellt (Abb. 2), eine ausführliche Beschreibung erfolgt jedoch nicht (siehe vertiefend hierzu auch Evers, 2012).

Abbildung 2:  Aspekte des Kompetenzkonzeptes (Evers 2012, 63)Abbildung 2: Aspekte des Kompetenzkonzeptes (Evers 2012, 63)

Wie bereits erläutert führt eine Reihe von Autoren dennoch aus, dass das zugrunde liegende Verständnis von Kompetenz im jeweiligen Forschungskontext konkret zu definieren ist (vgl. u. a. Brand/Hofmeister/Tramm 2005; Hartig/Klieme 2007 und 2007a oder Tramm 2003). Bezogen auf das Forschungsfeld des vorliegenden Beitrages machen jedoch Darmann-Finck/Glissmann (2011, 2) deutlich, dass ein empirisch und fachdidaktisch fundiertes Kompetenzmodell in der Pflegewissenschaft bislang nicht existiert. Vorhandene Kompetenzmodelle, die z. B. den aktuell intensiv diskutierten Qualifikationsrahmen oder Studien zur Kompetenzmessung zugrunde liegen, sind stattdessen „[…] aus pragmatischen, bildungsökonomischen und messtechnischen Überlegungen oftmals so reduziert, dass sie noch nicht einmal wesentliche Komponenten pflegerischer Handlungskompetenz zu erfassen vermögen“ (Darmann-Finck 2011, 1). Grundsätzlich ist jedoch zu beachten, dass im Rahmen beruflicher Bildung die Handlungskompetenz von zentraler Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich aus Sicht des Autors, auch für die spätere Ableitung von Kompetenzen aus den Schlüsselproblemen des exemplarisch gewählten Arbeitsfeldes ein handlungstheoretisches Verständnis von Kompetenz zur Grundlage der weiteren Überlegungen zu machen.

Im skizzierten Verständnis können die aus den beruflichen Situationen abzuleitenden und im Rahmen des Konstruktionsprozesses von Curricula zu bestimmenden Kompetenzen als eine Operationalisierung übergeordneter Bildungsziele verstanden werden. Denn sie greifen letztendlich Bewältigungsstrategien für konkrete Schlüsselprobleme einer pflegeberuflichen Praxis auf. Aufbauend auf diesen skizzenhaft dargestellten Überlegungen wird nun – die leitenden methodologischen und methodischen Aspekte aufgreifend – das konkrete Vorgehen zur empirischen Analyse des Berufsfeldes beschrieben.

3 Empirische Analyse eines Berufsfeldes

Mit den bisherigen Ausführungen konnte dargelegt werden, dass die Analyse einer beruflichen Praxis Ausgangspunkt für die weiteren Schritte im curricularen Konstruktionsprozess sein sollte. Hierzu finden sich in der empirischen Sozialforschung zwei unterschiedliche Forschungskulturen, die ihre Umsetzung in quantitativen oder qualitativen Methoden finden. Grundsätzlich ist qualitative Forschung dabei durch folgende Aspekte gekennzeichnet und unterscheidet sich dadurch von quantitativer Forschung:

  • Qualitative Forschung rekonstruiert die Konzepte ihrer Untersuchungsgegenstände und überprüft im Gegensatz zur quantitativen Forschung keine vorgängigen theoretischen Konzepte.
  • Qualitative Forschung stellt einen spiralförmig-dynamischen, hermeneutischen Erkenntnisprozess dar, während quantitative Forschung einem linearen Erkenntnisprozess folgt (in Anlehnung an Kruse 2008, 12ff.).

Zur empirischen Fundierung von Curricula soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Frage beantwortet werden, welche bedeutsamen Arbeitssituationen aus Sicht der Pflegekräfte in der gerontopsychiatrischen Pflege bewältigt werden müssen. Um die gerontopsychiatrische Pflegewirklichkeit rekonstruieren zu können, bedarf es, die vorstehenden Überlegungen aufgreifend, einer qualitativen Vorgehensweise. Wissenschaftstheoretischer Ausgangspunkt des hier vorzustellenden Forschungsprozesses sind dabei der Symbolische Interaktionismus und die Grounded Theory Methodologie.

Für die berufswissenschaftliche Forschung ist der qualitative Ansatz besonders interessant, da er den handelnden Menschen in seiner sozial verankerten Situation stärker in den Mittelpunkt rückt. Sie verfolgt das Ziel, die sozial geschaffene Wirklichkeit in ihrer gegebenen Eigenheit nachzuvollziehen: „Es geht also um das Verständnis einer untersuchten Sache, um das Aufklären und Erfassen dessen Sinns durch systematische Interpretation“ (Becker/Spöttl 2008, 46). Mit einem qualitativen Ansatz soll der Sinn menschlicher Handlungen in einem kulturellen Kontext untersucht werden (vgl. ebd.). Überträgt man diese Überlegungen nun auf die Erforschung einer beruflichen Praxis, so verfolgt die qualitative berufswissenschaftliche Forschung das Ziel, „[…] die besonderen praktischen Kompetenzen zu beschreiben, die der Ausführung einer spezifischen beruflichen Tätigkeit zugrunde liegen“ (Bergmann 2000, 130).

Um Daten der Praxis erheben zu können, kommt in der empirischen Sozialforschung eine Vielzahl von Methoden zur Anwendung (vgl. z. B. Diekmann 2005, 17ff.), die sich drei unterschiedlichen Erhebungsverfahren zuordnen lassen: Beobachtung, Befragung und Dokumentenanalyse (vgl. Bortz/Döring 2006, 307). Zur möglichst umfassenden Darstellung einer sozialen (beruflichen) Praxis wird aufgrund der unterschiedlichen Besonderheiten und Möglichkeiten der einzelnen Verfahren eine möglichst komplementäre Anwendung der Verfahren innerhalb eines Forschungsvorhabens als sinnvoll erachtet (vgl. u. a. Bremer 2006). Im Zusammenhang berufswissenschaftlicher Forschung erläutern Becker und Spöttl (2008, 53), dass bei Anwendung empirischer Verfahren zur Untersuchung besonders ausgewählter und relevanter Wirklichkeiten Befragungen von zentraler Bedeutung sind. Über diese kann das Expertenwissen der in der beruflichen Praxis tätigen Personen sowie die mit der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit verbundenen Gefühle, Probleme und Werte ermittelt werden, denn subjektive Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen spielen zum Verständnis der sozialen Wirklichkeit der in der beruflichen Praxis Tätigen eine wichtige Rolle (vgl. Darmann/Keuchel 2006, 179).

Neben diesen methodologischen und methodischen Überlegungen muss zudem noch auf einen weiteren Aspekt der empirischen Analyse eingegangen werden. Soll eine bildungstheoretisch und empirisch fundierte Entwicklung von Curricula realisiert werden, so ist neben den zu wählenden Methoden und der vorrangig zu berücksichtigenden Perspektive immer auch zu bestimmen, mit welcher Zielrichtung die berufliche Praxis analysiert werden soll.

3.1 Schlüsselprobleme als Zielrichtung der empirischen Analyse

Sowohl in den Ausführungen zu Klafkis (2007) bildungstheoretischer Fundierung der kritisch-konstruktiven Didaktik als auch in der Erweiterung dieser Überlegungen für die pflegeberufliche Bildung durch Darmann-Finck (2007) wird die Bedeutung von Schlüsselproblemen für die Gestaltung von beruflichen Bildungsgängen betont. Die Analyse der im Rahmen der durchgeführten Untersuchung empirisch gewonnenen Daten erfolgt ebenso in Richtung der durch die Praxis zum Ausdruck gebrachten und damit im Berufsfeld bestehenden pflegeberuflichen Schlüsselprobleme. Diese Ausrichtung ist immer auch von bildungstheoretischer Relevanz, denn über die exemplarische Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen erfolgt nach Auffassung von Klafki (2007, 63) nicht nur die „[…] Erarbeitung jeweils problemspezifischer, struktureller Erkenntnisse“; es geht stattdessen „[…] auch um die Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten, deren Bedeutung über den Bereich des jeweiligen Schlüsselproblems hinausreicht“. Schlüsselprobleme verfügen somit über ein besonderes Bildungspotenzial. Um bildungsrelevante Aspekte auch in die Konstruktion pflegeberuflicher Curricula einbeziehen zu können, erfolgt die Analyse der gerontopsychiatrischen Pflegepraxis somit unter Fokussierung der dort zum Ausdruck kommenden Schlüsselprobleme. Damit sollen auch die aus Sicht der Pflegenden bestehenden Besonderheiten des Arbeitsfeldes verstanden und zur Grundlage der weiteren Konstruktion von Curricula gemacht werden.

3.2 Konkretes Vorgehen zur empirischen Analyse des Berufsfeldes

Aus den noch zu analysierenden Schlüsselproblemen der beruflichen Praxis können dann unter Hinzuziehung didaktischer Theorien in einem weiteren Schritt die zur Bewältigung der Situationen notwendigen Kompetenzen abgeleitet werden. Um den genannten Zielsetzungen umfassend gerecht werden zu können, wurde die Datenerhebung und Datenanalyse in der vorliegenden Untersuchung, wie in Abbildung 3 dargestellt, gestaltet.

Abbildung 3:  Methodologisches und methodisches Vorgehen (vgl. Evers 2012, 128)Abbildung 3: Methodologisches und methodisches Vorgehen (vgl. Evers 2012, 128)

Die schriftlichen Befragungen dienten dabei der Sammlung von kritischen bzw. alltäglichen Situationen der beruflichen Praxis. Die Intention des Forschers war, unabhängig von seinen eigenen und demnach kritisch zu reflektierenden Vorerfahrungen, auf der Grundlage der Rückmeldungen der im Arbeitsfeld tätigen Pflegekräfte einen über das eigene Wissen hinausgehenden und möglichst aktuellen Eindruck von der gerontopsychiatrischen Pflegepraxis aus Sicht der dort tätigen Pflegekräfte zu erhalten. Die bestehenden Versorgungsstrukturen aufgreifend, innerhalb derer gerontopsychiatrische Pflege erbracht wird, wurde zudem versucht, bereits im Rahmen der schriftlichen Befragung möglichst umfassend das gesamte Arbeitsfeld der gerontopsychiatrischen Pflege mit seinen unterschiedlichen Organisationsformen und den dort tätigen Pflegefachkräften abzubilden.

Nach dieser ersten Befragung wurden zur tiefergehenden Beschreibung der beruflichen Praxis insgesamt sechs fokussierte Gruppendiskussionen geführt. Jedoch wurden die Daten nicht en bloc erhoben und anschließend vollständig ausgewertet. Vielmehr fanden im Sinne des iterativen und spiralförmigen Forschungsprozesses der Grounded Theory Methodologie aufeinander aufbauende Datenerhebungs- und Auswertungsphasen statt. Hierbei erfolgte die Analyse und Auswertung der Daten anhand der regelgeleiteten Kodierprozedur der Grounded Theory Methodologie (mit seinen Schritten offenes, axiales und selektives Kodieren) unter gleichzeitiger Anwendung des so genannten Kodierparadigmas. Hierbei handelt es sich um ein kausales Handlungsmodell, über das im Rahmen der Theorieentwicklung Zusammenhänge zwischen Kontextbedingungen, Handlungsstrategien und Konsequenzen im jeweiligen Untersuchungsfeld dargestellt werden können. Dabei stehen Soziales Handeln und Interagieren im Mittelpunkt der Analyse (vgl. Strauss/Corbin 1998). Resultat des gesamten Analyseprozesses ist die in Abbildung 4 dargestellte Theorie zu den Schlüsselproblemen der gerontopsychiatrischen Pflege.

Abbildung 4:  Die Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln in der gerontopsychiatrischen Pflege (vgl. Evers 2012, 218).Abbildung 4: Die Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln in der gerontopsychiatrischen Pflege (vgl. Evers 2012, 218).

Hierbei ist die besondere Ungewissheit im Handeln als das Phänomen der Theorie und folglich als das zentrale Schlüsselproblem gerontopsychiatrischer Pflege zu verstehen. Auch dieses wird in Abbildung 5 zum besseren Nachvollzug zumindest graphisch dargestellt.

Abb. 5: Das Phänomen der gerontopsychiatrischen Pflege aus Sicht der Pflegenden            (vgl. Evers 2012, 148)Abb. 5: Das Phänomen der gerontopsychiatrischen Pflege aus Sicht der Pflegenden (vgl. Evers 2012, 148)

Nachdem das Arbeitsfeld der gerontopsychiatrischen Pflege auf dem beschriebenen Wege möglichst umfassend empirisch analysiert wurde, ist im Verständnis berufswissenschaftlicher Überlegungen auch der Frage nachzugehen, wie die aus Sicht der Berufspraxis bestehenden Schlüsselprobleme für die weiteren Konstruktionsschritte von Curricula nutzbar gemacht werden können. Um im Rahmen von Curriculumentwicklung einer funktionalistischen Ausrichtung von Pflegeunterricht entgegenwirken zu können, ist neben der pflegetheoretischen Grundlegung, z. B. über die entwickelte „Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln“, auch eine bildungstheoretische Fundierung notwendig (vgl. Darmann-Finck 2010, 13). Im letzten Teil des Beitrages wird deshalb abschließend der Frage nachgegangen, wie anhand der im Rahmen der „Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln“ gewonnenen Schlüsselprobleme die im Arbeitsfeld der gerontopsychiatrischen Pflege benötigten Kompetenzen ermittelt werden können.

4 Ableitung relevanter Kompetenzen

Zur Ermittlung eben dieser Kompetenzen ist eine kontextbezogene Konkretisierung des Kompetenzverständnisses (vgl. Punkt 2.4) notwendig. Mit Blick auf den Schwerpunkt gerontopsychiatrischer Arbeit, die pflegerische Interaktion zwischen Pflegekraft und zu Pflegendem, sollte aus Sicht des Forschers grundsätzlich ein handlungstheoretisch fundiertes (und damit ein auf Interaktion bezogenes) Konzept leitend bei der Formulierung unterschiedlicher Kompetenzniveaus und die Einordnung in die dazugehörigen Kompetenzdimensionen sein. Diese Aspekte aufgreifend hat im Feld der beruflichen Bildung das Konzept der beruflichen Handlungskompetenz weite Verbreitung gefunden (vgl. Bonse-Rohmann/Hüntelmann/Nauerth 2008, 5 oder Reetz 2006, 305). Das damit verbundene Verständnis beruflicher Handlungskompetenz deckt sich zudem wiederum weitestgehend mit der durch die OECD auf der Grundlage einer internationalen Studie ausgewiesenen Definition (vgl. Hanf/Rein 2006, 5). Demnach ist Kompetenz mehr als „nur“ Wissen und kognitive Fähigkeiten (vgl. OECD 2005, 5).

„A competence is defined as the ability to successfully meet complex demands in a particular context. Competent performance or effective action implies the mobilization of knowledge, cognitive and practical skills, as well as social and behavior components such as attitudes, emotions, and values and motivations. A competence – a holistic notion – is therefore not reducible to its cognitive dimension […]“ (OECD 2003, 2).

Damit wird beispielhaft ein Kompetenzverständnis zum Ausdruck gebracht, das, über kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten sowie spezifisches Wissen zur Verwirklichung von Handlungszielen hinausgehend, auch volitionale, motivationale und emotionale Elemente, Wertorientierungen und soziale Einstellungen einschließt. In diesem Sinne stellt Kompetenz ein vieldimensionales theoretisches Konstrukt dar, das erfolgreiches Handeln ermöglicht (vgl. Birkelbach 2005, 2 sowie Rychen/Salganik 2003, 43ff.).

Dieses Verständnis aufgreifend wurden zur Ableitung relevanter Kompetenzen verschiedene pflegedidaktische Modelle und Ansätze näher betrachtet. Die hier gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigend wird im Folgenden exemplarisch ein mögliches Vorgehen zur Ableitung von Kompetenzen aus den Schlüsselproblemen der gerontopsychiatrischen Pflegepraxis anhand der Interaktionistischen Pflegedidaktik von Darmann-Finck (vgl. 2009 und 2010) skizziert. Das Modell bezieht sich in seiner theoretischen Grundlegung u.a. auch auf die bildungstheoretischen Überlegungen einer kritisch-konstruktiven Didaktik nach Klafki sowie auf den situationsorientierten Ansatz zur Konstruktion von Curricula nach Robinsohn (vgl. Evers 2012, 28ff.) und greift damit vergleichbare theoretische Grundlagen der zugrunde liegenden Untersuchung auf.

Grundsätzlich bietet die Interaktionistische Pflegedidaktik einen Rahmen für die Ausgestaltung der schulischen und betrieblichen Ausbildung (vgl. Darmann-Finck 2010, 13). Darmann-Finck (2009, 3ff.) kennzeichnet hierbei das Konzept der beruflichen Schlüsselprobleme, die pflegedidaktische Heuristik sowie die Konstruktion von situationsorientierten Lernfeldern bzw. die Integration von Lerninseln innerhalb der einzelnen Lernfelder als wesentliche Elemente des Modells. Diese Überlegungen aufgreifend bringt die Interaktionistische Pflegedidaktik zur Entwicklung bildungsermöglichender Curricula und zur Ableitung berufsrelevanter Kompetenzen (bzw. Ziele) folgende Arbeitsschritte zur Anwendung (vgl. Darmann-Finck 2010, 190ff.):

  1. Die empirische Ermittlung von problemhaltigen Handlungssituationen (anhand pflegeberuflicher Schlüsselprobleme).
  2. Die pflegedidaktische Reflexion der pflegeberuflichen Schlüsselprobleme anhand der pflegedidaktischen Heuristik.
  3. Die Auswahl von Zielen und Inhalten, umfassende fachwissenschaftliche Recherchen sowie die Festlegung der methodischen Gestaltung.

Während der erste Arbeitsschritt Gegenstand der bisherigen Ausführungen war, wird nun die Reflexion pflegeberuflicher Schlüsselprobleme anhand der pflegedidaktischen Heuristik sowie die Bestimmung und von möglichen Kompetenzen angerissen. Die pflegedidaktische Heuristik muss in diesem Zusammenhang als Fragen- und Kriteriensatz verstanden werden, „[…] mit dessen Hilfe Bildungsziele und -inhalte für die Pflegeausbildung identifiziert, legitimiert und evaluiert sowie pflegedidaktische Entscheidungen vorbereitet werden können“ (Darmann-Finck 2010, 169). Mit den damit zur Verfügung gestellten Kategorien werden pflegeberufliche Schlüsselprobleme hinsichtlich ihres Bildungspotenzials ausgelegt. Die pflegedidaktische Heuristik greift dazu u.a. auf die Erkenntnisinteressen und die kommunikationstheoretische Basis Habermas sowie die Bildungskonzepte von Pflegelehrenden zurück und verschränkt diese mit den Perspektiven der an einer Pflegesituation beteiligten Personen und Institutionen (vgl. ebd., 171ff.). Durch Berücksichtigung der darin aufgeführten drei Zieldimensionen (technisches, praktisches und emanzipatorisches Erkenntnisinteresse) und der genannten vier Perspektiven (Pflegende – Patient/Bewohner/Angehörige – Institution/Gesellschaft und pflegerisches Handeln) soll im Rahmen der pflegedidaktischen Heuristik zunächst die Bandbreite an möglichen Zielen und Inhalten bezüglich des ausgewählten pflegerischen Schüsselproblems erfasst werden (vgl. ebd., 191f.). Mit der pflegedidaktischen Heuristik steht somit ein Kriteriensatz zur Verfügung, über den aus beruflich bedeutsamen Situationen Lernziele (auch im Sinne von Kompetenzen) abgeleitet und für die Konstruktion von Curricula nutzbar gemacht werden können. Exemplarisch wird die pflegedidaktische Heuristik anhand des Phänomens der entwickelten Theorie – der besonderen Ungewissheit im Handeln – angewandt. Die Anwendung der heuristischen Matrix erfolgt jedoch „lediglich“ beispielhaft und bezogen auf einen sehr begrenzten Ausschnitt der Theorie. Aus Sicht des Autors reicht dies jedoch aus, um ein mögliches Vorgehen für einen weiteren Arbeitsschritt im Rahmen der Konstruktion von Curricula zu skizzieren. Die Analyse des empirisch ermittelten Phänomens der gerontopsychiatrischen Pflege mittels der Kategorien der pflegedidaktischen Heuristik führt zu den in der folgenden Tabelle ausschnitthaft genannten Zielen und Inhalten (vgl. Tab. 1).

Tabelle 1:     Reflexion der besonderen Ungewissheit im Handeln anhand der pflegedidaktischen Heuristik (vgl. Evers 2012, 249)

       Perspektive

 

Zielebene

Pflegende Patient /
Bewohner /
Angehörige
Institution /
Gesellschaft
Pflegerisches
Handeln

Technisches Erkenntnis­interesse

wissenschaftsba­sierte Erklärung und instrumentelle Lösung – Schüler nennen, erklären, untersuchen, z. B.

● Theoretische Grundlagen der Ungewissheit im Handeln

● Allg. Theorien zur Entstehung von Gefühlen wie Ungewissheit, Unsicherheit

● Die Instabilität im Verhalten und Handeln

● Eingeschränkte Möglichkeiten der Interaktion (gelungene Inter­aktion; symbolischer Interaktionismus)

● Institutionelle/ rechtliche/ökono­mische Vorgaben zur Durchführung der Pflege in der Geronto­psychiatrie

●Personalführung: von Rückendeckung bis Rechtfertigungszwang

● „Wissbegier, Offenheit und Flexibilität“

● u. a. fragende, forschende Grundhaltung
(z. B. klienten­zentrierte Gesprächs­führung)

Praktisches Erkenntnis­interesse

Verstehen von und Verständigung in Pflegesituationen – Schüler nehmen wahr / verständigen sich z. B. über …

● mögliche Gefühle wie Unsicherheit, Hilf- und Machtlosig­keit, Angst zu versagen, Resignation

● eigene Ansprüche an pflegerisches Handeln               

● Erwartungs-haltungen der Pflegenden / Angehörigen

● Auswirkungen Nichterfüllung von Erwartungen (Unzu­friedenheit, Rückzug)

● Erwartungshaltungen der Institution / Gesellschaft

● Auswirkungen der Nichterfüllung von Erwartungen (u. a. Unzufriedenheit)

● Entwicklung immer wieder neuer, individueller, kreativer Interaktionsangebote

● gemeinsame, kontinuierliche Problembearbeitung und -lösung

Nachdem auf diesem Wege die Zielebenen konkretisiert worden sind, die das Schlüsselproblem kennzeichnen, erfolgt im Sinne der Interaktionistischen Pflegedidaktik in einem weiteren Schritt eine Fokussierung auf die ermittelten Ziele und damit auch Inhalte, die weiterverfolgt werden sollen. Zudem sind umfassende fachwissenschaftliche Recherchen durchzuführen sowie Überlegungen zur methodischen Gestaltung des Lehr- und Lernprozesses notwendig. Die vorzunehmenden Schwerpunktsetzungen sowie das Anspruchsniveau, auf dem die Ziele formuliert werden, sind grundsätzlich von unterschiedlichen Faktoren wie z. B. dem bereits vorhandenen Wissen und Können der Lernenden oder dem geplanten Zeitpunkt der Verortung in einem Curriculum abhängig (vgl. Darmann-Finck 2010). Um in Anlehnung an das exemplarisch gewählte übergeordnete Verständnis Kompetenzen darstellen zu können, werden in einem abschließenden Schritt beispielhaft Fähigkeiten benannt, die notwendig sind, um die komplexen Anforderungen in der gerontopsychiatrischen Pflege auch unter Zuhilfenahme psychosozialer Ressourcen (einschließlich kognitiver Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen) bewältigen zu können. Die in der folgenden Tabelle exemplarisch genannten Kompetenzen sind aus der heuristischen Matrix abgeleitet und bezogen auf deren einzelne Zieldimensionen beschrieben.

Tabelle 2:     Potenzielle Kompetenzen, die aus dem Phänomen der besonderen Ungewissheit im Handeln abgeleitet werden können (vgl. Evers 2012, 253)

Technisches
Erkenntnis­interesse

Die Lernenden erwerben die Fähigkeit, die besondere Ungewissheit im Handeln im Arbeits­feld der gerontopsychiatrischen Pflege zu erklären und zu untersuchen. Sie können unter Berücksichtigung der Besonderheiten der zu pflegenden Klientel und der intervenierenden Bedingungen vielfältige Lösungs- und Interaktionsmöglichkeiten entwickeln und diese im Hinblick auf ein zuvor definiertes Ziel, z. B. einer am psychisch erkrankten älteren Menschen ausgerichteten Pflege bewerten.

Praktisches
Erkenntnis­interesse

Die Lernenden erwerben die Fähigkeit, vielfältige und bisher nicht wahrgenommene Deutungen der besonderen Ungewissheit im Handeln sowie des damit verbundenen Verhaltens der zu pflegenden Klientel zu reflektieren. Hierzu sind sie sich ihrer eigenen, leitenden Deutungen, der Andersheit der Anderen und der damit verbundenen Multiperspektivität bewusst. Sie nehmen die Perspektive Anderer ein und gestalten auf der Grundlage der vorhandenen unterschiedlichen Handlungsalternativen kreative Interaktionsangebote gerontopsychiatrischer Pflege.

Emanzipato­risches
Erkenntnis­interesse

Die Lernenden erwerben die Fähigkeit, trotz widersprüchlicher Anforderungen der unterschiedlichen und an der Pflege beteiligten Akteure handlungsfähig zu sein. Hierzu reflektieren sie die besondere Ungewissheit im Handeln mit Blick auf die widersprüchlichen Anforderungen und entwickeln zielgerichtet entsprechend angepasste Lösungsalternativen. Dazu setzen sie sich u. a. mit den Konsequenzen nicht erfüllter Anforderungen auseinander und berücksichtigen diese bei der Gestaltung von Interaktionsmöglichkeiten in der gerontopsychiatrischen Pflege.

5 Abschluss

Mit dem vorliegenden Beitrag wurde der Versuch unternommen, vor dem Hintergrund der beschriebenen Defizite ein mögliches Vorgehen für eine bildungstheoretisch und empirisch fundierte Konstruktion von Curricula in der pflegeberuflichen Bildung zumindest ausschnitthaft darzustellen und beispielhaft am Arbeitsfeld gerontopsychiatrischer Pflege durchzuführen. Aufgrund der Befragung von in der Praxis tätigen Pflegekräften konnte als Ergebnis die „Theorie der besonderen Ungewissheit im Handeln“ entwickelt werden. Im Vergleich zu den bislang am grünen Tisch entwickelten Curricula bietet das geschilderte Vorgehen zumindest aus Sicht des Autoren die Möglichkeit, eine neue bzw. andere Qualität von Erkenntnissen in die Analyse der pflegeberuflichen Praxis mit einzubringen. Zur Gestaltung der weiteren Schritte im curricularen Konstruktionsprozess und letztendlich zur Ableitung von benötigten Kompetenzen bietet dann die Interaktionistische Pflegedidaktik Instrumentarien, um aus empirisch analysierten Schlüsselproblemen einer beruflichen Praxis die zur Bewältigung eben dieser Situationen benötigten Kompetenzen umfassend abzuleiten. Mit dem geschilderten Vorgehen steht der pflegeberuflichen Bildung somit eine Möglichkeit zur Verfügung, Curricula bildungstheoretisch und empirisch fundiert sowie am Bedarf der Pflegepraxis orientiert (zumindest aus der Perspektive der dort tätigen Pflegekräfte) zu gestalten.

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[1] Hierzu zählen Sektoranalysen, Fallstudien, Arbeitsprozessstudien und Experten-Facharbeiter-Workshops. Vertiefend sei auf Becker/Spöttl (2008, 69ff.) verwiesen.

[2] Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit relevanten Bildungstheorien sei auf Evers (2012) verwiesen.

Zitieren des Beitrags

Evers, T. (2015):Die besondere Ungewissheit im Handeln – bildungstheoretisch und empirisch fundierte Kompetenzerfassung am Beispiel gerontopsychiatrischer Pflegepraxis.In: bwp@ Spezial 10 – Berufsbildungsforschung im Gesundheitsbereich, hrsg. v. Weyland, U./Kaufhold, M./Nauerth, A./Rosowski, E., 1-24. Online: http://www.bwpat.de/spezial10/evers_gesundheitsbereich-2015.pdf  (19.11.2015).