bwp@ 35 - Dezember 2018

Ökonomisierung in der Bildung und ökonomische Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, Tade Tramm & Jens Klusmeyer

Klaus Becks „Irrungen und Wirrungen“ – Eine notwendige Klärung und ein Plädoyer für „Kritischen Pragmatismus“

Beitrag von Günter Kutscha
Schlüsselwörter: Berufliche Bildung, emanzipatorische Berufsbildung, Kritische Theorie, Kritischer Rationalismus, Paradigma-Problem, Pragmatismus

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik in Deutschland hat in ihrer kurzen Geschichte schon manche Schwellenzeiten durchlaufen: Das Alte war noch präsent, das Neue noch nicht in allen Facetten greifbar. So im Zusammenhang mit der Umwandlung von der Fortbildungsschule zur beruflich gegliederten Teilzeit-Pflicht-Berufsschule Anfang des 20. Jahrhunderts, später unter dem Einfluss politischer, wirtschaftlicher und technologischer Veränderungen und heute angesichts der voranschreitenden Digitalisierung. Schwellenzeiten fordern dazu heraus, sich von herkömmlichen Gewissheiten zu trennen und sich der Frage zu stellen: Wohin des Weges? Irrungen und Wirrungen gehören dazu. Nicht um den „richtigen“ Weg zu finden, sondern um mutig neue Pfade zu beschreiten und zu erproben. Das war Anlass meiner „Polemik“ anlässlich des Gedenkens an Wolfgang Lempert in der bwp@ Ausgabe 35 (Kutscha 2019, im Folgenden zitiert mit GK und Seitenangabe).

Klaus Beck (2019, zitiert mit KB und Seitenangabe) hat in seiner ausführlichen „Erwiderung“ heftig darauf reagiert. Bei der Wahl seines Titels ließ er sich von Theodor Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ inspirieren (KB, Fußnote 10). Sind Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ indes getragen von empathischer Anteilnahme des Autors an dem vergeblichen Versuch einer Liebesbeziehung zwischen einer Bürgerstochter und einem Adligen, die Grenzen überholter Standesschranken zu überwinden, stößt mein Zuruf an die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, überholte Leitbilder in Frage zu stellen und sich neuen Herausforderungen zu öffnen, bei Beck auf ungewöhnlich harsche, dem sachlichen Diskurs stellenweise nicht dienliche Reaktion. So wundert Beck sich beispielsweise darüber, wie es möglich sei, dass „Günter Kutscha in seiner ideologisch getriebenen Sicht“ einem „berufspädagogisch destruktiven und nachgerade widersinnigen Gedankenspiel auch nur in Ansätzen Raum gibt“ (KB 5) und „wie, um alles in der Welt, er und seine Gewährs- und Gefolgsleute auf den abwegigen Gedanken kommen konnten …“, etc. etc. Pathogenisierung vom Status quo abweichender Meinungen war schon immer ein probates Mittel gegen Häretiker.

Es kann nicht Sinn der folgenden Erwiderung sein, bwp@-Leser und Leserinnen mit Details der für mich nicht nachvollziehbaren „Entgleisungen“ in Becks – wie er formuliert – „nicht ganz unpolemischen und zugleich (de)konstruktiven Entgegnung“ zu langweilen. Das bringt die dringend erforderliche Diskussion um die Neuorientierung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik keinen Schritt voran. Woran mir liegt und weshalb ich mich noch einmal zu Wort melde, ist es, (1.) grundlegende Missverständnisse bezüglich der von Beck attackierten „emanzipatorischen Berufsbildung(stheorie)“ zu klären und (2.) meine alternative Position im Vergleich zu dem von Klaus Beck dogmatisch vertretenen Standpunkt in Hinsicht auf das „Paradigma-Problem“ der Berufs- und Wirtschaftspädagogik darzulegen.

Was verbinde ich mit „emanzipatorischer Pädagogik“? Zunächst ein Unbehagen gegenüber Etikettierungen wissenschaftlicher Denkstile und Paradigmen jedweder Art. Wissenschaftliche Arbeit ist „work in progress“. Denkstile und paradigmatische Orientierungen sind (hoffentlich) permanenten Modifikationen, Differenzierungen und Änderungen unterworfen. So auch im Fall der emanzipatorischen Pädagogik. (Diese Bezeichnung behalte ich der Einfachheit halber weiterhin bei.). Pädagogik ist per se „emanzipatorisch“, jedenfalls sofern man sie im Sinn der europäischen Erziehungs- und Bildungstradition unter dem Anspruch von Aufklärung versteht (Kutscha 1989). Darauf hat Herwig Blankertz in „Die Geschichte der Pädagogik“ (1982) aufmerksam gemacht. Blankertz´ „Erzählung“ der Geschichte pädagogischen Denkens bildet gewissermaßen das „Framing“ für meine Gedankengänge in der von Beck kritisierten „Polemik“. „Thema der Pädagogik“, so Blankertz im Fazit seiner „Geschichte“ (1982, 306 f.), „ist die Erziehung, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit antrifft. Erziehung muss diesen Zustand verändern, aber nicht beliebig, sondern orientiert an einer unbedingten Zwecksetzung, an der Mündigkeit des Menschen … Die Erziehungswissenschaft aber arbeitet eben dieses als das Primäre heraus: Sie rekonstruiert Erziehung als den Prozess der Emanzipation, d.h. als Befreiung des Menschen zu sich selbst“ (Blankertz 1982, 306 f.). Blankertz fügt an entsprechender Stelle hinzu: „Das Ganze der Pädagogik, die Erziehung, enthält einen szientistisch nicht einholbaren Sinn.“

Anhängern des Kritischen Rationalismus, dem Beck sich zuordnet, mag ein solcher Zugang zur Pädagogik ein Graus sein. Für die „emanzipatorische Pädagogik“ im Sinne von Herwig Blankertz ist „Mündigkeit“ als „Befreiung des Menschen zu sich selbst“ nicht operationalisierbar. Sie gilt als regulative Idee, das heißt als Maßstab pädagogischen Handelns und Denkens und nicht als das zu Messende. Operationalisierung hingegen bedeutet Definition von Begriffen in Form von Messverfahren, was allerdings bei theorieabhängigen Konzepten oder Dispositionsbegriffen (wie Mündigkeit) keinen Sinn macht. Für die Verständigung darüber, was in der jeweiligen (historischen Situation) unter „Mündigkeit“ zu verstehen sei, bedarf es diskursiver Kommunikationsformen. Auf Fragen über Sinn und normative Grundlagen pädagogischen Denkens und Handelns zu verzichten, wäre aus Sicht der emanzipatorischen Pädagogik – in welchen Varianten auch immer – das Ende jeder ernst zu nehmenden Bildungs- und Erziehungswissenschaft.

Von welchem Verständnis emanzipatorischer Pädagogik Beck ausgeht, ist mir ein Rätsel. In Becks „Entgegnung“ heißt es: „So verwegen die Vorstellung ist, die nachwachsende Auszubildendengeneration zur Speerspitze einer gesellschaftsreformierenden Bewegung machen zu können, so pädagogisch unvertretbar (um das mindeste zu sagen) ist die Absicht, sie für das emanzipatorische Projekt einer tiefgreifenden Gesellschaftsreform zu instrumentalisieren“ (KB 8).

Mündigkeit und „Instrumentalisierung“ stehen in einem Spannungsverhältnis. Wenn von Auszubildenden in der Berufsausbildung die sorgfältige Ausführung von Arbeitsaufgaben zum Zwecke des beruflichen Kompetenzerwerbs, aber auch zur Sicherstellung eines geordneten Betriebsablaufs eingefordert wird, ist darin immer auch ein Moment der „Instrumentalisierung“ enthalten. Wie immer man es dreht und wendet. Das gehört zur Kernproblematik pädagogischer Antinomien, wie sie in Hinblick auf das Verhältnis von Bildung und moderner Arbeitswelt bei Theodor Litt (1955) angesprochen sind. An sie kommt eine praxistaugliche Berufsbildungstheorie, auch die der emanzipatorischen Berufspädagogik, nicht vorbei. Entscheidend ist die Klärung u.a. folgender Fragen: Für welche Zwecke wird „instrumentalisiert“, und wie und von wem werden diese Zwecke legitimiert? Wie werden die zu Erziehenden einbezogen? Welche Möglichkeiten des eigenständigen Urteilens und Handelns (Autonomie) werden ihnen eingeräumt?

Erziehung zur Mündigkeit bedeutet aus emanzipatorischer Sicht: Mündigkeit zu ermöglichen. Nicht: Mündigkeit zu verordnen! Das wäre paradox. Grundlegend für die Ermöglichung von Mündigkeit ist das Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft und im Zusammenhang damit die Frage: Welche alternative Perspektiven und Optionen werden der nachwachsenden Generation eröffnet, und welche bleiben ihr verschlossen, zum Beispiel bei der Teilhabe an Gesellschaft, Politik und Wirtschaft?

 (Exkurs: Was bedeutet es für den Zustand der Jugendbildung in unserer Gesellschaft, wenn es sich bei Jugendprotesten fast ausnahmslos um Aktivitäten der Schülerschaft aus allgemein bildenden Schulen, insbesondere aus Gymnasien, handelt oder wenn beispielsweise der mit Abstand größte Teil junger Leute, die sich bei den Fridays for Future engagieren, aus der oberen Mittelschicht kommt, wie einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung zu entnehmen ist (Sommer et al. 2019, 11 ff.)? Ist politisches Engagement als Ausdruck mündigen Verhaltens u.a. eine Frage von Bildungsprivilegien? Tragen die strukturellen Bedingungen der Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung dazu bei, die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts in unserer Gesellschaft zu unterminieren?)

Angesichts der Entwicklungen in unserer Gesellschaft geht es bei solchen Fragen nicht um pädagogische Peanuts oder um Hirngespinste aus dem Umkreis emanzipatorischer Berufspädagogik. Und es geht schon gar nicht darum, Ausbildende „anzustiften“, wie Beck schreibt, den ihnen vermittelten „emanzipatorisch-egalitären Impetus“ „in ihren Ausbildungsbetrieben handelnd freien Lauf zu lassen“ (KB 8). Mit wenigem Aufwand hermeneutischer Textauslegung hätte Beck meinem Text entnehmen können, was von mir mit kritisch-reflexiver Berufsbildung in Erweiterung beruflicher Handlungskompetenz verstanden wird. Kriterium zur Beurteilung des Unterrichts an beruflichen Schulen – wie an öffentlichen Unterrichtseinrichtungen überhaupt – ist das Maß, in dem Lehrende Lernende als Opponenten und deren Eigensinn als Subjekte achten (GK 9). Diesen Mindestanspruch teile ich mit Wolfgang Lempert (1971, 319). In den von Blankertz ausformulierten Prämissen zum Modellversuch Kollegstufe NW heißt es damit übereinstimmend: „alle Inhalte der fachlichen Lernziele sind mit Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen zu lehren, so daß dem Lernenden die Möglichkeit des Widerspruchs gegen die ihm zugemutete Intentionalität offen bleibt“ (Kultusminister Nordrhein-Westfalen 1972, 23). Aufgrund meiner Mitarbeit in der Wissenschaftlichen Begleitung des Kollegstufenversuchs bin ich nach wie vor von diesem Prinzip überzeugt. Und so heißt es denn ziemlich unpolemisch in meiner „Polemik“ (GK 10): Die spezifische Reflexionsleistung einer emanzipatorisch orientierten Berufs- und Wirtschaftspädagogik sähe ich in Anlehnung an Blankertz und Lempert darin, „durch Theorienstreit und die dadurch bedingte Weltauslegung hindurch solche Strukturen freizulegen, die Lernen ohne von vorherein indoktrinierende Randbedingungen zu ermöglichen“ (Blankertz 1975, 180).

Mit emanzipatorischer Bildung an allgemeinen und beruflichen Schulen verbinde ich die Möglichkeit, der de facto praktizierten Instrumentalisierung Jugendlicher mit dem Ansatz einer politisch-ökonomisch reflektierten Bildung entgegenzutreten (Kutscha 1976). Anders als marktwirtschaftlich agierende Ausbildungsbetriebe sind Berufsschulen in öffentlicher Verantwortung immer auch Bildungsschulen, die im Arbeitszusammenhang mit Betrieben zur Vermittlung beruflicher Handlungskompetenzen beitragen, aber darüber hinaus berufsbezogene und berufsübergreifende Lernprozesse unabhängig vom unmittelbaren Verwertungszusammenhang initiieren, unterstützen und fördern sollten (vgl. Kutscha 2020, 8).

Darüber kann und muss man diskutieren, und dazu vertrete ich dezidiert den Standpunkt: Auszubildende dürfen auf gar keinen Fall durch den Berufsschulunterricht in ein – wie Beck der emanzipatorischen Berufspädagogik unterstellt – „gravierendes Dilemma gestürzt werden, das sie nicht allein in einen desaströsen Loyalitätskonflikt zu ihren Ausbildungsbetrieben treibt, sondern letztlich sogar an der Legitimität des von ihnen gewählten Berufs (ver)zweifeln lassen müsste“ (KB 5). Sie sollten aus Sicht emanzipatorischer Berufspädagogik vielmehr befähigt werden, über die Aneignung beruflicher Handlungskompetenzen hinaus und in Verbindung damit ihre berufliche Identität zu finden und zu entwickeln. Das muss nicht betrieblichen Interessen widersprechen, sondern kann in gut geführten und mitbestimmten Betrieben dazu beitragen, Auszubildende so zu qualifizieren und zu integrieren, dass sie in der Lage sind, sich kritisch-konstruktiv mit den betrieblichen Herausforderungen der globalisierten und vernetzten Ökonomie auseinanderzusetzen. Kritisch-konstruktive Loyalität ist angesagt, aber auch (solidarischer) Widerstand gegen Arbeitsverhältnisse, die einer Loyalität nicht würdig sind. Beck selbst hat durch seine Forschungsarbeiten zur moralischen Entwicklung Anregungen gegeben, wie Dilemmata konstruktiv für einen didaktisch gelingenden Unterricht genutzt werden könnten.

Das theoretische und praktische Szenario der Emanzipationspädagogik hat sich seit den Reformbewegungen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre gründlich verändert. In der heutigen „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) ist der Emanzipationsanspruch nicht mehr mit autoritären Strukturen wie zur Zeit der Studenten- und Lehrlingsproteste der 68er-Generation konfrontiert. Eine kritische Selbstvergewisserung der emanzipatorischen Bildungs- und vornehmlich auch der Berufsbildungstheorie muss sich damit auseinandersetzen, dass „Mündigkeit in sich widersprüchlich geworden ist“ (Dammer 2015, 43). Die Koordinaten gesellschaftlicher und individueller Erwartungen, gegenwarts- und zukunftsbezogener Anforderungen sind aus dem Lot geraten. Das Gesellschaftssystem verlangt den Individuen – gerade auch in der Erwerbsarbeit – ausdrücklich Selbstverantwortung und Selbständigkeit unter dem Zwang lebenslänglichen Lernens ab. Die „Freisprechung“ bei Abschluss der Berufsausbildung bzw. der Lehrzeit, wie es früher hieß, wird mit der Pflicht zum Weiterlernen verbunden. Lernen fungiert als „beschleunigte Entwertungsproduktion“ (Geißler/Kutscha 1992, 19), und „fremdbestimmte Mündigkeit“ (Dammer 2015, 44) ist dafür funktionale Voraussetzung zur Teilhabe an der Beschleunigungsgesellschaft. Emanzipation und Funktionalität gehen eine unauflösbare Allianz der Fremd- und Selbstkontrolle ein. Zu fragen bleibt: Für welche Mündigkeit sollte sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik unter diesen Voraussetzungen stark machen, wenn sie den Bildungs- und Mündigkeitsbegriff verwendet? Und: welcher instrumentellen Funktionalität ist emanzipatorisch intendierte Berufsbildung unterworfen? Das ist keine „ideologisch getriebene Sicht“ – das sind aktuelle und künftige Herausforderungen an Theorie und Forschung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

Eng mit der kategorialen Fehlinterpretation der emanzipatorischen Berufsbildungstheorie hängt das von Beck behandelte „Paradigma-Problem“ der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zusammen (KB 11 ff.). Becks Position lässt sich bei allem Respekt nicht anders als dogmatische Bevormundung auf Grundlage eines wissenschaftspopulistisch präsentierten Kritischen Rationalismus bezeichnen. Das steht im eklatanten Widerspruch zu der von Karl Popper als maßgeblichem Ideengeber dieser Wissenschaftstheorie reklamierten „offenen Gesellschaft“, sofern man davon ausgeht, dass auch Wissenschaft als institutionalisiertes System der Gesellschaft „offen“ zu sein habe, um (mit Popper!) eine Gesellschaft ohne Herrschaft der Eliten zu ermöglichen.

Beck nimmt einen dezidierten Standpunkt zur Trennung von Politik und Wissenschaft ein: „Es ist eben eine genuin politische Angelegenheit, unerwünschte Strukturen einer gegebenen Gesellschaft zu verändern“ (KB 8). Diese Position mag teilen, wer will; aber sie ist strittig. Aus Sicht der Kritischen Theorie, der ich – insbesondere in der Version von Habermas (1968) – nahestehe, kann sich Wissenschaft als Teil der Öffentlichkeit nicht ihrer Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen entziehen. Sie hat zwar nicht das legitimatorische Mandat politischer Entscheidungsträger. Das aber muss und darf sie nicht daran hindern, mit den Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis(findung) auf politische Willens- und Meinungsbildung in der Öffentlichkeit und im Rahmen politischer Prozesse einzuwirken. Was Beck anstrebt, ist eine Abschottung von Wissenschaft und Politik und innerhalb der Wissenschaft eine Spaltung der Kommunikationsgemeinschaften, speziell zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus.

Keine Frage: Die paradigmatischen Unterschiede zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus sind erheblich. Sie wurden im so genannten Positivismusstreit der 1960er Jahre hochstilisiert. Jedoch und zum Glück hatte der wissenschaftstheoretische Überbau dieser Debatte für die praktische Forschungsarbeit „vor Ort“ und in späteren Jahrzehnten nur wenig Bedeutung, weder bei den von Popper kritisch-rationalistisch inspirierten Wissenschaftlern noch bei Anhängern der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie (wenn sie denn nicht nur räsoniert und sich rhetorisch exponiert, sondern ernsthaft geforscht haben). Dass Klaus Beck bei seiner „Entgegnung“ auf meine „Polemik“ nun aus der Klamottenkiste früherer Jahrzehnte erneut einen „Graben“ zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus reproduziert (KB 11), halte ich für einen Rückfall in unproduktive Glaubenskämpfe. Es bestünden „fundamentale“ und „gravierende Inkonsistenzen“, die nicht zu überwinden seien, und „inkommensurable Voraussetzungen, insbesondere an den unvereinbaren Menschen- und Gesellschaftsbildern, auf die sich diese beiden Sichtweisen beziehen, … “ (KB 12).

„Gräben“ und unvereinbare Menschen- und Gesellschaftsbilder haben in der Wissenschaft und vor allem in Lehre und Forschung an Hochschulen nichts zu suchen. Es geht darum „Brücken“ zu bauen. Die Bereitschaft dazu sehe ich bei Beck nicht im Ansatz vorhanden. Selbstverständlich ist Beck zuzustimmen, wenn er aus Sicht des Kritischen Rationalismus davon ausgeht, „dass wir im Vollzug unserer Lebenspraxis umso besser gestellt sind, über je mehr und je zuverlässigeres Wissen von der Welt wir verfügen“ (Beck 2010, 378). Gleichwohl: Wissen über das, was der Fall ist, rechtfertigt nicht die normative Kraft des Faktischen. Fakten bedürfen der empirischen Prüfung, aber auch der kritischen Reflexion im wissenschaftlichen Diskurs. Um es auf den Punkt zu bringen: Gegen die Polarisierung von Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus plädiere ich dafür, diese Ansätze als komplementär sich ergänzende unterschiedliche Beobachterinstanzen und Denkstile im berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskurs zu verstehen und zu respektieren..

Dass beide Ansätze – Kritischer Rationalismus und Kritische Theorie – nicht koinzidieren, liegt auf der Hand. Aber muss das ein Problem für die Produktivität von Theorieentwicklung und Forschung in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sein? Dieser ohnehin kleine und weltweit unbedeutende Wissenschaftsbereich braucht Vielfalt an Ideen und Methoden und keinen „Law-and-Order-Rationalismus“ (Feyerabend). Erfindung, Überprüfung und Anwendung methodologischer Regeln sind eine Sache der konkreten wissenschaftlichen Forschung, und für den Diskurs über Ziele, Normen und Themen der Berufsbildungswissenschaft (im weitesten Sinne) reicht es, sich auf wenige Grundregeln vernünftiger Kommunikation und deren Umsetzung im wissenschaftlichen Diskurs zu verständigen. Ohne die anspruchsvollen Voraussetzungen des herrschaftsfreien Dialogs nach Jürgen Habermas zu bemühen, meine ich in Anlehnung an Blankertz (1973,16) mit „Diskurs“ „ganz schlicht eine argumentierend fortschreitende Erörterung, die im Gegensatz sowohl zu einer streng erfahrungswissenschaftlich abgesicherten Aussage auf der einen Seite als auch zu einer dogmatischen Festlegung auf der anderen Seite den Widerspruch ernst nehmen muß, ja geradezu auf die Reaktion des Gesprächspartners angewiesen ist, weil Richtigkeit und Angemessenheit des Diskurses nur im Dialog erfahrbar ist.“

Trotz aller Vorbehalte aus Sicht der Kritischen Theorie empfehle ich, Paul Feyerabends „Erkenntnis für freie Menschen“ (1978) erneut zu lesen. Salopp gesagt: Das Buch ist ein Plädoyer für „kritischen Pragmatismus“. Ein besserer Topos fällt mir dazu nicht ein. Unter dessen Schirm haben Kritische Theorie, Kritischer Rationalismus und andere Paradigmen ihren Platz, um unter Bedingungen der Freiheit von Lehre und Forschung produktiv und im Wettbewerb um das Bestmögliche arbeiten zu können. Eine Perspektive auch für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik?

Literatur

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Beck, K. (2019): Irrungen und Wirrungen im „Abseits politisch-ökonomischer Reflexion“. Eine nicht ganz unpolemische und zugleich de(kon)struktive Entgegnung auf Günter Kutschas „Polemik in konstruktiver Absicht“. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 1-15. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe35/beck_entgegnung-kutscha_bwpat35.pdf (20.01.2020).

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Kutscha, G. (Hrsg.) (1989): Bildung unter dem Anspruch von Aufklärung. Zur Pädagogik von Herwig Blankertz. Weinheim, Basel.

Kutscha, G. (2019): Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion. Eine Polemik in konstruktiver Absicht und Wolfgang Lempert zum Gedenken. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 1-19. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe35/kutscha_bwpat35.pdf (20.01.2020).

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Zitieren des Beitrags

Kutscha, G. (2020): Klaus Becks „Irrungen und Wirrungen“ – Eine notwendige Klärung und ein Plädoyer für „Kritischen Pragmatismus“. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – on­line, Ausgabe 35, 1-8. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe35/kutscha-erwiderung-beck_bwpat35.pdf (16.02.2020).

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