bwp@ 42 - Juni 2022

Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Marcus Eckelt & Franz Kaiser

Editorial bwp@42

Beitrag von Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Marcus Eckelt & Franz Kaiser

EDITORIAL zur Ausgabe 42:
Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung

In der Berufsbildungswissenschaft, -politik und -praxis besteht grundsätzlich Einigkeit darin, dass – trotz der Eröffnung neuer Bildungswege – in der und durch die Berufsbildung, wie auch in anderen Bildungsbereichen soziale Ungleichheit (re)produziert wird, und dass Bildungsgerechtigkeit zu fordern und anzustreben ist. Seit den 1960er Jahren tauchen Hinweise auf Ungleichheit und Forderungen ihrer Beseitigung in der Bildung und damit auch in der Berufsbildung kontinuierlich als Bestandteile von Regierungserklärungen, Koalitionsverträgen, ministeriellen Agenden, Reformkommissionen sowie Programmatiken von Allianzen, Bündnissen, Sozialpartnern und Interessenverbänden auf.

Auch die Berufs- und Wirtschaftspädagogik befasst sich seit ihrer Konsolidierung in den 1970er Jahren mit sozialer Ungleichheit, ihren Merkmalen, Ausprägungen und Ursachen auf den vielfältigen Ebenen im Berufsbildungssystem. Ihr vorrangiges Ziel besteht darin, mit anwendungsorientierten Konzepten für einzelne Handlungsfelder der Berufsbildung die Beseitigung sozialer Ungleichheit zu unterstützen.

Der interdisziplinäre Diskurs über Dimensionen und Ursachen von sozialer Ungleichheit ist in den letzten Jahren durch unterschiedliche Perspektiven und theoretische Bezüge angereichert worden. In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik liegen bislang einige Auseinandersetzungen zu Gender Perspektiven, regionaler und sozialer Ungleichheit u.a. bedingt durch Migration vor. Noch eher selten sind explizite Bezüge zur Habitustheorie, zur Theorie institutioneller und intersektionaler Diskriminierung oder zur postkolonialen Theorie erkennbar. Dennoch setzt sich seit einigen Jahren die Erkenntnis durch, dass ein theoretisch abgesichertes Verständnis sozialer Ungleichheit nicht nur auf soziale Herkunftseffekte oder auf Selektionsprozesse bei Zugängen und Übergängen von der Schule in die berufliche Bildung, innerhalb des Berufsbildungssystems zwischen Bildungsgängen und in die hochschulische Bildung reduziert werden kann. Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit spielen auch politische, sozioökonomische, regionale und institutionelle Strukturen sowie die alltägliche pädagogische Praxis in der (beruflichen) Bildung, und hier die im pädagogischen Handeln wirksamen eingelagerten Normen, Deutungen über das, was als (un)gleich zu gelten hat oder nicht, ebenso wie tradierte und unreflektierte Kommunikationsweisen und Verteilungsprinzipien. Dabei prägt die funktionale Ausrichtung der beruflichen Bildung auch häufig den Habitus des dort befindlichen Bildungspersonals, dessen Auseinandersetzung mit den zuvor genannten aktuellen Theorien im Studium kaum oder gar nicht stattfindet.

Aus dieser Perspektive können sich auch Bemühungen um Bildungsgerechtigkeit nicht einfach auf die Bereitstellung von Rahmenbedingungen und Ressourcen beschränken, sondern haben auch politische Kontexte sowie die Komplexität und Wechselwirkungen derjenigen institutionellen und kommunikativen Prozesse und Mechanismen, die in der unmittelbaren Praxis beruflicher Bildung soziale Ungleichheit mitverursachen und verstärken, in den Blick zu nehmen.

Die Persistenz sozialer Ungleichheit, die Kompliziertheit ihrer Ursachen und die Grenzen der Realisierbarkeit von Bildungsgerechtigkeit im pädagogischen Alltag stellt vor allem die Lehrer:innen an beruflichen Schulen und das Bildungspersonal im Übergangssystem vor besondere fachliche, pädagogische und mentale Herausforderungen. Auf sie wird die Verantwortung für die Umsetzung von politisch versprochener Bildungsgerechtigkeit verlagert. Sie sind in ihrem pädagogischen Handlungsfeld mit Ambiguitäten und Konflikten konfrontiert, mit denen sie professionell umzugehen haben.

Mit Ausgabe 42 von bwp@ geben wir einen aktuellen Einblick in die Komplexität, in die Dimensionen und Perspektiven im Themenbereich soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung.

Die in dieser Ausgabe veröffentlichten Beiträge können folgenden Schwerpunkten zugeordnet werden:

Teil 1: Kontexte der Berufsbildung und soziale Ungleichheit

Im diesem Teil geht es um Hintergründe und Kontexte sozialer Ungleichheit. Im Vordergrund steht eine Makroperspektive, die (welt)politische und raumbezogene Aspekte und Dynamiken sozialer Ungleichheit thematisiert und diese als Anknüpfungspunkte für (Berufs)Bildungsgerechtigkeit nimmt.  

Eva-Maria Klinkisch, Katholische Hochschule Freiburg, verbindet in ihrem Beitrag die Theorie institutioneller Diskriminierung mit einer Externalisierungs- und postkolonialen Theorie, um den Diskurs um Bildungsungleichheit um eine weltgesellschaftliche Perspektive zu erweitern. Für die Berufsbildung sieht die Autorin diese Theoriebildung insofern als gewinnbringend an, als dadurch auch die Beteiligung von beruflicher Bildung am Externalisierungsgeschehen diskutierbar, analysierbar und kritisierbar wird. Diese Sichtweise ist insbesondere im Zusammenhang mit der Frage von Professionalisierung und Professionalität in der beruflichen Bildung interessant.

Marco Hjelm-Madsen, Universität Flensburg, und Claudia Kalisch, Universität Rostock, widmen sich in ihrem Beitrag der regionalen Berufsbildungsforschung, um den Zusammenhang zwischen regionalen Disparitäten und Bildungsgerechtigkeit zu verdeutlichen. Der Beitrag zielt darauf, aus raumbezogener Perspektive die Komplexität von Bildungs(un)gerechtigkeit zu analysieren. Dazu werden raumwissenschaftliche und berufsbildungsphilosophische Fragen miteinander verknüpft. Herangezogen werden berufsbildungsstatistische Daten. Zudem werden drei Interpretationsansätze von Bildungsgerechtigkeit unterschieden, die die Relevanz des regionalen Ansatzes für den Ungleichheitsdiskurs unterstreichen.

Teil 2: Zugänge und Übergänge in der Berufsbildung und soziale
Ungleichheit

Soziale Ungleichheit in der Berufsbildung lässt sich am ehesten an Verteilungspraktiken und ‑effekten bei Zugängen zu und Übergängen in Ausbildung und Studium nachvollziehen. Die Beiträge in diesem Teil zeigen die Wirkmächtigkeit von Traditionen, Stereotypen und Habitus an und auf Wegen in die berufliche und akademische Bildung auf. Anknüpfungspunkte für Veränderungen werden vor allem auf professionspolitischer Ebene gesehen.

Mareike Beer, Universität Osnabrück, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage nach den Gründen für den Rückgang von Neuzugängen in Ausbildung für Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen. Dabei geht es auch um die Frage nach dem Unterschied hinsichtlich der Zugänge im Ost-West-Vergleich. Auf der Basis einer Auseinandersetzung mit der rechtlichen Grundlage und einer Sekundärauswertung vorhandener Statistiken und einschlägiger Publikationen wird ein Zusammenhang zwischen sozialen Praktiken sonderpädagogischer Förderung und tradierter bzw. reproduzierter Bildungsungleichheit hergestellt.

Tanja Preböck und Silvia Annen, Universität Bamberg, führen in ihrem Beitrag eine Analyse der Aufnahme eines Studiums von Abiturient:innen nach der Ausbildung anhand von NEPS-Daten durch. Die Autorinnen gehen davon aus, dass sich Abitur und Berufsausbildung immer weniger gegenseitig ausschließen. Im Vordergrund steht die Frage nach Charakteristika von Auszubildenden mit Abitur, die sich nach ihrer Ausbildung für ein Studium entscheiden. Im Rahmen ihrer Replikationsstudie verwenden sie Daten des nationalen Bildungspanels. Dabei geht es um Merkmale wie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund.  

Theo Döppers, Universität Gießen, knüpft an die Öffnungen von Lehramtsstudiengängen an, die seit einigen Jahren einen erweiterten Zugang  über den beruflichen Bildungsweg eröffnen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung von beruflicher Herkunft und beruflichen Erfahrungen und danach, welche Bedeutung diese bei der Habitusentwicklung der Studierenden einnehmen. Auf der Basis der Habitus-Feld-Theorie sowie Gruppendiskussionen und Einzelinterviews erfolgt eine Einordnung berufspraktischer Erfahrungen aus der Perspektive des Studiums und des künftigen Praxisfeldes berufsbildender Schulen.

Ausgehend von ungleichen Chancen beim Zugang zum Studium nimmt Christian Stoll, TU Berlin, die Lehramtsausbildung für berufsbildende Schulen und hier insbesondere für den gewerblich-technischen Bereich in den Blick. Es wird die Frage gestellt, ob gegebenenfalls Habituskonflikte von Studierenden mit nicht-akademischer Herkunft insbesondere bezogen auf ihre Herkunftsmilieus eine Mitursache sind für die relativ geringe Anzahl an Studienanfänger:innen und eine relativ hohe Abbruchquote im Studium. Grundlage des Beitrags sind das Habituskonzept nach Bourdieu sowie eine eigene Interviewstudie, die die inneren Konflikte und äußeren restriktiven Bedingungen im Lehramtstudium aufzeigen. Das Ziel des Beitrags besteht darin, die Bedeutung habitussensibler Lehrer:innenkompetenz zu begründen.

Teil 3: Ungerechte Prozesse und Mechanismen in der Berufsbildung und im Lehramtsstudium

Die Beiträge in diesem Teil rücken zum einen benachteiligende Prozesse in Organisationen in den Fokus. So geht es um subtile Formen der Diskriminierungen, um Machtdynamiken in Ausbildung und im Lehramtstudium sowie um Missachtungen von Nachteilen bzw. gesundheitlichen Einschränkungen. Zum anderen werden professions-, kompetenz- und organisationsbezogene Auswege thematisiert.

Mit dem Hinweis auf die Kontinuität von Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen sowohl beim Zugang zur Ausbildung als auch während der Ausbildung einerseits und auf einen andauernden Fachkräftemangel andererseits fragen Kirsten Rusert, Mehmet Kart und Margit Stein, Universität Vechta, danach, ob diese Gleichzeitigkeit dazu führt, dass Ungleichheit abgebaut wird oder aber bestehen bleibt. Anhand von Befragungen von Auszubildenden und Ausbildungsbetrieben wird gezeigt, dass sich durch den Fachkräftemangel Zugangschancen zur Ausbildung zwar verbessern, dass aber während der Ausbildung bekannte Diskriminierungen und Herrschaftsstrukturen bestehen bleiben.

In ihrem Beitrag über ‚Microaggressions‘ als Herausforderung für geschlechteruntypische Auszubildende verfolgen Frank Meng, Ruth Müntinga, Jakob Stephan und Timm Kroeger, Universität Bremen, das Ziel, anhand eines in der Berufsbildungsdiskussion und -forschung bislang wenig berücksichtigten Ansatzes zu zeigen, wie geschlechtsspezifische Vorurteile und Diskriminierungen während der Ausbildung den weiteren Berufsverlauf negativ beeinflussen können. Die empirische Basis des Beitrags bilden Interviewbefunde mit Auszubildenden im Malerei- und Lackiererei-Handwerk. 

Alisha M. B. Heinemann und Myrthe Reinsberg, Universität Bremen, verweisen auf eine zunehmend divers zusammengesetzte Schüler:innenschaft, die es erforderlich macht, dass Lehrer:innen an berufsbildenden Schulen dazu befähigt werden, gesellschaftliche und institutionelle Machtverhältnisse, -prozesse und -mechanismen zu reflektieren sowie ihre eigene Position in dieser Machtdynamik zu erkennen und in Frage zu stellen. Das im Beitrag vorgestellte Forschungsprojekt befasst sich mit der Frage der machtreflexiven Professionalisierung im Rahmen der Lehrer:innenbildung für berufsbildende Schulen.

Janine Michele, Medizinische Hochschule Hannover, Julia Gillen und Ariane Steuber, Universität Hannover, problematisieren in ihrem Beitrag die steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die chronisch erkrankt sind und deren Entwicklungschance in Bildung und Ausbildung daher erschwert sind. Die Autorinnen beschreiben den Wirkmechanismus von sozialer Herkunft, Ungleichheit und Gesundheit und setzen sich mit der Frage nach gesundheitsförderlichen Kompetenzen und berufspädagogischen barrierefreien Strukturen auseinander.

Insgesamt zeigen die Beiträge einen Ausschnitt eines umfassenden und offenen Diskussions- und Forschungsfeldes in der Berufsbildung. Wir freuen uns auf einige weitere Beiträge, die im Oktober 2022 im Update dieser Ausgabe veröffentlicht werden.  

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, beim Redaktionsteam und der Webmasterin für die gute Zusammenarbeit und wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Marcus Eckelt & Franz Kaiser
(im Juni 2022)

 

Zitieren des Beitrags

Büchter, K./Kremer, H.-H./Eckelt, M./Kaiser, F. (2022): Editorial zu Ausgabe 42: Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschafts­päda­gogik – online, Ausgabe 42, 1-5. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe42/editorial_bwpat42.pdf (30.06.2022).