bwp@ 25 - Dezember 2013

Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, Sandra Bohlinger & Tade Tramm

Editorial bwp@25: Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung

Beitrag von Karin Büchter, Sandra Bohlinger & Tade Tramm

EDITORIAL zur Ausgabe 25:
Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung

Wenn bei internationalen Kongressen oder Tagungen Kolleginnen und Kollegen anderer Länder sich danach erkundigen, wie die deutsche Berufsbildungspolitik funktioniert und dann noch fragen, wer für alle berufsbildungspolitischen Belange zuständige Ansprechpartner sind, fallen die Antworten darauf in der Regel etwas länger aus. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die deutsche Berufsbildungspolitik komplex ist und im Hinblick auf Ordnung und Steuerung fragmentiert. Diese Fragmentiertheit, auf die wir im Call for Papers dieser Ausgabe bereits hingewiesen haben, ist in den letzten Jahren einerseits vor dem Hintergrund von supra- und internationalen Einflüssen, die nur begrenzt mit der deutschen Berufsbildungspolitik kompatibel sind, und anderseits von Reformträgheiten und inflexiblen Strukturen im Berufsbildungswesen, beispielsweise wenn es um die Förderung von Durchlässigkeit geht, zunehmend in die Kritik geraten.

Mit dieser Ausgabe von bwp@ haben wir das Ziel verfolgt, historiographische, theoretische und empirische Befunde zur Besonderheit der Berufsbildungspolitik in Deutschland zu versammeln, um die Auseinandersetzung mit berufsbildungspolitischen Vor- und Nachteilen argumentativ zu unterfüttern. Gleichzeitig soll mit der Ausgabe die berufs- und wirtschaftspädagogische Diskussion um Berufsbildungspolitik belebt werden.

Für diese Ausgabe von bwp@ sind im Vergleich zu anderen Ausgaben relativ wenig Beiträge eingereicht worden. Möglicherweise liegt dies daran, dass das Thema „Ordnung und Steuerung“ in erster Linie mit der Ordnungspolitik im Rahmen des dualen Systems und – bereits deutlich seltener – vollzeitschulischer Ausbildung in Verbindung gebracht wird. Es ist auch denkbar, dass der weiter gefasste Begriff der „Berufsbildungspolitik“ im berufsbildungswissenschaftlichen Diskurs quer zu anderen Schwerpunkten liegt, als „sperrig“ und als fernab des berufs- und wirtschaftspädagogischen Alltagsgeschehens wahrgenommen wird. Möglich ist aber auch, dass sich Ordnung, Steuerung und Berufsbildungspolitik per se erst langsam ihren Weg durch andere Politik- und andere bildungswissenschaftliche Themenfelder – bahnen und oft nur über Umwege Aufmerksamkeit erhalten. Beispielhaft seien hier Themenfelder genannt, die die traditionellen disziplinären Grenzen in Frage stellen, so z. B. die Ordnung und Steuerung beruflich-betrieblicher Weiterbildung, die Übertragbarkeit zentraler Elemente deutscher beruflicher Bildung auf andere Systeme unter den Stichworten policy borrowing and lending und policy learning oder Steuerungsfragen an der Schnittstelle zwischen beruflicher Bildung, akademischer Bildung und Arbeitsmarkt.

Hinzu kommt, dass die Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung traditionell sehr national geprägte Themen sind, die vergleichende Perspektiven vorrangig mit Blick auf historische Entwicklungen und Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern (oder zwischen deutschsprachigen Ländern), aber weit seltener mit Blick auf andere Länder oder auf das Wechselspiel zwischen supranationalen/internationalen und nationalen Einflüssen einnimmt: Allein innerhalb Deutschlands stellen z. B. Bundes- versus Landesregelungen, BBiG und HwO gegenüber Berufszulassungsgesetzen, der Regelungsdschungel im Übergangssystem, im Weiterbildungsbereich, arbeits- sowie jugendschutzrechtliche Regelungen und nicht zuletzt „Exoten“ wie die Verordnung über die Berufsausbildung in der Seeschiffahrt nur einen Ausschnitt der Ordnungsfragen dar, der die Frage nach der Steuerung noch weitestgehend offen lässt.

Dadurch wird verständlich, dass der zunehmende direkte und indirekte Einfluss der europäischen Union auf die Gestaltung nationaler (Berufs-)Bildungspolitiken, die Frage nach der besseren Integration von Migranten und Migrantinnen in das Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt, die Fachkräftesicherung im Zeichen demographischen Wandels und die vergleichsweise junge Strategie Deutschlands, sich als attraktives Einwanderungsland zu präsentieren, in der beruflichen Bildung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten und sie auf den ersten Blick kaum zu berühren scheinen. Bei genauerer Betrachtung erschüttern sie die berufliche Bildung allerdings in ihren Grundsätzen, weil sie allesamt traditionelle Steuerungs- und Ordnungsmechanismen und die Leitideen des Berufskonzepts als solches in Frage stellen. Hier seien beispielhaft genannt:

  • Die Schaffung korporativer bzw. dualer Studiengänge, die die herkömmliche Trennung zwischen akademischer und beruflicher Bildung aufhebt;
  • die Einführung eines deutschen Qualifikationsrahmens, der an etlichen Stellen die Zuordnung von akademischen und beruflichen Qualifikationen auf ein und derselben Niveaustufe vorsieht, aber gleichzeitig mit Blick auf weiterhin geltende Zugangsregelungen und Tarifrecht an der Trennung beruflicher und akademischer Bildung festhält;
  • die Anerkennung ausländischer Qualifikationen mit der Möglichkeit der Nachqualifizierung, die de facto eine Modularisierung beruflicher Bildung darstellt;
  • die Wiederentdeckung des dualen Ausbildungssystems als Exportschlager mit wenig systematischer Auseinandersetzung darüber, welche Konsequenzen damit nicht nur für das jeweils andere System, sondern auch für die deutsche berufliche Bildung verbunden sind.

Vor diesem Hintergrund haben wird die eingereichten Beiträge in drei thematische Blöcke einsortiert: Ordnung, Recht und Steuerung (Teil A), Interessen, institutionelle Mechanismen und Deutungen (Teil B) und (Un-)Durchlässigkeiten, Benachteiligungen und Anerkennungen (Teil C).

Teil A: Ordnung, Recht und Steuerung

Diesem Teil haben wir Beiträge zugeordnet, die verdeutlichen, wie Ordnung und Steuerung im beruflichen Schulwesen und in der betrieblichen Ausbildung etabliert und (re-)definiert werden, und unter welchen Bedingungen Steuerungsprozesse innovativ sind bzw. sein können.

In dem Beitrag von EvelinE Wittmann geht es um die Frage der Einbindung beruflicher Schulen in die staatlichen Legitimationskonstruktionen. Unter Rekurs auf politikwissenschaftliche Überlegungen und mit Blick auf die Geschichte beruflicher Schulen zeigt der Beitrag, dass die staatliche Politik gegenüber den beruflichen Schulen jeweils über staatliche Legitimität verhandelt wird. Demzufolge spiegeln sich Schwächen oder Bedrohungen nationalstaatlicher Legitimität sowie Versuche, diese zu beseitigen, in veränderten politischen Diskussionen über berufliche Schulen wider.

Gunde Gaßner-Keita greift in ihrem Beitrag die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes (BBIG) von 2005 auf, die mit § 43 (2) (Zulassung zur Abschlussprüfung) einen neuen Handlungsspielraum eröffnet hat. Der Beitrag beleuchtet dessen Umsetzung in Nordrhein-Westfalen unter dem Aspekt der Verbesserung der Steuerung in der Berufsbildung an Schulen. Anhand von empirischen Befunden wird gezeigt, wie Steuerungs- und Kooperationsstrukturen unter unterschiedlichen regionalen Bedingungen etabliert werden und inwieweit sich diese auch auf die Kooperation zwischen den beiden Lernorten Schule und Betrieb auswirken.

Gabriela Höhns eröffnet mit ihrem Beitrag einen neuen theoretischen Zugang zu den Verfahrensabläufen, Abstimmungsprozessen und dahinter liegenden Interessenkonstellationen des deutschen dualen Systems, indem sie auf die Bildungssoziologie Basil BERNSTEINs zurückgreift, dessen Arbeiten jenseits von Soziolinguistik bzw. Schicht und Sprachcode kaum bekannt sind. Unter Rekurs auf die Arbeiten zum „pedagogic device“, die auf die Strukturierung bildungspolitischer Positionen und deren outcomes durch die generativen Prinzipien von Macht und Kontrolle verweisen, analysiert der Beitrag das BBiG und nachgeordnete Rechtsakte unter den Aspekten der Macht- und Kontrollprinzipien und des spezifischen pädagogischen Diskurses.

Der Beitrag von Volkmar Herkner greift ein aktuelles berufsbildungspolitisches Thema auf: „Recht auf berufliche Ausbildung“ und diskutiert dies unter den Aspekten historischer Vorläufer, im Kontext aktueller Gesetzgebung und mit der Frage der Realisierbarkeit. Schließlich gelangt er zu dem Ergebnis, dass noch viele Fragen ungeklärt sind, die mit einem solchen Recht in Verbindung stehen.

Teil B: Interessen, institutionelle Mechanismen und Deutungen

Die Beiträge in diesem Abschnitt machen die unterschiedlichen Interessen in der Berufsbildungspolitik deutlich, setzen sich mit Aushandlungsprozessen auseinander, mit institutionellen Mechanismen der (Re-)Produktion von Entscheidungsstrukturen in der Berufsbildung sowie mit Deutungsmustern in Prozessen politischer Willensbildung.

MARTIN ELSNER und FRANZ KAISER zeichnen in ihrem Beitrag zwei Jahre der Entwicklung des Berufs „Kaufmann/-frau für Büromanagement“ nach. Der Fokus des Beitrags liegt auf vorangegangenen Diskursen, strukturellen Veränderungen, die in der Verordnung eingearbeitet sind sowie auf berufsbildungspolitisch umstrittenen Themen, Entscheidungen und Interessen. Dabei wird auf die aktuellen Verfahrensstrukturen ebenso Bezug genommen wie auf prüfungsökonomische Fragestellungen und die Frage nach Kernqualifikationen kaufmännischer Berufe.

KLAUS BERGER geht in seinem Beitrag davon aus, dass die gesetzliche Institution der betrieblichen Mitbestimmung Betriebsräte im Handlungsfeld der betrieblichen Berufsausbildung nicht auf ein bestimmtes Aufgabenverständnis festlegt; dabei geht es um die Frage, welche Faktoren dazu beitragen, dass Interessenvertretungen ihre Handlungsspielräume nutzen und sich auch als gestaltende Akteure bei der praktischen Umsetzung der dualen Ausbildung im Betrieb verstehen. Auf der Grundlage von Ergebnissen von BIBB-Betriebsfallstudien wird diesen Fragen nachgegangen.

ANNA ROSENDAHL fragt in ihrem Beitrag nach ordnungspolitischen Ursachen für Prekarisierungstendenzen beim Lehrpersonal in der Weiterbildung. Unter Rekurs auf systemtheoretische Kategorien werden zunächst Finanzierungs- und Steuerungsregimeaspekte in der durch Individuen, Betriebe und den Staat finanzierten Weiterbildung argumentiert, mit dem Fazit, dass im staatlich geförderten Bereich im Vergleich zur individuell und betrieblich finanzierten Weiterbildung mehr Instanzen am Geschehen beteiligt sind, was zu größeren Nutzenunsicherheiten der Finanziers führt. Die Prekarisierung diskutiert die Autorin empiriebasiert als Folge der Bearbeitung von Unsicherheit.

Berufsbildungspolitische Steuerung folgt dem Anspruch nach dem Konsensprinzip. Bei der Gestaltung von Berufsbildung, so UDO HAGEDORN, erweisen sich jedoch die zustande kommenden Konsense diskursanalytisch betrachtet oft Hybridkonstruktionen, die begrifflich bei allen Feldakteuren anschlussfähig sind. Deutungsmuster strukturieren die praktische Ausgestaltung der Konsense. Zu solchen Deutungsmustern zählt das Leistungsprinzip. Der Beitrag diskutiert den berufsbildungspolitischen Stellenwert von Leistungsprinzip und Erfolgsprinzip. Dabei werden Interessenkonflikte der beteiligten Feldakteure beleuchtet, relevante Ordnungs- und Steuerungskonfliktfelder skizziert und auf politische Verharrungstendenzen bezogen.

Teil C: (Un-)Durchlässigkeiten, Benachteiligungen und Anerkennungen

In diesem Teil geht es um den Zusammenhang zwischen der spezifischen deutschen Berufsbildungspolitik und der Realisierbarkeit des Postulats von Durchlässigkeit. Deutlich wird, dass trotz guter sozialpolitischer Vorsätze zur Förderung von Chancengleichheit in der Berufsbildungspolitik nach wie vor historisch tradierte Grenzen bestehen, anderseits zeigen sich auch vielfältige formale Ansatzpunkte für Innovationen.

Auf der Basis ihrer Kritik an der aktuellen ordnungspolitischen Konstellation der deutschen Berufsbildung, die DIETMAR FROMMBERGER und HOLGER REINISCH zufolge zu erheblichen Problemen, insbesondere im Bereich der Übergänge zwischen verschiedenen Teilsegmenten der Berufsbildung, führt, prüfen die Autoren, ob bzw. inwieweit mit Ansätzen der europäischen Berufsbildungspolitik Instrumente zur Verfügung stehen, die zu einer Weiterentwicklung der Anerkennungs- und Anrechnungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Berufsbildungsteilbereichen beitragen können.

KARIN BÜCHTER wirft mit ihrem Beitrag die Frage auf, inwieweit soziale Ungleichheit in der beruflichen Bildung mit der historisch gewachsenen Spezifik deutscher Berufsbildungspolitik, für die eine bestimmte Form der Steuerung, der Verteilung von Zuständigkeiten und Verantwortungen symptomatisch sind, zusammenhängt. Hierzu werden die Komplexität deutscher Berufsbildungspolitik, die Verteilung von Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Berufsbildungssegmente, die historische Entwicklung von Kämpfen um Einfluss und Verantwortungen in der beruflichen Bildung nachgezeichnet.

DIETMAR HEISLER geht es in seinem Beitrag um die Konsequenzen von Arbeitsmarktreformen für die politische Steuerung der Benachteiligtenförderung. Erörtert werden soll die Frage, inwieweit die Reformen der letzten Jahre zu einer „Ökonomisierung“ der Arbeitsmarktförderung und der Benachteiligtenförderung geführt haben, welche Auswirkungen dies auf Strukturen, Maßnahmen und auf pädagogisches Personal in der Benachteiligtenförderung hat und ob dieser Berufsbildungsbereich seine Bedeutung als politische Daueraufgabe verliert.

Ausgangspunkt des Beitrags von VOLKMAR HERKNER und MARCO BÖHSS ist der politische Willen, die Hauptschule aus ihrem Status einer „Restschule“ und einer diskriminierende Schulform zu befreien sowie unterschiedliche schulpolitische Initiativen zu ergreifen, um die Anschlussfähigkeit der Hauptschule an die berufliche Bildung zu verbessern. Beobachtbar sei, dass einige Länder dabei sind, mit neuen oder novellierten bzw. neugefassten Schulgesetzen auch die Abschlussbezeichnungen zu ändern. In dem Beitrag werden Schulgesetze als Ausdruck des politischen Willens hinsichtlich der Schulabschlüsse sowie deren Anschlussfähigkeit zur beruflichen Bildung betrachtet.

MATTHIAS KOHL und SYLVIA KESTNER greifen in ihrem Beitrag die Tatsache auf, dass Zulassungs- und Anrechnungsvorschriften bundeseinheitlich geregelter Fortbildungsordnungen grundsätzlich die Anerkennung und Anrechnung von bestehenden Kompetenzen ermöglichen. Im Rahmen einer explorativen Studie auf Basis von Fallstudien in sechs Industrie- und Handelskammern und zwei Handwerkskammern haben sie untersucht, wie diese Zulassungs- und Anrechnungsvorschriften in den Kammern tatsächlich umgesetzt werden und welche Auswirkungen sich daraus für den Zugang zu Fortbildungsprüfungen und die Anrechnung vergleichbarer Prüfungsleistungen ergeben.

Dank

Für alle Beitragsangebote für diese Ausgabe möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren recht herzlich bedanken. Ohne sie wäre bwp@25 nicht zustande gekommen.

Und wie bei jeder Ausgabe von bwp@ möchten auch wir uns recht herzlich bei der Redaktion und dem Websupport bedanken. Ohne sie hätten wir es nicht geschafft, Ausgabe 25 in dieser Zeit und dieser Form online zu veröffentlichen. Ein ganz besonderes Dankeschön geht an Andrea ZOYKE, Nicole NAEVE und Franz GRAMLINGER für die exzellente redaktionelle Arbeit, die Autorenbetreuung und die Koordinierung unter den Herausgebern, an Sigrid GRAMLINGER-MOSER für die Umsetzung der Online-Version sowie an Stephanie WILDE für die zeitnahe Übersetzung der Abstracts.

Karin Büchter, Sandra Bohlinger & Tade Tramm

im Dezember 2013