bwp@ 25 - Dezember 2013

Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, Sandra Bohlinger & Tade Tramm

Das Sprengelprinzip im dualen System – ordnungspolitisches Relikt oder notwendiges Steuerungsinstrument?

Im Kontext der deutschen dualen Berufsausbildung gilt bis heute das sogenannte Sprengelprinzip: Auszubildende müssen diejenige Berufsschule besuchen, in deren Schulsprengel oder Schulbezirk ihr Ausbildungsbetrieb liegt. Das Sprengelprinzip, das in erster Linie als Steuerungs- und Ordnungsin-strument der kommunalen Schulträger fungiert und rechtlich in den Schulgesetzen der Länder veran-kert ist, regelt jedoch nicht nur die Verteilung von Auszubildenden auf Berufsschulen, sondern bestimmt darüber hinaus auch die Konstellationen der Lernortpartner im dualen System. Es legt fest, mit welcher Berufsschule ein Ausbildungsbetrieb im Rahmen der Lernortkooperation zusammenarbeitet.

Vor dem Hintergrund, dass in Nordrhein-Westfalen die Berufsschulbezirke und damit das Prinzip der staatlichen Zuordnung von Berufsschulen zu Ausbildungsbetrieben per Gesetz aufgehoben und Ausbildungsbetrieben die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihren dualen Lernortpartner – die Berufs-schule – frei zu wählen, wird die Frage nach der Funktionalität und Notwendigkeit von Berufsschul-bezirken aufgeworfen.

Unter Zugrundelegung der durch eine empirische Untersuchung zur freien Berufsschulwahl in NRW gewonnenen Erkenntnisse werden – ausgehend von einer Darlegung der historischen Wurzeln des Sprengelprinzips und einem Überblick über die Schulbezirksregelungen der Bundesländer – die Vor- und Nachteile des Sprengelprinzips im dualen System erörtert. Dabei werden die Positionen der auf der Ausbildungs-, Verbands- und Verwaltungsebene beteiligten Berufsbildungsakteure, wie sie im Rahmen der Studie in NRW rekonstruiert wurden, dargelegt und bestehende Interessenkonflikte aufgezeigt.

The parish principle in the dual system – a regulatory relic or a necessary governance instrument?

English Abstract

In the context of the German dual system of vocational education and training the so-called parish principle still applies: trainees have to attend the vocational school in whose school parish or school district their training company is located. The parish principle, which acts primarily as a governance and regulatory instrument for the local school authorities, and is embedded in the school laws of the federal states, does not, however, only regulate the allocation of trainees to vocational schools, but also, beyond that, determines the constellations of the learning venue partners in the dual system. It determines which vocational school a training company works with, in the context of the co-operation between learning venues.

Against the background that in North-Rhine Westphalia the vocational school districts, and therefore the principle of state allocation of vocational schools to training companies, has been repealed by law, and therefore the training companies have been given the possibility to choose their dual learning venue partner – the vocational school – the question of the functionality and the necessity of vocational school districts has been raised.

Taking as a basis the findings from an empirical investigation into the free choice of vocational schools in North-Rhine Westphalia – starting with a presentation of the historical roots of the parish prin-ciple and an overview of the school district regulations of the federal states – the advantages and disadvantages of the parish principle in the dual system are discussed. The positions of the partici-pating actors at the training, association and administration levels, as they were reconstructed in the context of the study in North-Rhine Westphalia, are explained and the existing conflicts of interest are shown.

1 Einleitung

Im Sekundarbereich des allgemeinbildenden Schulsystems steht es einem Schüler[1] weitgehend frei, welche Schule – d.h. welche bestimmte Einzelschule innerhalb einer Schulform – er besucht. Die Entscheidung der Schulwahl liegt beim Schüler bzw. bei den Eltern[2]. Gleiches gilt für den Bereich der berufsbildenden Vollzeitschulen: Auch hier hängt es im Wesentlichen von der Entscheidung des Schülers bzw. seiner Eltern ab, welche konkrete Schule er besucht – vorausgesetzt, er besitzt die Zugangsberechtigung für die entsprechende Schulform. Anders verhält es sich bei Grundschulen und bei Teilzeitberufsschulen im dualen System. Hier geben Schulbezirke die für einen Grundschüler bzw. Auszubildenden zuständige Schule vor. Der Besuch dieser staatlich zugewiesenen Grund- bzw. Berufsschule ist verpflichtend. Eine Abweichung von dieser Zuordnung ist i.d.R. nur im Ausnahmefall und auf Antrag möglich.

Der für den Primarbereich und das duale System verbindliche Grundsatz der zuständigen Schule, also der Zuteilung von Schülern gemäß staatlich festgelegten Schulbezirken – auch bekannt als ‚Sprengelprinzip‘ –, wird jedoch zunehmend infrage gestellt. Warum es für Grund- und Berufsschulen im Vergleich zu den anderen Schulformen dieser Sonderregelung bedarf, wird allerdings nur für den Grundschulbereich offen und kontrovers diskutiert. Während Eltern die freie Grundschulwahl mit Nachdruck einfordern, sind aus Wissenschaft und Politik mitunter kritische Stimmen zu vernehmen, die vor möglichen Selektionseffekten und schulplanerischen Schwierigkeiten warnen (s. z.B. DOLTON 2003; GIESINGER 2009; WEIß 2003). In Bezug auf das duale System blieb diese Diskussion bislang aus. Weder im politischen und öffentlichen Diskurs noch von Seiten der Wissenschaft ist die Schulbezirksregelung in diesem Kontext umfassend thematisiert und hinterfragt worden. Allerdings drängt sich auch hier die Frage nach der Funktionalität von Schulbezirken auf, zumal sie als Steuerungs- und Ordnungsinstrument der kommunalen Schulträger nicht nur die Verteilung von Auszubildenden auf Berufsschulen regeln, sondern darüber hinaus auch die Konstellationen der Lernortpartner im dualen System bestimmen.

Dass die Erkenntnisse aus dem allgemeinbildenden Bereich zum Thema freie Schulwahl nicht eins zu eins auf die duale Berufsausbildung übertragen werden können, begründet sich durch die besondere Schulwahlkonstellation im dualen System, in der nicht Eltern, sondern Ausbildungsbetriebe – neben den betroffenen Auszubildenden – als Entscheidungsträger auftreten. Zudem zeichnet sich die duale Lehre in Betrieb und Berufsschule durch ein komplexes Geflecht von Akteuren, Zuständigkeiten und Interessenlagen aus. Nur unter Berücksichtigung dieser spezifischen Gegebenheiten kann die Funktionalität der Schulbezirke im dualen System angemessen beurteilt werden.

Der vorliegende Beitrag wirft angesichts der beiden unterschiedlichen Steuerungsprinzipien zur Verteilung der Schüler im deutschen Schulsystem – freie Schulwahl versus Sprengelprinzip – zunächst die allgemeine Frage nach der Bedeutung von Schulbezirken für Grund- und Berufsschulen auf. Darüber hinaus wird – ausgehend von der Diskussion im Grundschulbereich und der dort vorgebrachten Forderung nach freier Schulwahl – der Blick auf den berufsbildenden Bereich gelenkt und die spezielle Frage nach der Funktionalität und Notwendigkeit von Berufsschulbezirken als Planungs- und Steuerungsinstrument im dualen System aufgeworfen. Hierbei wird auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen Bezug genommen, das zum Schuljahr 2008/2009 eine generelle, d.h. für alle Kommunen obligatorische Aufhebung der Schulbezirke für Berufsschulen veranlasst hat und damit als bundesweiter Vorreiter vom Prinzip der staatlichen Zuordnung von Berufsschulen zu Ausbildungsbetrieben abgekehrt ist. Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das sich mit eben dieser Schulwahlreform empirisch auseinandergesetzt hat, sollen Aufschluss über die möglichen Auswirkungen einer durch unternehmerische (statt durch elterliche) Interessen beeinflussten Schulwahlkonstellation geben.

2 Das Sprengelprinzip – historische Verortung und aktuelle Relevanz

Im Folgenden wird der Begriff ‚Schulbezirk’ in Bezug auf seinen historischen Ursprung und seine schulplanerische Funktion allgemein bestimmt. In einem zweiten Schritt wird auf die praktische Anwendung dieses Steuerungsinstruments im deutschen Schulsystem eingegangen. Es wird aufgezeigt, welche konkreten Schulbezirksregelungen aktuell in den einzelnen Bundesländern vorliegen – eine vergleichende Analyse der 16 Schulgesetze bildet hierfür die Grundlage (s. hierzu auch BREUING 2014, 13ff.).

2.1 Vom kirchlichen Amtsbezirk zum schulplanerischen Instrument

Der Begriff ‚Schulbezirk’ geht zurück auf das Wort ‚Sprengel’. Als Sprengel wurde ursprünglich der Weihwasserwedel (auch ‚Aspergill’) bezeichnet, der zur Segnung der Gläubigen mit Weihwasser eingesetzt wird. Da der Sprengel „als Amtszeichen und Sinnbild der geistlichen Gewalt“ galt, wurde sein Name im 15. Jahrhundert auf den kirchlichen Amtsbezirk – d.h. den Bereich, in dem der Bischof Weihwasser spenden darf – übertragen (DROSDOWSKI 1989, 695; s. auch KLUGE/ SEEBOLD 2002, 870). Später wurde der Begriff ‚Sprengel’ auch für weltliche Bezirke verwendet, wodurch u.a. die Bezeichnungen Gerichts-, Wahl- und Schulsprengel entstanden (DROSDOWSKI 1989, 695). Im Sprachgebrauch wurde der Begriff des Schulsprengels durch den Begriff des Schulbezirks abgelöst, der sich bis heute weitgehend durchgesetzt hat; lediglich in Bayern und in Österreich spricht man auch heute noch von Schulsprengeln.

Bei einem Schulbezirk oder Schulsprengel handelt es sich um ein räumlich abgegrenztes Gebiet, aus dem die für dieses Gebiet zuständige Schule ihre Schülerschaft rekrutiert. Schulbezirke sind grundsätzlich verbindlich: Gemäß der sog. ‚Sprengelpflicht’ muss ein Schüler diejenige Schule besuchen, in deren Schulbezirk sein Wohnsitz oder – im Falle einer dualen Berufsausbildung – sein Ausbildungsbetrieb liegt (AVENARIUS 2010a, 93; NIEHUES/ RUX 2006, 164f.; STAUPE 2007, 219). Manche Schulgesetze sehen jedoch beim Vorliegen wichtiger Gründe im Sinne einer „besonderen Ausnahmesituation des einzelnen Schülers“ die Möglichkeit der Beantragung einer Ausnahme von der Sprengelpflicht und damit des Besuchs einer anderen als der gemäß Schulbezirken zuständigen Schule vor (NIEHUES/ RUX 2006, 166f.; s. auch AVENARIUS 2010a, 93; FÜSSEL 2010a, 388; STAUPE 2007, 219). Hinsichtlich der Festlegung der Schulbezirke gilt die Regelung, dass, wenn der Zuschnitt der Schulbezirke nicht bereits gesetzlich durch das Gebiet der Schulträger bzw. Kommunen vorgegeben ist, i.d.R. der Schulträger – gewöhnlich im Einvernehmen mit der Schulaufsicht – die Schulbezirksgrenzen definiert (AVENARIUS 2010a, 94; NIEHUES/ RUX 2006, 167f.). Als ein Instrument der kommunalen Schulentwicklungsplanung erfüllen Schulbezirke folgende zwei zentrale Funktionen: Erstens soll durch die Festlegung von Schulbezirken „eine möglichst gleichmäßige Aus- und Belastung der einzelnen Schulen gewährleistet werden“, um kapazitive Engpässe zu vermeiden (NIEHUES/ RUX 2006, 164f., 211ff.; s. auch AVENARIUS 1992, 22; 2010a, 93; 2010b, 201ff.; STAUPE 2007, 223). Zweitens ist die Bildung von Schulbezirken auch mit der Absicht verbunden, eine ausgewogene soziale Durchmischung der Schülerklientel sicherzustellen (NIEHUES/ RUX 2006, 165).

Für welche Schularten Schulbezirke festgelegt wurden (und bis heute festgelegt werden), lässt sich historisch anhand des Rechtsinstituts der sog. Pflichtschule begründen. „Als Pflichtschulen wurden früher diejenigen Schulen bezeichnet, in denen die Schülerinnen und Schüler in der Regel die Schulpflicht zu erfüllen hatten“ (AVENARIUS 2010c, 60). Eben diesen Pflichtschulen, zu denen die Grundschule, die Hauptschule und die Berufsschule zählten, waren jeweils Bezirke zugeordnet, welche die Allokation der Schüler auf die einzelnen Schulen verbindlich regelten (AVENARIUS 2010a, 93; 2010d, 361; s. auch AVENARIUS 1992, 21). Das Pendant zu den Pflichtschulen bilden die sog. Wahlschulen. Dabei handelt es sich um weiterführende Schulen (genauer die Realschule, das Gymnasium, die Gesamtschule und die berufsbildenden Vollzeitschulen), an denen die Schulpflicht wahlweise – d.h. statt an Hauptschulen bzw. an Berufsschulen – auch erfüllt werden konnte. Für den Besuch einer Wahlschule bestanden, im Unterschied zur Pflichtschule, grundsätzlich keine örtlichen Zuständigkeitsgrenzen (AVENARIUS 1992, 21; 2010c, 60f.; 2010d, 361; STAUPE 2007, 172, 294). Da nach der gegenwärtigen Gesetzeslage „sämtliche weiterführende Schulen in gleicher Weise der Erfüllung der Schulpflicht dienen“, ist die herkömmliche Differenzierung zwischen Pflicht- und Wahlschulen unter dem Aspekt der Schulpflichterfüllung aus heutiger Sicht bedeutungslos (AVENARIUS 1992, 21; 2010c, 60). Allerdings hat die Unterscheidung von Pflicht- und Wahlschulen insofern noch Relevanz, als die Festlegung von Schulbezirken für Grund- und Berufsschulen (sowie z.T. für die nur noch in wenigen Ländern als Regelschule fortgeführten Hauptschulen) auch heute noch in den Schulgesetzen der Länder verankert ist, während für die weiterführenden anderen Schularten der Sekundarstufe I und II – d.h. Realschulen, Gymnasien, Gesamtschulen und berufsbildende Vollzeitschulen sowie die unlängst eingeführten integrativen Schulformen (die Gemeinschaftsschulen und die sogenannten „Schularten mit mehreren Bildungsgängen“ (STATISTISCHES BUNDESAMT 2013, 8)) – i.d.R. keine verbindliche Zuordnung von Schülern zu Schulen vorgenommen wird (AVENARIUS 2001, 81, 88; 2010c, 60f.; 2010d, 361; FÜSSEL 2010a, 388f.). Allerdings sehen die Schulgesetze z.T. die Möglichkeit vor, für Wahlschulen sog. Schuleinzugsbereiche zu bilden. Diese haben – im Unterschied zu Schulbezirken – keinen verbindlichen Charakter, d.h. die Schulwahlfreiheit bleibt grundsätzlich erhalten. Die Aufnahme eines Schülers, der nicht im Einzugsbereich einer Schule wohnt, kann von dieser jedoch abgelehnt werden (AVENARIUS 2010a, 94; JÜLICH 2006, 78). Während Schulbezirke also als Regelfall eine verbindliche Zuordnung vorgeben, von der im Ausnahmefall abgewichen und eine andere als die zuständige Schule besucht werden kann, besteht bei Schuleinzugsbereichen grundsätzlich Wahlfreiheit, die im Ausnahmefall jedoch verwehrt werden kann.

2.2 Die Schulbezirksregelungen der Bundesländer

Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik und der Kulturhoheit der Länder differieren die gesetzlichen Regelungen zu den Schulbezirken und Schuleinzugsbereichen von Land zu Land (AVENARIUS 1992, 21f.; FÜSSEL 2010b, 19ff.; NIEHUES/ RUX 2006, 24ff.; STAUPE 2007, 131). Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden über die in den 16 Bundesländern vorherrschenden Regelungen bezüglich der Zuordnung von Schülern zu Schulen der Primar- und Sekundarstufe. Die Ausführungen basieren auf einer Analyse der einschlägigen Paragraphen der Schulgesetze der einzelnen Länder sowie der z.T. ergänzend zum Schulgesetz vorliegenden, landesspezifischen Schul(ver)ordnungen. Im Fokus der Analyse stehen folgende Schularten: die Grundschule, die Haupt- und Realschule (bzw. eine der neu eingeführten integrativen Schulformen als entsprechendes länderspezifisches Äquivalent), das Gymnasium, die Berufsschule sowie die Gruppe der berufsbildenden Vollzeitschulen. In Tabelle 1 sind die Ergebnisse des Ländervergleichs zusammenfassend dargestellt.

Die Übersicht zeigt, dass sich das auf die Differenzierung zwischen Pflicht- und Wahlschulen zurückgehende Schema ‚Schulbezirke für Grund- und Berufsschulen (sowie Hauptschulen) versus freie Schulwahl für die weiterführenden anderen Schularten der Sekundarstufe I und II‘ auch in den aktuellen gesetzlichen Bestimmungen deutlich widerspiegelt. Allerdings veranschaulicht die Übersicht auch die Heterogenität der schulrechtlichen Normierungen und Begrifflichkeiten. Hinsichtlich der Art der Regulierung der Schülerverteilung lassen sich grob drei Ländergruppen unterscheiden: (1) Länder, in deren Schulgesetz für Grund- und Berufsschulen die Festlegung von Schulbezirken verankert ist, während für die anderen Schulformen des Sekundarbereichs weder Bezirke noch Einzugsbereiche vorgesehen sind (BW, BE, BB, HB, HH, HE, SN, SH; wobei SH insofern eine Ausnahme darstellt, als die Bezirksregelung hier lediglich für Berufsschulen und nicht für Grundschulen gilt). (2) Länder, in denen laut Gesetz neben den Grund- und Berufsschulen auch Hauptschulen bzw. deren Äquivalent Bezirke oder Einzugsbereiche zuzuordnen sind (BY, SL, TH; auch in BW haben die für Haupt- bzw. Werkrealschulen bereits festgelegten Schulbezirke übergangsweise noch bis zum 31.07.2016 Gültigkeit (KM BW 2014: o.S.)). (3) Länder, in denen die Schulträger für alle Schulformen Schulbezirke oder Schuleinzugsbereiche bilden müssen bzw. können (MV, NI, NW, RP, ST).

Als ein Ergebnis der Analyse der 16 Schulgesetze bleibt außerdem festzuhalten, dass das Prinzip der Allokation von Schülern auf Schulen und die damit eng verbundene Rechtsnorm der Aufnahme in eine Schule in den Gesetzestexten unterschiedlich explizit festgeschrieben sind. Während die Vorgaben in manchen Ländern für alle Schulformen ausdrücklich und eindeutig im Schulgesetz dargelegt sind, lassen sie sich in anderen Ländern z.T. nur durch separate schulformspezifische Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften erschließen (z.B. HH, SN, TH). Darüber hinaus zeigt sich, dass NRW das erste und bislang einzige Bundesland ist, das im Zuge einer umfassenden Schulgesetzreform in den Jahren 2005 und 2006 eine generelle, d.h. für alle Kommunen obligatorische Aufhebung der ursprünglich bestehenden Schulbezirke für Grund- und Berufsschulen (sowie der Schuleinzugsbereiche für die (übrigen) weiterführenden Schulformen) zum Schuljahr 2008/2009 veranlasst hat und damit vom Grundsatz der zuständigen Schule konsequent abgekehrt und für alle Schularten zum Prinzip der freien Wahl der Einzelschule übergegangen ist (JÜLICH 2006, 31). Allerdings ist die heute amtierende rot-grüne NRW-Landesregierung, wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird, nach dem Regierungswechsel im Mai 2010 von der freien Schulwahl wieder abgekehrt: Sie räumte den Schulträgern die Möglichkeit ein, für jede öffentliche Schule – und damit auch für Berufsschulen – Schuleinzugsbereiche zu bilden. Zwar wurde damit das Prinzip der ‚zuständigen Schule‘ formal wiederhergestellt, faktisch ergaben sich allerdings keine wesentlichen Veränderungen. Da Schuleinzugsbereiche im Unterschied zu Schulbezirken keinen verbindlichen Charakter haben und in erster Linie als planerisches Instrument des Schulträgers fungieren, hat die freie Berufsschulwahl nach wie vor Bestand (JÜLICH 2006, 78; LÖHRMANN (GRÜNE, amtierende Schulministerin) 2010, 1610). Zudem wurde bereits im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses zur (Wieder-)Einführung der Schuleinzugsbereiche prognostiziert, dass nur wenige Schulträger für die Festlegung von Schuleinzugsbereichen optieren werden – „die allermeisten Kommunen“ würden es „beim Wegfall der Schulbezirke belassen“ (MENZEL (Städte- und Gemeindebund NRW) 2010: 41; s. auch BIRKHAHN (CDU) 2010, 1599).

Die Gegenüberstellung der einzelnen Länder und Schulformen in Tabelle 1 zeigt auch, dass die Frage nach Schulbezirken für die Schulform der Hauptschule insofern obsolet wird, als diese zunehmend in die neu eingeführten integrierten Schularten eingebunden wird. Für die integrierten Schularten wiederum gilt in vielen Ländern – aufgrund der Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen – die freie Schulwahl. Überdies hat die Einführung von Gemeinschaftsschulen, die auch eine Primarstufe führen können – so z.B. die zum Schuljahr 2012/2013 eingeführte Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg –, dazu geführt, dass auch die Debatte um die Grundschulbezirke unter neuen Vorzeichen geführt wird. So hat in Baden-Württemberg „die Gemeinschaftsschule im Sekundarbereich I […] keinen Schulbezirk, im Falle des Schulverbundes besteht auch für die Grundschule kein Schulbezirk (§ 25 Abs. 1 i.V.m. § 8a Abs. 2 Satz 4 SchG BW; s. auch KM BW 2013a, 2; 2013b, 2; RUX 2013, 304). Vor diesem Hintergrund stellt die Berufsschule die einzige verbliebene Schulform dar, für die – abgesehen von der Schulwahlreform in NRW – beständig am Sprengelprinzip festgehalten wird.

Tabelle 1:  Übersicht über die Schulbezirksregelungen der Länder (Stand: Feb. 2014)

 

Primarstufe

Sekundarstufe I

Sekundarstufe II

 

GS

HS

RS

GYM

BS

BVZS

BW

 

SB

§ 25 Abs. 1

HS/WerkRS

FSW1

§ 88 Abs. 2, 4

 

FSW

§ 88 Abs. 2, 4

 

FSW

§ 88 Abs. 2, 4

 

SB

§ 25 Abs. 1, 3

 

FSW

§ 88 Abs. 2, 4

BY

 

SB2

Art. 32 Abs. 4 i.V.m. § 26 GrSO

Mittelschule

SB2

Art. 32a Abs. 4, 5 i.V.m. § 28 MSO

 

FSW

Art. 44 i.V.m. §§ 26-28 RSO

 

FSW

Art. 44 i.V.m. §§ 26-28 GSO

 

SB2

Art. 34 Abs. 2 i.V.m. § 24 BSO

 

FSW

Art. 44 i.V.m. schulart­spezifi­sche VO

BE

 

SB2

§ 55a Abs. 1 i.V.m. § 4 GsVO

Integrierte Sekundarschule

FSW

§ 56 i.V.m. §§ 5, 6 Sek I-VO

 

FSW

§ 56 i.V.m. §§ 5, 6 Sek I-VO

 

SB

§ 14 BSV

 

FSW

§ 57 i.V.m. schulart­spezi­fische VO

BB

 

SB

§ 106 i.V.m. § 4 GV

Oberschule

FSW

§§ 50, 53, 56 i.V.m. §§ 6, 7, 50 Sek I-V

 

FSW

§§ 50, 53, 56 i.V.m. §§ 6, 7, 43 Sek I-V

 

SB

§ 106 i.V.m. § 7 BSV

 

FSW

§§ 50, 54, 56 i.V.m. schulart­spezifische VO

HB

 

SB2

§ 6 Abs. 3 SchVwG i.V.m. § 6 AV-ÖSuB

Oberschule

FSW

§§ 6, 6a SchVwG i.V.m. §§ 8, 9, 10 AV-ÖSuB

 

FSW

§§ 6, 6a SchVwG i.V.m. §§ 8, 9, 11 AV-ÖSuB

 

SB2, 3

§ 62 Abs. 1

 

FSW

§§ 6, 6b SchVwG i.V.m. §§ 3, 4 AV-BVz

HH

 

SB2

§ 42 Abs. 1, 2, § 42 Abs. 7, § 43 Abs. 1 i.V.m. APO-AS

Stadtteilschule

FSW

§ 42 Abs. 7, § 43 Abs. 1 i.V.m. APO-AS

 

FSW

§ 42 Abs. 7, § 43 Abs. 1 i.V.m. APO-AS

 

SB2, 3

Auskunft des HIBB

 

FSW

§§ 42 Abs. 7, § 43 Abs. 2 sowie schulart­spezi­fische VO

HE

SB

§ 143 Abs. 1

Mittelstufenschule

FSW

§ 70 i.V.m. §§ 1, 6 SV-V

SB

§ 143 Abs. 2, 4-6

FSW

§ 70 i.V.m. §§ 1, 6 SV-V

HS

FSW

§ 70 i.V.m. §§ 1, 6 SV-V

RS

FSW

§ 70 i.V.m. §§ 1, 6 SV-V

MV

 

SB2

§ 45 Abs. 1, § 46

Regionale Schule

SEB

§ 45 Abs. 1, § 46

 

SEB

§ 45 Abs. 1, § 46

 

SB2

§ 45 Abs. 1, § 46 i.V.m. VwV ‚Örtl. Zustän­digkeit’

 

SB2

§ 45 Abs. 1, § 46 i.V.m. VwV ‚Örtl. Zustän­digkeit’

NI

SB

§ 63 Abs. 2

Oberschule

SB (fak.)

§ 63 Abs. 2

 

SEB2

§ 106 Abs. 5 i.V.m. § 5 SchOrgVO

SEB

§ 106 Abs. 5 i.V.m. § 5 SchOrgVO

HS

SB (fak.)

§ 63 Abs. 2

RS

SB (fak.)

§ 63 Abs. 2

NW

08.2008-12.2010:

 

FSW

§ 46 i.V.m. § 1 AO-GS

FSW

§ 46 i.V.m. § 1 APO-S I

FSW

§ 46 i.V.m. § 1 APO-S I

FSW

§ 46 i.V.m. § 1 APO-S I

FSW

§ 46 i.V.m. § 4 APO-BK

FSW

§ 46 i.V.m. § 4 APO-BK

 

seit 12.2010:

 

 

 

 

Sekundarschule (seit 10.2011)

SEB (fak.)

§ 84 Abs. 1

SEB (fak.)

§ 84 Abs. 1

SEB (fak.)

§ 84 Abs. 1

SEB (fak.)

§ 84 Abs. 1

SEB (fak.)

§ 84 Abs. 1

SEB (fak.)

§ 84 Abs. 1

RP

 

SB

§ 62 Abs. 1

Realschule plus

SEB (fak.)

§ 93 i.V.m. § 10 Abs. 2 ÜSO,

§§ 11, 12 ÜSO

 

SEB (fak.)

§ 93 i.V.m. § 10 Abs. 2 ÜSO, §§ 11, 12 ÜSO

 

SB

§ 62 Abs. 1, § 11 SObbS

 

SEB (fak.)

§ 93, §§ 12-17 SObbS

SL

 

SB

§ 19 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 ASchO

Gemeinschaftsschule4

SEB

§ 63 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 ASchO

 

FSW

§ 31 i.V.m. § 2 Abs. 1 AschO

 

SB

§ 19 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 ASchO

 

FSW

§ 31 sowie schulart­spezi­fische VO

SN

 

SB

§ 25 Abs. 1

Mittelschule

FSW

§ 6 SOMIA

 

FSW

§ 3 SOGYA

 

SB (fak.) 2

§ 25 Abs. 3, § 6 BSO

 

FSW

schulartspe­zi­fische VO

ST

 

SB (fak.)

§ 41 Abs. 1, 1a, 2a

Sekundarschule

SB (fak.)

§ 41 Abs. 1, 1a, 2a, §§ 3, 4 VO-AaS

 

SEB (fak.)

§ 41 Abs. 2, 2a, §§ 3, 4 VO-AaS

 

SEB

§ 41 Abs. 5, VV-bbS

 

SEB

§ 41 Abs. 5, VV-bbS

SH

 

FSW

§ 24 Abs. 1, 2, § 1 GSVO

Regionalschule

FSW

§ 24 Abs. 1, 2, § 2 RegVO

 

FSW

§ 24 Abs. 1, 2, § 2 SAVOGym

 

SB2

§ 24 Abs. 4

 

FSW

§ 24 Abs. 4, schulartspe­zifische VO

TH

 

SB

§ 14 Abs. 1

Regelschule

SB

§ 14 Abs. 1

 

FSW

§ 124 ThürSchO

 

SEB

§ 14 Abs. 5, § 21 Abs. 2

 

FSW

schulartspe­zifische VO

                     

GS: Grundschule, HS: Hauptschule, RS: Realschule, GYM: Gymnasium, BS: Berufsschule, BVZS: Berufliche Vollzeitschulen, SB: Schulbezirk, SEB: Schuleinzugsbereich, FSW: Freie Schulwahl, V bzw. VO: Verordnung, HIBB: Hamburger Institut für berufliche Bildung, fak.: fakultativ (d.h. als Option für kommunale Schulträger)

1     Bereits festgelegte Schulbezirke für Haupt-/Werkrealschulen haben übergangsweise bis zum 31.07.2016 Gültigkeit (KM BW 2014, o.S.).

2     Statt des Terminus ‚Schulbezirk‘ werden in den jeweiligen Schulgesetzen die Bezeichnungen „Schulsprengel“ (BY), „Einschulungsbereich“ (BE), „Einzugsbezirk“ (HB), „Einzugsbereich“ (MV, SN), „(Regional) Zuständige Schule“ (HB, HH, SH) verwendet. Die Rechtsvorschriften entsprechen allerdings dem Steuerungsinstrument des Schulbezirks, wie er im vorliegenden Beitrag unter 2.1 definiert wird.

3     Die Angaben basieren u.a. auf Informationen der jeweils zuständigen Behörden.

4     Die Gemeinschaftsschule wird hier als Schulform mit aufgeführt, da sie die Haupt- und Realschulen, die nicht weiter als Regelschulen im Schulgesetz verankert sind, ersetzt.

3 Zur Abschaffung der Berufsschulbezirke in Nordrhein-Westfalen

In diesem Abschnitt wird der Fokus auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen und die dortige Abschaffung der Schulbezirke für Berufsschulen zum Schuljahr 2008/2009 gerichtet. Zunächst werden die bildungspolitische Intention sowie die schulrechtliche Umsetzung der Öffnung der Berufsschulbezirke skizziert, bevor in einem weiteren Schritt dargelegt wird, wie die mit der Schulwahlreform verbundenen berufsbildungspolitischen Verfahrensabläufe und Abstimmungsprozesse im Rahmen eines Forschungsprojektes empirisch rekonstruiert wurden.

3.1 Bildungspolitische Intention und schulrechtliche Umsetzung

Mit dem im Juni 2006 verabschiedeten zweiten Schulrechtsänderungsgesetz wurde in NRW die Zuordnung von Berufsschulen zu Ausbildungsbetrieben gemäß Schulbezirken aufgehoben und Betrieben die Möglichkeit eingeräumt, ihren Lernortpartner im dualen System – die Berufsschule – frei zu wählen. Die Politik der freien Berufsschulwahl, die von der damaligen schwarz-gelben Landesregierung unter Ministerpräsident Rüttgers initiiert wurde, bewirkte damit eine Deregulierung der Lernortkooperation im dualen System. Ziel dieser Deregulierungsstrategie war es, durch einen infolge der freien Schulwahl verstärkten Wettbewerb zwischen Schulen deren Profilbildung und langfristige Qualitätsentwicklung zu fördern (SOMMER (CDU, damalige Schulministerin) 2006a, 2; WITZEL (FDP) 2006, 3711). Zudem wurde davon ausgegangen, dass Betriebe ihr Ausbildungsplatzangebot erhöhen, wenn sie ihren Lernortpartner frei wählen können (SOMMER (CDU) 2006b, 12; s. hierzu auch HUBER 2011a, 4ff.).

Vor der Schulgesetzreform 2005/2006 existierte für jede öffentliche Berufsschule in NRW ein Schulbezirk, der je nach Standort des Ausbildungsbetriebs die örtlich zuständige Berufsschule bestimmte. Die rechtliche Grundlage für diese verbindliche Zuordnung von Schülern zu Schulen fand sich in den §§ 84 (Schulbezirk und Schuleinzugsbereich) und 39 (Örtlich zuständige Schule) des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes vom 15.02.2005. Während in § 84 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW 2005 die Institution ‚Schulbezirk’ für die Schulform der Berufsschule festgelegt war, wurde in § 39 SchulG NRW 2005 (Örtlich zuständige Schule) das Zuordnungsprinzip von Berufsschülern zu den für sie zuständigen Schulen beschrieben. Dieses richtete sich nach dem Standort der Ausbildungsstätte (Betriebsortprinzip). So waren Auszubildende gemäß dem in § 39 Abs. 2 SchulG NRW 2005 beschriebenen Grundsatz dazu verpflichtet, die Berufsschule zu besuchen, in deren Schulbezirk ihr Ausbildungsbetrieb liegt[3].

Aufgrund des Wegfalls der Schulbezirke durch die Aufhebung des § 39 und die Änderung des § 84 waren neue Regelungen zur Aufnahme in eine Schule erforderlich. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen des § 46 (Aufnahme in die Schule, Schulwechsel) für Ausbildungsbetriebe ein Rechtsanspruch auf betriebsortnahe Beschulung eingeführt (JÜLICH 2006, 38). Dieser bezieht sich auf „das zum Ausbildungsbetrieb nächstgelegene Berufskolleg […], in dem eine entsprechende Fachklasse eingerichtet ist“ (§ 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW 2006; s. hierzu auch HUBER 2011b, 12ff.). Ausgehend von diesem Rechtsanspruch der Betriebe wurde dem Auszubildenden die freie Wahl einer anderen Berufsschule eingeräumt, „an [der] eine entsprechende Fachklasse eingerichtet ist“ und deren Aufnahmekapazität nicht erschöpft ist (§ 46 Abs. 4 Satz 2 SchulG NRW 2006). Da die Entscheidung des Auszubildenden laut Gesetzestext jedoch der Zustimmung des Ausbildungsbetriebs bedarf, wurde die Wahlfreiheit (neben dem Rechtsanspruch) faktisch auch dem Ausbildungsbetrieb zugesprochen.

3.2 Empirische Rekonstruktion der Vorgänge und Maßnahmen zur praktischen Umsetzung der Schulwahlreform

Zur freien Berufsschulwahl, wie sie in NRW implementiert wurde, liegen im deutschen Kontext bislang weder praktische Erfahrungswerte noch wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Selbst im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses zur Aufhebung der Schulbezirke in NRW wurde die freie Berufsschulwahl nur randständig behandelt. Vertreter des berufsbildenden Bereichs kritisierten dies scharf und betonten – nicht zuletzt aufgrund der nicht zu vernachlässigenden Anzahl der betroffenen Betriebe, Berufsschulen und Auszubildenden – die Notwendigkeit, die Auswirkungen der Reform im berufsbildenden Kontext explizit und separat von der Diskussion um Schulbezirke im Primarbereich zu erörtern (z.B. GOTTMANN 2006, 99; TWARDY 2006, 29; VORMFENNE 2006a, 8). Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Autorin (BREUING 2014) wurde vor diesem Hintergrund eine empirische Untersuchung zur freien Berufsschulwahl in NRW durchgeführt mit der Intention, die im deutschen Kontext bislang unerforschten Auswirkungen dieser Berufsbildungspolitik in einem ersten empirischen Zugang wissenschaftlich zu erfassen. Ziel der Studie war es u.a., die unterschiedlichen Interessenkonstellationen der an der dualen Ausbildung in NRW beteiligten Akteure zu identifizieren und zu strukturieren. Die zentrale Frage dabei war, welche Position die Berufsbildungsakteure – sowohl auf der politisch-administrativen Steuerungsebene als auch auf der Ausbildungsebene – zur freien Berufsschulwahl einnehmen und welche Herausforderungen, Chancen und Risiken sie im Zusammenhang mit der Aufhebung des Sprengelprinzips in NRW sehen. Die empirische Untersuchung erfolgte in drei aufeinander folgenden Forschungsphasen: In einem ersten Schritt wurden die zum Gesetzgebungsprozess vorliegenden Landtagsdokumente herangezogen, um die von den Bildungspolitikern und stellungnehmenden Sachverständigen vorgebrachten Pro- und Contra-Argumente zur Abschaffung der Berufsschulbezirke im Rahmen einer Dokumentenanalyse zu ermitteln. In einem zweiten Schritt wurden Berufsbildungsexperten auf der politisch-administrativen Steuerungsebene des dualen Systems interviewt mit dem Ziel, die durch die Dokumentenanalyse gewonnen Erkenntnisse anhand der Wahrnehmungen und Einschätzungen der Experten zu präzisieren und erste Eindrücke zu den Reaktionen der Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe (d.h. der Akteure auf der Ausbildungsebene) zu gewinnen. Darüber hinaus ging es darum, die im Zuge der Umsetzung der Schulwahlreform erfolgten Vorgänge und Maßnahmen auf der Steuerungsebene des dualen Systems zu rekonstruieren, um die für Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe geltenden Rahmenbedingungen der freien Berufsschulwahl abstecken zu können. Im Anschluss an die Dokumenten- und Interviewanalyse, durch die der Untersuchungsgegenstand – das Prinzip der freien Berufsschulwahl in NRW – in seinem Entstehungs- und Wirkungskontext empirisch-qualitativ exploriert wurde, folgte in einer dritten Forschungsphase eine schriftliche Befragung von Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen. Dieser quantitative Zugang war motiviert durch die Frage, wie die Möglichkeit der freien Berufsschulwahl auf der Ausbildungsebene tatsächlich angenommen wird.

Das Design der Untersuchung kann in mehrerer Hinsicht als triangulativ charakterisiert werden: Im Sinne eines mehrperspektivischen und mehrmethodischen Ansatzes werden zum einen zwei Systemebenen beleuchtet – die politisch-administrative Steuerungsebene (auch „Makroebene“ (SLOANE 2010, 214)) sowie die operative Ebene der Ausbildung in Schule und Betrieb (auch „organisatorische Ebene“ oder „Mesoebene“ (ebenda, 214)). Zum anderen verbindet sich mit dem Wechsel der Betrachtungsperspektive auch ein Methodenwechsel. Während die Explorationsstudie qualitativ angelegt ist, kommen im Rahmen der Fragebogenerhebung quantitative Forschungsmethoden zur Anwendung. Darüber hinaus ist auch die Herangehensweise im Rahmen der Explorationsstudie insofern triangulativ, als durch die Verwendung zweier Datenquellen – der Landtagsdokumente und der Experteninterviews – primär- und sekundäranalytische Erhebungs- und Auswertungsverfahren kombiniert und integriert werden (BREUING 2014, 5ff.).

4 Die Frage nach der Funktionalität von Berufsschulbezirken

Unter Zugrundelegung der durch die empirische Untersuchung zur freien Berufsschulwahl in NRW gewonnenen Erkenntnisse wird im Folgenden die Frage nach der Funktionalität und Notwendigkeit des Sprengelprinzips als Planungs- und Steuerungsinstrument im dualen System erörtert. Dabei werden die Positionen der auf der Ausbildungs-, Verbands- und Verwaltungsebene beteiligten Berufsbildungsakteure, wie sie im Rahmen der empirischen Studie in NRW rekonstruiert wurden, anhand von ausgewählten, in Bezug auf die Fragestellung einschlägigen Diskussionspunkten dargelegt und bestehende Interessenkonflikte aufgezeigt.

Die kommunalen Schulträger – d.h. die kreisfreien Städte und Landkreise bzw. deren Interessenvertreter, der Städte- und Landkreistag NRW – betonen im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses insbesondere die Funktion der Berufsschulbezirke als Instrument der Schulentwicklungsplanung. Schulbezirke seien nicht nur für die Verwaltung der in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen fallenden äußeren Schulangelegenheiten (d.h. der Schulräume und der sachlichen Schulausstattung) unerlässlich, sondern spielten auch bei der Abwicklung der inneren Schulangelegenheiten (d.h. der Lehrerversorgung) durch das Land eine zentrale Rolle. Durch den Wegfall der Schulbezirke seien Schulkapazitäten aufgrund der nicht prognostizierbaren Schülerwanderungen nicht mehr planbar und eine verlässliche Schulentwicklungsplanung in personeller, sächlicher sowie räumlicher Hinsicht unmöglich. So führe z.B. die Erweiterung von Schulraumkapazitäten an beliebten Schulen mit großem Schülerzulauf (v.a. im Bereich der ausstattungsintensiven gewerblich-technischen Berufe) zu erheblichen Mehrkosten für die kommunalen Schulträger, die sich aufgrund des nicht vorhersehbaren künftigen Schulwahlverhaltens und damit nicht auszuschließender Schülerabwanderungen letztlich als Fehlinvestitionen entpuppen könnten (HEBBORN (Städtetag NRW) 2006: 13f.; MENZEL (Städte- und Gemeindebund NRW) 2006: 24f., 27). Dieses, die Notwendigkeit des Sprengelprinzips im dualen System stützende Argument wird von einem Teil der im Rahmen der Interviewstudie befragten Berufsbildungsexperten jedoch relativiert: Mit einer entsprechend weitsichtigen, soliden und flexiblen Planung ließen sich, so die Experten, etwaige Unsicherheiten ohne Weiteres abschätzen. Absolute Planungssicherheit gebe es ohnehin nicht und habe es auch vor der Aufhebung der Berufsschulbezirke nicht gegeben. Zudem seien die kommunalen Schulträger in Bezug auf allgemeinbildende Schulen oder berufsbildende Vollzeitschulen schon immer einer erhöhten Planungsunsicherheit ausgesetzt, die es zu bewältigen gelte (BREUING 2014, 194). Auch die Entwicklungen infolge der Schulwahlreform deuten darauf hin, dass sich das Problem der ‚Planungsunsicherheit der Schulträger’ als weniger bedenklich herausgestellt hat als ursprünglich angenommen. So konstatierte Dr. Matthias MENZEL, Hauptreferent des Städte- und Gemeindebunds NRW, in der Ende 2010 geführten Debatte zum 4. Schulrechtsänderungsgesetz, dass nur fünf bis zehn Prozent der Kommunen das von der rot-grünen Koalition unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt im Mai 2010 (wieder) eingeführte Planungsinstrument der Schuleinzugsbereiche tatsächlich nutzen würde, der Großteil werde es beim Wegfall der Schulbezirke belassen (MENZEL 2010, 41). Angesichts dieser Aussage müssen die 2006 von den Schulträgern befürchteten planerischen Schwierigkeiten weitgehend ausgeblieben sein – wenngleich hierzu keine empirisch gesicherten Daten vorliegen. Darüber hinaus bleibt schließlich zu bezweifeln, ob die Annahme eines sich ständig wandelnden betrieblichen Schulwahlverhaltens einhergehend mit einer stetigen Wanderungsbewegung von Berufsschülern, auf der das Argument der Planungsunsicherheit fußt, tragfähig ist. So zeigen die Ergebnisse der Fragebogenerhebung, dass vielmehr von einem betrieblichen Interesse an einer langfristig beständigen Lernortkooperation auszugehen ist – auch wenn der Großteil der befragten Betriebe zum Zeitpunkt der Befragung einen künftigen Berufsschulwechsel nicht ausschließt (BREUING 2014, 283ff., 289).

Eine weitere Funktion der Schulbezirke, die aus den Untersuchungen hervorgeht, ist die der Sicherung des Bildungsauftrags der Berufsschule und der Qualität der berufsschulischen Ausbildung. Es sind vorrangig Berufsschulen bzw. deren Interessenvertreter, die Lehrerverbände und -gewerkschaften, sowie die Vertreter der Schulträger, die diese Funktion hervorheben und mit den möglichen Negativkonsequenzen der betrieblichen Wahlfreiheit begründen: Da sich das Wechselverhalten der Ausbildungsbetriebe nicht zwangsläufig und ausschließlich an qualitativen Kriterien orientieren müsse, sondern auch quantitative Aspekte wie z.B. der zeitliche Umfang des Berufsschulunterrichts bei der Schulwahl zum Tragen kämen, sei ein Unterrichtsstundendumping – d.h. ein inoffizieller, auf die Forderung von Betrieben nach einer Reduktion der Unterrichtszeit ausgerichteter Negativwettbewerb zwischen Berufsschulen – nicht auszuschließen (HEBBORN 2006, 13f.; VORMFENNE 2006a, 8). Ein Teil der im Rahmen der Interviewstudie befragten Berufsbildungsexperten ergänzt, dass Ausbildungsbetriebe mit der Absicht, die Präsenzzeit ihrer Auszubildenden im Betrieb zu erhöhen, nicht nur auf eine unrechtmäßige Kürzung der vorgegebenen Unterrichtsstundenzahl pro Woche hinwirken könnten, sondern Berufsschulen auch dazu veranlassen könnten, den wöchentlichen Unterricht an nur einem Wochentag und/oder am Wochenende abzuhalten. Derartige Dumpingforderungen seien äußerst kritisch zu bewerten, da sie dem Auftrag der Berufsschule widersprächen und überdies im Hinblick auf die Belastung der Jugendlichen nicht hinnehmbar seien (BREUING 2014, 192). Infolge des Unterrichtsstundendumpings würden, so die Vorsitzende des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen in NRW, Elke VORMFENNE, in einer Stellungnahme zur Landtagsanhörung am 26.04.2006, v.a. der Differenzierungsbereich und der berufsübergreifende Lernbereich reduziert werden. Berufsübergreifende Fächer wie Deutsch, Politik, Religion oder Sport würden vernachlässigt und der Unterricht auf unmittelbar betrieblich verwertbare Inhalte konzentriert. Die „berufsfachliche Grundlagenleistung der Berufsschule, die den einzelnen im Sinne des Berufsprinzips betriebsunabhängig machen soll“, wäre damit grundlegend in Frage gestellt (VORMFENNE 2006b, 3). Die skizzierte Argumentation gegen die Öffnung der Berufsschulbezirke wird im Rahmen der Experteninterviews nicht einstimmig gestützt. Eine Gruppe der Respondenten führt das Gegenargument an, dass nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden könne, dass Ausbildungsbetriebe den Berufsschulunterricht grundsätzlich und ausnahmslos reduzieren wollen. Betriebe tendierten vielmehr dazu, die abzuleistenden Unterrichtsstunden von den Berufsschulen explizit einzufordern und Unterrichtsausfälle zu kritisieren, statt diese als Gewinn zu betrachten. Der Umfang des Berufsschulunterrichts sei zudem bundesweit gesetzlich vorgegeben und könne nicht ohne Weiteres unterboten werden. Auch ein inhaltliches Konditionendumping sei fraglich, da die Ausbildungsinhalte nicht beliebig, sondern durch Rahmenlehrpläne und Ausbildungsordnungen vorgegeben seien (BREUING 2014, 192f.). Die im Rahmen der Fragebogenstudie erhobenen Daten zum betrieblichen und schulischen Reaktionsverhalten stützen diese Gegenargumentation und lassen darauf schließen, dass das Problem des Konditionendumpings (bislang) eine eher untergeordnete Rolle spielt (ebenda, 299ff., 367, 369). Vor diesem Hintergrund ist die Notwendigkeit von Schulbezirken als Instrument zur Stärkung des Lernorts Berufsschule im dualen System zu hinterfragen. Wie die Untersuchungsergebnisse zeigen, mag das betriebliche Schulwahlverhalten weder eine Frage der (wie auch immer definierten) Berufsschulqualität, noch eine Frage des Umfangs der Unterrichtszeit, sondern auf nichts weiter ausgerichtet sein als auf die zeitliche Organisation des Berufsschulunterrichts und/oder – im Sinne des Prinzips der kurzen Wege – die Verringerung der räumlichen Distanz zwischen der Berufsschule und dem Wohnort des Auszubildenden oder dem Betriebsstandort (BREUING 2014, 279ff.). Es ginge dann also allenfalls um die legitime und pragmatische Absicht, statt langer Fahrzeiten der Auszubildenden zur Berufsschule deren Anwesenheitszeit im Betrieb zu erhöhen. Die potentielle Gefahr des Konditionendumpings könnte in jedem Fall durch ein effektives Monitoring der Bildungsangebote unterbunden werden.

Wie aus der Interviewstudie mit den Berufsbildungsexperten hervorgeht, erfüllen die Berufsschulbezirke auch für Ausbildungsbetriebe und deren Interessenvertreter, die Kammern und Arbeitgeberverbände, die mehrheitlich zu den Befürwortern der Abschaffung der Schulbezirke zählen, eine zentrale Koordinations- und Organisationsfunktion: So erfolge die Kammerabschlussprüfung am Ende der dualen Ausbildung grundsätzlich vor der für den jeweiligen Ausbildungsbetrieb zuständigen Kammer, welche die Organisation der Prüfung mit den innerhalb ihres Kammerbezirks liegenden Berufsschulen abstimme und deren Lehrerinnen und Lehrer in die Prüfungsausschüsse einbinde. Würde ein Auszubildender nun im Rahmen der freien Schulwahl zu einer Berufsschule wechseln, die in einem anderen Kammerbezirk liegt, wäre diese in die Prüfungsorganisation der für den Betrieb zuständigen Kammer nicht integriert. An der Kammerprüfung des Auszubildenden wären folglich nicht seine, sondern fremde Lehrer – nämlich von derjenigen Berufsschule, die im Bezirk der für den Ausbildungsbetrieb zuständigen Kammer liegt – beteiligt. Aufgrund der Inkompatibilität der bisherigen Prüfungsstrukturen mit dem Prinzip der freien Berufsschulwahl ergebe sich – so die Berufsbildungsexperten – die Notwendigkeit einer völlig neuen, flexibleren Prüfungsorganisation durch die Kammern. Diese könne nicht mehr nur auf den eigenen Kammerbezirk ausgerichtet sein, sondern müsse sich über Kammerbezirksgrenzen hinweg erstrecken (ebenda, 167). Auch wenn dieses Argument nicht die Notwendigkeit von Berufsschulbezirken an sich untermauert und – wie die Befunde der Fragebogenerhebung zeigen – für (die befragten) Ausbildungsbetriebe keinen triftigen Grund gegen einen Berufsschulwechsel darstellt (ebenda, 283ff.), so verweist es doch auf eine zentrale Funktion des Sprengelprinzips im dualen System und macht das Erfordernis von Umstrukturierungs- bzw. Reorganisationsmaßnahmen im Falle seiner Abschaffung deutlich.

Ergänzend zu der Erörterung der Frage nach der Funktionalität und Notwendigkeit von Schulbezirken soll abschließend hervorgehoben werden, dass sich Schulbezirke im Kontext des dualen Systems auch nachteilig auswirken können. So weisen die Sachverständigen im Gesetzgebungsprozess sowie die Berufsbildungsexperten im Rahmen der Interviewstudie auf Fälle hin, in denen Ausbildungsbetriebe zu Zeiten der Schulbezirksregelung ein vor Ort verfügbares Beschulungsangebot nicht wahrnehmen konnten, da die für sie gemäß Schulbezirken zuständige Berufsschule nicht die zum Betriebsstandort nächstgelegene Schule war. Aufgrund des Zuschnitts der Bezirke mussten die Auszubildenden dieser Betriebe Fahrzeiten von mehreren Stunden in Kauf nehmen, um die für sie zuständige, weiter entfernt liegende Berufsschule zu erreichen – Anträge der Ausbildungsbetriebe auf Schulwechsel seien häufig negativ beschieden worden (s. z.B. VON DREUSCHE (Arbeitgeberverband von Remscheid und Umgebung e.V. 2006, 2ff. sowie BREUING 2014, 190). Die Abschaffung des Sprengelprinzips baut in diesem Zusammenhang bürokratische Hürden ab, indem sie lange Schulwege umgehbar und eine passgenaue (im Sinne einer ortsnahen) Teilzeitbeschulung möglich macht. Es ist außerdem davon auszugehen, dass eine geringere räumliche Distanz zwischen Berufsschule und Betrieb auch der Kooperation der Lernortpartner und damit dem Gelingen der dualen Ausbildung zuträglich ist. Ein weiterer nachteiliger Effekt von Berufsschulbezirken knüpft hieran an: So führt eine Lernortpartnerschaft, die nicht frei gewählt, sondern von staatlicher Seite vorgegeben wird, mitunter zu Schwierigkeiten im persönlichen Kontakt zwischen Ausbildungsbetrieb und Berufsschule. Die Aufhebung des Sprengelprinzips und die damit einhergehende freie Wahl des Kooperationspartners versprechen auch diesbezüglich eine bessere Zusammenarbeit der Lernorte und damit im besten Fall positive Auswirkungen auf die Ausbildungsqualität. Die von den Initiatoren der Schulwahlreform formulierte Annahme, die Abschaffung des Sprengelprinzips ermögliche einen Abbau von Ausbildungshemmnissen und führe folglich zu einer Steigerung der betrieblichen Ausbildungsbereitschaft (SOMMER (CDU) 2006b, 12), muss auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse jedoch gänzlich in Frage gestellt werden. So deuten sowohl die Ergebnisse der Dokumenten- und Interviewanalyse als auch die im Rahmen der Fragebogenerhebung generierten Befunde unmissverständlich darauf hin, dass die Schulwahlfreiheit der Ausbildungsbetriebe keinen Einfluss auf deren Lehrstellenangebot hat (BREUING 2014, 112f., 191, 289f.).

5 Fazit

Im deutschen Schulsystem werden für Grundschulen und Teilzeitberufsschulen im dualen System – sowie z.T. für die (auslaufende) Schulform der Hauptschule – Schulbezirke bzw. Schulsprengel gebildet. Für alle weiterführenden anderen Schularten der Sekundarstufe I und II besteht Wahlfreiheit bezüglich der Einzelschule. Während die Institution des Schulbezirks im Bereich der Grund- und Hauptschulen durch die zunehmende Einführung integrierter Schulformen allmählich außer Kraft gesetzt wird, hat sie für die Berufsschule im dualen System festen Bestand. In Bezugnahme auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen, das als erstes und bislang einziges Bundesland auch für Berufsschulen den Weg der freien Schulwahl beschritten hat, greift der vorliegende Beitrag die Frage nach der Funktionalität und Notwendigkeit des Sprengelprinzips in der dualen Berufsausbildung auf. Die Erörterung dieser Frage auf der Grundlage von Ergebnissen eines empirischen Forschungsprojektes zur freien Berufsschulwahl in NRW macht deutlich, dass auch im dualen System das Prinzip der Zuordnung von Schülern zu Schulen nach Schulbezirken durchaus infrage zu stellen ist. So gibt es Argumente, die darauf hindeuten, dass Berufsschulbezirke bisweilen nicht nur überflüssig, sondern sogar nachteilig sein können – allen voran das die Schulwahlreform begründende Argument der Qualitätssteigerung an Schulen durch Wahlfreiheit und Wettbewerb. Auch die an der Interviewstudie beteiligten Berufsbildungsexperten bestätigen: Die durch eine Öffnung der Schulbezirke herbeigeführte Situation, dass Berufsschulen nicht länger mit einem durch staatliche Zuordnung geregelten und damit automatischen Zulauf von Schülern rechnen können, sondern vielmehr selbst Anstrengungen unternehmen müssen, um sich ihre Schülerklientel im Wettbewerb mit anderen Schulen zu sichern, mag nicht nur mit Risiken und organisatorischen Herausforderungen, sondern auch mit einem Abbau bürokratischer Hürden und einem positiven Anreizsystem für Schulen verbunden sein (BREUING 2014, 188f.). In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass sich im Rahmen der Fragebogenerhebung nicht nur die Ausbildungsbetriebe, sondern auch die Berufsschulen mehrheitlich für die Aufhebung der Berufsschulbezirke in NRW aussprechen, wenngleich die Schulen im Vergleich zu den Betrieben im Durchschnitt eine leicht kritischere Haltung einnehmen (ebenda, 288, 309f., 357). Allerdings gilt es zu bedenken, dass die Zuständigkeiten für bestimmte Ausbildungsberufe innerhalb eines Schulträgerbereichs i.d.R. klar auf die Berufsschulen verteilt sind. Da die Kommunen aus Kosten- und Effizienzgründen die schulischen Angebote in ihrem Zuständigkeitsbereich gezielt regulieren und darüber hinaus Absprachen zwischen den Schulen getroffen werden, gibt es für Betriebe faktisch kaum Wahloptionen. Das Sprengelprinzip kommt damit innerhalb der Schulträgerbereiche häufig gar nicht zum Tragen. Und selbst zwischen Schulträgerbereichen ist die Schulbezirksregelung aufgrund der durch die obere Schulaufsichtsbehörde – die Bezirksregierung – gesteuerten Koordinationsvorgänge nahezu obsolet (ebenda, 159ff., 315f.). So mag auch die Gefährdung von Schulstandorten infolge der Aufhebung der Berufsschulbezirke (vor allem angesichts des demografischen Wandels) zwar ein Argument sein für die Notwendigkeit der Steuerung der Schülerverteilung zur Sicherstellung ortsnaher Beschulungsangebote. Ein zwingendes Argument für die Aufrechterhaltung des Instruments der Schulbezirke ist sie allerdings nicht.

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VORMFENNE, E. (2006b): Stellungnahme der Verbände der Lehrerinnen und Lehrer an Berufskollegs in NW vom 24.04.2006 zum Thema ‚Schulbezirke Berufskollegs/Zweiter Berufsschultag‘. NRW Landtagsdokumentation 14. Wahlperiode, Stellungnahme 14/0377.

WEIß, M. (2003): Kann das Schulwesen durch Wettbewerb genesen? In: DÖBERT, H./ VON KOPP, B./ MARTINI, R./ WEIß, M. (Hrsg.): Bildung vor neuen Herausforderungen. Historische Bezüge – Rechtliche Aspekte – Steuerungsfragen – Internationale Perspektiven. Neuwied: Luchterhand, 111-119.

WITZEL, R. (2006): Stellungnahme im Rahmen der 3. Lesung zu GesEntw LRg Drs 14/1572 im NRW Landtag am 22.06.2006. NRW Landtagsdokumentation 14. Wahlperiode, Plenarprotokoll 14/34, 3705-3714, 3799.

 


[1]  Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird ausschließlich die männliche Schreibweise verwendet – die weibliche Form gilt entsprechend.

[2]  Die hier beschriebene und im Rahmen des Beitrags thematisierte Form der Schulwahl – d.h. der Wahl einer bestimmten Einzelschule innerhalb einer Schulform – ist abzugrenzen von der Schulwahl beim Übergang in die Sekundarstufe I – d.h. der durch die Aufhebung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung und die Einführung des Elternwahlrechts ermöglichten freien Wahl der weiterführenden Schulform nach der Primarstufe.

[3]  Für Grundschulen galt hingegen das Wohnortprinzip: Ein Grundschüler hatte diejenige Grundschule zu besuchen, in deren Schulbezirk sein Wohnsitz lag. Die Schulbezirksregelung für Grundschulen war ebenfalls in den §§ 84 und 39 SchulG NRW 2005 verankert.

 

Zitieren des Beitrags

BREUING, K. (2014): Das Sprengelprinzip im dualen System – ordnungspolitisches Relikt oder notwendiges Steuerungsinstrument?. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 25, 1-19. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe25/breuing_bwpat25.pdf (24-03-2014).