bwp@ 43 - Dezember 2022

Digitale Arbeitsprozesse als Lernräume für Aus- und Weiterbildung

Hrsg.: Karin Büchter, Karl Wilbers, Lars Windelband & Bernd Gössling

„Es hat ja kaum einer 'ne Wahl" – oder doch? Widerstand im Kontext digitaler Transformation

Beitrag von André Kukuk
bwp@-Format: Forschungsbeiträge
Schlüsselwörter: Digitalisierung, Digitalisierungswiderstände, betriebliche Weiterbildung, Betriebsrat, Experteninterview

Aufbauend auf bestehenden Erkenntnissen zu Widerständen in (Weiter)Bildungszusammenhängen diskutiert der Beitrag Ergebnisse einer qualitativen Studie, in der Betriebs- und Personalrät*innen unterschiedlicher Branchen mithilfe von Experteninterviews zu digitalisierungsbedingten Veränderungen betrieblicher Arbeit und zu möglichen Widerständen von Beschäftigten gegen den Einsatz digitaler Medien in beruflichen Zusammenhängen befragt wurden. Der Beitrag fokussiert die Frage, in welchen Lern- und Arbeitskontexten Digitalisierungswiderstände entstehen, gegen was sie sich richten und in welchen Ausdrucksformen sie rekonstruiert werden können. Auf Grundlage der empirischen Ergebnisse wird außerdem hinterfragt, inwieweit der Begriff des Widerstands in betrieblichen Zusammenhängen zur Untersuchung ausweichender, ablehnender und verweigernder Handlungen tragfähig ist, und in welcher Form Widerstand aus terminologischer Perspektive für weitere Studien nutzbar gemacht werden kann.

"Hardly anyone has a choice" - or do they? Resistance in the context of digital transformation

English Abstract

Based on existing findings on resistances in (continuing) education contexts, in this article the results of a qualitative study are discussed in which works and staff council members from different sectors were interviewed on technology-induced changes in occupational work and on possible employee resistance concerning the use of digital media in vocational contexts. The article is focussed on the question, in which learning and work contexts digitalization resistances arise, what they are directed against, and which forms of expression can be identified in a reconstructive way. Due to the empirical results, it is also questioned to what extent the concept of resistance in company contexts is suitable for the investigation of evasive, rejecting and refusing behaviour, and in what form resistance from a terminological perspective could be used for further studies.

1 Ausgangslage und Einordnung

Auf ökonomischer, wie auch auf gesellschaftlicher Strukturebene erzeugen immer raschere Veränderungsprozesse neue und auch höhere Qualifikations- und Kompetenzanforderungen, die sowohl Unternehmen wie auch Beschäftigte vor enorme Herausforderungen stellen. Kontinuierliches und damit lebenslanges Lernen soll seit den frühen 1990er Jahren diesen anhaltenden Wandel bewältigen, nutzen und gestalten helfen, indem das implizite Versprechen gegeben wird, durch eine stetige Bereitschaft zu Flexibilität, Aktivität und Offenheit sowie zu intrinsischer Lernbereitschaft die Risiken der Moderne minimieren zu können und eine Strategie zum Umgang mit Unsicherheit zu besitzen (vgl. Felden 2020, 99). Lebenslanges Lernen kann damit auch als „Obligation, als gesellschaftlicher Zwang und soziale Zumutung“ gedeutet werden (Kade/Seitter 1998, 2), wenn bei einer „Ambivalenz[.] zwischen Emanzipation und Verpflichtung“ (Schiersmann 2007, 69) die zwanghafte Notwendigkeit dominiert, auf ökonomisch induzierte Anpassungspostulate reagieren zu müssen (vgl. Faulstich 2003, 28). Vor allem in betrieblichen Zusammenhängen entsteht eine permanente Lernverpflichtung, die wirtschaftlichen Imperativen folgt und der sich in Zeiten digitaler Transformation kaum ein Arbeitnehmer entziehen kann. Wenn Arbeits- und Logistiksysteme weitgehend online vernetzt werden, Maschinen, Produktionsmittel, Dienstleistungen und Produkte direkt miteinander kommunizieren (IoT) und Beschäftigte durch digitale Schlüsseltechnologien (künstliche Intelligenz (KI), Cyber-Physische Systeme (CBS) und Robotik) vor immer komplexere Aufgaben gestellt werden, wird Lernen vermehrt zu einem konstitutiven Bestandteil digitaler Arbeit (vgl. Dehnbostel 2021, 193). Umso dramatischer muten die Folgen an, wenn sich Beschäftigte im beruflichen Alltag digitalen Veränderungsprozessen verweigern und sich einer Auseinandersetzung mit neuen Technologien widersetzen.

Aufbauend auf bestehenden Erkenntnissen zu Widerständen in (Weiter-) Bildungszusammenhängen (u. a. Bolder/Hendrich 2000; Faulstich/Grell 2005; Ludwig/Grell 2017; Holzer 2017) präsentiert der Beitrag Ergebnisse einer qualitativen Studie, in der Betriebs- und Personalrät*innen unterschiedlicher Branchen mithilfe von Experteninterviews zu digitalisierungsbedingten Veränderungen betrieblicher Arbeit und zu möglichen Widerständen von Beschäftigten gegen den Einsatz digitaler Medien in beruflichen Zusammenhängen befragt wurden. Der Beitrag fokussiert die Frage, in welchen Lern- und Arbeitskontexten Digitalisierungswiderstände entstehen, gegen was sie sich richten und in welchen Ausdrucksformen sie rekonstruiert werden können. Auf Grundlage der empirischen Ergebnisse wird außerdem kritisch hinterfragt, inwieweit der Begriff des Widerstands in betrieblichen Zusammenhängen zur Rekonstruktion ausweichender, ablehnender und verweigernder Handlungen tragfähig ist, und in welcher Form Widerstand aus terminologischer Perspektive für weitere Untersuchungen nutzbar gemacht werden kann.

2 Lern- und Weiterbildungswiderstandsforschung

Umfangreiche theoretische und empirische Arbeiten zu Widerständen in Bildungszusammenhängen wurden insbesondere zu Beginn des neuen Jahrtausends vorgelegt. Mit unterschiedlicher Akzentuierung standen hier einerseits Lernwiderstände im Fokus, die u. a. in betrieblichen Zusammenhängen (Ludwig 2000), in virtuellen Lernsettings (Grotlüschen 2003) oder auch im Feld der Alphabetisierung (Ludwig/Müller 2012) untersucht wurden, andererseits Weiterbildungswiderstände, die vor allem im Kontext des Projektes Weiterbildungsabstinenz (Bolder/Hendrich 2000) oder unter milieuspezifischen Aspekten (Bremer 2006) in den Blick genommen wurden. Auch neuere Arbeiten setzten sich in den letzten Jahren vereinzelt mit widerständigem Verhalten in Bildungsammenhängen auseinander, ohne jedoch auf neues empirisches Datenmaterial zurückzugreifen (u. a. Ludwig/Grell 2017/ Holzer 2017).

Digitalisierungs-Widerstand“ und seine begriffliche Fassung

Der Begriff des Widerstands findet im Kontext von Bildungszusammenhängen eine sehr vielfältige und teils uneindeutige Verwendung, die lange Zeit kaum eine spezifische Eingrenzung oder Ausdifferenzierung erfahren hat. Denn auch wenn Häcker bereits 1999 darauf verwies, dass der Widerstandsbegriff allzu häufig in einer selbstverständlichen Weise Anwendung fände, die lediglich suggeriere, dass es sich dabei um ein „erziehungswissenschaftlich hinlänglich geklärtes, deskriptives Konstrukt oder gar einen Erklärungsbegriff im Sinne einer definierten Kategorie“ (1999, 31) handeln würde, änderte sich daran in späteren Arbeiten wenig. So wurde der Begriff des Lernwiderstands beispielsweise unter Verweis auf dessen Vorläufigkeit weitgehend unspezifisch als „der sich zeigende aktive oder passive, zornige oder gelangweilte Widerstand gegen Lernen oder eine Lehr-Lern-Situation“ (Grell 2006, S. 9) definiert oder er wurde auf die teils unbegründete Verwendung von Synonymsammlungen wie Lernstörungen, Lernbarrieren, Lernresistenzen, Lernverweigerung, aber auch Weiterbildungsdistanz und Teilnahmeverweigerung etc. reduziert (vgl. Siebert 2011, 104f).

Erst 2017 erfuhr der Begriff des Widerstands durch Holzer in Bildungszusammenhängen eine systematische Aufarbeitung, indem er auch unter Einbezug von Nachbardisziplinen einer differenzierten, kritisch-theoretisch fundierten Analyse unterzogen wurde. Holzer kritisiert vor allem, dass bisherige Forschungen lediglich wertvolle Einblicke in spezifische Ausschnitte des Forschungsfeldes lieferten, dabei jedoch wenige Verbindungen zu anderen philosophischen, sozial- und politikwissenschaftlichen Widerstandforschungen hergestellt wurden (vgl. Holzer 2017, 13). Damit würde der Eindruck erweckt „Widerstand sei in Bildungskontexten ein zu vernachlässigendes Element, da er nur ein Randsegment der potenziellen oder realen Weiterbildungsteilnehmenden betreffe“ (ebd.). Auch wenn der Terminus des Widerstands in bisherigen Forschungen damit weitgehend „unklar und vielfältig“ geblieben ist und von „Lernstörungen bis hin zur gesellschaftskritische[n] Gegenwehr reicht[e]“ (ebd., 371), plädiert sie dennoch für dessen aktuelle Beibehaltung. Zum einen um die Verbindung zu einer „bereits vorhandenen, wenn auch randständigen und kleinen Forschungstradition herzustellen“, indem die Ansätze von Giroux (1983/2001), Axmacher (1990) und Bolder/Hendrich (2000) aufgegriffen und erweitert werden, zum anderen, um „die Konnotation der Gegenkraft, des Gegen-Handelns“ zu erhalten und die sich darin „manifestierende Negation von Lern- und Weiterbildungsaspekten“ (Holzer 2017, 371) einer stärkeren Würdigung innerhalb der Erwachsenenbildung zuzuführen. Im Ergebnis entsteht Widerstand für Holzer „durch das Zusammenfließen von Widerstandsinteressen und widerständigen Personen“ (ebd., 453) vor allem in jenem Raum, in dem widerständige Handlungen realisiert werden. Hierbei verfolgt sie den Ansatz, dass grundsätzlich verschiedenste Handlungen als potenziell widerständig zu fassen sind, die erst durch ihren Kontext als widerständig oder nicht-widerständig lesbar werden (vgl. ebd.). In der Folge sind es vor allem gesellschaftliche Bedingungen, politische Strategien und soziale Verhältnisse, die auch zu einer Entstehung neuer Widerstandformen führen, die in der bisherigen Widerstandforschung „bislang noch nicht als widerständig interpretiert wurden“ (ebd., 454).

Dies muss vor allem (auch) für widerständige Handlungsformen gelten, die im Kontext des digitalen Wandels entstehen. Denn sofern digitalisierungs- und damit technikinduzierte Veränderungen im Kontext betrieblicher Arbeit heute in vielfältigen Ausprägungen sichtbar werden und wenn insbesondere Faktoren wie die strategische Ausrichtung und der Innovationsgrad eines Unternehmens, aber auch dessen Größe, Branchenzugehörigkeit und das eigentliche Produkt maßgeblich bestimmen, in welchem Ausmaß digitale Technologien eingesetzt werden und mit welcher Geschwindigkeit sich Veränderungen einzelner Arbeitsprozesse ergeben, dann nehmen diese Rahmenbedingungen nachhaltigen Einfluss auch auf die Entstehung von Widerständen und deren Ausdrucksformen. Insbesondere dann, wenn technologisch veränderte Arbeitsumgebungen die zusätzliche „betriebsseitige Vernutzung von menschlicher Subjektivität für den Arbeitsprozess“ fördern und im Sinne eines „gezielten Zugriffs auf Subjektpotenziale“ (Kleemann 2012, 7ff) neben fachlichen und allgemeinen Qualifikationen verstärkt auch den Einbezug der an die jeweilige Person gebundenen Eigenschaften, Motivationen und Handlungspotenziale ermöglichen (vgl. Matuschek 2010, 8), ohne gleichzeitig den gestiegenen subjektiven Ansprüchen der Beschäftigten an Erwerbsarbeit Rechnung zu tragen. Deutlich wird dies anhand der eng mit dem Begriff der „Subjektivierung von Arbeit“ verbundenen Facetten der gleichen Entwicklung, die in Gestalt zunehmender Entgrenzungs- und Flexibilisierungstendenzen (vgl. Kleemann 2012, 12) verstärkt die Anforderung an die handelnden Subjekte stellen, das Verhältnis von Arbeit und Leben auch unter Bedingungen digitaler Veränderungen neu zu überdenken und mitzugestalten. Wandlungstendenzen wie die wachsende Dominanz der Informationsebene, die zunehmende Entkopplung von Raum und Zeit oder die stärkere Prozessorientierung bzw. verdichtete Kontrolle von Arbeit (vgl. Kleemann/Westerheide/Matuschek 2019, 56) stehen heute bei gleichzeitig gesteigerten Mobilitäts- und Verfügbarkeitserwartungen höheren qualitativen Ansprüchen an Arbeit und Leben gegenüber, die u. a. durch eine „Pluralisierung privater Lebens- und Beziehungsformen, die Ablösung eines konsekutiven Phasenmodells der Erwerbs- und Familienorientierung oder durch eine Gleichzeitigkeit von Karriereentwicklungs- und Familiengründungsphase“ (ebd., 148) geprägt werden. Aus der Perspektive des Subjekts wird es damit immer bedeutsamer, ob Aspekte der persönlichen Entfaltung, der biografischen Passung und/oder der Vereinbarkeit der Erwerbsarbeit mit dem Privatleben ausreichende Berücksichtigung finden, um zu entscheiden welche Ressourcen und Potenziale sie tatsächlich in die Arbeit einbringen können und welche sie einbringen wollen (vgl. Kleemann 2012, 13). In der Folge werden mögliche Widerstände insbesondere an denjenigen Schnittstellen denkbar, an denen sich das Spannungsfeld zwischen gestiegenen subjektiven Ansprüchen der Beschäftigten und technologieinduzierten Ansätzen der Nutzung von Arbeitskraft durch die Arbeitgeber zu Ungunsten der Beschäftigten verschiebt.

In Anlehnung an Holzer wird in der Folge eine weite Fassung von „Digitalisierungs-Widerstand“ als jegliche Form des Widerstands vorausgesetzt, der gegen die Nutzung von digitalen Medien, gegen die Implementierung neuer Software(-pakete) und/oder gegen den Umgang mit digitaler Maschinensteuerung, Robotik oder künstlicher Intelligenz (KI) aus widerständigen Handlungen ersichtlich oder der in verbaler Form mit Handlungsaufforderungen verbunden an den Betriebs- bzw. Personalrat herangetragen wird. Hierbei wird der Annahme Rechnung getragen, dass technikinduzierte Veränderungen betrieblicher Arbeit stetig neue Möglichkeiten der Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung eröffnen, die einen ihnen entgegengesetzten Widerstand absorbieren oder aufheben können, sodass „widerständige Handlungen nicht nur angepasst, sondern immer wieder neu erfunden werden [müssen]“ (Holzer 2017, 454). Insbesondere dann, wenn die Verpflichtung zum Umgang mit digitalen Medien „stillschweigende Unterlassungen erschweren“ (ebd.) und offene Widerstandsformen gleichzeitig weitgehend ausschließen, da andernfalls die eigene Arbeitsfähigkeit infrage gestellt würde. Entsprechend ist für diese Untersuchung im Vorfeld sowohl auf eine taxative und katalogische Aufzählung von Widerstandsformen sowie auf die spezifische Ausgrenzung von Handlungsformen verzichtet worden. Mit Blick auf das Forschungsdesign und die Interviewpartner soll Widerstand in Anerkennung bisheriger Arbeiten, in denen dieser als subjektiv sinnvoll und möglich rekonstruiert wurde, um die „Ideologie unumgänglicher und ´vernünftiger´ Weiterbildung zu durchbrechen“, dahingehend erweitert werden, dass die Negation von Weiterbildung auch als „`objektiv´ sinnvoll […] und als mögliches kollektives Interesse verstanden werden kann“ (ebd., 404).

„Lern- und Weiterbildungswiderstand“ aus empirischer Perspektive

Aus empirischer Perspektive sind für diesen Beitrag die Ergebnisse der Arbeiten von Faulstich/Grell (2005) und Grell (2006) besonders hervorzuheben, die unter Bezugnahme auf die Annahmen von Holzkamp und dessen vorläufigen phänographischen Umschreibungen verschiedener Erscheinungsformen von „Lernwiderständigkeiten“ wie der „Enteigentlichung, Zurückgenommenheit, Unengagiertheit, [oder] Halbherzigkeit bei der Aneignung [von] Lerninhalt[en]“ (Holzkamp 1987, 7) mithilfe eines eigenen forschungsmethodischen Settings vor allem den Lernenden in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Damit vollzogen sie einen Perspektivenwechsel weg von der Frage nach Optimierungsmöglichkeiten der Lehre hin zu den Bedürfnissen von Lernenden, wie besser gelernt werden kann (vgl. Faulstich/Grell 2005, 19). Insbesondere Grell legte in der Folge eine Ausdifferenzierung und Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen von Lernwiderständen vor und gruppierte existierende Phänomene entlang der Kategorien Zeit, Raum, Gruppenkontext, Kontakt mit Dozentinnen und Dozenten, sowie Umgang mit Medien und Materialien (vgl. Grell 2006, 26). So wurden erstmalig konkrete Ausdruckformen des Widerstands wie z. B. ein häufiges Zuspätkommen bzw. die selbstständige Verlängerung von Pausen oder das bewusste Ablenken von Mitlernenden bzw. das absichtliche Missverstehen des Dozierenden systematisch benannt und einzelnen Phänomenkategorien zugeordnet. Diese wurden anschließend in ihrer Konkretisierung als „Reibungsflächen“ verstanden, an denen sich Widerstände „entzünden“ können, immer unter der Prämisse, dass der „Grund für Widerstand und die Erscheinung einer Widerstand ausdrückenden Handlung nicht [notwendigerweise] zusammenfallen [müssen]“ (ebd., 25). Schlussfolgernd rekonstruierte Grell Lernwiderstände als jeweils subjektiv sinnvollvolle Handlungsformen, die nicht immer zwingend reflektiert, jedoch vor einem subjektiv wahrgenommenen Hintergrund stets sinnvoll und nachvollziehbar zu unterschiedlichen Handlungsstrategien (u. a. als zorniges Verweigern, lautes Experimentieren, nischenaktives Situationsbewältigen oder verdecktes Aktivsein) im Umgang mit Lernzumutungen führen können (vgl. ebd., 247).

In Ansätzen vergleichbare Strategien hatten zuvor bereits Bolder/Hendrich für den Bereich der beruflichen Weiterbildung anhand einer empirischen Untersuchung zu Weiterbildungswiderständen identifizieren können, indem sie auf der Grundlage verschiedener „Phänotypen der Nichtbeteiligung“ insbesondere Weiterbildungsverweigerer in den Blick nahmen (Bolder/Hendrich 2000, 37f). Hierbei differenzierten sie unter der Prämisse des „Nicht-Handeln[s] als Widerstandshandeln“ (ebd., 29) vor allem zwischen „Ausweichern“, die mit allgemein akzeptierten Rückzugsformen (Krankheit, Überlastungssyndrom, Familienorientierung) oder mit Vermeidung (u. a. Wechsel in eine andere Tätigkeit) auf Weiterbildungsangebote reagiert hatten und „Verweigerern im engeren Sinne“, die sowohl sanfte (u. a. Wegschlafen, Nicht-Beteiligung, Verstecken in der Hierarchie) wie auch offene Formen des Widerstands (u. a. offene Verweigerung, Stören, De-Stabilisierung der Lehrpersonal-Autorität, anomisches Abbrechen) erkennen ließen (ebd., 38).

Der Beitrag knüpft damit im Folgenden an die Erkenntnisse von Grell/Faulstich und Bolder/Hendrich an, die in ihren empirischen Arbeiten mit einer ersten Kategorisierung von Widerständen und der Benennung unterschiedlicher Handlungsstrategien zumindest erste Hinweise aufzeigen, wie mögliche Widerstände auch in Bezug auf den Einsatz digitaler Medien im Betrieb sichtbar werden. Eine direkte Übertragbarkeit der Erkenntnisse dieser Arbeiten darf aufgrund der Komplexität der Phänomene jedoch nicht vorausgesetzt werden, insbesondere dann, wenn vor dem Hintergrund einer zunehmend beschleunigten Technisierung von Arbeitsumgebungen die Rahmenbedingungen einem steten und zugleich starken Wandel ausgesetzt bleiben.

3 Methodisches Vorgehen: Experteninterviews zur Erschließung technologisierter Arbeitswelten

Die hier vorgestellte Studie ist Teil eines Dissertationsprojektes, das im Nachgang des BMBF geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojektes „iLInno“ („informelles Lernen als Innovationsmotor“; 2014-2018) entstanden ist. In iLInno wurde u. a. anhand eines Konzeptes zur arbeitsprozessintegrierten Kompetenzentwicklung erprobt, wie Beschäftigte in heterogenen Lernkonstellationen durch die gemeinsame Arbeit an betrieblichen Gegenständen, Aufgaben und Prozessen dazu befähigt werden können, ihr Arbeitsumfeld mitzugestalten. Ausgangspunkt für das Dissertationsprojekt sind Beobachtungen im Kontext einzelner Fallstudien (vgl. Molzberger/Weiß/Kukuk 2018, 94f), in denen sich Unterschiede in der Akzeptanz digitaler Medien und erste Hinweise auf die Existenz möglicher Widerstände gegen medienbezogene Formen der Digitalisierung offenbarten. Vor allem mit Blick auf mögliche Konsequenzen eines Widerstands gegen digitalisierungsbedingte Veränderungen im Kontext betrieblicher Arbeit entwickelte sich daraus die für diesen Beitrag leitende Vorannahme, dass sich individuelle Widerstände auf Seiten abhängig Beschäftigter heute anders äußern als bisher in Bezug auf Lern- und Weiterbildungswiderstände gezeigt werden konnte. Während offene Widerstände in Bezug auf traditionelle Weiterbildungsformate und -inhalte zwar in der Vergangenheit bereits mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beruflichen Nachteilen führten, sind offene Widerstände gegen technologieinduzierte Veränderungen im Zuge des digitalen Wandels zunehmend existenzbedrohend. Vor allem in Arbeitszusammenhängen wird Widerstand aus subjektiver Arbeitnehmer*innensicht immer häufiger als mögliche Gefahr für die Aufrechterhaltung der eigenen Arbeitsfähigkeit und damit als Bedrohung der eigenen Arbeitsplatzsicherheit wahrgenommen. Hierbei wird impliziert, dass widerständige Handlungsstrategien heute bestenfalls als unerwünscht gelten, häufig jedoch mit arbeitsverweigernden Absichten assoziiert und im Falle steigender Digitalisierungstendenzen von Arbeitsprozessen als mangelnde Bereitschaft gedeutet werden, sich auf zukunftsgerichtete Technologieanpassungen einzulassen. Entsprechend schwierig gestaltet sich in betrieblichen Zusammenhängen die Untersuchung von Widerständen im Allgemeinen und gegen den Einsatz (neuer) digitaler Technologien im Besonderen, wenn Beteiligte aufgrund individueller Zurückhaltung nicht eindeutig identifiziert werden können und/oder aufgrund der besonderen Sensibilität der Informationen nicht offen über Widerstände und widerständige Handlungsstrategien Auskunft geben möchten. Methodisch wurde deshalb in einem qualitativ ausgelegten Forschungsdesign auf das Instrument der Experteninterviews zurückgegriffen, das explorativ-felderschließend sowohl eine erste Orientierung in thematisch diffusen Bereichen ermöglicht (vgl. Meuser/Nagel 2016, 343) als auch im Falle einer Rekonstruktion komplexer Wissensbestände gerade dann Vorteile bietet, wenn der Zugang zum Feld durch „tabuisierte Themenfelder[.]” (Bogner/Menz 2009, 8) erschwert wird.

Ein besonderes Augenmerk lag entsprechend auf der Auswahl der Interviewpartner*innen, die in Gestalt gewählter Arbeitnehmervertreter*innen als besondere Gruppe von Unternehmensangehörigen als einzige Auskünfte sowohl über individuelle Widerstandstendenzen einzelner Mitarbeitenden als auch über kollektive Widerstandsformen betriebspolitischer Art erteilen können. Hierbei wird unterstellt, dass die Mitglieder von Betriebs- und Personalräten aufgrund ihrer Funktion als Vertrauenspersonen in beratender Funktion einerseits bestmöglich über individuelle Problemlagen der Beschäftigten informiert sind, da sie in Abhängigkeit der jeweiligen Freistellung für den Personal-/ Betriebsrat oftmals noch in unterschiedliche Arbeitsprozesse involviert sind und damit sowohl durch ihre formalen Beratungsaufgaben als auch durch einen steten informellen Erfahrungsaustausch am Arbeitsplatz in engem Kontakt zu ihren Kolleg*innen stehen. Andererseits sind sie gleichzeitig qua Mandat zur betriebspolitischen Mitgestaltung und damit auch mit eventuellem Widerstand gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung beauftragt, da der Betriebs- oder Personalrat per Gesetz zur Mitbestimmung bei Entscheidungen der Unternehmensleitung und damit zur Mitgestaltung betrieblicher Arbeitsbedingungen verpflichtet ist (vgl. BetrVG 2021/ Betriebsrätemodernisierungsgesetz 2021). Von besonderer Relevanz ist hierbei, dass erst durch die Wahl der Interviewpartner*innen anonymisierte Informationen zu beschäftigungsrelevanten „heiklen“ Fragestellung zu erhalten sind, über die andere Betriebsangehörige nicht verfügen. Beschäftigte zu finden, die offene Widerstände zeigen und diese nach außen kommunizieren, sind aus guten Gründen nur bedingt durch forschungsintendierte Anfragen zu finden.

Im Zeitraum zwischen Januar und Juni 2022 wurden insgesamt neunzehn Betriebs- und Personalrät*innen aus neun unterschiedlichen Branchenbefragt, die in unterschiedlichen Unternehmensgrößen mit unterschiedlicher Ausrichtung (regional/ national/ international/ teilw. zugehörig zu ausl. Mutterkonzernen) und in unterschiedlichen Freistellungsanteilen für den jeweiligen Betriebs- oder Personalrat tätig sind. Unterschieden wird zwischen den Statusgruppen Betriebs- oder Personalratsvorsitzende (V), stellvertretende Vorsitzende (sV), einfache Mitglieder (M) sowie den Freistellungsgraden vollständig freigestellt (v.f.), teilweise freigestellt (t.f.) und nicht freigestellt (n.f. in ehrenamtlicher Funktion). Die Auswahl der Interviewpartner*innen erfolgte im Sinne eines explorativen Ansatzes mit größtmöglicher Streuung, ungeachtet der jeweiligen Branche, der Beschäftigtenzahl, des Umsatzvolumens und der Rechtsform. Eine gesonderte Selektion konnte nicht vorgenommen werden, einzelne Branchen sind mehrfach repräsentiert.

Tabelle 1:     Übersicht der Interviewpartner*innen (inkl. Branchenzugehörigkeit, Beschäftigtenanzahl, Zugehörigkeitsstatus, Freistellungsanteil)

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Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass von den insgesamt neunzehn Interviewpartner*innen mehrheitlich Betriebs- oder Personalratsvorsitzende und damit vollständig freigestellte Gremienmitglieder befragt wurden. Das Sampling umfasst überwiegend mittlere bis große Unternehmen, deren Standorte sich weitgehend auf Nordrhein-Westfalen und die angrenzenden Bundesländer erstrecken. Die vorgenommene Nummerierung gibt die zeitliche Reihenfolge der durchgeführten Interviews wieder und ermöglicht einen direkten Bezug zur Ergebnisdarstellung.

Die Erhebung wurde mithilfe leitfadengestützter Interviews (Umfang: ca. 40 bis 60 Minuten) pandemiebedingt in Form von Videokonferenzen durchgeführt. Um unerwartete Themendimensionierungen der Experten zu ermöglichen, erfolgte die Interviewführung offen und flexibel anhand von drei Themenkomplexen: In einem ersten Schritt wurden die Interviewpartner*innen aufgefordert, allgemeine digitalisierungsbedingte Veränderungen betrieblicher Arbeitsprozesse und -bedingungen zu beschreiben, die für die Beschäftigten ihres Unternehmens durch den Einsatz neuer digitaler Systeme (Fertigungsmaschinen/ Steuerungsmodule/ Verwaltungsprogramme/ etc.) entstanden sind. Darauf aufbauend wurde in einem zweiten Schritt nach kritischen Haltungen im Umgang mit neu implementierten Technologien gefragt, die basierend auf Rückmeldungen im Beratungskontext an die Arbeitnehmervertretungen herangetragen und/oder durch Beobachtungen im Prozess der Arbeit wahrgenommen wurden. Von zentraler Bedeutung war hierbei die Aufforderung zur Nennung konkreter Praxisbeispiele, in denen kritische und ablehnende Haltungen in verweigernde oder widerständige Handlungen mündeten. Erst in einem dritten Schritt wurden die aus diesem Kontext resultierenden Aufgaben und Handlungsoptionen für die Arbeitnehmervertretungen thematisiert, die basierend auf individuellen Wahrnehmungen, gesetzlichen Vorgaben und jeweiligem Selbstverständnis zu möglichem Widerstand auf betriebspolitischer Ebene führten.

Die Auswertung der Experteninterviews folgte in Anlehnung an Meuser/Nagel der Logik der rekonstruktiven Sozialforschung mit dem Anspruch, Erkenntnisse über Kontextbedingungen, Gegenstandsbereiche und Ausdrucksformen digitalisierungsbedingter Widerstände in betrieblichen Zusammenhängen zu generieren. In einem ersten Schritt wurden hierzu die jeweiligen Interviewinhalte sequenziert und transkribiert. Für die Themenstellung weniger relevante Sequenzen wurden hierbei in geringen Anteilen paraphrasiert, indem mit einer Orientierung an thematischen Einheiten der Gesprächsverlauf berücksichtigt, Inhalte kontextualisiert und ein „Verschenken von Wirklichkeit“ vermieden wurde (Meuser/Nagel 2016, 349). Im zweiten Schritt wurde das Material mithilfe eines softwaregestützten Managements der qualitativen Datenanalyse (MAXQDA) thematisch geordnet und kodiert. Um der Komplexität mancher Interviewpassagen gerecht zu werden, konnten hierbei einzelnen Passagen mehrere Codes zugewiesen werden. In einem dritten Schritt wurden vergleichbare Textpassagen aus verschiedenen Interviews gebündelt und zu Kategorien zusammengefasst. Entscheidende Bedeutung für den Auswertungsprozess hatte hierbei die Erstellung von Code-Memos, anhand derer die Konzeptualisierung von Aussagen theoriegeleitet vorgenommen wurde. So konnten verschiedene Sinnstrukturen sichtbar gemacht werden, die in einem vierten Schritt zu Gegenstandsbereichen digitalisierungsbedingten Widerstands und zu Ausdrucksformen widerständiger Handlungsstrategien verknüpft wurden. Die Vorstellung der Analyseergebnisse erfolgt in Form einer „dichten Beschreibung“ (Friebertshäuser/Richter2018, 41f), die Kontexte und prägnante Zitate einschließt, um den unmittelbaren Bezug zur betrieblichen Wirklichkeit zu erhalten.

4 Individuelle und kollektive Digitalisierungswiderstände

Die Interviews zeigen, dass bei einem überwiegenden Teil der befragten Betriebs- und Personalrät*innen zunächst die Einschätzung dominiert, dass digitalisierungsbedingte Widerstände als Einzelfälle angesehen werden müssen, da der Betrieb mit seinen stark reglementierten Rahmenbedingungen „…nur wenig Platz für Widerstand [bietet]“ (Interview I 8, 102) und „…kaum einer die Wahl hat [sich mit neuen Technologien nicht anzufreunden]“ (Interview I 1, 90). Damit wurde vor allem auf offene Widerstände Bezug genommen, die im Sinne verweigernder oder ausweichenden Handlungsstrategien bestenfalls einzelnen Beschäftigtengruppen (v.a. Ältere oder Qualifizierungsunwillige) zugeschrieben werden. Erst in späteren Passagen der Interviews verdichteten sich mithilfe konkreter Nachfragen die Hinweise darauf, dass Widerstände auch in der breiten Masse der Beschäftigten zu finden sind, sodass das Phänomen des Digitalisierungswiderstands doch über Einzelfälle hinausgeht. Aus Perspektive der Interviewpartner*innen ergeben sich solche jedoch weniger als Rückmeldung aus dem direkten Beratungskontext, vielmehr müssen sie als Ursache für unterschiedliche Formen von Anfragen, Vorschlägen und Aufträgen an die Arbeitnehmervertretung angenommen werden, die nur bedingt durch die befragten Betriebs- und Personalrät*innen unter dem Aspekt des Widerstands reflektiert werden. Entsprechend mitgedacht werden in der Folge ebenso sanftere Formen des Widerstands, die von den Interviewpartner*innen eher als „Befürchtungen“, „Vorbehalte“, „Ängste“, „Sorgen“ oder als „mulmiges Gefühl“ im Kontext einer Einführung neuer Technologien wahrgenommen wurden und die erst in der späteren Interpretation als Form des individuellen Widerstands oder als auslösendes Moment widerständiger Handlungen gedeutet werden können.

4.1 Gegenstandsbereiche des Widerstands

In der Wahrnehmung der befragten Betriebs- und Personalrät*innen können sich die genannten „Befürchtungen“, „Vorbehalte“, „Ängste“ und „Sorgen“, von Beschäftigten besonders im Kontext der zunehmenden Digitalisierung gegen sehr unterschiedliche Phänomene richten, die sowohl auf möglichen Hard- oder Software-basierten Veränderungen beruhen, sich aber auch als Reaktion auf gewandelte Rahmenbedingungen oder im Vorfeld anstehender Qualifizierungen offenbaren. Bevor jedoch konkrete Handlungsstrategien und mögliche Ursachen von Digitalisierungswiderständen vorgestellt werden, soll zunächst eine weitere Differenzierung zeigen, gegen was sich digitalisierungsbedingte Widerstände in betrieblichen Zusammenhängen richten können:

1. Widerstand gegen den Einsatz digitaler Medien: Direkter und damit offener Widerstand gegen den Einsatz digitaler Medien im Kontext betrieblicher Arbeit tritt in der Wahrnehmung der befragten Betriebs- und Personalrät*innen vor allem in Einzelfällen auf. Hierbei wird dieser branchenübergreifend weitgehend älteren Beschäftigten zugeschrieben, die „nicht auf den letzten Metern zur Rente die Energie aufbringen möchten alles neu zu lernen“ (Interview I 4, 106); technikaversen Kolleg*innen, die sich „abgehängt“ fühlen und „dem Ganzen sehr kritisch gegenüberstehen“ (Interview I 7, 115) oder Qualifizierungsunwilligen, die mit den sich verändernden Aufgaben „an ihre Grenzen kommen“ (Interview I 5, 127). Der Widerstand richtet sich dann zumeist auf breiter Ebene gegen sämtliche Formen einer digitalisierungsbedingten Veränderung, sowohl bezogen auf den Gebrauch digitaler Hardware in Form von Handhelds, Tablets oder Laptops, wie auch auf den Einsatz entsprechender Software zur (Fern-)Steuerung von Maschinen oder zur Erfassung und Verarbeitung von (Produktions-)Daten. Dies gilt insbesondere für die beteiligten kleinen und mittleren Unternehmen der Metall- und Chemiebranche, in denen nach wie vor auf Shopfloor-Ebene überwiegend manuell an älteren Maschinen gearbeitet wird.

Widerstände gegen den Einsatz komplexer Technologien wie z. B. von Robotik oder künstlicher Intelligenz (KI) sind hierbei im Grundsatz eingeschlossen, bleiben jedoch in der Wahrnehmung der Interviewpartner*innen nur bedingt greifbar. Da diese Technologien in der Regel lediglich einigen wenigen, zumeist hochqualifizierten und technikaffinen Beschäftigten mit geringem Widerstandspotenzial zugänglich sind, bleiben Widerstände dort zumeist aus. Jedoch werden oftmals gleichzeitig bei anderen unbeteiligten Beschäftigten diffuse und zum Teil auf Unkenntnis beruhende Vorbehalte hervorgerufen, die eher unterschwellig auf der Ebene betrieblichen Hörensagens an die befragten Arbeitnehmervertreter*innen herangetragen und dort wahrgenommen werden.

2. Widerstand gegen „Nebenfolgen“ der Digitalisierung: Weniger auf Einzelfälle und deutlich auf einen breiten Anteil der Beschäftigten bezogen, lässt sich anhand der Wahrnehmungen der befragten Betriebs- und Personalrät*innen das Phänomen des Widerstands gegen die „Nebenfolgen“ einer digitalen Technisierung aufzeigen. Mit „Nebenfolgen“ sind die möglichweise – aber nicht zwangsläufig – aus digitalisierungsbedingten Veränderungen entstehenden Konsequenzen gemeint, die sowohl für einzelne Beschäftigte aber auch für große Anteile der Belegschaft enormen Einfluss auf betriebliche Arbeitsbedingungen ausüben und damit mit unterschiedlicher Wirkung zu einer Entstehung von Widerständen beitragen können. Hierbei führt nicht der eigentliche Einsatz digitaler Medien zur Entstehung von Widerständen, sondern letztlich die aus diesem Einsatz resultierenden Konsequenzen, die zu einer Mehrbelastung und Verdichtung von Arbeit, zu gesteigerten Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten der Arbeitgeber*innen, aber auch zu Befürchtungen steigender Substitutionsmöglichkeiten durch Robotik und KI führen können:

2a. Entgrenzung von Arbeit: Eine der wesentlichen Nebenfolgen der Digitalisierung, die im Kontext betrieblicher Arbeit auf unterschiedlichen Handlungsebenen zur Entstehung von Widerständen beitragen kann, zeigt sich als Resultat gestiegener technischer Möglichkeiten in Form einer Verdichtung täglicher Arbeitsaufgaben und damit als deutliche Mehrbelastung bzw. Überlastung der Beschäftigten. Widerstände entstehen hier vor allem gegen die Auflösung von zeitlichen, räumlichen und sachlichen Strukturen, die bisher lange Zeit Erwerbsarbeit und Privatleben voneinander trennten:

„…ja dann lese ich eben abends noch Emails, […] bin auch noch übers Handy erreichbar und mach auch noch um Mitternacht irgendeine Geschichte […] und diese Entgrenzung, die nehmen wir alle wahr“ (Interview I 7, 325-328).

Widerstände zeigen sich entsprechend sowohl auf individueller Handlungsebene, die in Beratungskontexten oder auf informellem Wege als Anfragen oder Arbeitsaufträge an die Betriebs- und Personalrät*innen herangetragen werden, als auch auf kollektiver Ebene, die mit Blick auf formale betriebspolitische Vorgaben in den Abschluss konkreter Betriebsvereinbarungen münden oder in extremen Fällen zu einer Zustimmungsverweigerung bei strittigen Entwicklungen führen. In potenzierter Form werden Widerstände gegen die Entgrenzung von Arbeit durch die befragten Betriebs- und Personalrät*innen vor allem seit Beginn der COVID-19-Pandemie 2020 wahrgenommen, da mit Einführung der Homeoffice-Pflicht zwar eine größere Flexibilität ermöglicht, eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatleben jedoch deutlich erschwert wurde. Dies betrifft vor allem Beschäftigte des Bankensektors, die nicht in direktem Kundenkontakt stehen, aber auch Beschäftigte der übrigen Branchen, die in Verwaltungsbereichen oder Stabstellen des produzierenden Gewerbes tätig sind. Die zumeist stark strukturierten Schichtsysteme auf Shopfloor-Ebene verhindern in der Wahrnehmung der Interviewpartner*innen bislang noch, dass Entgrenzungstendenzen entstehen und durch die Beschäftigten rückgemeldet werden.

2b. Überwachung und Kontrolle: Eine weitere Nebenfolge des gestiegenen Einsatzes digitaler Medien in betrieblichen Zusammenhängen besteht vor allem in Gestalt neuer technischer Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle von Arbeitsprozessen bzw. Arbeitsbedingungen. Zunehmend werden in Echtzeit nicht nur Fertigungsabläufe, Lagerbestände und Lieferketten detailliert nachvollzogen, grundsätzlich besteht heute auch die Möglichkeit jeden einzelnen Beschäftigten detailliert anhand individueller Parameter in den Blick zu nehmen, sodass neben der reinen Arbeitszeit ebenso z. B. Arbeitsmenge, -qualität oder -schnelligkeit gemessen und dokumentiert werden können. Entsprechend wird der Widerstand gegen die rechtlich umstrittene Nutzung dieser Möglichkeiten für die befragten Betriebs- und Personalrät*innen nicht nur auf individueller, sondern vor allem auch auf kollektiver Ebene als besonders relevant angesehen. Es soll „nur das passieren, was rechtlich überhaupt erlaubt ist“, auch wenn „technisch […] natürlich mehr möglich ist“ (Interview I 4, 206f). Dennoch werden einzelne Rückmeldungen von Beschäftigten zu Ängsten und Befürchtungen gegenüber den neuen technischen Möglichkeiten in Anbetracht bereits erfolgter Bemühungen des Betriebs- oder Personalrates auch kritisch betrachtet. So werden diese Rückmeldungen sowohl übersteigert als unnötiger „Aufschrei“ („…um Gottes Willen, der [Arbeitgeber] sieht ja alles…“; Interview I 8, 162) interpretiert, als auch als berechtigter Arbeitsauftrag an die Arbeitnehmervertretung gedeutet, Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten der Arbeitgeber*innen weiterhin in größerem Umfang thematisieren und einschränken zu müssen. Hierbei wird vor allem auf die eigene Wahrnehmung verwiesen, „dass das Potenzial der Überwachung wesentlich zugenommen hat“ und Mitarbeitende, die Ihre Vorgaben nicht erfüllen, dies im Rahmen von Leistungs- und Verhaltenskontrollen „immer wieder von Vorgesetzten aufs Brot geschmiert [bekommen]“ (Interview I 9, 54). Ein besonderes Merkmal des Widerstands gegen Überwachung und Kontrolle besteht in der Wahrnehmung der befragten Betriebs- und Personalrät*innen vor allem darin, dass kollektive Widerstandsbemühungen als anhaltende Kontrolle der Umsetzung und Durchsetzung getroffener Betriebsvereinbarungen kontinuierlich erfolgen müssen. Es wird unterstellt, dass „Betriebsvereinbarungen auf dem Papier nur so lange gültig [sind], solange sich alle dran halten“, gerade auch weil „die Mühlen im Hintergrund häufig anders mahlen“ (Interview I 9, 161) und in Einzelfällen tatsächlich Verhaltens- und Leistungskontrollen registriert werden, deren Existenz zwar offiziell bestritten wird, jedoch als Narrativ nachhaltigen Einzug in den Betrieb erhalten. Entsprechend stellt vor allem die Adaption und Nachbesserung von Betriebs- bzw. Rahmenvereinbarungen und damit der Widerstand gegen neue Möglichkeiten der Überwachung eine Daueraufgabe für den Betriebs-/Personalrat dar, um insbesondere selbsttätige Technikoptimierungen wie Updates oder Releases in Gestalt sich permanent neu aufstellender Systeme (MS Office 365, Evergreen-Ansatz) im Blick zu behalten.

2c. Substitutionstendenzen betrieblicher Arbeitsaufgaben: Eine in der Wahrnehmung der befragten Betriebs- und Personalrät*innen ebenso relevante Nebenfolge der Digitalisierung zeigt sich in der fortschreitenden Veränderung von Substitutionspotenzialen zugunsten eines teilweisen oder sogar vollständigen Ersatzes von Beschäftigten bei der Bewältigung betrieblicher (Einzel-)Aufgaben. Widerstände entstehen hierbei vor allem mit Blick auf gestiegene Möglichkeiten einer IT-technischen Ersetzbarkeit von Beschäftigten in unterschiedlichen beruflich-betrieblichen Tätigkeitsfeldern, die mit starken Automatisationstendenzen insbesondere innerhalb der fertigenden Industrie anzutreffen sind. Hier wird die Auseinandersetzung mit neuen Technologien vor allem deshalb als widerständig wahrgenommen, da die Kolleg*innen „nicht an dem Ast sägen möchten, auf dem sie sitzen“ (Interview I 9, 57). Auch Beschäftigte anderer Branchen äußern den befragten Arbeitnehmervertreter*innen gegenüber vergleichbare Sorgen und Vorbehalte, dass durch die Anwendung neuer Technologien Rationalisierungsprozesse angestoßen werden, indem (Teil-)Aufgaben des eigenen Arbeitsplatzes durch maschinelle oder softwarebasierte Systemlösungen übernommen werden:

„…diese Umstellung von den […], da gab es natürlich schon Ängste, weil die Kollegen schon wussten, in dem Moment wo sie die Kunden wegschicken zum Automaten ist es weniger das technische Problem – ich muss das erst einmal lernen – es ist mehr diese Transformation, die damit einhergeht, dass der Kunde gar nicht mehr zum Schalter kommt. Da sind Ängste…, mehr dieses ich schaffe mich selber ab…“ (Interview I 5, 70-74).

Widerstand entsteht damit nicht nur mit Blick auf die Substitution von einfachen Tätigkeiten. Auch in Branchen mit hochqualifizierten Beschäftigten werden Vorbehalte und Sorgen gegenüber den befragten Betriebs- und Personalrät*innen mit dem Arbeitsauftrag der sozialverträglichen Abmilderung etwaiger Rationalisierungen versehen, die einen vollständigen Ersatz auch von anspruchsvollen Tätigkeiten, beispielsweise durch den Einsatz von Robotik oder künstlicher Intelligenz antizipieren. Verwiesen wird hierbei z. B. auf technologische Fortschritte in der Erstellung von KI-basierten Zeitungsartikeln (u. a. Berichte lokaler Sportergebnisse „…das Ding liest sich so, als hätte es ein Mensch geschrieben…“; Interview I 7, 286-293) oder aktuellen Entwicklungen zum Einsatz Holografie-basierter Avatare als Moderator*innen von Nachrichten-Formaten. Zumeist bleiben mögliche Widerstände jedoch stark abhängig von der jeweiligen Betriebsgröße, sodass insbesondere die Zugehörigkeit von Einzelbetriebe zu Großkonzernen und die damit verbundenen finanziellen Ressourcen den zukünftigen Einsatz innovativer Systeme in den Augen der Beschäftigten wahrscheinlicher werden lassen, während die Gefahren innerhalb kleiner und mittlerer Betriebe vergleichsweise gering eingeschätzt werden und Widerstände nur bedingt an Arbeitnehmervertreter*innen herangetragen werden.

Abb. 1: Gegenstandsbereiche von Digitalisierungswiderständen in der Wahrnehmung betrieblicher Arbeitnehmervertreter*innen (eigene Darstellung)Abb. 1: Gegenstandsbereiche von Digitalisierungswiderständen in der Wahrnehmung betrieblicher Arbeitnehmervertreter*innen (eigene Darstellung) 

3. Widerstand gegen Anpassungsqualifizierungen zu digitalen Systemen: In Ausnahmefällen kann sich Widerstand von Beschäftigten sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene gegen Formen der betrieblichen Anpassungsqualifizierung richten. In der Wahrnehmung der Interviewpartner*innen geschieht dies vor allem dann, wenn die Aneignungsbedingungen und Lerninhalte nicht dem eigentlichen Bedarf der betroffenen Beschäftigten entsprechen, also weniger auf den Erwerb von Kompetenzen, sondern vielmehr und ausschließlich auf einen unterstellten Anpassungsbedarf ausgerichtet sind. Dies gilt vor allem dann, wenn „die Personen, die halt an den Schulungen teilnehmen, hochgradig unzufrieden sind, weil sie ihre Bedürfnisse gar nicht erfüllt sehen“ (Interview I 3, 127f). Hinzu kommt, dass Widerstände gegen konkrete Schulungsmaßnahmen gerade dann begünstigt werden, wenn bereits die anzuwendende Software oder die digital gesteuerte Fertigungseinheit nur eine geringe Akzeptanz erfährt, sodass auch die inhaltliche Heranführung an deren Nutzung schlichtweg abgelehnt wird:

„…da gibt es durchaus große Widerstände, die wahrgenommen werden, was aber daran liegt, dass die Applikationen, die wir einsetzen, nicht optimal sind. Und das führt dann natürlich in der Folge dazu, dass die Akzeptanz nicht groß ist […]. Wenn die Leute ne Schulung besuchen müssen, wo sie halt sagen, das Zeug taugt doch sowieso nichts…“ (Interview I 3, 117-121).

Auf kollektiver Ebene sehen die befragten Betriebs- und Personalrät*innen vor allem dann Handlungsbedarf, wenn sowohl die Gestaltungsform (inhouse Schulungen; Multiplikatoren-/ Mentorenprogramme etc.) als auch die Nachhaltigkeit der avisierten Maßnahmen angezweifelt werden muss. Insbesondere dann, wenn extern eingekaufte Lernangebote wenig passgenau und zielführend erscheinen und lediglich Multiplikatoren „geschult“ werden, die „nachher die Probleme der Kolleg*innen im Alltag auffangen und bewältigen [sollen]“ (Interview I 7, 98f), richtet sich entsprechender Widerstand sowohl gegen die eigentliche Maßnahme selbst als auch gegen die Organisationsform (z. B. E-Learning, Selbststudium, Blended-Learning).

4.2 Widerstandformen von Digitalisierungswiderständen

Eine solche Differenzierung von Digitalisierungswiderständen unterstellt, dass bestehende Widerstände in betrieblichen Kontexten stets in klarer Abgrenzung identifiziert und als ursächlich für widerständige Handlungsstrategien angenommen werden können. Allerdings richten sich Widerstände – sofern sie überhaupt durch die befragten Betriebs- und Personalrät*innen reflexiv wahrgenommen werden – zumeist gegen mehrere Folgen digitaler Veränderungen gleichzeitig, sodass der eigentliche Gegenstand widerständigen Verhaltens häufig einer Kombination aus Widerständen entspricht, die zum Beispiel sowohl aus der Notwendigkeit eines Gebrauchs digitaler Endgeräte als auch aus den daraus entstehenden Nebenfolgen resultieren. Von zentraler Bedeutung bleibt damit nicht nur die Frage gegen was sich Digitalisierungswiderstände in betrieblichen Kontexten konkret richten, es muss auch danach gefragt werden in welcher Form widerständige Handlungen tatsächlich auftreten.

In der Wahrnehmung der befragten Betriebs- und Personalrät*innen sind Formen des offenen Widerstands auf individueller Ebene nur bedingt aufzeigbar, da diese überwiegend als unrealistische und wenig zielführende Handlungsoption abgetan oder als absolute Ausnahme ohne direkte Einflussmöglichkeiten des Betriebs- oder Personalrates kategorisiert werden. Nur in seltenen Fällen wird die Existenz offenen Widerstands tatsächlich als Verweigerung erlebt. Zumeist ist dieser Widerstand jedoch an die Bitte um Unterstützung geknüpft:

„…wenn im direkten Kontakt spürbar [wird], dass Kolleg*innen auf Personalräte zukommen, ihre Situation schildern […] und auch konkret um Hilfe bitten, weil sie einfach mit dem Learning by Doing im tagtäglichen Arbeiten überfordert sind…“ (Interview I 7, 75-78).

Eine andere Form des offenen Widerstands besteht in der demonstrativen Beibehaltung traditioneller (nicht-digitaler) Arbeitsweisen, die in starker Abhängigkeit der Arbeitsaufgabe und der Position im Unternehmen ebenfalls nur in sehr begrenztem Umfang toleriert wird. Indem Beschäftigte ihren Job in der Folge „halt nur etwas anders“ machen und dabei in Kauf nehmen, dass mehr Aufwand entsteht, weil „dann die Informationen, die sonst elektronisch aufgenommen werden könnten, übertragen werden müssen“ (Interview I 6, 99-102). Hier bedarf es schwerwiegender Gründe, wie beispielsweise einer überdurchschnittlichen Zielerreichung oder außergewöhnlich hoher Umsätze, die eine solche Sonderbehandlung aktuell (noch) rechtfertigen. In diesen Fällen wird jedoch durch die Interviewpartner*innen deutlich infrage gestellt, wie lange das noch möglich sein wird.

Passagen der Interviews zeigen auch die Existenz verdeckter individueller Widerstandsformen, die zwar nur in seltenen Fällen als Widerstand reflexiv erfasst werden, deren Auftreten jedoch eine größere Häufigkeit zugeschrieben wird. Während solche Widerstände in manchen Kontexten lediglich vermutet werden, werden sie in Gestalt der „inneren Kündigung“ oder in Form von Resignation durchaus häufiger in den jeweiligen Gremien problematisiert. Zum Tagesgeschäft hingegen gehört für nahezu alle Befragten der Umgang mit Versetzungsanfragen, die auf den Unwillen zurückzuführen sind, sich mit digitalisierungsbedingten Veränderungen auseinanderzusetzen:

„…natürlich gibt es auch Situationen, wo Kollegen mit der Aufgabe wie sie sich gewandelt hat an ihre Grenzen kommen. Das hat dann oftmals auch nicht nur… nichts mit Können…, manchmal ist es auch ich will das nicht mehr, ich kann mich nicht mehr umstellen“ (Interview I 5, 126-128).

Im Grundsatz werden diese Anfragen jedoch selten als Widerstand wahrgenommen, da zumeist einvernehmliche Lösungen gefunden werden, die den betroffenen Beschäftigten ein Ausweichen ermöglichen. Wenn sich Aufgaben verändern, wird zumeist das Gespräch gesucht, um Möglichkeiten eines Positionswechsels zu finden. Nach wie vor existieren in nahezu allen Betrieben „solche einfacheren Tätigkeiten […] wo es letztlich ein wenig reduzierter zugeht und dadurch für die Kollegen leichter zu handhaben ist“ (Interview I 5, 131-135), sodass Formen des offenen Widerstands letztlich präventiv verhindert werden.

Abb. 2: Typologie individueller und kollektiver Widerstandsformen im Kontext (digitaler) betrieblicher Arbeit (eigene Darstellung)Abb. 2: Typologie individueller und kollektiver Widerstandsformen im Kontext (digitaler) betrieblicher Arbeit (eigene Darstellung)

Deutlich einfacher ist die Benennung unterschiedlicher Widerstandsformen auf kollektiver Ebene, die durch rechtliche Vorgaben (vgl. BetrVG/ Betriebsrätemodernisierungsgesetz) eindeutig benannt, abgesichert und vorgegeben werden und die auf betriebspolitischer Ebene durch die Interviewpartner*innen regelmäßig Anwendung finden. Damit sind in der Wahrnehmung der befragten Betriebs- und Personalrät*innen vor allem Formen des offenen Widerstands von Bedeutung, wenn ungewünschte Veränderungen auf Leitungs- oder Vorstandsebene initiiert werden oder bereits umgesetzt wurden. Widerstand kann in diesen Fällen nicht nur im Vorfeld anstehender Entscheidung durch die Ausübung des Initiativrechts (BetrVG §80 Abs. 1) oder des Informationsrechts (BetrVG §2 Abs. 1; §80 Abs. 2) angebahnt werden, auch in laufenden Prozessen oder im Anschluss an bereits erfolgte Umsetzungen dient der (nachträgliche) Abschluss von Betriebs- oder Personalvereinbarungen als Kerninstrument betrieblicher Mitbestimmung (BetrVG §87 Abs. 1). Lediglich in Extremfällen und in starker Abhängigkeit des jeweiligen Umgangstons oder des Betriebsklimas werden Widerstandformen wie das Zustimmungsverweigerungsrecht (§99 Abs. 2), das Widerspruchsrecht (§102 Abs. 3) oder Mittel des Arbeitskampfes (Grundgesetz Art. 9 Abs. 3) eingesetzt. Verdeckte Formen des Widerstands werden in diesem Kontext zwar durch die Interviewpartner*innen als nicht weniger relevant, jedoch deutlich diffuser und nur bedingt greifbar eingeschätzt, wenn im Vorfeld der Entstehung von Betriebs- oder Personalvereinbarungen durch kommunikativen Austausch Informationen geteilt und Positionen abgestimmt werden, die letztlich zu einer widerständigen Einschätzung oder Haltung des gesamten Gremiums führen.

5 Fazit und Ausblick

Die Untersuchung zeigt, dass die Implementation neuer Technologien auf Beschäftigtenebene nicht in allen Fällen als Erleichterung des Arbeitsalltags begrüßt wird. Gerade im Kontext des digitalen Wandels sind neue soziale und betriebliche Herausforderungen entstanden, die sowohl durch individuellen Widerstand auf Ebene der Beschäftigten als auch durch kollektiven Widerstand auf Ebene der Arbeitnehmervertretungen geprägt werden. Diese Widerstände offenbaren sich hierbei nicht nur im Rahmen formaler Lern- und Weiterbildungssettings, Digitalisierungs-Widerstände als besondere Form des Widerstands können darüber hinaus auch als widerständige Handlungsstrategien sowohl gegen den Einsatz digitaler Medien und Arbeitsmittel als auch gegen die aus der zunehmenden Veränderung betrieblicher Arbeitsprozesse entstehenden „Nebenfolgen“ einer gestiegenen Technologisierung (Entgrenzung/ Überwachung/ Substitution) rekonstruiert werden. Die bisherigen Ergebnisse der Widerstandsforschung in Bildungszusammenhängen müssen damit um den Aspekt des Digitalen und um die Dimension des Kollektiven erweitert werden, indem durch die Differenzierung bestehender Phänomenkategorien in neue Gegenstandsbereiche und durch die Ergänzung widerstandsgeprägter Ausdrucksformen um digitale Handlungskomponenten ein tieferes Verständnis widerständiger Handlungsstrategien und -strukturen in betrieblichen Zusammenhängen ermöglicht wird.

Kritisch bleibt anzumerken, dass der Begriff des Widerstands trotz seiner zwischenzeitlich umfangreichen theoretischen Aufarbeitung und Differenzierung in seiner Anwendung für die betriebliche Praxis nur bedingt trägt. Anhand der Interviews konnten bestehende Widerstände erst in der anschließenden Auswertung interpretativ als solche identifiziert und attribuiert werden, da die vorgestellten Ausdrucksformen und Handlungsstrategien in der Wahrnehmung der Interviewpartner*innen nur selten reflexiv als widerständig erkannt oder als solche explizit benannt wurden. Dies liegt vor allem darin begründet, dass die Wahrnehmung von Digitalisierungswiderständen sehr deutlich sowohl von individuellen Einflussfaktoren auf der Seite der Befragten als auch von betriebsspezifischen Rahmenbedingungen des jeweiligen Unternehmens abhängig bleibt. So sind unterschiedliche Faktoren wie die biographische Vorerfahrung, das persönliche Engagement und das Selbstverständnis der befragten Betriebs- und Personalräte, wie auch der Freistellungsgrad und die damit verbundene Nähe zu den Beschäftigten oder der Stellenwert des jeweiligen Gremiums innerhalb des Unternehmens ausschlaggebend dafür, ob Beschäftigte tatsächlich im Einzelfall dazu bereit sind entsprechende Widerstände (trotz deren eindeutiger Beschäftigungsrelevanz) gegenüber den Arbeitnehmervertreter*innen offenzulegen. Im Gegenzug beeinflussen diese Faktoren auch die Sensibilität der Betriebs- und Personalräte, mit der diese die Bedürfnisse und Anliegen der Beschäftigten „erspüren“ bzw. aufnehmen und in entsprechende kollektive Handlungsstrategien überführen.

Auf der Basis der Ergebnisse wird deshalb ein erweiterter Einbezug von Umschreibungen widerständiger Ausdrucksformen vorgeschlagen, die sich in ihrer Konnotation weniger auf rein synonyme Bezeichnungen des Widerstandsbegriffs selbst beziehen (z. B. Protest, Ungehorsam, Gegenwehr, Abweichung, etc.) und deren restriktiver „Einsatz“ bereits durch Holzer als „kaum stringent und sinnvoll“ (2017, 367) kritisiert worden ist. Vielmehr zeigt sich, dass im Kontext der betrieblichen Praxis deutlich differenziertere und breitere Ausdrucksformen widerständiger Handlungen anzunehmen sind, die in Erweiterung begründeter katalogischer Aufzählungen u. a. auch als „Ängste“, „Befürchtungen“, „Sorgen“, oder „mulmiges Gefühl“ bei der Einführung und dem Gebrauch neuer Technologien wahrgenommen werden und die erst durch ihren Kontext als Digitalisierungswiderstand lesbar sind. In diesem Sinne wird gegen eine enge begriffliche Eingrenzung und für eine weite Fassung des Widerstandsbegriffs in betrieblichen Zusammenhängen plädiert, wenn digitalisierungsbedingte Widerstände von Beschäftigten notwendigerweise so umschrieben werden müssen, dass sie nicht den Anschein einer alternativlosen Verweigerung erwecken.

Verlässliches Datenmaterial zum Umfang bestehender Digitalisierungswiderstände innerhalb der einzelnen Belegschaften konnte aufgrund des Forschungsdesigns nicht generiert werden. Es bleibt jedoch zu vermuten, dass die „Dunkelziffer“ vorhandener Digitalisierungswiderstände durch die vermeintliche Bedrohungslage der individuellen Arbeitsfähigkeit tendenziell sehr viel höher eingeschätzt werden muss. Wenn in betrieblichen Zusammenhängen allein aus Selbstschutz etwaiger Widerstand in Umschreibungen „verpackt“ und relativiert werden muss, um eine Gefährdung eigener Karrierewege auszuschließen, wird auch deren Wahrnehmung durch gewählte Vertrauenspersonen zu einer besonderen Herausforderung. Erst recht, wenn die Existenz etwaiger digitalisierungsbedingter Widerstände zuvor bereits antizipativ ausgeschlossen worden ist, da Widerstände gegen technologische Veränderungen „eher schwierig“ bzw. „nicht zeitgemäß“ anmuten und durch die Betriebs- und Personalrät*innen letztlich „keine Wahl“ gesehen wird, sich mit neuen (digitalen) Technologien auseinanderzusetzen.

Damit sind es sowohl individuelle als auch kollektive Widerstände von Beschäftigten und Arbeitnehmervertreter*innen zugleich, die es im betrieblichen Umfeld erforderlich machen die Grenzen eines Einsatzes digitaler Technologien stetig neu bewerten und aushandeln zu müssen, um v.a. das Spannungsfeld gestiegener Möglichkeiten der Arbeitserleichterung aber auch der Überforderung (Entgrenzung von Arbeit), des Missbrauchs (Überwachung/ Kontrolle) und der Rationalisierung (Substitution) auszutarieren und im Kontext betrieblicher Weiterbildung professionell aufzuarbeiten. Gerade wenn die Risiken der Moderne im Sinne gestiegener Subjektivierungstendenzen zunehmend an die Beschäftigten überantwortet werden, muss auch die betriebliche Weiterbildung einen Beitrag leisten, um auf unterschiedlichen Strukturebenen die Wahrnehmung von Widerständen zu verbessern und deren professionelle Aufarbeitung zu ermöglichen. Aktuelle Arbeiten geben bereits erste Hinweise darauf, dass aktive und thematisch breit aufgestellte Arbeitnehmervertretungen positiven Einfluss auf die Handlungsstrategien von Beschäftigten nehmen können (z. B. mit Blick auf die betriebliche Weiterbildungsbeteiligung; vgl. Weis 2022, 242). Allerdings werden entsprechende Mitwirkungsrechte gerade für die betriebliche (Weiter-)Bildung aufgrund unterschiedlicher Aufgabenverständnisse bislang nur unzureichend umgesetzt (vgl. Berger/Iller 2019, 188). Es bleibt daher zu prüfen, in welcher Form und mit welchen Formaten individuelle Kompetenzentwicklung auf der Ebene der Arbeitnehmervertretungen gelingen kann, um nicht nur widerständigen Handlungsstrategien (v.a. im Sinne der Beschäftigten) adäquat begegnen zu können, sondern auch, um notwendige organisationale Veränderungen hin zum „kompetenzförderlichen Betrieb“ (Weiß 2018, 70) strukturell mitzugestalten.

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Zitieren des Beitrags

Kukuk, A. (2022): Digitalisierungswiderstände im Kontext betrieblicher Weiterbildung – Gegenstandsbereiche und Ausdrucksformen aus der Perspektive betrieblicher Arbeitnehmervertretungen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschafts­päda­gogik – online, Ausgabe 43, 1-21. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe43/kukuk_bwpat43.pdf (18.12.2022).