bwp@ 38 - Juni 20

Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane

Berufsausstieg oder Bildungsaufstieg? Biographische Orientierungen und Lebensweltbezüge von Studierenden mit Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf

Beitrag von Janika Grunau & Lena Sachse
bwp@-Format: Forschungsbeiträge
Schlüsselwörter: Lebenswelt, Biographie, Jugendliche, Gesundheitsfachberufe, Orientierung, Floating, Anchoring

Der Beitrag widmet sich den Fragen, wann und warum sich Jugendliche auf ihrem Bildungs- und Berufsweg (um)orientieren. Exemplarisch werden vier Fälle analysiert, in denen Studierende in biographischen Interviews von ihren bildungsbezogenen und beruflichen Entscheidungen erzählen. In allen Fällen haben die Studierenden vor der Aufnahme des Studiums eine Berufsausbildung in einem Gesundheitsfachberuf absolviert. Im Ergebnis wird ersichtlich, dass die Umorientierung von dem Gesundheitsfachberuf zur akademischen Bildung keine rein subjektive und rationale Entscheidung ist, sondern eng mit den Lebensweltbezügen der Jugendlichen verbunden ist. Zudem lässt sich die Umorientierung nicht als einzelner Zeitpunkt, sondern als biographischer Orientierungsprozess rekonstruieren. Hinsichtlich der Beweggründe dokumentiert sich in allen Fällen ein multikausales Geflecht von Erfahrungen und Ereignissen. Entgegen einer in (berufs-)politischen Kontexten gängigen Argumentation, in der ausschließlich von einer ‚Flucht‘ aus Gesundheitsfachberufen durch unattraktive Arbeits- und Rahmenbedingungen ausgegangen wird, zeigt sich, dass bei der Entscheidung für die Aufnahme des Studiums die familiäre Tradition und Bildungsaspiration einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Leaving the occupation or rising in education? Biographical references and the ‘life-world’ of Students with a Vocational Certification in the field of Health Care

English Abstract

This paper focuses on the questions of when and why young people change their educational and professional direction towards an academic career. Four case studies on student biographies serve to illustrate the decisions on their educational and professional pathway(s). These students have in common, that they absolved a vocational training in the field of Health Care beforehand. It becomes obvious, that the (re)orientation, leaving the Health Care profession for studying, is not a rational decision only, but also depends on the young people’s life-world [German Lebenswelt]. Moreover, it shows that the (re)orientation is processual and a multi-causal. The decisions are made not only due to unattractive working conditions in the Health Care Sector, but also due to family traditions and perceptions of educational success.

Vorbemerkung: Das raue Meer und der innere Tiger

In dem Roman und gleichnamigen Film „Life of Pi“ erzählt der Protagonist Pi Patel retrospektiv von seiner Kindheit und Jugendzeit: Pi wächst im Zoo seines Vaters in einer Stadt in Südindien auf. Seine Kindheit nimmt ein jähes Ende, als seine Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Kanada ausreist. Sie besteigen ein Boot und einige Zootiere, so auch ein Tiger namens Richard Parker, sind mit an Bord. Das Schiff gerät in Seenot und sinkt, doch Pi kann sich mit einigen Tieren auf ein Rettungsboot in Sicherheit bringen. Von da an beginnt ein Überlebenskampf auf dem Rettungsboot. Als zuletzt nur noch der Tiger und Pi an Bord sind, flüchtet Pi auf ein Floß und beginnt von dort, den Tiger zu zähmen. Sie treiben monatelang auf dem offenen Meer und sind seiner Urgewalt ausgesetzt, entwickeln aber zunehmend eine Partnerschaft, die sie durch die schwierige Zeit trägt. Schlussendlich landen sie auf dem Festland, der Tiger verschwindet für immer im Dschungel und Pi wird von Menschen gefunden und gerettet.

Bei „Life of Pi“ handelt es sich, wenn auch hier nur in Ausschnitten beschrieben, um eine biographische Erzählung, bei der am Ende offenbleibt, was Fakt und Fiktion ist. Die geschilderten Erfahrungen können, interpretiert man die Geschichte des Schiffbruchs als metaphorisch, für die ‚stürmische‘ Jugendzeit mit ungewissem Ausgang stehen. Die Figur des Tigers lässt sich vor diesem Hintergrund als Teil des Selbst von Pi Patel deuten: Nicht nur die Auseinandersetzung mit der äußeren Lebenswelt (dem rauen Meer), sondern auch mit der inneren Lebenswelt (dem ‚Tiger‘ in sich) wird auf diese Weise veranschaulicht und ist gleichermaßen charakteristisch für die Phase der Jugend.

1 Berufs- und Bildungswege von Jugendlichen

Bildungs- und Berufswege von Jugendlichen[1] verlaufen nicht unbedingt geradlinig, sondern sind häufig verzweigt, enthalten Umwege oder gar Abwege, Phasen des Treibens und des Ankommens. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Fragen, wann und warum biographische Umorientierungen bei Jugendlichen stattfinden und richtet dabei das Augenmerk auf Studierende, die zuvor eine Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf absolviert haben. Die Bildungsbiographien der Studierenden weisen keinen linearen Verlauf auf, sondern enthalten, legt man eine akademische ‚Normalbiographie‘ als Maßstab zugrunde, den ‚Umweg‘ über die Berufsausbildung. Orientiert man sich hingegen an einer ‚normalen‘ fachberuflichen Biographie, so kann der Besuch höherer Schulformen und die Aufnahme des Studiums als ‚Abweg‘ interpretiert werden. Mit Konstrukten wie dem ‚dritten Bildungsweg‘ oder den ‚offenen Hochschulen‘ haben sich bereits Strukturen etabliert, welche die Durchlässigkeit zwischen schulischer, beruflicher und akademischer Bildung formal ermöglichen. Dennoch sind nicht-lineare Biographien und die subjektive Verarbeitung aus wissenschaftlicher Perspektive interessant, implizieren sie doch durchlaufene und bestenfalls auch bewältigte Veränderungsprozesse von äußeren und inneren Lebenswelten im Jugendalter.

Doch nicht nur in Bezug auf Lebenswelten ist die Auseinandersetzung mit bildungs- und berufsbezogenen Umorientierungen bedeutsam. Auch für Diskussionen, die auf makrostruktureller Ebene geführt werden, können Erkenntnisse biographischer Forschung einen wertvollen Beitrag leisten, so z. B. im Rahmen der Diskussion um den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen. Für viele Gesundheitsfachberufe, z. B. die Altenpflege und die Physiotherapie, wird ein zunehmender Fachkräftebedarf proklamiert (z. B. Sachverständigenrat 2018; Bundesagentur für Arbeit 2019). Die Gründe für den Fachkräftemangel sind vielfältig und berufliche Umorientierungen keine Seltenheit: So stellen Hasselhorn et al. (2005, 7) fest, dass ein Fünftel aller Pflegefachkräfte in Deutschland mehrfach monatlich erwägt, aus dem Beruf auszusteigen. Auch in den therapeutischen Gesundheitsfachberufen lassen sich ähnliche Tendenzen nachzeichnen (z. B. Pradka, 2017; Timm, 2019). Die Frage nach dem „Warum?“ wird – oftmals vor dem Hintergrund berufspolitischer Interessen – anhand der schlechten Arbeitsbedingungen und einer zu geringen finanziellen Entlohnung beantwortet (z. B. Bispinck et al. 2013, Helmrich et al. 2016). Diese Argumentation impliziert, dass die Umorientierung ein systemimmanentes Problem im Sinne eines Berufsausstiegs darstellt. Anhand biographischer Verläufe wird jedoch ersichtlich, dass Systemwechsel stattfinden. Den Fokus auf eine systemübergreifende, biographische und lebensweltorientierte Perspektive zu richten, kann daher eine sinnvolle Erweiterung des Diskurses darstellen, um die Fragen der Zeitlichkeit sowie der Beweggründe der bildungs- und berufsbiographischen Orientierungen von Jugendlichen zu rekonstruieren. In diesem Beitrag werden zunächst die theoretischen Bezüge Lebenswelt und Biographie aufgearbeitet (Kap. 2). In vier Fallstudien werden daraufhin die biographischen (Um-) Orientierungen und die Lebensweltbezüge von Studierenden mit Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf illustriert (Kap. 3). Abschließend werden die Ergebnisse in übergeordnete Diskurse eingeordnet und kritisch reflektiert (Kap. 4).

2 Theoretische Annäherungen: Lebenswelt und Biographie

Der Begriff „Lebenswelt“ wird sowohl im berufspädagogischen Diskurs als auch in alltagssprachlichen Zusammenhängen verwendet. Bisweilen besteht keine Einigkeit über den Lebensweltbegriff, weder innerhalb noch außerhalb der Wissenschaft (vgl. Schreiber 2005, 312). Zentrale theoretische Bezugspunkte lassen sich jedoch nachzeichnen: Im Sinne Edmund Husserls ist die Wirklichkeit die alltägliche Lebenswelt. Mit diesem Ansatz brachte Husserl das Alltagsbewusstsein wieder in den Fokus des philosophischen Diskurses und schlug somit eine Brücke zwischen dem „‚strengen‘ analytisch-naturwissenschaftlichem Denken und der Kritik an der Anmaßung dieser Denktradition […]“ (Barz/Tippelt 2011, 117 f). Nur in der alltäglichen Lebenswelt könne sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren (vgl. ebd.). Schütz & Luckmann gehen davon aus, dass die alltägliche Lebenswelt die Wirklichkeitsregion sei, an welcher der Mensch mit unausweichlicher und regelmäßiger Wiederkehr teilnehme. Von dieser Lebenswelt könnten die Menschen bis zu einem gewissen Maß gegenseitig Kenntnis erlangen (vgl. Schütz/Luckmann 2003, 29 ff.). Dabei bezieht sich der Diskurs vor allem auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft sowie der alltäglichen Lebenswelt und dessen Verschränkung. In Anlehnung an Kirsch (1997, 45 ff.) sprechen Kremer & Sloane in diesem Zusammenhang von inkommensurablen Lebenswelten (vgl. Kremer/Sloane 2014, 59). May (2015, 39) stellt die These auf, dass der Lebensweltbegriff den Bruch zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Erfahrungen theoretisiere und bearbeite. Im pädagogischen Diskurs, betonen Barz & Tippelt (2011, 117), sei das Paradigma der Lebensweltorientierungen ein Korrektiv verhaltensorientierter sowie subjektiv verkürzter Theoriemodelle. Im pädagogischen Kontext soll im Sinne der Handlungsorientierung die Unterrichtskonzeption auf die Lebenswelt der Schüler*innen ausgerichtet werden, um infolgedessen den Unterricht lebensnäher, interessensspezifischer und schülerorientierter gestalten zu können. Mit der Lebenswelt wird auf Sozialisations- und Erfahrungszusammenhänge wie normative Orientierungen, Verhaltensweisen sowie soziokulturell geprägte Sichtweisen verwiesen (vgl. Lippitz 1980, 1). Nicht nur als Begründung pädagogischen Handelns habe der Ansatz der Lebensweltorientierung Relevanz, auch für die Beschreibung von Bildungsaspirationen habe das Paradigma der Lebenswelt eine Bedeutung. Barz/Tippelt verweisen darauf, dass die „sozialen Deutungsmuster sich nicht nur aus dem gesellschaftlich verfügbaren ‚Wissensvorrat‘ speisen, sondern gerade auch schichtspezifisch, milieuspezifisch, lebenslagenspezifisch und lebensstilspezifisch tradiert und weiterentwickelt werden“ (Barz/Tippelt 2011, 118).

Ein Systematisierungsansatz zum Lebensweltkonzept ist die Differenzierung in innere und äußere Lebenswelt (vgl. Kremer/Sloane 2014, 5). Die äußere Lebenswelt wird hierbei verstanden als real existierender Ort wie beispielsweise ein Studienseminar oder eine Hochschule. Am Beispiel dieser beiden Institutionen werde deutlich, dass mit den beiden Lebenswelten unterschiedliche Erfahrungen und Sinnzusammenhänge verknüpft seien (vgl. Kremer/Sloane 2014, 5). Schulze konstatiert, dass es sich hierbei nicht nur um soziologische Ortsbestimmungen im Sinne von Institutionen, sozialen Systemen oder Lebens- und Arbeitsbereichen handele, sondern um konkrete Orte, die individuell durch die dort tätigen Menschen unterschiedlich gestaltet und belebt werden. Weiterhin seien diese Orte, in Abhängigkeit der dort arbeitenden Menschen, verbunden mit einem Gefüge wichtiger Tätigkeiten und Verrichtungen. Die Lebenswelt sei infolgedessen ein Ort, an dem die Biographie eines Individuums arbeite (vgl. Schulze 2015, 111). Erfahrungen, die in der Lebenswelt gemacht werden, sind, so Schreiber, nicht nur mit Orten, sondern auch mit Zeiten verknüpft. So könne sich die Lebenswelt auf vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Erfahrungen beziehen (vgl. Schreiber 2005, 313 ff.). Im weitesten Verständnis könne die Lebenswelt auch für die Welt der komplexeren Erfahrungen, wie Kausalitäten, Alltagstheorien und kommunikative Erfahrungen, stehen. Jede Lebenswelt sei individuell und subjektiv, und darin begründe sich auch die Verwendung des Plurals in Lebenswelten (vgl. ebd., 313). Dennoch, so Schulze, habe die Lebenswelt zwei Seiten: eine der individuellen Biographie zugewandte Seite und eine reale Gegebenheit, welche außerhalb der einzelnen beteiligten Subjekte existiere. Diese Außensicht sei ein von außen beobachtbares soziales Gebilde wie eine Familie, eine Schule oder ein Betrieb. Schulze spricht in diesem Zusammenhang von der Zweiseitigkeit der Lebenswelt (vgl. Schulze 2015, 114).

Die äußere Lebenswelt ist eng mit der vielschichtigen inneren Lebenswelt eines Individuums verbandelt. Sloane (2005, 337) geht davon aus, dass in jeder Lebenswelt besondere Anforderungen an die Person, an die Kultur sowie an die institutionelle Ordnung gestellt werden. Grenzgänge zwischen Lebenswelten erlebten Personen mitunter auch als krisenhaft. ‚Person‘ beschreibe die innere Konstitution sowie die Kompetenzen, die ein Individuum sprach- und handlungsfähig machen. Die ‚Kultur‘ beschreibe den sozialen Wissensvorrat, aus dem heraus eine sprachliche Verständigung über die Welt möglich wird. ‚Institutionelle Ordnungen‘ werden als sozial konstruierte Normen verstanden (vgl. Sloane/Gössling 2014, 140).

Die Lebenswelten von Jugendlichen stehen u. a. in der seit 1980 betriebenen SINUS-Sociovision-Studie im Fokus (vgl. zuletzt Calmbach et al. 2012, 2016). Die Autoren zeigen verschiedene Lebenswelten der Jugendlichen auf. Der Lebensweltbegriff bezieht sich dabei zum einen auf die soziale Lage (wie Bildung, sozialer Hintergrund der Eltern) und zum anderen auf grundlegende Werteorientierungen (wie subjektive Einstellungen, Kognitionen, Orientierungen, Interessen) sowie auf den Lebensstil (wie Verhalten, Gewohnheiten, Routinen, Rituale) (vgl. Calmbach et al. 2016, 29 ff.). Calmbach et al. verdeutlichen, dass aufgrund der unabgeschlossenen Ausformung der soziokulturellen Kernidentität der Lebensweltenbegriff im Gegensatz zum Milieubegriff der treffendere Begriff sei (vgl. ebd.). Dabei zeige sich, so Calmbach et al., dass sich das Wertespektrum der Jugendlichen vor allem mit drei zentralen Grundorientierungen beschreiben lasse: traditionell, modern und postmodern. Im Vordergrund sei hierbei, dass sich verschiedene normative Grundorientierungen nicht unbedingt ausschließen, sondern sich trotz der Gegensätzlichkeit verbinden könnten. Durch die Studie werde deutlich, dass je gehobener die formale Bildung ist, desto moderner ist die Grundorientierung. In der Studie identifizieren Calmbach et al. sieben verschiedene Lebenswelten: die konservativ-bürgerliche, die sozialökologische, die expeditive, die adaptiv-pragmatische, die der experimentalistischen Hedonisten, die der materialistischen Hedonisten sowie die prekäre Lebenswelt (vgl. Calmbach et al. 2012, 40). Dabei stellen die Autoren verschiedene Orientierungen wie Religion, Glaube, Umgang mit Medien aber auch berufliche Orientierungen sowie Zukunftsvorstellungen für die einzelnen Lebenswelten dar. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie insbesondere im Zusammenhang mit Zukunfts- sowie beruflichen Orientierungen verknüpft.

In konservativ-bürgerlichen Lebenswelten finden sich familien- und heimatorientierte sowie traditionsbewusste und bodenständige Jugendliche. Im Hinblick auf die Zukunft beschäftigen sich insbesondere diese Jugendlichen mit der Frage, wie der angestrebte Lebensweg umgesetzt werden könne. Dieses gelänge, so nach eigenen Einschätzungen der Jugendlichen, insbesondere dann, wenn man pflichtbewusst, fleißig und realistisch vorausdenke. Für die Berufsorientierung seien vor allem die Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen wichtig. Daraus erkläre sich, so Calmbach, dass konservativ-bürgerliche Jugendliche eher traditionelle Berufe als Ziel nennen (vgl. Calmbach et al. 2016, 49).

Jugendliche in sozialökologischen Lebenswelten sind an Nachhaltigkeit und am Gemeinwohl orientiert und offen für alternative Lebensentwürfe, so Calmbach. In Bezug auf die Zukunftsorientierungen haben diese Jugendlichen konkrete Ideen und Vorstellungen, halten sich jedoch verschiedene Optionen offen. Insgesamt blicken sie gelassen und optimistisch in die Zukunft, da sie davon ausgehen, dass ihnen vielfältige Optionen offenstehen. Beruf bedeute für diese Jugendlichen Berufung und Selbstverwirklichung (vgl. Calmbach et al. 2016, 139).

In expeditiven Lebenswelten finden sich Jugendliche, welche vor allem an Erfolg und Lifestyle orientiert sind. Sie zeigen den größten Optimismus für ihre Zukunft und sind sich ihrer Stärken bewusst (vgl. Calmbach et al. 2016, 150 ff.).

Die in adaptiv-pragmatischen Lebenswelten befindlichen Jugendlichen zeichnen sich durch Leistungs- und Familienorientiertheit aus. Zudem sind sie stark anpassungsfähig. Für die Zukunft haben diese Jugendlichen klare Vorstellungen, welche insbesondere den sozialen Aufstieg sowie damit einhergehende Statusgewinne einbezieht. Damit einhergehend zeigen sich eine hohe Leistungsbereitschaft und Bildungsbestrebungen. Für die adaptiv-pragmatischen Jugendlichen ist es wichtig, dass sie vorausschauende und sinnvolle Entscheidungen treffen. Das erste Ziel nach der schulischen Bildung sei häufig eine Ausbildung oder eine andere krisensichere Branche; diese Jugendlichen treffen meist vernunftgeleitete Entscheidungen. Den Berufsentscheidungen werde eine hohe Bedeutung beigemessen. Berufsentscheidungen werden unter anderem aufgrund eines geregelten Einkommens, verbunden mit einem sicheren Arbeitsplatz und bestenfalls in Wohnortnähe liegend, getroffen (vgl. Calmbach et al. 2016, 59 ff.).

Die Lebenswelt der materialistischen Hedonisten sei durch einen stark ausgeprägten sowie markenbewussten Konsum sowie der Repräsentation von angestrebtem Staus geprägt. Zu den wichtigen Zukunftsträumen gehören für diese Jugendliche die Gründung einer eigenen Familie und einer damit verbundenen finanziellen Unabhängigkeit. Diese Jugendlichen streben einen sicheren Ausbildungsberuf an, der ein gutes Einkommen bietet (vgl. Calmbach et al. 2016, 91 ff.).

Die experimentalistischen Hedonisten sind spaß- und szeneorientiert und zeichnen sich durch nonkonforme Lebensweisen aus. Durch ihren starken Bezug zur Gegenwart finden Zukunftsvorstellungen eher im geringen Maße statt. Wichtiger als die Karriere sei die Selbstentfaltung – auch bis ins hohe Alter hinein (vgl. Calmbach et al. 2016, 120).

In prekären Lebenswelten finden sich Jugendliche, die sich um Orientierungen und Teilhabe bemühen. Häufig haben sie schwierige Startvoraussetzungen und ihre Bildungsbiographie zeigt bereits früh erste Brüche auf. (vgl. Calmbach et al. 2016, 75 ff.) Den Jugendlichen aus prekären Lebenswelten fehle häufig berufliches Orientierungswissen, zudem nähmen sie berufliche Orientierungsmaßnahmen selten in Anspruch. Ihnen sei bewusst, so Calmbach, dass sich der Übergang in eine Ausbildung aufgrund niedriger Bildungsabschlüsse eher schwierig gestalte. Infolgedessen blicken diese Jugendlichen teils eher pessimistisch in die Zukunft oder zeigen sich teils auch unrealistisch optimistisch bezüglich ihres Berufswunsches (vgl. Thomas 2016: 30 ff.).

Zusammenfassend wird deutlich, dass Jugendliche aus bildungsaffinen Lebenswelten optimistischere Zukunftsvorstellungen als Jugendliche aus bildungsfernen Lebenswelten zeigen. Kritiker merken an, dass es wenig sinnvoll sei, Jugendliche in Lebenswelten zusammenzufassen, da es in der Natur der sozialen Wirklichkeit liege, dass Lebenswelten nicht so trennscharf wie soziale Schichten oder Bildungsabschlüsse seien (vgl. Thomas 2016, 29).

In diesem Beitrag werden durch einen biographischen Forschungszugang die innere und äußere Lebenswelt und die daraus resultierenden biographischen Erfahrungen einzelner Individuen rekonstruiert. Im Kern beschäftigt sich die Biographieforschung mit individuellen Lebensgeschichten und folglich mit der subjektiven Wirklichkeit (vgl. Krüger 1996, 51). Aus einer konkreten, fallbezogenen Perspektive können durch einen biographischen Forschungszugang gesellschaftliche Makrostrukturen und die subjektive Selbst- und Weltsicht in den Blick genommen werden. Dennoch merkt Schulze an, dass biographische Analysen zum einen eine Tendenz zur Verallgemeinerung und zum anderen einen Mangel an Konkretheit aufzeigen. Neben den differenzierenden Begriffen wie Milieu (Bohnsack), Kapital und Habitus (Bourdieu) und Erfahrungsraum (Mannheim) bedarf es neuer Kategorien, die näher an die Lebenswirklichkeit der Menschen heranrücken. Es brauche Kategorien, die „[…] sowohl die konkreten äußeren Lebensbedingungen und die Auseinandersetzung mit ihnen wie auch die interne Verarbeitung der Erfahrungen, die inneren Beweggründe der Entscheidungen und den Prozesscharakter der Lebensgeschichte erfassen […] Eine solche Kategorie könnte die der ‚Lebenswelt‘ sein“ (Schulze 2015, 108).

Abbildung 1: Biographieorientierte Forschung als Zugang zu Lebenswelten (eigene Darstellung)Abbildung 1: Biographieorientierte Forschung als Zugang zu Lebenswelten (eigene Darstellung)

Unabhängig von der begrifflichen Bezugskategorie wird durch biographische Forschung die Auseinandersetzung eines Individuums mit seinen äußeren Lebensbedingungen sowie seiner subjektiven Sicht und seinen Erfahrungen deutlich, in welchen es zu biographischen Krisen kommen kann, in denen die Gestaltungsgrenzen für Individuen sichtbar werden. Alheit beschreibt diese Situation mit dem Gefühl, eine Situation wachse einem über den Kopf. Im Kontext dieser herausfordernden Situation ist es notwendig, dass das Leben im Rahmen der strukturellen Grenzen neu ausgelegt werde. In diesem Zusammenhang wird der Begriff Biographizität geprägt. Durch Biographizität werde es für ein Individuum möglich, mit Krisen umzugehen und diese zu bewältigen (vgl. Alheit 2010, 229 ff.). Im Zusammenhang mit dem hier dargestellten Lebensweltkonzept kann eine biographische Krise auf eine Reibung der inneren und äußeren Lebenswelt hindeuten, die dadurch entsteht, dass die neue Lebenswelt durch zunächst unbekannte Ziele, Werte, Regeln, Gewohnheiten und Routinen gekennzeichnet ist. Nach Bron & Thunberg (2017) existieren in biographischen Verläufen Phasen des „Floatings“ und Phasen des „Anchorings“. Mit „Floating“ beziehen die Autorinnen sich auf Phasen, in denen die Personen das Gefühl haben, fehl am Platz zu sein, in denen die eigene Identität und die aktuelle Situation nicht im Einklang miteinander stehen. Gewissermaßen handelt es sich um eine Diskrepanz zwischen der äußeren und der inneren Lebenswelt. Es kann sich ein Gefühl der Hilflosigkeit einstellen, in welchem die eigene Situation und die Umstände weder steuer- noch veränderbar erscheinen. Der Begriff „Anchoring“ beschreibt hingegen ein Gefühl des Ankommens. Die innere und die äußere Lebenswelt werden als vereinbar wahrgenommen, die Person entwickelt sich weiter und kommt in der neuen Lebenswelt zurecht.

3 Biographische (Um-)Orientierungen und Lebensweltbezüge in Fallstudien

Auch wenn das vollständige Erschließen und Verstehen fremder Lebenswelten nur bedingt möglich ist, so können narrativ-biographische Forschungsansätze Sinnzusammenhänge von äußerer und innerer Lebenswelt, von subjektiven Entscheidungsprozessen und ihren Rahmenbedingungen genauer beleuchten. Die im Folgenden aufgearbeiteten Fallstudien basieren auf biographischen Interviews mit fortgeschrittenen Studierenden, die vor ihrem Lehramtsstudium eine Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf absolviert haben[2]. Die Fallauswahl erfolgte auf Basis einer „theorie- und erfahrungsgeleitete[n] Suchstrategie“ (Nohl 2013: 54). Die Interviews wurden anhand von formulierenden und reflektierenden Interpretationen im Sinne der Dokumentarischen Methode aufgearbeitet (vgl. Bohnsack 2014; Nohl 2012, 40 ff.). Im Rahmen dokumentarischer Forschung steht die Rekonstruktion von implizitem Wissen und korrespondierenden Handlungspraktiken im Fokus. Dabei ist nicht entscheidend, „ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierungen dokumentiert“ (Bohnsack 2014: 65, Hervorhebung im Original). Die Auswertung mit der dokumentarischen Methode zeichnet sich durch eine komparativ-analytische Vorgehensweise aus (Bohnsack 2010, 47; Nohl 2012, 7; Nohl 2007). Erst im Fallvergleich, so die These, offenbaren sich minimale und maximale Kontraste in den handlungsleitenden Orientierungen der befragten Akteure.

3.1   (Um-)Orientierungen in Bildung und Beruf: Zeitlichkeit und Beweggründe

Bei den vier ausgewählten Fällen handelt es sich um biographische Erzählungen von fortgeschrittenen Studierenden im Masterstudiengang. Sie haben gemeinsam, dass sie weiblich sind, einen Gesundheitsfachberuf im Rahmen einer dreijährigen Ausbildung erlernt haben und zu dem Zeitpunkt der Interviews kurz vor dem Erwerb ihres Studienabschlusses stehen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer schulischen und beruflichen Laufbahn sowie hinsichtlich des erlernten Ausbildungsberufs. In zwei Fällen wurde eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten absolviert, im dritten Fall eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege und im vierten Fall eine Physiotherapie-Ausbildung. Wie eingangs formuliert liegt der Fokus der Analysen auf dem Wann? und auf dem Warum? der Entscheidung, den erlernten Ausbildungsberuf zu verlassen und sich durch ein Studium weiter zu qualifizieren.

3.1.1 Fallstudie 1: Jana[3]

Jana wechselt nach dem Realschulabschluss auf ein Gymnasium. Sie beschreibt sich selbst als Erste in ihrer Familie, die eine höhere Schulbildung absolviert. Nach dem ersten Jahr auf der gymnasialen Oberstufe realisiert sie, dass es gravierende Unterschiede zwischen der Realschule und dem Gymnasium gibt: „Da war das halt auch schon so ein krasser Unterschied. Da wurde man auch überhaupt nicht unterstützt oder so“ [4]. Janas Noten fallen, wie sie schildert, deutlich schlechter aus als die Leistungen, die sie auf der Realschule erzielt hat. Sie zweifelt daran, gute Noten erzielen zu können und das Gymnasium erfolgreich zu beenden. Dies führt schließlich zu der Entscheidung, die gymnasiale Oberstufe zu verlassen und eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte aufzunehmen. Die Ausbildung gefällt Jana zunächst gut, doch nach etwa der Hälfte der Ausbildungszeit beginnt sie, über Alternativen nachzudenken. Die Ursachen für die Zweifel schildert sie wie folgt: „Da in der Praxis, wo ich gearbeitet habe, war das Arbeitsklima ganz schlecht. Und da war halt eine, die hat mich permanent gemobbt. Und dann konnte ich mir nicht vorstellen, da zu bleiben.“ Weiterhin fügt sie hinzu, dass „man [.] da ja auch nicht so gut aufsteigen [kann] in dem Beruf und ich wollte einfach nicht auf dem Standpunkt bleiben“. Es wird deutlich, dass Janas Zweifel in einem multikausalen Zusammenhang zu sehen sind: Zum einen sind sie konkret auf ein situatives Erleben von sozialer Ausgrenzung im Arbeitsumfeld zurückzuführen, zum anderen deutet sich aber auch eine deutlich ausgeprägte Aufstiegsaspiration an. Die Perspektive, ein Studium aufzunehmen, festigt sich während der Ausbildung: „Die haben in der Berufsschule damals zu uns gesagt, dass die Lehrer suchen [...]. Und dann habe ich gedacht, so ja, das hört sich doch super an.“ Jana besucht im Anschluss an die Ausbildung die Fachoberschule und die Berufsoberschule und holt ihr Abitur nach. Sie beginnt ein Studium, was in ihrem familiären Umfeld auf Unverständnis aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters („‘dann [beim Abschluss] bist du schon fast dreißig!‘“) und der auf sie zukommenden finanziellen Belastung stößt.

3.1.2 Fallstudie 2: Claudia

Claudia macht zunächst einen – wie sie selber definiert – „normalen“ Realschulabschluss und im Anschluss das Abitur „oben drauf“. Ihren Wunsch, Medizin zu studieren kann sie daraufhin nicht realisieren, da ihr Notendurchschnitt nicht ausreicht. Sie beschreibt sich in dieser Phase selbst als „ziemlich orientierungslos“. Ihr Vater nimmt eine zentrale Rolle bei der Entscheidung für die Ausbildung ein: „Mein Vater war relativ alt und da war auch noch so ein bisschen die Schublade, ‚Mädchen, erstmal Ausbildung machen‘– man könnte ja früh schwanger werden und Kinder kriegen und Familie [haben], dann besser die Ausbildung.“ Sie entscheidet sich für eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte. Retrospektiv bewertet sie diese Entscheidung als richtig und begründet dies durch die „Sicherheit“, die ihr der Ausbildungsabschluss vermittelt sowie die „Lebenserfahrung“, die sie in dieser Zeit gewinnen konnte. Auch wenn sich eine akademische Grundorientierung bereits in der Schulzeit abzeichnet, verfestigt sich diese während der Ausbildungszeit. Claudia beschreibt dies wie folgt: „Das zwar nett ist und ich habe das auch gerne gemacht, was ich gemacht habe. Aber wenn ich mir überlegt hätte, ich hätte das für mein Leben gemacht – ich hatte nicht das Gefühl, das fordert mich jetzt so. Das war schon anstrengend, [...] aber ich dachte, da könnte man noch einen draufsetzen.“ Als Claudia sich für die Aufnahme des Studiums entscheidet, erfährt sie Gegenwind durch ihren Vater und weitere männliche Familienmitglieder. Als Gründe für die ablehnende Haltung beschreibt sie die Kosten des Studiums und die (zeitweise) fehlende berufliche Sicherheit. Von ihrer Mutter und ihren Freunden erfährt sie hingegen emotionale Unterstützung. Sie zeigen Claudia gegenüber offen, dass sie stolz auf sie sind.

3.1.3 Fallstudie 3: Anna

Anna kommt mit 14 Jahren nach Deutschland, besucht zunächst eine Sprachförderschule und dann eine Realschule. Sie wechselt nach der 10. Klasse „spontan“ auf ein Gymnasium, „weil ich nicht wusste, was ich machen sollte“. Weiterhin begründet sie ihre Entscheidung: „Also, wenn alle meine Freundinnen dahingehen, dann dachte ich, ich versuche es auch einmal.“ Anna macht ihr Abitur, wenn auch mit einem für sie nicht ganz zufriedenstellenden Notenspiegel und möchte im Anschluss Lehramt studieren. Ein Lehrer bestärkt sie in ihrer Entscheidung. Anna bekommt einen Studienplatz, beginnt das Studium aber nicht: „[ich] bin nicht hingegangen. Also hab mich angemeldet, aber nicht angefangen, weil ich mich noch nicht reif dafür fühlte, weil ich im Sprachlichen noch nicht so weit war.“ Anna nimmt stattdessen eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin auf. Rückblickend beschreibt sie diese Zeit als eine Phase, die sie nicht missen möchte, da sie zu ihrer persönlichen Reifung und Sprachentwicklung beigetragen habe. Während der Ausbildung erlebt sie zwei Phasen, die sie an der Berufswahl zweifeln lassen: Zum einen in der Phase kurz nach Ausbildungsbeginn, in der sie realisiert, welche Aufgaben und Tätigkeiten der Beruf beinhaltet und welche Emotionen dies bei ihr auslöst: „Du wirst mit solchen Gefühlen konfrontiert wie Tod, Trauer, Ekelgefühlen. [...] Diese Distanz zu gewinnen, also das waren die Aspekte, wo ich überlegt habe: ‚Vielleicht ist das nichts für mich?“ Eine weitere Phase des Zweifelns beschreibt Anna nach der Hälfte der Ausbildungszeit. Als Begründung führt sie hier die Zweifel an ihren Kompetenzen an, die sie retrospektiv als „so hohe Ansprüche“ einordnet. Die Entscheidung für ein Studium trifft Anna während der Ausbildung: „Bereits in der Ausbildung wusste ich, dass ich mich auf jeden Fall weiterentwickeln möchte und dass ich studieren möchte. Vorrangig aber auch nicht, um beruflich weiterzukommen. Also, in der Gesundheits- und Krankenpflege gibt es ja vielfältige Möglichkeiten aufzusteigen durch die Weiterbildung. Und ich wollte aber unbedingt an eine Universität, um mich einfach persönlich weiterzubilden.“

3.1.4 Fallstudie 4: Elena

Elena macht ihr Abitur an einem allgemeinbildenden Gymnasium und nimmt im Anschluss ein Französischstudium auf. Elena beschreibt sich selbst als eher „praktisch orientiert“. Ihr ist wichtig, dass sie weiß, wohin sie ein Studium beruflich führen wird. Die Freiheitsgrade und die unsichere Zukunftsperspektive, die das Sprachenstudium mit sich bringt, nimmt Elena für sich als Strukturlosigkeit wahr; sie kann die Inhalte nach einiger Zeit nicht mehr nachvollziehen. In der Konsequenz bricht sie das Studium nach drei Semestern ab. Elena schildert in diesem Zuge den Ärger ihrer Eltern, die „natürlich schon irgendwie erhofft [haben], dass ich studiere“. Zu dieser Zeit ist Elena jedoch der Auffassung, „bloß nie wieder Studium und Uni“. Elena beginnt eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, die ihr sehr gut gefällt und die sie mit Leichtigkeit absolviert: „Das hat mich [...] unwahrscheinlich interessiert. Die Ausbildung lief super. Also das flog mir so zu.“ Nach dem Ausbildungsabschluss arbeitet sie insgesamt vier Jahre als Physiotherapeutin. Nach etwa der Hälfte der Zeit stellt sie jedoch fest, dass die Arbeitsrealität nicht ihren Vorstellungen entspricht, was sie auf die Unverhältnismäßigkeit von Arbeitseinsatz und finanzieller Entlohnung sowie auf die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz zurückführt: „Du rackerst dich hier rund und es kommt nicht viel bei rum. Also es ist ja auch ein Beruf, der nicht so gut bezahlt wird. Ich arbeite gerne, ich arbeite auch gerne viel, aber ich möchte dafür auch entsprechend entlohnt werden. Und das war halt da nicht der Fall.“ Elena schildert weiterhin, dass sie während der Ausbildungszeit und auch im Examen von Mitauszubildenden gefragt wurde, ob sie Sachverhalte noch einmal erklären könne. Für die Art und Weise, wie sie die Dinge erklärt hat, hat sie viel Zuspruch erfahren. Die unbefriedigenden Bedingungen im Beruf „Physiotherapie“ und auch die selbst wahrgenommene und durch Mitauszubildende rückgespiegelte Kompetenz, anschaulich zu erklären, habe sie dazu bewegt, ein Lehramtsstudium aufzunehmen. Nicht zu vernachlässigen seien aber auch die elterlichen Erwartungen gegenüber Elena, einen akademischen Werdegang einzuschlagen, die sich schon beim Abbruch ihres Französischstudiums abzeichnen, aber auch bei der Entscheidung für die Ausbildung in Form von Irritation und Unverständnis äußern. Nachdem Elena dann das Lehramtsstudium aufnimmt, sind die Eltern regelrecht erleichtert und sie erhält von ihnen sowie von ihren Freunden Zuspruch: „Ich wurde doch auch gepusht. Also die haben dann alle so [gesagt]: ‚Oah klasse‘.“

Tabelle 1: Komparative Darstellung der Fälle – Zeitlichkeit und Beweggründe für das Verlassen des Ausbildungsberufs

Analyse-dimensionen

Fall 1: Jana

Fall 2: Claudia

Fall 3: Anna

Fall 4: Elena

Zeitlichkeit der Entscheidung
(Wann?)

Tendenz in der Schulzeit, Entscheidung fällt während der Ausbildung

Tendenz in der Schulzeit, Entscheidung fällt während der Ausbildung

Tendenz in der Schulzeit, Entscheidung fällt während der Ausbildung

Tendenz in der Schulzeit und während der Ausbildung, Entscheidung fällt

im Berufsleben

Explizite Gründe
(Warum?)

Unzufriedenheit und mangelnde Aufstiegs-perspektiven im Ausbildungsberuf

Unzufriedenheit und mangelnde Aufstiegs-perspektiven im Ausbildungsberuf

Interesse an universitärer Bildung und persönlicher Weiterentwicklung bzw. „Reifung“

Unzufriedenheit im Ausbildungsberuf (Arbeitsbedingungen, insb. finanziell)

Implizite Gründe und handlungs-leitende Orientierungen
(Warum?)

Orientierung an Bildungsaufstieg

Orientierung an Bildungsaufstieg

Orientierung an Bildungsaufstieg und lebenslangem Lernen

Orientierung an Statuserhalt (finanziell, sozial)

Zunächst einmal ist im Gesamtüberblick festzuhalten, dass sich das Wann? der Entscheidungsfindung über alle Fälle hinweg weniger als Zeitpunkt, sondern vielmehr als Zeitrahmen bzw. als Prozess rekonstruieren lässt. Biographische Entscheidungen sind demnach in einen zeitlichen Gesamtkontext eingebettet. Akkumulierte Erfahrungen (Vergangenheit), die situativen Rahmenbedingungen (Gegenwart) und antizipierte Perspektiven der Entscheidung (Zukunft) sind hierbei von Bedeutung. Wie ebenfalls ersichtlich wird, lassen sich keine monokausalen Zusammenhänge für die biographischen Entscheidungsprozesse identifizieren. Auch wenn bei Jana, Claudia und Elena das Motiv der ‚Flucht‘ aus dem Gesundheitsfachberuf zumindest ansatzweise ersichtlich wurde, so basiert die Entscheidung für die Aufnahme eines Studiums auf weiteren explizierten sowie implizit rekonstruierbaren Beweggründen. In allen vier Fällen ließen sich handlungsleitende Orientierungen rekonstruieren, die eng mit der sozialen und familiären Herkunft verbunden sind.

Die Ausprägung der familiären Erfahrungen stellt zugleich ein kontrastierendes Merkmal in den Fällen dar. So zeigt sich bei Elena, die aus einer Akademikerfamilie stammt, deutlich, dass das Motiv des finanziellen und beruflichen Statuserhalts auf die Studienentscheidung einwirkt. Die Sorge der Eltern um den bildungsbezogenen und sozialen Abstieg der Tochter wird ersichtlich, als Elena von den Reaktionen der Eltern berichtet, dass sie sich für eine Ausbildung entscheidet. Die Angst der Eltern vor dem Bildungsabstieg der Kinder – oder pointiert formuliert: vor „‚missratenen‘ Söhnen und Töchtern“ (Schmeiser 2003) – wird in Elenas Erzählung ersichtlich. Letztlich handelt sie mit ihrer Rückkehr zur akademischen Laufbahn und der Aufnahme des zweiten Studiums aus elterlicher Sicht erwartungskonform. In der Schilderung von Elenas Jugendphase zeigen sich Ansätze einer experimentell-hedonistischen Lebenswelt (vgl. Calmbach et al. 2016, 120). Konkret wird dies in der Phase des ersten Studiums, das sie in der Konsequenz nach drei Semestern abbricht. Im weiteren Lebensverlauf lassen sich dann konservativ-bürgerliche Handlungsweisen in Anlehnung an die SINUS-Studie (vgl. Calmbach et al. 2016, 49) identifizieren: Mit der Entscheidung für ein Studium orientiert sich Elena an der familiären, akademischen (Bildungs-)Tradition und wählt mit dem Lehramt zudem ein Studium mit klarer und sicherer Berufsperspektive.

In den Fällen von Jana und Claudia, die als Minimalkontrastfälle angesehen werden können, lässt sich eine ausgeprägte Bildungsaspiration und, hiermit verbunden, die Orientierung an sozialen Aufstiegsperspektiven rekonstruieren. Der hohe Stellenwert guter (Schul-)Noten, die gewissermaßen den Aufstieg ermöglichen, kann in beiden Fällen als Indiz für die ausgeprägte Aufstiegsorientierung interpretiert werden. Durch die Aufnahme des Studiums und den Wechsel in eine Lebenswelt, die aus familiärer Sicht ‚fremd‘ ist, entfernen sich Jana und Claudia von ihrem Herkunftsmilieu. Ausdruck für die Entfernung ist wechselseitiges Unverständnis, was sich insbesondere bei der Entscheidung für ein Studium dokumentiert. Gleichermaßen erfahren Jana und Claudia jedoch teilweise Zuspruch und Anerkennung für die Entscheidung, insbesondere zu einem späteren Zeitpunkt des Studiums, was wiederum auf die familiäre Bildungsaspiration schließen lässt. Analog zur Typisierung von Calmbach et al. lassen sich in der Jugendzeit von Jana und Claudia Züge einer adaptiv-pragmatischen Lebenswelt rekonstruieren. Besonders deutlich wird dies in der ausgeprägten Leistungs- und Familienorientierung.

Analog zu den Fällen von Jana und Claudia ließ sich auch bei Anna eine Aufstiegsorientierung rekonstruieren, die jedoch weniger durch den Aspekt des sozialen Aufstiegs, sondern stärker durch persönliche Entwicklungsperspektiven konnotiert ist. Hier gilt jedoch zu bedenken, dass Anna – im Gegensatz zu Jana und Claudia – eigene Migrationserfahrungen aufweist, später ins deutsche Schulsystem eingemündet ist und sprachliche Schwierigkeiten beschreibt. Bei dem Wechsel nach Deutschland handelt es sich um einen biographischen Umbruch, der mit einer Veränderung der äußeren Lebenswelt einhergeht. Dass diese Erfahrung Anna auch auf ihrem weiteren Bildungsweg prägt, zeigt sich in ihrer expliziten Darstellung sowie implizit durch ihre Entscheidungs- und Handlungspraxis. In Annas Fall ist eine Typisierung der Jugendphase in Anlehnung an die Lebenswelten Jugendlicher in der SINUS-Studie (Calmbach et al. 2016) weniger eindeutig als in den anderen Fällen. Es zeigt sich zwar, analog zu Jana und Claudia, eine Leistungs- und Aufstiegsorientierung, die auf eine adaptiv-pragmatische Orientierung schließen lässt. Annas Jugendphase weist jedoch die Besonderheit auf, dass sie mit 14 Jahren durch die Migration ‚unterbrochen‘ wird. Ihre äußere Lebenswelt hat sich nicht nur auf institutioneller Ebene abrupt verändert, sondern auch in gesamtgesellschaftlicher und kultureller Hinsicht, was eine enorme Anpassungsleistung erfordert. Vermutlich hat Anna darüber hinaus ihr bis dato vorhandenes soziales Umfeld verloren und musste sich auch in dieser Hinsicht neu orientieren. Dass die biographische Erfahrung der Migration eine einschneidende Erfahrung in der Jugendzeit darstellt, zeigt sich auch in der retrospektiven Schilderung des Bildungs- und Berufswegs: Annas Bildungsentscheidungen werden maßgeblich direkt (Sprachprobleme) oder indirekt (persönliche Reifung) mit der Migrationserfahrung verknüpft.

Wie anhand der vier Fallstudien ersichtlich wird, ist die Typisierung der Fälle in Anlehnung an Calmbach et al. (2016) nur bedingt bzw. in Tendenzen möglich. Dies könnte auf die fehlende Trennschärfe in der Lebenswelt-Typologie zurückzuführen sein, die bereits von Thomas (vgl. 2016, 29) kritisiert wurde. Darüber hinaus sind methodische Einschränkungen zu konstatieren: Im Kontext dokumentarischer Forschung führen die formulierenden und reflektierenden Interpretationen idealerweise und bei Vorhandensein von ausreichend Kontrastfällen zu einer sinn- und soziogenetischen Typologie (vgl. hierzu z. B. Grunau 2017). Ansätze einer Typenbildung zeigen sich bei den analysierten Fällen insbesondere bei Jana und Claudia (Typ I) im Kontrast zu Elena (Typ II). Zur Ausdifferenzierung einer Typologie wäre jedoch die Hinzunahme weiterer minimaler und maximaler Kontrastfälle erforderlich.

3.2  Wechsel zwischen Lebenswelten: Floating und Anchoring

Anhand der Fallstudien wurde deutlich, dass bildungs- und berufsbiographische Entscheidungen komplexe Prozesse sind. Die handelnden Subjekte sind in jeder Lebensphase – so zeigen die biographischen Analysen – in einem gesamtsystemischen und lebensweltlichen Kontext verankert. Biographische Erfahrungen und Entscheidungen sind demnach nicht als rein subjektiv und rational zu betrachten, sondern stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der äußeren Lebenswelt. Nach Kremer & Sloane (2014, 5) sowie Schulze (2015) stellen Bildungsinstitutionen äußere Lebenswelten her (s. Kapitel 2). Mit ihnen verbunden sind bestimmte Ziele, formelle und informelle Regeln, Anforderungen und Konventionen. Auch das Arbeitsumfeld lässt sich analog zu den Bildungseinrichtungen als äußere Lebenswelt umschreiben, in der explizite und implizite Werte und Normen existieren.

Wie in allen Falleispielen ersichtlich wird, treten im Verlauf des Lebens immer wieder Phasen auf, in denen die Anforderungen der äußeren Lebenswelt und die persönlichen Vorstellungen und Werte als nicht zueinander passend wahrgenommen werden. So zeigt sich z. B. im Fall von Jana, dass ihre erzielten Noten an der gymnasialen Oberstufe nicht ihrem Erwartungsbild entsprechen und sie als Folge von Selbstzweifeln den Entschluss fasst, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Ebenso zeigt sich bei Anna eine Diskrepanz zwischen ihren eigenen Vorstellungen und Werten und der äußeren Lebenswelt. So realisiert sie beispielsweise während der Ausbildung, dass sie sich in ihrem Arbeitsumfeld in der Gesundheits- und Krankenpflege nur bedingt weiterentwickeln kann und der akademische Werdegang eher ihren persönlichen Vorstellungen entspricht.

Auch Elena durchläuft verschiedene biographische Stationen bzw. äußere Lebenswelten, in denen sich ein mehr oder weniger deutliches Gefühl, fehl am Platz zu sein, offenbart: Zunächst ist es die Struktur- und Haltlosigkeit im Französischstudium, die zu einem bewussten Wechsel der äußeren Lebenswelt führt. In der Ausbildung offenbart sich, dass Elenas Familie den Weg über die berufliche Bildung nicht vollends unterstützt. Elenas inhaltliches Interesse überwiegt und sie setzt die Ausbildung fort. Der Übergang in den Beruf verläuft zunächst reibungslos, bis Elena realisiert, dass die Arbeitsbedingungen nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Mit der Aufnahme des Studiums gelingt es Elena, ihre persönlichen Vorstellungen, ihre Vorerfahrungen und Kompetenz mit den elterlichen Erwartungen zu vereinbaren. Sie bringt auf diese Weise ihre innere und äußere Lebenswelt in Einklang. Die von Bron & Thunberg (vgl. 2017, s. auch Kapitel 2) beschriebenen Phasen des Floatings und Anchorings in Biographien lassen sich in Elenas Beispiel rekonstruieren: Zwischen dem Schulabschluss und der Aufnahme des zweiten Studiums treten immer wieder Phasen des Treibens bzw. des Floatings auf. Mit der Aufnahme des zweiten Studiums stellt sich dann bei Elena ein Gefühl des Ankommens und der Zugehörigkeit im Sinne des Anchorings ein (s. Abbildung 2).

Abbildung 2: Biographische Phasen und Lebensweltbezüge am Beispiel des Falles "Elena“. Darstellung in Anlehnung an Bron & Thunberg (2017,121)Abbildung 2: Biographische Phasen und Lebensweltbezüge am Beispiel des Falles "Elena“. Darstellung in Anlehnung an Bron & Thunberg (2017,121)

4 Diskussion

Die eingangs formulierte Frage, die auf biographische Umorientierungen von Jugendlichen abzielte, bedarf an dieser Stelle einer Reflexion. Versteht man „umorientieren“ als „neu-“ oder „andersorientieren“, dann ist die Bezeichnung für die bildungs- und berufsbiographischen Prozesse, die im Rahmen der vier Fallstudien rekonstruiert wurden, zu ungenau. Es handelt sich in keinem der vier Fälle um ein situatives Umentscheiden oder das Einschlagen eines gänzlich neuen Weges. Die Entscheidung, den Ausbildungsberuf zu verlassen und ein Studium aufzunehmen, ist vielmehr ein Resultat aus verschiedenen Beweggründen sowie einer grundlegenden Orientierung an höherer bzw. akademischer Bildung als Perspektive des Aufstiegs oder des Statuserhalts. Diese grundlegenden Orientierungen sind stabile, habituell bedingte Denk- und Handlungsmuster, die sich in der gesamten Biographie – in innerer und äußerer Lebenswelt – manifestieren. Die Orientierung an akademischen Bildungsverläufen ist wiederum in den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungskontext der Bildungsexpansion einzuordnen. Kinder aus akademischen Familien finden durch die (Wieder-)Aufnahme des Studiums einen Weg zurück in die alte Ordnung der Familie und entsprechen dem gesamtgesellschaftlichen Trend, einen akademischen Bildungsabschluss zu erwerben. Kinder aus nicht-akademischen Familien ergreifen die Chance zur höheren Bildung, die sich ihnen durch die Bildungsexpansion eröffnet, und werden ebenso einer gesamtgesellschaftlichen Erwartungshaltung gerecht, müssen dafür allerdings in der Regel größere Anstrengungen unternehmen.

Biographische Forschungszugänge können, so wurde in den Fallstudien ersichtlich, einen Beitrag dazu leisten, innere und äußere Lebenswelten zu rekonstruieren. Dabei erscheint die Setzung in innere und äußere Lebenswelt bei dem umfangreichen Diskurs um Lebenswelten als komplexitätsreduzierende Darstellung. Lebenswelten von Individuen sind komplex, vielschichtig und wenig trennscharf. Dennoch liegt der Kern darin, dass eine Vielzahl von individuellen, familiären aber auch institutionellen Einflüssen auf das Subjekt einwirken. Auch biographische Erzählungen sind – und das gilt es weiterhin zu bedenken – ein gegenwärtiger, retrospektiver Blick auf die eigene Geschichte. Dieser Blick ist durch vergangene, aber auch durch aktuelle und antizipierte, künftige (Lebenswelt-)Einflüsse geprägt und veränderbar. So sind z. B. Erzählungen über die Ausbildungszeit in allen vier Fallstudien Schilderungen aus der Sicht von Studierenden, was wiederum die Darstellung der Geschichten beeinflusst. Zudem wurde in allen vier Fällen der Wunsch nach einem Abschluss der Geschichte im Sinne eines „Gestaltschließungszwangs“ (Nohl 2012, 25) ersichtlich: Mit dem (fast vollendeten) Studium wird die bisherige Lebensgeschichte vorläufig, aber sinnvoll geschlossen. Alles Vorherige fügt sich im Lichte der aktuellen Situation. Die Frage, ob z. B. nach Studienabschluss und Eintritt in das Berufsleben der berufliche und bildungsbezogene ‚Zielzustand‘ erreicht ist, bleibt offen. Herausgestellt werden konnten aber grundlegende, handlungsleitende Orientierungen der Studierenden, die sich nicht nur in einzelnen Phasen der Biographie, sondern durchgängig im biographischen Verlauf zeigten. Diese Orientierungen sind, wie zuvor beschrieben, eng mit der familiären Lebenswelt verbunden.

Die in der Einleitung angedeutete Diskussion um den Fachkräftebedarf in Gesundheitsfachberufen ist mitunter mit der Frage verknüpft, warum Menschen sich entscheiden, den erlernten Beruf zu verlassen und andere Wege einschlagen. Die Frage lässt sich im Rahmen dieses Beitrags nicht abschließend beantworten, da die methodische Herangehensweise dies nicht zulässt. So bietet z. B. das Fokussieren auf Einzelfälle, die bereits vor oder während der Ausbildung ein Studium als Anschlussperspektive im Blick hatten und zum Zeitpunkt der Befragung kurz vor dem Studienabschluss standen, nur einen eingeschränkten Blick auf mögliche Berufsaussteigerinnen und -aussteiger. Es liegt die Vermutung nahe, dass denjenigen, die ohnehin einen akademischen Werdegang anvisieren, der Ausstieg aus dem Gesundheitsfachberuf leichter fällt als denjenigen, die keine attraktive Alternative haben oder sehen. Im Ergebnis lässt sich aber festhalten, dass die Aussage, unattraktive Bedingungen im Arbeitsumfeld führten zu einem Berufsausstieg, häufig berufspolitisch motiviert ist, die Problematik aber nur in einer systemimmanenten Dimension erfasst. Begründungszusammenhänge für bildungsbezogene und berufliche Orientierungen im Lebensverlauf sind in der Regel komplex, mehrschichtig und systemübergreifend, wie auch anhand der Fallstudien ersichtlich wurde.

Der Zusammenhang zwischen handlungsleitenden Orientierungen und familiärem Umfeld ist vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Anforderungen kaum verwunderlich: Die Jugendphase ist in der heutigen Zeit maßgeblich durch die Individualisierung von Lebensverläufen gekennzeichnet und der einzelne Mensch ist im Vergleich zu früheren Epochen weniger kulturell, religiös oder regional gebunden (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2016, 17 ff.). Gerade die Pluralisierung von Lebensverläufen, die zahlreichen Möglichkeiten, die sich auf dem Bildungs- und Berufsweg eröffnen, die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, stellen Jugendliche vor große Herausforderungen. Die Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Bildungs- und Berufswegs ist enorm, so dass nahestehende Orientierungsfiguren, so z. B. die eigene Familie, eine zentrale Stellung einnehmen.

5 Schlussbemerkung

Die Unwägbarkeiten des offenen Meers veranlassten Pi Patel, seinen ‚inneren Tiger‘ zu zähmen, sich mit seiner inneren Lebenswelt auseinanderzusetzen. Auf diese Weise konnte er die Anforderungen bewältigen, die die fremde und unsichere äußere Lebenswelt an ihn stellte. Wenn auch unter großer Anstrengung erreichte Pi letztendlich das rettende Ufer. Das ist eine enorme Leistung, die jedoch erst in Gänze bewusst wird, als Pi seine Geschichte in der Retrospektive erzählt...

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[1] Bei den Jugendlichen handelt es sich um eine Personengruppe, die sich in einer bestimmten biographischen Phase, der Jugendphase, befindet. In der Shell-Jugendstudie umfasst der Begriff „Jugend“ die Altersspanne von 12 bis 25 Jahren (vgl. Albert et al. 2019, 33). In der Definition der UNO werden die 15- bis 24-Jährigen als Jugendliche definiert (vgl. UN o. J.). In der SINUS-Jugendstudie werden hingegen nur die 14-  bis 17-Jährigen in den Blick genommen (vgl. Calmbach et al. 2016). Charakteristisch für die Jugendphase sind die Pubertät, das Ende der Schulzeit, der Beginn der Berufsausbildung und/oder des Studiums und hiermit einhergehend das Loslösen vom Elternhaus und die Persönlichkeitsentwicklung. Letztere unterliege inneren und äußeren Einflüssen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2016, 53 ff.).

[2]    Die Interviews wurden im Kontext einer Promotionsstudie in den Jahren 2014 und 2015 erhoben, die unter dem Titel „Habitus und Studium“ (Grunau 2017) veröffentlicht wurde. Für diesen Beitrag wurden zusätzliche Auswertungen und Interpretationen der erhobenen Daten vorgenommen (Sekundärauswertung).

[3] Bei den gewählten Namen handelt es sich um Pseudonyme.

[4] Die Textstellen aus den Interviews wurden geglättet und an die Schriftsprache angepasst.

Zitieren des Beitrags

Grunau, J./Sachse, L. (2020): Berufsausstieg oder Bildungsaufstieg? Biographische Orientierungen und Lebensweltbezüge von Studierenden mit Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-20. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe38/grunau_sachse_bwpat38.pdf (24.06.2020).