bwp@ 38 - Juni 20

Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane

Aushandlungsprozesse über Freiheiten und Grenzen im selbstregulierten Lernen. Erwartungen und Handlungsmuster bei Schüler*innen und Lehrpersonen im Übergangssystem

Beitrag von Desiree Daniel
bwp@-Format: Forschungsbeiträge
Schlüsselwörter: Übergangssystem, selbstreguliertes Lernen, Geschlecht/Gender, DBR

Im Rahmen dieses Beitrags wird die Umsetzung eines spezifischen Konzepts des selbstregulierten Lernens in den Bildungsgängen des Übergangssystems an einem Berufskolleg in NRW beschrieben. Über die Neugestaltung des Unterrichts sollte Schule als Lebenswelt für die Jugendlichen an Bedeutung gewinnen und die Aneignung berufsrelevanter Kompetenzen besser als zuvor ermöglicht werden. In der Erprobungsphase traten jedoch vermehrt Unterrichtsstörungen und Regelbrüche auf, die aus Sicht der Lehrpersonen von einer Gruppe von Jungen verursacht wurden. Im Mittelpunkt der vorliegenden Betrachtung stehen die Reaktionen der Lehrpersonen auf diese Unterrichtsstörungen. Die von ihnen entwickelten Maßnahmen zur Reduzierung des Störverhaltens werden in ihrem Entwicklungsprozess dargelegt. Zudem wird der vermutete Geschlechterzusammenhang untersucht. Videoaufnahmen des Unterrichts bestätigten geschlechtsspezifische Muster der Unterrichtsstörung, verdeutlichten aber gleichzeitig, dass sich neben vereinzelten Jungen auch einige Mädchen nicht an die Vorgaben des Lernkonzepts hielten. Diese Beobachtungen werden im vorliegenden Beitrag geschlechtertheoretisch eingeordnet und diskutiert.

Negotiating liberties and boundaries in self-regulated learning. Germany’s transition system in vocational education: How teachers and students behave and what they expect

English Abstract

Within this paper, the implementation of a specific concept on self-regulated learning at a vocational school in Germany will be described. The new concept was intended to create the school environment as a more significant lifeworld for the students and to better enable them for professional requirements. During pilot stage, activities contravening classroom rules and class interruptions became more and more frequent. Teachers assumed the troubles in class were caused by a group of boys. In the present article, the teachers’ reactions on classroom interruptions as well as measures implemented to reduce those interruptions are documented. Furthermore, the gender-relation on that issue is investigated. Video recordings on classroom interaction provided evidence for gender-specific action patterns. However, both a few boy and girls showed subversive behavior. The relation to gender will be discussed by drawing on gender theory. 

1 Einleitung

Die Gestaltung von Unterricht im Übergangssystem stellt aufgrund der zielgruppenspezifischen Lernvoraussetzungen oft eine besondere Herausforderung dar. Viele der in das Übergangssystem einmündenden Jugendlichen sind schulmüde und stehen klassischen Unterrichtskonzepten ablehnend gegenüber (vgl. Frehe 2015, 30-33; Baethge/Baethge-Kinsky 2012, 5ff.). Vor diesem Hintergrund haben im Rahmen des Projekts NeGeL (Neugestaltung von Lernprozessen an Berufskollegs) drei Berufskollegs in einem Zeitraum von fünf Jahren intensiv daran gearbeitet, neue Lernumgebungen für die Bildungsgänge des Übergangssystems zu gestalten, um den Jugendlichen einen alternativen Zugang zu Bildung zu schaffen. Eine zentrale Herausforderung bei der Entwicklung und Umsetzung dieser neuen Unterrichtskonzepte war die Berücksichtigung der subjektiven Erfahrungen und Handlungsmuster der Jugendlichen, die diese einerseits aus ihren bisherigen Bildungsverläufen und andererseits aus ihren alltäglichen außerschulischen Lebenswelten in den Unterricht im Übergangssystem mitbringen und die sich teils deutlich vom Erwartungs- und Erfahrungsraum der Lehrkräfte unterscheiden. Über die wissenschaftliche Begleitung des Entwicklungsprozesses der drei Schulen bei der Neugestaltung ihrer Lernumgebungen konnten mithilfe des Design-based Research-Ansatzes über verschiedene methodische Forschungszugänge (z. B. Unterrichtsbeobachtungen, Videografie) Erkenntnisse darüber gewonnen werden, an welchen Stellen mögliche Passungsprobleme zwischen den unterschiedlichen Handlungsmustern und Erwartungen von Lehrkräften und Lernenden des Übergangssystems bestehen.

Im Rahmen dieses Beitrags wird der Fokus auf die Vorstellung der Forschungsergebnisse in Bezug auf eine der drei Projektschulen gelegt, die eine spezielle Form des selbstregulierten[1] Unterrichts im Übergangssystem etabliert hat. Dabei sind Freiräume für die Lernenden entstanden, die einige Schüler*innen (SuS) eigenwillig interpretiert und für sich genutzt haben, sodass der Unterricht gestört wurde. Insbesondere das Verhalten einiger Jungen führte zu Irritationen auf Seiten der Lehrpersonen und zu der Überlegung, das Lernkonzept weiterzuentwickeln. Der vorliegende Beitrag untersucht den Zusammenhang zwischen der Einführung des selbstorganisierten Lernens (SOL) und dem Auftreten von Unterrichtsstörungen und geht dabei zwei Fragen nach:

  • Inwiefern liegt eine Gender-Problematik vor?
  • Wie lässt sich das Problem der Unterrichtsstörungen in diesem Kontext erklären und lösen?

Ziel ist es, das Handeln der schulischen Akteure in diesem speziellen Kontext nachzuzeichnen und ihre (Re-)Aktionen einzuordnen.

Im Folgenden werden zunächst ausgewählte, in der Literatur ausgewiesene Charakteristika der schulischen Lebenswelt Übergangssystem thematisiert, um grundlegende Rahmenbedingungen des in diesem Beitrag fokussierten Fallbeispiels zu verdeutlichten (vgl. Kap. 2). Die Einordnung und Darstellung des Fallbeispiels erfolgt daran anschließend in Kapitel 3. Nach einer Skizzierung der fallspezifischen Rahmenbedingungen und Erläuterung des Forschungsansatzes wird hier der Prozess der Identifikation, -einordnung und -lösung der Problematik des Auftretens von Unterrichtsstörungen mit der Einführung des SOL-Konzepts dokumentiert. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Interpretation der Lehrkräfte und ihrem Handeln, das anfangs vor allem auf die als problematisch eingestufte Jungengruppe ausgerichtet war und sich dann weiter ausdifferenzierte. In Kapitel 4 werden mit Bezug zu Projektdiskussionen und unter Rückgriff auf Theorien weitere Erklärungs- und Lösungsansätze für die fallspezifischen Beobachtungen aufgezeigt. Dabei werden zwei Schwerpunkte gelegt: Zuerst wird auf die Erweiterung des Lernkonzepts im Sinne der Förderung des selbstregulierten Lernens (vgl. Kap. 4.1) und dann auf die Einordnung der beobachteten geschlechtsspezifischen Handlungsmuster im Unterricht (vgl. Kap. 4.2) eingegangen. Den Abschluss des Beitrags bildet ein Fazit (vgl. Kap. 5), das die dargestellten Überlegungen zusammenführt, das Vorgehen kritisch reflektiert und Desiderata ausweist.    

2 Das Übergangssystem als Lebenswelt für Lehrende und Lernende

Im Rahmen des Projektes NeGeL war die Neugestaltung von Lernumgebungen im Sinne des selbstregulierten Lernens in den Bildungsgängen des Übergangssystems zur Verbesserung der individuellen Förderung und Berufsvorbereitung der SuS das primäre Ziel. Die Gestaltungsbemühungen waren insofern darauf ausgerichtet, den Unterricht mehr an den Voraussetzungen und Bedarfen der Lernenden zu orientieren und gleichzeitig ihre Chancen auf einen erfolgreichen Übergang in eine qualifizierte Berufsausbildung zu erhöhen. Die Berücksichtigung der zielgruppenspezifischen Besonderheiten erfordert im Rahmen des schulischen Kontextes im Allgemeinen und im Kontext des Übergangssystems im Speziellen ein Austarieren teils sehr unterschiedlicher Erwartungen und Motive. Eine erste theoretische Annäherung hinsichtlich dieser Merkmale erfolgt in den nachfolgenden beiden Unterkapiteln. Nach der Aufarbeitung grundlegender Annahmen hinsichtlich der schulischen Lebenswelt(en) als zu gestaltendem Raum in Unterkapitel 2.1, werden in Unterkapitel 2.2 einige Spezifika des Übergangssystems beschrieben. . Damit wird der Kontext des Fallbeispiels, das in den nachfolgenden Kapiteln aufgearbeitet wird, hier zunächst theoretisch exploriert. Da Geschlechterunterschiede im Fall von Bedeutung waren, werden sie im Folgenden – sofern in der Literatur als relevant erachtet – ebenfalls ausgewiesen.  

2.1 Das Verhältnis von Schule und Lebenswelt

Die zuvor skizzierten Projektbestrebungen lassen sich aus einer lebensweltorientierten Perspektive reformulieren als der Versuch, die Lebenswelt Schule (konkret: ausgewählte Bildungsgänge des Übergangssystems) (1) lernerfreundlich(er) zu gestalten und sie gleichzeitig (2) relevant(er) für andere Lebenswelten (insbesondere das Ausbildungs- und Beschäftigungssystem) zu machen. Damit werden zwei Perspektiven lebensweltorientierter Forschung aufgegriffen: Die lebensweltlichen Relevanz von Schule und die Bedeutung von Schule als eigenständiger Lebenswelt (vgl. Gunder 2001, 16 ff.). Diese Perspektiven werden in den nächsten beiden Abschnitten dargestellt.

2.1.1 Die lebensweltliche Relevanz von Schule

Schulische Bildung dient u. a. dazu, Kinder und Jugendlichen über die Vermittlung von Kompetenzen auf die Partizipation an erwachsenen Lebenswelten vorzubereiten und einen erfolgreichen Übergang in diese zu ermöglichen. So bestehen zentrale Ziele von Schule darin, zur Persönlichkeitsentwicklung der SuS beizutragen, ihre gesellschaftliche Integration zu ermöglichen und sie für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu qualifizieren (vgl. Binder/Osterwalder 2011, 56ff.; Sloane/Twardy/Buschfeld 2004, 29ff.). Damit übernimmt Schule eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Für die einzelnen SuS ist dabei entscheidend, welchen (erwarteten) Nutzen ihnen der Schulbesuch vor dem Hintergrund ihrer individuellen Voraussetzungen, Lebenssituation und Pläne stiftet. Gemeinsam mit anderen Faktoren wirkt sich die aus dieser Einschätzung resultierende subjektive Relevanz von Schule auf die Lernhaltung der SuS und ihr Engagement im Unterricht aus, sodass diese bei der Gestaltung von Lernumgebungen berücksichtigt werden sollten.

Beispielsweise nehmen Jugendliche an Haupt- und Realschulen wahr, dass sie mit ihrem angestrebten bzw. erlangten Abschluss inzwischen kaum Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben. Besonders betroffen hiervon sind männliche Jugendliche, da sie sich in höherer Zahl als weibliche Jugendliche an diesen Schulformen befinden (vgl. Baethge/Solga/Wieck 2007, 45; Quenzel 2010, 128). Die Perspektivlosigkeit in Hinblick auf eine berufliche Anstellung beeinflusst das schulische Engagement der SuS in vielen Fällen negativ (vgl. Reinert/ Heyder 1983, 39; Wellgraf 2012). Bei SuS mit diesem Hintergrund kann es insofern notwendig sein, motivierende Unterrichtselemente zu integrieren und die Sinnhaftigkeit der Bildungs- und Lernaktivitäten aufzuzeigen.   

Neben der beruflichen Perspektive sind auch andere Einflussfaktoren außerschulischer Lebenswelten für die Unterrichtsgestaltung relevant. Während des Schulbesuchs agieren die SuS nicht nur in der schulischen Lebenswelt, sondern auch in anderen Lebenswelten wie der Familie oder der Peer-Group, die das Verhalten der SuS in der Schule direkt oder indirekt bedingen, zum Beispiel, indem sie Einfluss auf die Haltung der SuS gegenüber der Schule und auf ihr schulisches Engagement nehmen. Auf diese Weise können außerschulische Lebenswelten schulische Lernaktivitäten sowohl beschränken als auch ermöglichen.

Eine Förderung von schulischem Lernen durch das außerschulische Umfeld kann in Form von Bekräftigung für Lernengagement, Belohnung für schulische Erfolgserlebnisse, Interesse an schulischen Themen, gemeinsamem Lernen und Üben o. ä. erfolgen. Schon eine positive Grundhaltung gegenüber Schule wirkt i. d. R. unterstützend. Demgegenüber hat es tendenziell negative Effekte, wenn sich bedeutsame außerschulische Lebenswelten der Lernenden negativ gegenüber Schule positionieren. Die Peer-Group hat in diesem Zusammenhang beispielsweise einen großen Einfluss (vgl. Breidenstein 2008, 945ff.). Jugendliche Peer-Groups stellen „eigensinnige soziale Welt[en]“ (Helsper/Böhme 2002, 588) mit spezifischen Regeln dar, die sich in Teilen als Gegenwelt zu Schule und schulischen Anforderungen konstituieren (vgl. Aktan/Hippmann/Meuser 2015, 13; Breidenstein 2008, 946ff). Eine solche Ablehnung von Schule und schulischem Lernen ist insbesondere bei männlichen Peer-Groups zu beobachten, die dies als Teil männlicher Inszenierungspraktiken ansehen und Anerkennung innerhalb der Jungengruppe erhalten, wenn sie sich von den fleißigen Mädchen abgrenzen (vgl. Lupatsch & Hadjar 2011, 197; Aktan/Hippmann/Meuser 2015, 14). Hier stellt sich die Frage, wie eine solche Ablehnungshaltung konstruktiv im Unterricht aufgenommen und in der Form gewendet werden kann, dass Lernen möglich wird.      

2.1.2 Schule als eigenständige Lebenswelt

Aufgrund ihrer spezifischen Merkmale, die sie von anderen Lebenswelten unterscheidet, ist Schule auch als eigenständige Lebenswelt anzusehen (vgl. Gunder 2001, 16; Thiersch 2012, 146ff.). „Sie zeigt eine charakteristische Ökonomie, ihre eigene Logik, eine eigene Verwaltung und eine ganz bestimmte Ökologie der Lebensbedürfnisse“ (ebd.). Mit dem Eintritt in die Schule müssen sich SuS und Lehrpersonen mit den besonderen Handlungslogiken und Regeln der Organisation vertraut machen und sich ihnen (zumindest bis zu einem bestimmten Grad) anpassen (vgl. Zinnecker 2001, 249; Thiersch 2012, 146ff.). Individuelle Charakterzüge sowie Habitus, Interessen und Kompetenzen, die durch die bisherige Lebensbiografie gezeichnet sind, gilt es nun, um schulisch erfolgreich zu sein, so zu aktualisieren, dass sie dem Idealmodell der Lehrkraft oder dem des Schülers bzw. der Schülerin vor dem Hintergrund der jeweiligen Schulkultur bestmöglich entsprechen (vgl. Friebertshäuser 2005, 104). Allerdings besteht ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen schulischen Anforderungen und den in vielen jugendlichen Peer-Groups üblichen Verhaltensweisen und -normen, welches den individuellen Anpassungsprozess erschweren oder sogar verhindern kann (vgl. Aktan/Hippmann/Meuser 2015, 13; Breidenstein 2008, 946ff). Es wird davon ausgegangen, dass sich Schule an einem Mittelschicht-Habitus orientiert und insofern die geringsten Passungsprobleme zwischen schulischen Anforderungen und den Verhaltensweisen von Mittelschicht-Kindern bestehen, während Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern i. d. R. große Differenzen zwischen den schulischen Anforderungen und ihrem milieuspezifischen Habitus überwinden müssen (vgl. Aktan/Hippmann/Meuser 2015, 12-13).

2.2 Das berufsschulische Übergangssystem

Die Bildungsgänge des Übergangssystems, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird, befinden sich an Berufskollegs, einer speziellen Schulform in NRW, die sowohl berufliche Bildung vermittelt als auch den Erwerb allgemeinbildender Abschlüsse ermöglicht. Als Schulen gilt für Berufskollegs das in Unterkapitel 2.1 dargestellte lebensweltliche Verhältnis. Gerade das Übergangssystem weist in seiner inneren Struktur und der Bedeutung für andere Lebenswelten jedoch einige Besonderheiten auf, die in diesem Unterkapitel beschrieben werden.

2.2.1 Systemische Besonderheiten

Das Berufsbildungssystem ist in drei Sektoren aufgeteilt: das duale System, das Schulberufssystem und das Übergangssystem. Während in den beiden anderen Sektoren anerkannte Ausbildungsberufe erlernt werden, liegen die (Aus-)Bildungsangebote des Übergangssystems unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 137; Frehe 2015, 12-13). Das Übergangssystem richtet sich vornehmlich an Jugendliche und junge Erwachsene, die den Übergang vom allgemeinbildenden Schulsystem in eine qualifizierende Berufsausbildung nicht geschafft haben (vgl. Frehe 2015, 11-12; Kremer 2012, 21). Dies betrifft vor allem Jugendliche mit maximal einem Hauptschulabschluss und hier insbesondere solche mit Migrationshintergrund, die auf dem Ausbildungsmarkt inzwischen kaum noch eine Chance haben (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 139; Beicht/Walden 2019, 7).

Die verschiedenen Maßnahmen und Bildungsgänge des Übergangssystems zielen darauf ab, die Chancen dieser Jugendlichen auf eine qualifizierte Berufsausbildung zu erhöhen. Hierzu werden sowohl grundlegende (z. B. Textverstehen, logisches Denken) als auch erste berufliche Kompetenzen vermittelt. Zudem können die Jugendlichen allgemeinbildende Schulabschlüsse, z. B. den Hauptschulabschluss, nachholen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 138). Allerdings ist strittig, ob das System seinem Anspruch in der Realität tatsächlich genügt, da ein Teil der Jugendlichen über mehrere Jahre im Übergangssystem verbleibt und den Besuch verschiedener Maßnahmen bzw. Bildungsgänge aneinanderreiht (vgl. Frehe 2015, 14; Euler 2011, 323). Es wird immer wieder kritisiert, dass es an einer systematischen Verzahnung der Angebote innerhalb des Übergangssystem sowie einer klaren inhaltlichen und strukturellen Verknüpfung mit der Berufsausbildung im Dualen System und/oder dem Schulberufssystem mangelt. Aufgrund dieser Strukturproblematik sieht Kremer (2012, 24) das Übergangssystem „als Auffangbecken für Jugendliche, die in den anderen Sektoren keinen Platz finden. Die Auswahl der Jugendlichen erfolgt nicht darüber, welche Chancen und Möglichkeiten eröffnet werden, sondern über eine negative Abgrenzung von jungen Menschen, die den Weg in berufliche Ausbildung und Beschäftigung nicht erreicht haben“ (ebd.).   

2.2.2 Zielgruppe

Bei den Lernenden im Übergangssystem handelt es sich um eine höchst heterogene Gruppe, z. B. in Bezug auf ihre Voraussetzungen zur Aufnahme einer Ausbildung, ihre Gründe und Motive für den Eintritt in das Übergangssystem sowie ihre Haltung gegenüber dem Besuch des Übergangssystems (vgl. Frehe 2015, 28). Ein Teil der Jugendlichen im Übergangssystem verfügt über die notwendigen individuellen Voraussetzungen, um eine Berufsausbildung zu beginnen und erfolgreich abzuschließen. Aufgrund unterschiedlicher, i. d. R. systemisch bedingter Ursachen (z. B. mangelndes Angebot an geeigneten Ausbildungsplätzen) haben sie bislang keinen Ausbildungsplatz gefunden (vgl. Buchholz et al. 2012, 722f.; Beinke 2014). Demgegenüber gibt es eine Reihe von SuS, die zum Zeitpunkt des Eingangs in das Übergangssystem noch nicht die notwendigen Fähigkeiten und/oder die Bereitschaft aufweisen, um eine Ausbildung aufzunehmen (vgl. Dobischat/Schurgatz 2015, 51). Teilweise sind die aufzuholenden Lücken verhältnismäßig klein. Es gibt aber auch eine Reihe von SuS, die sich noch sehr stark weiterentwickeln und eine Vielzahl an Kompetenzen erwerben müssen, um die Grundvoraussetzungen für eine Berufsausbildung zu erfüllen (vgl. Frehe 2015, 29).

Mit Frehe (2015, 34-35) lassen sich weiterhin vier zentrale Gründe bzw. Motive für den Besuch des Übergangssystems aus Sicht der Lernenden identifizieren: (1) Überbrückung und Chancenverbesserung, (2) Höherqualifizierung, (3) Stabilisierung der Lebenslage und Zeitgewinnung sowie (4) Ableisten der Schulpflicht. SuS mit dem ersten Motiv (1) verfügen grundsätzlich über die notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen, um eine Berufsausbildung zu beginnen, sie konnten sich jedoch auf dem Ausbildungsmarkt nicht gegen das Mitbewerber*innenfeld durchsetzen. Sie nutzen den Besuch des Übergangssystems, um die Zeit bis zur nächsten Bewerbungsrunde sinnvoll zu überbrücken und sich weiterzubilden, sodass sie im nächsten Bewerbungsdurchgang bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Die zweite Gruppe (2) wählt den Besuch des Übergangssystems als Weg, um sich weiter zu qualifizieren, d. h. einen Haupt- oder Realschulabschluss zu erwerben. SuS mit dem vordergründigen Ziel der Zeitgewinnung und Stabilisierung der Lebensverhältnisse (3) sehen den Schulbesuch demgegenüber als Chance, sich persönlich weiterzuentwickeln und sich über die eigenen beruflichen und/oder persönlichen Lebensziele klar zu werden. Die vierte Gruppe (4) befindet sich schließlich nicht auf eigenen Wunsch im Übergangssystem, sondern hält sich dort lediglich aufgrund der Schulpflicht auf.

Insbesondere für die letzte Gruppe ist davon auszugehen, dass sie dem Übergangssystem negativ gegenüber eingestellt sind, wenig Lernmotivation zeigen und sich in Teilen dem Unterricht verweigern. Demgegenüber ist von den ersten beiden Gruppen tendenziell eine positive Einstellung gegenüber dem jeweiligen Bildungsgang und dem Unterricht zu erwarten. Insgesamt führen die unterschiedlichen Motivlagen zu einer breiten Spanne bezüglich der Motivation, Lernbereitschaft und grundsätzlichen Einstellung gegenüber der Ausbildung und dem System. Zudem haben die unterschiedlichen Vorerfahrungen in dieser Hinsicht einen Einfluss. Viele der niedrigqualifizierten Jugendlichen blicken auf eine Schullaufbahn zurück, die durch negative Erfahrungen und Misserfolgserlebnisse gekennzeichnet ist und ihre Einstellung gegenüber Schule, Unterricht und Lernen im negativen Sinne nachhaltig geprägt haben. Negative Schulerfahrungen gehen oft einher mit fehlenden Lernvoraussetzungen (Basiskompetenzen, Sozialkompetenzen o. ä.) oder Lern- und Entwicklungsproblemen, sodass mit dem Eingang in das Übergangssystem bei diesen SuS erst einmal auf verschiedenen Ebenen die notwendigen Grundlagen geschaffen werden müssen, um an den eigentlich im jeweiligen Bildungsgang intendierten Lernzielen arbeiten zu können.   

Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass sich im Übergangssystem eine hinsichtlich der Lernmotivation, der vorhandenen Kompetenzen und der Zielsetzung höchst heterogene Gruppe von SuS befindet. Die Lehrkräfte stehen folglich vor der Herausforderung, diese Heterogenität zu managen, um Unterricht durchführen und Lernen ermöglichen zu können. Im nächsten Kapitel wird dargestellt, welche Wege ein Berufskolleg in NRW gegangen ist, um dieser Herausforderung zu begegnen.

3 Rekonstruktion eines Fallbeispiels

Nachdem im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde, was das Übergangssystem als schulische Lebenswelt ausmacht, wird nun auf das Fallbeispiel eingegangen, das in diesem Beitrag fokussiert wird und das im Übergangssystem zu verorten ist. Dort traten nach der Umsetzung eines neuen Lernkonzepts zur Förderung des selbstregulierten Lernens (SRL) verstärkt Unterrichtsstörungen auf. Die Lehrkräfte stellten fest, dass die Unterrichtsstörungen von einer Gruppe von Jungen – im Projekt bezeichnet als die Wilden Kerle – ausgingen, die eine geringe Lernmotivation zeigten, sich nicht an den vorgesehenen Ablauf des Lernkonzepts hielten und die Klassenregeln missachteten. Aufgrund des Geschlechterzusammenhangs wurde im Projekt untersucht, inwiefern es sich hier um eine schulische Jungenproblematik handelte. Außerdem wurde der Frage nachgegangen, in welcher Relation das Lernkonzept zu der Wilde-Kerle-Problematik stand (vgl. Abb. 1). Es wurde überprüft, inwiefern sich die Unterrichtsstörungen mit konzeptionellen Schwächen erklären ließen.

 Abbildung 1: Erste Einordnung der Wilde-Kerle-Problematik und ihrer Relation zum Lernkonzept im untersuchten Fall. Abbildung 1: Erste Einordnung der Wilde-Kerle-Problematik und ihrer Relation zum Lernkonzept im untersuchten Fall.

Unter Berücksichtigung der im vorangegangenen Kapitel skizzierten systemischen Besonderheiten der Lebenswelt Schule und des Übergangssystems ergaben sich die folgenden Anfangsüberlegungen zu dem dargestellten Phänomen:

  • Konnten eine ablehnende Haltung der männlichen Peer-Group gegenüber Schule bzw. dem Lernkonzept, negative Schulerfahrungen, fehlende Zukunftsperspektiven o. ä. die geringe Lernmotivation erklären?
  • Waren die Unterrichtsstörungen eine Form männlicher Inszenierungspraktiken, z. B., um Anerkennung in der Klasse zu erhalten?
  • Fehlte es an Passung zwischen den im Rahmen der bisherigen Sozialisation erworbenen Lernvoraussetzungen der Schüler und den Anforderungen des spezifischen Lernkonzepts?

Das Lernkonzept, dem in seiner spezifischen Umsetzung in diesen Überlegungen eine potenziell hohe Bedeutung beigemessen wurde, wird nachfolgend beschrieben. Damit einhergehend werden der Projektkontext und weitere fallspezifische Rahmenbedingungen, die das in diesem Beitrag dargestellte Fallbeispiel kennzeichnen, ausgewiesen. Es folgt eine Skizzierung des Forschungsansatzes. Dann wird der Fall in drei Schritten rekonstruiert: In einem ersten Schritt wird auf den Prozess der Problemidentifikation, in einem zweiten Schritt auf die Problemeinordnung und zuletzt auf die Lösungsfindung eingegangen. Einige der im Fall herausgearbeiteten Phänomene werden anschließend in Kapitel 4 theoretisch eingeordnet und diskutiert.

3.1 Projektkontext und fallspezifische Rahmenbedingungen

Der nachfolgend skizzierte Fall basiert auf Erkenntnissen, die im Projekt NeGeL gewonnen wurden. Im Rahmen des Projekts wurde in Kooperation mit drei Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum von 2013 bis 2018 an der Gestaltung und Förderung von selbstreguliertem Lernen in ausgewählten Bildungsgängen des Übergangssystems gearbeitet. Dabei haben die drei Berufskollegs mit Unterstützung der wissenschaftlichen Begleitung jeweils eigene Arbeitsschwerpunkte fokussiert sowie unterschiedliche Lernkonzepte (weiter-)entwickelt und umgesetzt (vgl. Sloane et al. 2018). In diesem Beitrag werden die Erfahrungen einer der drei Schulen in der Umsetzung ihres spezifischen Lernkonzepts dargestellt.

Das betrachtete Berufskolleg hatte sich schon lange vor NeGeL mit SRL bzw. SOL auseinandergesetzt und sich an mehreren Projekten zur Schul-, Organisations- und Unterrichtsentwicklung mit diesem Schwerpunkt beteiligt. Ab 2007 gab es konkrete Bestrebungen hin zu der Entwicklung und Umsetzung eines eigenen SOL-Konzeptes, insbesondere für die Klassen des Übergangssystems. Hierzu besuchten zunächst ausgewählte Lehrkräfteteams Fortbildungen zu SOL. Es folgten die Anpassung von Lehr- und Stundenplänen sowie der Umbau eines kompletten Stockwerks, um SRL umfassend ermöglichen zu können. Anstelle von Klassenzimmern wurden in diesem Stockwerk verschiedene räumliche Möglichkeiten für Einzel-, Klein- und Großgruppenarbeiten geschaffen. Der 45-Minuten-Takt der Unterrichtsstunden wurde aufgelöst und breitere Zeitfenster für SOL eingerichtet. 2011 wurde SOL an diesem Berufskolleg zum dominierenden Unterrichtskonzept im Berufsgrundschuljahr und der aufbauenden Handelsschule (später umgeändert in die einjährige Berufsfachschule). Den in diesen Bildungsgängen häufig anzufindenden SuS aus problematischen Verhältnissen und mit negativen Schulerfahrungen sollte damit eine neue Form der Beschulung geboten werden, um besser auf die jeweiligen Bedürfnisse und individuellen Lernvoraussetzungen eingehen zu können.

Das Konzept basiert auf dem systemischen Ansatz selbstorganisierten Lernens nach Herold (z. B. Herold/Herold 2013). Es misst sowohl eigenständigem als auch kooperativem Lernen einen hohen Stellenwert bei. Die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten erfolgt insbesondere über Gruppenarbeitsprozesse, bei denen sich die SuS gegenseitig Wissen vermitteln und beim Lernen unterstützen. Ergänzend gibt es individuelle Arbeitsphasen, in denen sich die SuS einzeln noch einmal intensiv mit dem Lernstoff auseinandersetzen, Erlerntes verfestigen und Lücken aufarbeiten. Die Lehrpersonen stehen den SuS in den Gruppen- und Einzelarbeitsphasen als Lernbegleiter*innen zur Seite. Sie helfen, wenn Schwierigkeiten aufkommen, und beantworten Fragen. An mindestens drei der fünf Unterrichtstage erarbeiten sich die Lernenden das Fachwissen für vier Unterrichtsfächer mithilfe der Methodik des Gruppenpuzzles, die in den siebziger Jahren von Aronson (z. B. 1978) entwickelt wurde (vgl. Huber/Müller 1998, 227; Jürgen-Lohmann/Borsch/Giesen 2002, 370-371). Im Rahmen des Gruppenpuzzles wird auf zwei Ebenen kooperativ gearbeitet: in Stamm- und Expertengruppen. In den Expertengruppen eignen sich die Lernenden zunächst den Stoff für ein bestimmtes Unterrichtsfach (z. B. Deutsch) an. Dabei sollen sie sich die Inhalte nicht nur für sich selbst erschließen, sondern so aufbereiten, dass sie diese strukturiert und verständlich an ihre Mitschüler*innen vermitteln können (vgl. Huber/Müller 1998, 219; Jürgen-Lohmann/Borsch/Giesen 2002, 370-371). Die Weitergabe des Wissens erfolgt im Anschluss in der sogenannten Stammgruppenphase. In den Stammgruppen finden sich SuS aus den verschiedenen Expertengruppen zusammen. Es ist die Aufgabe der Expert*innen, ihrer Stammgruppe das jeweilige Expertengebiet näher zu bringen, sodass am Ende der Stammgruppenphase alle Gruppenmitglieder die Inhalte der vier Unterrichtsfächer kennen.

Das an der Schule implementierte Lernkonzept erlaubt es den Lernenden, ein Teil ihrer Lernprozesse selbst zu initiieren und zu steuern, weswegen es unter die Sammelbezeichnung SRL gefasst werden kann (vgl. Dilger 2007, 71). Im Rahmen des Gruppenpuzzles bestimmen die SuS den Zeitumfang und die Reihenfolge der Aufgabenbearbeitung beispielsweise selbst. Zudem legen sie eigenständig fest, ob sie z. B. auf ergänzendes Material zurückgreifen oder die Lernberatung durch Lehrkräfte in Anspruch nehmen. In der an das Gruppenpuzzle anschließenden Selbstlernphase haben die SuS weiterhin die Möglichkeit, sich vertiefend mit Inhalten, Aufgaben etc. in einer für sie geeigneten Form auseinanderzusetzen. Entsprechend wissenschaftlicher Konzeptionen und Diskussionen zum SRL besteht für das in der betrachteten Schule umgesetzte SOL-Konzept aber noch Potenzial, den Grad der Selbstregulation zu erhöhen (vgl. Zimmerman 2002; Ben-Eliyahu/Bernacki 2015). Einige Möglichkeiten der Konzeptentwicklung wurden im Projekt NeGeL angeregt (vgl. Kap. 4.1; Sloane et al. 2018).   

3.2 Forschungsansatz

Das Projekt NeGeL insgesamt folgte dem Design-based Research (DBR)-Ansatz (vgl. Emmler 2015, 121ff.; Euler/Sloane 2014; Euler 2014). In diesem Sinne bestanden die Ziele der wissenschaftlichen Begleitung darin, einerseits die Entwicklungsarbeiten der Lehrkräfteteams zu unterstützen und andererseits über die Wissenschafts-Praxis-Kooperation wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Die Erschließung der schulpraktischen Lebenswelt erfolgte durch den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis im Rahmen von Workshops, die Erhebung und Auswertung von empirischem Datenmaterial (z. B. Videomaterial, Protokolle, Transkripte von Interviews) und über die Herausarbeitung relevanter Theorien und Erklärungsansätze durch die wissenschaftliche Begleitung.

Tabelle 1: Datengrundlage der Einzelfallstudie im Projekt NeGeL.

Rahmung der Datenerhebung

Datengrundlage

Erklärungsmodelle

Videografie

Schulübergreifende Workshops

Schulinterne Workshops

Interviews

Workshop-Protokolle (Ergebnis- und Prozessprotokolle)

Transkripte

Beobachtungsprotokolle

Videomaterial

Unterrichtsmaterial

Lernergebnisse SuS

Theoretische Konzepte

Praktische Erklärungsansätze

Wissenschaftliche Erklärungsansätze

In diesem Beitrag wird allerdings lediglich eine Einzelfallstudie im Sinne der rekonstruktiven pädagogischen Forschung beschrieben, die in das umfassendere DBR-Forschungsprogramm eingebettet war.[2] Die Einzelfallstudie umfasste verschiedene Rekonstruktionsschritte und beinhaltete dabei sowohl eine empirisch-qualitative als auch eine theoretische Exploration des Gegenstandsbereichs (vgl. Gerholz 2010, 67-68). Das konkrete Vorgehen orientierte sich an Sloane (2012), der in diesem Zusammenhang ein vierschrittiges Verfahren vorschlägt: (1) Differenzialdiagnose, (2) Arbeits- und Gestaltungshypothese, (3) Intervention und Rückkopplung und (4) Diskurs und Verschriftlichung. Mithilfe der Videoaufnahmen, Unterrichtsbeobachtungen sowie Gesprächen mit SuS und LuL wurde das Handeln der schulischen Akteur*innen im SOL nachgezeichnet. Ausgewählte theoretische Konzepte wurden auf den Fall angewandt, um so in einem hermeneutischen Vorgang Strukturen und Muster sowie mögliche Erklärungsansätze für die fallspezifischen Phänomene zu identifizieren (vgl. Dilger/Sloane 2012, 292; Sloane 1992, 124ff.).

Die empirisch-qualitative Analyse stützt sich vordergründig auf Workshopprotokolle und Videomaterial und wurde durch die Sichtung weiterer Dokumente (z. B. Unterrichtsmaterial, Interviewtranskripte) ergänzt (vgl. Tab. 1). Der Entwicklungsprozess der Problemidentifikation, -einordnung und -lösung im Fallbeispiel wurde auf Basis von Protokollen der Workshops und Arbeitstreffen mit den beteiligten Lehrkräften rekonstruiert. Im Zeitraum von 2013 bis 2015 fanden vier Workshops und drei Arbeitstreffen mit einem Schwerpunkt auf die im vorliegenden Beitrag fokussierte Thematik statt (vgl. Sloane et al. 2018, 19f.). An den zumeist eintägigen Workshops nahmen das gesamte Bildungsgangteam sowie mindestens eine Vertreterin der Schulleitungsebene teil; die Arbeitsgruppentreffen fanden in einem kleineren Kreis statt. Die Auswertung der Workshopprotokolle wurde ergänzt durch Videoanalysen. Während der Projektlaufzeit wurden an zwei Zeitpunkten (in den Jahren 2014 und 2015) Videodaten erhoben; der vorliegende Beitrag konzentriert sich insbesondere auf die Analyseergebnisse des ersten Zeitpunkts. Bei der Erhebung wurden SuS aus zwei Klassen des Übergangssystems in einem Zeitfenster von zwei Unterrichtsstunden aus fünf verschiedenen Kameraperspektiven aufgezeichnet. Die Auswertung erfolgte auf Basis der Dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2013). Das Vorgehen und ausgewählte Ergebnisse der Analyse sind in Gössling/Daniel (2018) beschrieben.

Nachfolgend wird der Fokus auf die Darstellung von spezifischen Fallbeobachtungen, die in Hinblick auf die Schwerpunktsetzung des Beitrags ausgewählt wurden, gelegt und eine theoretische Einordnung dieser Beobachtungen vorgenommen.

3.3 Fallskizzierung

Aufgrund der vorangehend dargelegten Verankerung des Falls in einem DBR-Projekt bildete die praktische Problemdefinition den Ausgangspunkt für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Das Problem wurde mithilfe von Unterrichtsbeobachtungen, Gesprächen und Videoanalysen zunächst konkretisiert und kontextualisiert. Dann erfolgte die Erarbeitung und Umsetzung von Lösungsmaßnahmen. Während des gesamten Prozesses, der nachfolgend dargelegt wird, arbeiteten Wissenschaft und Praxis eng zusammen.

3.3.1 Problemidentifizierung

Schulleitung und Bildungsgangteam benannten die hohe Belastung der Lehrkräfte in dem neu eingeführten SOL-Konzept (vgl. Kap. 3.1) als zentrale Problemstellung. Die Lehrkräfte fühlten sich im Unterricht stärker als sonst gestresst und teilweise überfordert. Es kam zu einer Häufung von Unterrichtsstörungen (z. B. Provokationen, Lärm) und Regelverletzungen (z. B. Zuspätkommen, Essen im Unterricht). Insbesondere in den Randstunden in der Mittagszeit stellten viele SuS ihre Arbeit ein. Sie behaupteten, ihre Aufgaben bereits erledigt zu haben und wollten deswegen eine Pause machen. Allerdings beobachteten die Lehrpersonen, dass einige dieser SuS die Aufgaben gar nicht selbst bearbeitet, sondern bei anderen abgeschrieben hatten. Nachfragen zum Lernstoff und dem Lösungsweg der Aufgaben konnten diese SuS nicht beantworten. Außerdem funktionierte die Stammgruppenphase nicht gut. Einige der Expert*innen wollten oder konnten ihren Mitschüler*innen in den Stammgruppen die Inhalte nicht erklären und/oder sie bei der Aufgabenbearbeitung unterstützen. Das führte wiederum zu Unzufriedenheit bei denjenigen Mitschüler*innen, die sich für den Lernstoff interessierten und gute Noten erzielen wollten. Aufgrund des mangelnden Engagements oder aufgrund fehlender Kenntnisse und Fähigkeiten der Expert*innen in ihrer Gruppe fühlten sie sich unzureichend auf Klassenarbeiten vorbereitet. Dadurch kam es immer häufig dazu, dass SuS sich den Lernstoff einzeln oder in Tandems erarbeiteten und auf den Input in der Stammgruppe verzichteten. Die lernwilligen SuS fühlten sich zudem durch die vermehrten Unterrichtsstörungen der anderen am Lernen gehindert und beschwerten sich deswegen. Sie erwarteten von den Lehrkräften, hier zu intervenieren und die Unterrichtsstörungen zu unterbinden. Die Lehrpersonen sahen sich diesbezüglich in einem Dilemma, da ihre Rolle im SOL eigentlich nicht beinhaltete, eine solche Konfliktlösung innerhalb der Gruppen oder zwischen den SuS herbeizuführen. Vielmehr sollten die SuS selbst Verantwortung für ihr Lernen übernehmen und die LuL wollten ihnen die hierzu notwendigen Freiräume gewähren. Gleichzeitig waren die Lehrkräfte bestrebt, eine geeignete Lernatmosphäre zu schaffen bzw. zu erhalten, was die Verhinderung von Störfaktoren implizierte. Außerdem sahen sie es in ihrer Verantwortung, die Einhaltung der Schul- und Klassenregeln zu gewährleisten.     

3.3.2 Einordnung und Erklärung der Probleme

Die Lehrkräfte hatten zunächst den Eindruck, dass die dargestellten Herausforderungen ausschließlich auf eine bestimmte Jungengruppe zurückgingen. In den Arbeitstreffen identifizierten die Lehrkräfte das Störverhalten dieser Jungen als Hauptursache für ihr Belastungsempfinden und ihre Überforderung. Sie schilderten, dass sich diese Jungengruppe dem Lernkonzept provokativ verweigerte und sich selbst und andere SuS durch lautes, körperbetontes Verhalten, z. B. spielerische Rangeleien, vom Lernen abhielt. Die störenden Jungen wurden im Rahmen des Projekts als die Wilden Kerle bezeichnet (vgl. hierzu Sloane 2014). Die Lehrkräfte äußerten den Wunsch, den Projektkontext zu nutzen, um sich intensiver mit männlichem Störverhalten im Unterricht auseinander zu setzen und Handlungsmöglichkeiten für den pädagogischen Umgang mit männlichen Problemschülern zu erarbeiten. Damit sollte mittel- bis langfristig das Ziel verfolgt werden, das Störverhalten der Wilden Kerle zu minimieren und so die Belastung der Lehrkräfte im SOL zu reduzieren.

Auch vor dem Hintergrund der Ziele, allen SuS in den Bildungsgängen des Übergangssystems mithilfe des neuen Lernkonzepts einen besseren Zugang zu schulischer Bildung zu ermöglichen und sie auf den Eintritt in die Arbeitswelt vorzubereiten, stellten die Wilden Kerle die Lehrkräfte vor Herausforderungen. Die Lehrkräfte hatten den Eindruck, dass den Wilden Kerlen Klassenarbeiten und Abschlüsse nicht wichtig waren. Eine Lehrperson beschrieb die Haltung der Wilden Kerle in dieser Hinsicht z. B. wie folgt: „‘Durchkommen‘ reicht, wenn nicht - auch nicht so schlimm.“ Aus Sicht der Lehrkräfte nutzten die Wilden Kerle die Zeit in der Schule ­vor allem zum Flirten und um sich gegenüber ihren Mitschüler*innen zu profilieren. Insofern hatte Schule als sozialer Raum nach Einschätzung der Lehrkräfte zwar eine Relevanz für die Wilden Kerle, sie wurde von ihnen aber nicht als Lernraum oder als Möglichkeit zur Weiterqualifizierung genutzt (vgl. Abb.2).  

Darüber hinaus stellten die in den Bildungsgängen des Übergangssystems eingesetzten Lehrpersonen fest, dass die Bewältigung der Anforderungen des SOL-Konzepts für die Wilden Kerle schwieriger war als für andere SuS. Die Wilden Kerle zeigten demnach wenig Bereitschaft in Gruppen zu arbeiten und wurden immer wieder dabei beobachtet, wie sie Arbeitsergebnisse von Mädchen abschrieben anstatt selbständig Aufgaben zu bearbeiten. Auch fielen sie durch eine unordentliche Heft- und Ordnerführung auf, die ihnen die Vorbereitung auf Klassenarbeiten erschwerte. Aufgrund dieser Einschätzungen in Bezug auf die Wilden Kerle stellten die Lehrkräfte die Frage der Passung des Lernkonzepts für diese Schülerschaft und prüften eine Adaption einzelner Konzeptmerkmale.

Abbildung 2: Die Wilden Kerle und das SOL-Konzept im Fall, eingeordnet in eine lebensweltorientierte PerspektiveAbbildung 2: Die Wilden Kerle und das SOL-Konzept im Fall, eingeordnet in eine lebensweltorientierte Perspektive

Die von den Lehrkräften genannten Probleme im SOL, die vor allem während der Stammgruppenarbeit auftraten, wurden mithilfe von Videoaufnahmen auf mögliche Auslöser und Zusammenhänge hin untersucht. Dabei bestätigte sich, dass die Wilden Kerle Unruhe in den Räumlichkeiten auslösten und durch ihr raumgreifendes und lautes Auftreten andere SuS vom Lernen abhielten. Beispielsweise zogen die Wilden Kerle während der aufgezeichneten Unterrichtsstunden von Lerngruppe zu Lerngruppe. Sie erzeugten in den Räumlichkeiten, die sie aufsuchten, Unruhe und sorgten dafür, dass die Lernaktivitäten dort entweder zeitweilig unterbrochen oder dauerhaft beendet wurden. Die Unterbrechungen waren insbesondere darauf zurück zu führen, dass die Wilden Kerle ihre Mitschüler*innen in den jeweiligen Räumen in Gespräche oder kleine Spielchen wie Schere-Stein-Papier einbanden. Um die Mitschüler*innen dazu zu motivieren, bei ihrem Spiel mitzumachen, versprachen sie Siegprämien (z. B. Zigaretten).

Darüber hinaus wurde auf Basis der Videoaufnahmen deutlich, dass es auch Mädchen gab, die gegen Schul- bzw. Klassenregeln verstießen und während der Unterrichtszeit privaten Aktivitäten nachgingen. Im Gegensatz zu den Wilden Kerlen verhielten sie sich aber sehr unauffällig und störten durch ihr Verhalten keine Mitschüler*innen. Sie suchten sich abgelegene Räumlichkeiten, die von den Lehrkräften kaum frequentiert wurden, und beschäftigten sich dort z. B. mit ihren Handys. Mit dem Lernmaterial setzten sie sich während dieser Zeit hingegen nicht auseinander. Für die Lehrkräfte war dieses Verhalten der Mädchen, das auf dem Videomaterial deutlich erkennbar war, neu. Bei der Diskussion des Videomaterials bezeichneten sie die Mädchen als „kommunikative Tieffliegerinnen“, da diese es geschafft hatten, ihre privaten Aktivitäten während der Unterrichtszeit vor den Lehrpersonen geheim zu halten. 

3.3.3 Entwicklung und Umsetzung von Lösungsmaßnahmen

Die Lehrpersonen reagierten auf die Beobachtungen und die identifizierten Schwachstellen des Lernkonzepts, indem sie an bestimmten Stellen Anpassungen vornahmen sowie spezifische Maßnahmen entwickelten und umsetzten (vgl. Tab. 2). Zur Eindämmung der Regelverstöße verständigten sich die LuL als erstes darauf, ab sofort konsequent(er) durchzugreifen und Verletzungen der Schul- und Klassenregeln unmittelbar zu ahnden. Um die Konsequenzen sowohl für die SuS als auch die LuL transparent zu machen und im Lehrkräfteteam ein einheitliches Vorgehen zu ermöglichen, entwickelten die Lehrpersonen im Rahmen eines Projekt-Workshops einen sogenannten „Bußgeldkatalog“, der Regelverstöße und die jeweiligen pädagogischen Konsequenzen auflistete. So wurde beispielsweise als Konsequenz für Zuspätkommen festgelegt, dass die SuS nach dem regulären Unterricht am Nachmittag nachsitzen sollten.

Als Lösung für die Herausforderungen in der Stammgruppenarbeit (Expert*innen nehmen ihre Rolle nicht wahr; es findet eher Einzel- und Partnerarbeit als Gruppenarbeit statt etc.) wurde als zweites ein umfangreicheres Begleitkonzept entwickelt. Es wurde jede Woche mehr Zeit dafür eingeplant, die Expert*innen auf ihre jeweiligen Aufgaben in der Stammgruppe vorzubereiten (sowohl inhaltlich als auch methodisch). Während der Stammgruppenarbeit wurden die Expert*innen stärker durch Lehrpersonen begleitet und bei Bedarf unterstützt. Zudem wurden Reflexionsstunden eingeführt, um Raum dafür zu geben, Schwierigkeiten in der Gruppenarbeit unmittelbar ansprechen und lösen zu können.

Tabelle 2: Herausforderungen und Lösungsmaßnahmen im Fall

Herausforderungen

Lösungsmaßnahmen

1.      Regelverstöße

  • Entwicklung eines „Bußgeldkatalogs“, d. h. pädagogische Konsequenzen bei Regelverstößen, z. B. Nachsitzen
  • Strikte Umsetzung des „Bußgeldkatalogs“; Lehrpersonen achten auf Einhaltung der Schul- und Klassenregeln

2.      Probleme in der Stammgruppenarbeit

  • Intensivere Vorbereitung, Unterstützung und Begleitung der Expert*innen und Stammgruppenarbeit
  • Reflexionsphasen zur Besprechung von Schwierigkeiten bei der Gruppenarbeit

3.      „Wilde Kerle“

  • Einführung von Wettbewerbselementen (z. B. Belohnungssystem, Gruppenvergleich)
  • Schaffung von Bewegungsmöglichkeiten (insbesondere eines Play Parcs)
  • Stärkere Disziplinierung (s. o.)

4.      „Kommunikative Tieffliegerinnen“

  • Erhöhte Lehrkräftepräsenz (Anzahl, Bewegung im Raum)
  • Sicherstellung der Stammgruppenarbeit

Zur Reduzierung der durch die Wilden Kerle ausgelösten Störungen wurde als drittes ein Maßnahmenpaket zur Jungenförderung entwickelt. Dies erfolgte in Orientierung an die pädagogische Jungen- und Geschlechterforschung, die zum Umgang mit (störenden) Jungen in der Schule bereits einige konkrete Vorschläge entwickelt hat. Zunächst wurde der bislang auf Kooperation ausgerichtete Unterricht um Wettbewerbselemente ergänzt, um auch diejenigen SuS zur Auseinandersetzung mit dem Lernstoff zu motivieren, die hierfür den Konkurrenzkampf benötigen. Weiterhin hat die Schule im Außenbereich mehrere Sportgeräte (einen sogenannten Play Parc) errichtet, um es SuS mit einem erhöhten Bewegungsdrang, der z. B. bei den Wilden Kerlen vermutet wurde, zu ermöglichen, sich im Unterricht stärker körperlich zu betätigen. Ein Konzept zur Einbindung der Geräte in den Unterricht war während der Projektlaufzeit noch in der Entwicklung. Die Einführung des „Bußgeldkatalogs“ und die damit verbundene stärkere Disziplinierung wurde ebenfalls als geeignet zur Reduzierung der durch die Wilden Kerle ausgelösten Unterrichtsstörungen angesehen.   

Schließlich wurde als viertes auf das Problem der „Kommunikativen Tieffliegerinnen“ eingegangen. Um zu verhindern, dass sich SuS während der Stammgruppenarbeit in bestimmten Räumen verstecken, um dort Freizeitaktivitäten nachzugehen, wurde die Betreuungsdichte während dieser Phase erhöht. Es wurden mehr Lehrpersonen eingesetzt und diese Lehrpersonen achteten sehr bewusst darauf, alle Gruppen und Räumlichkeiten regelmäßig aufzusuchen. Darüber hinaus wurden in den Räumen Schilder aufgehängt, auf denen die Gruppenzusammensetzung in den Stammgruppen illustriert wurde, um auf einen Blick überprüfen und sicherstellen zu können, dass alle SuS in ihrer Stammgruppe zusammensitzen.

Die vorgestellten Maßnahmen, die in Tabelle 2 noch einmal im Überblick dargestellt sind, wurden über mehrere Monate entwickelt und umgesetzt. Nach der Umsetzung kam es zu einer deutlichen Verbesserung der Situation. Es gab kaum noch Störverhalten durch Jungen und die Anzahl an Regelverletzungen hatte sich ebenfalls deutlich reduziert. Zudem funktionierte die Stammgruppenarbeit nun weitestgehend reibungslos. Da die Umsetzung der Maßnahmen allerdings mit einem Schuljahreswechsel erfolgte, konnte nicht sicher festgestellt werden, ob bzw. inwiefern die umgesetzten Maßnahmen oder die neuen Klassenzusammensetzungen ausschlaggebend für die Veränderungen waren. Dass die Maßnahmen einen positiven Effekt hatten, ist aber aufgrund der Beobachtung, dass die Probleme auch in den darauffolgenden Schuljahren nicht wieder auftraten, zumindest als wahrscheinlich einzustufen.

4 Einordnung der fallspezifischen Beobachtungen

Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, konnten die im Rahmen des Falls identifizierten Probleme bei der Umsetzung eines für das Übergangssystem entworfenem SOL-Konzepts, wie das Phänomen der Wilden Kerle, im Projektverlauf ausdifferenziert und zur Zufriedenheit der Praxisakteure gelöst werden. Aus wissenschaftlicher Sicht wurden fallspezifische Beobachtungen gemacht, die in diesem Kapitel konkretisiert und unter Rückgriff auf Theorien eingeordnet werden sollen. Dabei möchte ich zwei Schwerpunkte legen. Auf der einen Seite gehe ich auf das geschlechterübergreifende Phänomen des Anstiegs von Regelverletzungen und Störungsaktivitäten mit der Einführung des SOL-Konzepts ein. Auf der anderen Seite möchte ich die Beobachtung aufgreifen, dass es zwar sowohl unter den Mädchen als auch unter den Jungen einige Lernende gab, die sich dem Unterricht bzw. dem Unterrichtskonzept verweigerten, zwischen den Geschlechtern aber deutliche Unterschiede in der Art und Weise der Verweigerung ausgemacht werden konnten und sich auch die Wahrnehmung der Lehrpersonen in Bezug auf diese Jungen- und Mädchengruppe deutlich unterschied.

4.1 Möglichkeiten der Weiterentwicklung des Lernkonzepts zur Förderung der Lernenden

Vor dem Hintergrund der skizzierten Erfahrungen einer beruflichen Schule mit der Implementation eines Lernkonzept zur Förderung des selbstregulierten Lernens im Übergangssystem stellt sich die Frage der Möglichkeiten einer konzeptionellen Weiterentwicklung jenseits der im vorangegangenen Kapitel dargestellten Maßnahmen, die sich vorrangig auf die Klassenführung bezogen. Im vorliegenden Unterkapitel werden einige Maßnahmen für eine Optimierung des Lernkonzepts aufgezeigt.   

Die Schule nutzt als zentrales strukturierendes und didaktisches Element im Unterricht des Übergangssystems das Gruppenpuzzle (vgl. Kap. 3). Drei von fünf Schultagen arbeiten die SuS in Experten- und Stammgruppen und sollen sich währenddessen gegenseitig den Unterrichtsstoff vermitteln sowie bei der Bearbeitung von Aufgaben unterstützen. Diese Form der Erarbeitung von Lerninhalten erfordert eine Reihe von Voraussetzungen auf Seiten der SuS. Sie müssen über die notwendigen Fähigkeiten und ausreichend (Eigen-)Motivation verfügen, um sich Fachinhalte eigenständig zu erarbeiten und ihr Wissen so an Mitschüler*innen weiter zu geben, dass diese es verstehen und anwenden können Im Fall wurde deutlich, dass nicht alle SuS diese Voraussetzungen erfüllen. Die Vermittlung und Förderung von Lernstrategien zur erfolgreichen Umsetzung selbstregulierten Lernens, z. B. von Motivations- und Regulationsstrategien (vgl. Dilger/Sloane 2007, 12ff.), insbesondere zu Beginn des Schuljahres und ein gutes Scaffolding (vgl. Haruehansawasin/Kiattikomol 2018, 363f.; Dubs 2009, 350f.) stellen entsprechend bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnisse vielversprechende Maßnahmen dar, um dieser Herausforderung zu begegnen. Darüber hinaus ist eine lernförderliche Gestaltung der Aufgabenstellungen und der Lernumgebung wichtig. Dubs (2009, 349) zufolge sollten Lehrpersonen komplexe Lehr-Lern-Arrangements gestalten, „die für die Lernenden interessant und anregend sind, als bedeutsam beurteilt werden und einem Anspruchsniveau entsprechen, bei dem die Lernenden erkennen, dass sie aufgrund ihres deklarativen und prozeduralen Vorwissens mit einer Anstrengung in der Lage sind, das gesetzte Ziel zu erreichen“ (ebd.). Hierzu ist für die spezifische Zielgruppe des Übergangssystems im Allgemeinen (vgl. Kap. 2) und für die jeweiligen Klassen im Speziellen zu klären, wie eine entsprechende Lernumgebung gestaltet werden kann. Im fokussierten Fall war eine schriftliche Befragung der SuS dazu, wie sie das Lernkonzept einschätzen und welche Veränderungen sie sich wünschen (vgl. Sloane et al. 2018, 32ff.), ein erster Schritt in diese Richtung. Ein in diesem Kontext von mehreren Lernenden genannter Kritikpunkt war der Mangel an Möglichkeiten, bewertete mündliche Leistungen zu erbringen. Die Benotung erfolgte bis dahin vorwiegend über Klassenarbeiten und andere schriftliche Abgaben, obwohl viele SuS Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatten. Als Alternativen zu schriftlichen Formen der Dokumentation und Prüfung wurde – infolge dieses Ergebnisses der SuS-Befragung – die Einführung mündlicher Prüfungsformen, z. B. von Präsentationen, in Betracht gezogen.

Mit dem „Verschwinden“ der Wilden Kerle reduzierte sich in dem am Projekt NeGeL beteiligten Bildungsgangteam allerdings das Interesse an einer weiteren Modifikation des Lernkonzepts. Die Lehrkräfte wandten sich anderen Problemen bzw. Anforderungen zu, die sie nun – da es keine gravierenden Unterrichtsstörungen im SOL mehr gab und sich das für sie damit verbundene Belastungsempfinden deutlich verringert hatte – als dringender in der Bearbeitung ansahen und auf die sie deswegen ihre begrenzten Ressourcen konzentrieren wollten. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist eine Weiterentwicklung des Konzepts, z. B. in Orientierung an den oben genannten Vorschlägen, jedoch als sinnvoll einzustufen, um weitere Möglichkeiten des selbstregulierten Lernens für die SuS nutzbar zu machen und sich so dem Ziel ihrer individuellen Förderung und optimalen Berufsvorbereitung weiter anzunähern.        

4.2 ,.Geschlechtsspezifische Handlungsmuster der Unterrichtsverweigerung und Reaktionen der Lehrkräfte

In dem betrachteten Fall war auffällig, dass es sowohl Mädchen als auch Jungen gab, die sich dem Lernkonzept entzogen und während der Unterrichtszeit überwiegend privaten Aktivitäten nachgingen, die Lehrpersonen jedoch zunächst von einer reinen Jungenproblematik ausgingen. Dies ist auf die je geschlechterspezifisch unterschiedliche Ausgestaltung der privaten Aktivitäten zurückzuführen, insbesondere auf ihre (Nicht-) Öffentlichkeit in Bezug auf Lehrpersonen. Das Verhalten der Mädchen fand versteckt statt und konnte deswegen erst mithilfe der durchgeführten Videoaufnahmen entdeckt werden. Die Jungen machten sich hingegen nicht die Mühe, ihre privaten Aktivitäten zu verschleiern, sondern störten das Unterrichtsgeschehen direkt vor den Augen der Lehrpersonen bzw. unter direkter oder indirekter Einbindung der Lehrpersonen. Diese direkte Konfrontation kann mit Diefenbach (2010) als ein Grund dafür angesehen werden, warum das Jungenverhalten unmittelbare Effekte auf die Lehrpersonen hatte und bei ihnen Stressempfinden und Überforderung auslöste. Das Mädchenverhalten lässt sich hingegen in Orientierung an Aktan/Hippmann/Meuser (2015) als Form des Impression Managements deuten. Die beiden skizzierten Erklärungsansätze sollen nachfolgend vertieft werden. Da das Verhalten der Wilden Kerle von Sloane (2014) bereits ausführlich beschrieben und mit Bezug zu Geschlechtertheorien diskutiert wurde, wird darauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen.

4.2.1 Wilde Kerle als Stressoren für Lehrpersonen

In Anlehnung an das Konzept des „guten Schülers“ von Howard Becker (1952) geht Diefenbach (2010, 263ff.) davon aus, dass „Lehrkräfte einen Schüler dann für einen ‚guten‘ Schüler halten, wenn er es ihnen ermöglicht oder einfach macht, ihre Arbeit nach eigener Empfindung ‚gut‘ zu machen, d. h. Schüler zur motivierten, disziplinierten Arbeit und zum Lernerfolg zu führen“ (ebd., 263). Diefenbach legt dar, dass es vor allem Mädchen sind, die es Lehrkräften ermöglichen, ihre Arbeit ‚gut‘ zu machen und damit als ‚gute‘ Schülerinnen eingestuft werden. Jungen zeigen ihr zufolge hingegen oft ein Verhalten im Unterricht, dass für Lehrpersonen herausfordernd ist, da es nicht zu den schulischen Verhaltenserwartungen passt.

Im hier dargestellten Fall zeigten die Wilden Kerle ein Verhalten, dass es den Lehrkräften schwer machte oder sogar verunmöglichte, ihre Arbeit gut zu machen. Entsprechend des SOL-Konzeptes sollten die Lehrkräfte als Lernberater*innen agieren. Die Schüler sollten hingegen Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen und sich in Gruppen das Lernmaterial erarbeiten. Die Wilden Kerle wiesen jedoch eine notorische Unruhe auf, zeigten keine Verantwortung für ihren Lernprozess und waren oft nicht motiviert, in der Gruppe an Lernmaterialen oder Aufgaben zu arbeiten. Aufgrund ihres expressiven Verhaltens hielten sie nicht nur sich, sondern auch andere SuS von der Arbeit ab und machten dadurch öffentlich, dass das Lernkonzept (für sie) weitestgehend nicht funktionierte. Die LuL stellten fest, dass sie mit ihrer Rolle als Lernberatende und pädagogische Fachkraft sowie dem damit verbundenen Verhaltensrepertoire im Umgang mit den Wilden Kerlen an ihre Grenzen stießen und sich deswegen gezwungen sahen, neue Rollen (z. B. die des Dompteurs oder der Entertainerin) einzunehmen. Sie versuchten, ihr Verhalten zu modifizieren, um die Situation in den Griff zu bekommen, reagierten aber gleichzeitig mit starken, negativen Gefühlen wie Wut, Aggression oder Enttäuschung auf das Verhalten der Wilden Kerle. Einige Lehrkräfte erkannten in dieser Herausforderung zwar eine Chance, sich weiter zu entwickeln und im Team neue Wege auszuprobieren, aber viele fühlten sich überfordert und hatten das Gefühl, als Lehrkraft an den Wilden Kerlen zu scheitern.

4.2.2 Impression Management bei Mädchen

Anders als Jungen bzw. jungentypische Verhaltensweisen gelten Mädchen bzw. typisch weibliche Verhaltensweisen gegenwärtig tendenziell als passfähig zu den Anforderungen und Erwartungen des Schulsystems (vgl. Aktan/Hippmann/Meuser 2015, 11). Sie verhalten sich i. d. R. so, wie die Lehrkräfte es von ihnen erwarten, bemühen sich, fleißig zu sein und die Schulaufgaben gut zu erfüllen und sorgen für ein angenehmes Klassenklima, indem sie z. B. schlechtere Mitschüler*innen unterstützen. Häufig wird diese Passung damit erklärt, dass eine hohe Übereinstimmung zwischen den im Rahmen der weiblichen Sozialisation erlernten Verhaltensweisen und den in der Schule ausgewiesenen Verhaltenserwartungen besteht. Aktan/Hippmann/Meuser (2015) schlagen einen alternativen Erklärungsansatz hierzu vor. Sie gehen davon aus, dass Mädchen über ausgeprägte Techniken des Impression Managements verfügen, die es ihnen ermöglichen, nicht passfähiges Verhalten vor Lehrpersonen zu verstecken, d. h. nicht passfähiges Verhalten lediglich zu Zeitpunkten und an Orten zu zeigen, an denen sie von Lehrpersonen nicht dabei beobachtet werden (können).

Für die im vorliegenden Beitrag skizzierten Fallbeobachtungen erscheint dieser Erklärungsansatz – zumindest für einige Mädchen – plausibel. Mithilfe von Videoaufnahmen konnte hier nachgewiesen werden, dass sich einige Mädchen während der Unterrichtszeit ausschließlich mit privaten Aktivitäten beschäftigten, ohne dabei von Lehrkräften erwischt zu werden (vgl. Unterkap. 3.3). Das Raumkonzept eröffnete ihnen hierzu die Möglichkeiten, da es mindestens fünf durch Sichtschutz abgetrennte Lernbereiche gab während nur zwei Lehrkräfte als Lernberater*innen anwesend waren. Dadurch konnten die Lehrkräfte nicht zu jeder Zeit in allen Räumen anwesend sein und die SuS beaufsichtigen.

5 Schlussbetrachtung

In diesem Beitrag wurden die Erfahrungen eines Berufskolleg beschrieben, das in den Klassen des Übergangssystems das SOL-Konzept eingeführt hat. Das Lernkonzept wurde insgesamt sehr gut von SuS und LuL angenommen. Sie empfanden das Konzept mehrheitlich als lernförderlich und präferierten es gegenüber dem Frontalunterricht. Allerdings gab es auch Verbesserungsbedarf. Zentrale Herausforderungen wurden im Rahmen des Projekts NeGeL untersucht und Lösungsmöglichkeiten erarbeitet. Der Beitrag fokussierte die Problematik des Auftretens von Unterrichtsstörungen mit der Implementation des neuen Lernkonzepts. Das Untersuchungsziel war es zu prüfen, inwiefern eine Jungen- bzw. Genderproblematik vorlag, und mögliche Erklärungs- und Lösungsansätze aufzuzeigen.

5.1 Diskussion

Die Berücksichtigung der subjektiven Erfahrungen und Handlungsmuster der Jugendlichen war den Projektbeteiligten ein Anliegen. Für den vorgestellten Fall muss einschränkend festgestellt werden, dass die Einschätzungen, Sichtweisen und Erfahrungen der SuS nur wenig Berücksichtigung fanden. Im Projekt gab es zwar die Überlegung, ausgewählte Ausschnitte der auf Video aufgenommenen Unterrichtssequenzen mit den SuS zu diskutieren, um mehr über die Hintergründe bestimmter Verhaltensweisen aus Sicht der Lernenden zu erfahren. Eine Umsetzung erfolgte jedoch nicht, sodass insgesamt wenig über die Perspektive der Lernenden in diesem Zusammenhang bekannt ist. Das Fallbeispiel bezog sich vor diesem Hintergrund insbesondere auf die Wahrnehmungen und Handlungen der Lehrpersonen. Es wurde rekonstruiert, wie die Lehrkräfte bestimmte SuS und ihre Aktivitäten einschätzten und wie sie darauf reagierten. 

Eine weitere Einschränkung des Falls liegt in seiner eher defizitorientieren Perspektive auf die Lernenden. Die Betrachtungsweise begründet sich aus der spezifischen Herangehensweise und Problemstellung bei der Bearbeitung des Wilde-Kerle-Phänomens. Die Lehrkräften zeigten eine emotionale Betroffenheit hinsichtlich des Verhaltens der Wilden Kerle und seiner möglichen Auswirkungen („Selbstsabotage“) und fühlten sich gleichzeitig aufgrund der erzeugten Unruhe und des Lärms (über-)belastet. Dies führte zu einer starken Kanalisierung der Diskussionen auf die Wilden Kerle. Dabei standen zunächst die Probleme im Vordergrund. Den Lehrkräften fiel es zu Beginn leichter, Defizite der Wilden Kerle zu benennen, während ihnen nur wenige Stärken bewusst waren. Mit der Zeit zeichnete sich aber ein Perspektivwechsel ab. Über die gemeinsamen Gespräche und die Erarbeitung von Handlungsmaßnahmen richtete sich der Blick auf die Ressourcen der Wilden Kerle, z. B. bestimmte Sozialkompetenzen wie Überzeugungskraft oder Offenheit. Für zukünftige Projekte stellt sich die Frage, wie diese Entwicklung begünstig werden kann, sodass ein solcher Perspektivwechsel schneller gelingt.

Eine Herausforderung im Kontext des Falls bestand weiterhin im Umgang mit den geschlechtsspezifischen Besonderheiten. Mit der Betitelung der „Wilden Kerle“ sollte deutlich gemacht werden, dass nur eine spezifische Jungengruppe gemeint war. Bei den Lehrkräften bestand ein Bewusstsein für die Unterschiede innerhalb der Jungengruppe und sie betonten immer wieder, dass nicht alle männlichen Schüler Wilde Kerle waren. Die Bezeichnung „Wilde Kerle“ half, diese Unterscheidung kenntlich zu machen. Die Gefahr der Betitelung bestand allerdings darin, Zuschreibungen und Vorurteile zu (re-)produzieren und einzelne Jungen auf das Bild des Wilden Kerls zu reduzieren. Auch die Gegenüberstellung der Wilden Kerle und der ruhigen Mädchen ist insofern problematisch, da SuS auf ihr Geschlecht reduziert und der Eindruck einer Geschlechterpolarität begünstigt wird. Die Gegenüberstellung war jedoch aus zwei Gründen von Vorteil. Sie ermöglichte es erstens, den Fokus der Lehrkräfte neben den Wilden Kerlen auch auf mögliche Schwachstellen des Lernkonzepts zu lenken. Da deutlich geworden war, dass sich nicht nur die Wilden Kerle dem Unterricht entzogen, war auszuschließen, dass es sich um eine reine Jungenproblematik handelte. Zweitens wurde der Blick durch die Geschlechterbetrachtung auch auf Mädchen gerichtet und zwar insbesondere auf solche Mädchen, die Probleme mit dem Lernen aufwiesen. Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass Mädchenprobleme im schulischen Kontext derzeit oft vernachlässigt werden (vgl. Debus 2012, 104f.), ein wichtiger Schritt. Insgesamt ist aber zu betonen, dass hier nur Beobachtungen in Bezug auf bestimmtes, situatives Verhalten von einzelnen Jungen und Mädchen rekonstruiert wurden, die nicht als allgemeine Aussagen über Merkmale der Personen und/oder Geschlechter missverstanden werden sollten. Die im Fall umgesetzten Maßnahmen zur Lösung der Wilden-Kerle-Problematik deuten zwar in Richtung einer identitätsorientierten Jungenpädagogik. Die Auswahl begründet sich über den Handlungsdruck der Schulpraxis und ihrem Wunsch nach schnell umsetzbaren Lösungen. Über den Projektzeitraum erfolgte aber eine breitere Auseinandersetzung mit verschiedenen Erklärungs- und Lösungsansätzen der schulischen Jungen- und Geschlechterforschung (vgl. Sloane 2014). Die fehlende Umsetzung weiterer Maßnahmen resultierte aus dem skizzierten Schwerpunktwechsel der Schule (vgl. Kap. 3.3). 

Als ein positiver Effekt der Auseinandersetzungen mit dem Wilde-Kerle-Phänomen im Rahmen des Projekts ist zuletzt hervorzuheben, dass der Austausch des Bildungsgangteams über das Verhalten der Lernenden und (mögliche) Reaktionen der Lehrkräfte sowie über den Unterricht befördert wurde. Die Vielfalt der Erfahrungen und Persönlichkeiten innerhalb des Lehrkräfteteams wurde deutlich. Dies verweist auf das Potenzial solcher Projekte für die Unterrichtsreflexion und die Teamentwicklung bei Lehrkräften. 

5.2 Zusammenführung und Ausblick

Ausgangspunkt dieses Textes war die Überlegung, dass Schulen aufgrund ihrer organisationseigenen Regeln, Handlungslogiken und Schwerpunkte eigene Lebenswelten darstellen. Gleichzeitig bereiten sie auf andere Lebenswelten vor und sind durch diese beeinflusst, indem z. B. SuS Verhaltensweisen aus außerschulischen Lebenswelten in den Unterricht mitbringen. In der fokussierten Schule wurde explizit der Anspruch verfolgt, eine Lernumgebung zu schaffen, die anders ist als es die Schüler*innen z. B. aus dem allgemeinbildenden System gewohnt sind. Damit sollte den SuS des Übergangssystems ein neuer Zugang zu schulischem Lernen ermöglicht werden. Während im Unterricht üblicherweise die Lehrkraft bestimmt, wer was mit wem zu welcher Zeit und mit welchen Mitteln lernt, sollen im SRL viele dieser Entscheidungen von den SuS getroffen werden. Ihre Freiräume sind allerdings eingeschränkt, da die Lehrkräfte die möglichen Optionen festlegen. SRL birgt zudem grundsätzlich die Chance, auf die Besonderheiten der Schülerschaft einzugehen und sich stärker auf solche SuS einzulassen, die nicht über einen Mittelschicht-Habitus verfügen. Dies setzt allerdings die Bereitschaft und die Fähigkeiten von LuL voraus, eine für solche SuS adäquate Lernumgebung zu gestalten und sich darin zurecht zu finden. Hierzu ist auch ein grundsätzlicher Lernwillen und eine Einlassung der SuS auf Schule als Lebenswelt erforderlich. In dem Fallbeispiel wurde deutlich, dass in Teilen eine mangelnde Passung zwischen den Bedürfnissen und außerschulisch geprägten Verhaltensweisen einiger Jungen (Wilde Kerle) auf der einen Seite und den Vorgaben des Lernkonzepts sowie den Bedürfnissen der LuL und anderer SuS auf der anderen Seite bestand. Es wurde versucht, hier einen Kompromiss zu finden, indem bei der Unterrichtsgestaltung stärker auf die Wilden Kerle eingegangen wurde und gleichzeitig Grenzen für störende Verhaltensweisen definiert und sichergestellt wurden, um auch den Bedürfnissen der LuL und der übrigen SuS gerecht zu werden.   

Anders als die Wilden Kerle galten die Mädchen zunächst insgesamt als unauffällig und in ihrem Verhalten als passfähig zum Unterrichtssystem. Mithilfe von Videoaufnahmen konnte jedoch gezeigt werden, dass einige Mädchen während der Unterrichtszeit vorrangig privaten Aktivitäten nachgingen. Dies bestätigt die Erkenntnisse anderer Studien, denen zufolge Mädchen sich – unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten und Intentionen – im Unterricht so inszenieren, dass für Lehrpersonen der Eindruck entsteht, sie befolgten die schulischen Regeln und lernten fleißig. Die fallspezifischen Beobachtungen sind insofern anschlussfähig an den bisherigen Forschungstand der schulpädagogischen Geschlechterforschung. Mit dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, dass sich Beobachtungen hinsichtlich geschlechtstypischer Verhaltensweisen und Erwartungen, die bislang hauptsächlich im allgemeinbildenden Schulsystem gemacht wurden, auch im Berufsbildungssystem – speziell im Übergangssystem – feststellen lassen.

Entsprechend der Überlegungen von Aktan/Hippmann/Meuser (2015) wäre aufgrund der speziellen Zielgruppe des Übergangssystem allerdings zu erwarten gewesen, dass die Lehrpersonen ihre geschlechtsspezifischen Erwartungen nicht am Weiblichkeitsstereotyp des ‚fleißigen und braven Mädchens‘ orientieren, sondern – ähnlich wie die Lehrpersonen an der von ihnen untersuchten Hauptschule – stark davon abweichende Verhaltensweisen antizipieren. Stattdessen wurde in diesem Fall ähnliche Konstruktionsprozesse festgestellt, wie sie Aktan/Hippmann/Meuser (ebd.) an einem Gymnasium beobachtet haben. Die Gemeinsamkeiten lassen sich ggf. mit dem guten Ruf des hier untersuchten Berufskollegs oder über die Besonderheit des berufsschulischen Übergangssystems als integrierter Bestandteil an beruflichen Schulen erklären. Insgesamt verweist dies aber auf weiteren Forschungsbedarf, die konkreten Zusammenhänge und Kontextbedingungen zur Herstellung schulischer Passfähigkeit sowohl für das allgemeinbildende Schulsystem als auch für das berufsschulische System zu klären.

Literatur

Aktan, O./Hippmann, C./Meuser, M. (2015): „Brave Mädchen“? Herstellung von Passfähigkeit weiblicher Peerkulturen durch Schülerinnen und Lehrkräfte. In: Gender, H. 1, 11-28.

Aronson, E. (1978): The jigsaw classroom. Beverly Hills.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Bielefeld. Online: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2018/pdf-bildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf (20.03.2020).

Baethge, M./Baethge-Kinsky, V. (2012): Zu Situation und Perspektive der Ausbildungsvorbereitung von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf in NRW. Eine explorative Studie an ausgewählten Berufskollegs, Göttingen: SOFI. Online: http://www.sofi-goettingen.de/fileadmin/Publikationen/abschlussbericht-ausbildungsvorbereitung.pdf   (02.12.2019).

Baethge, M./Solga, H./Wieck, M. (2007): Berufsbildung im Umbruch, Signale eines überfälligen Aufbruchs. Berlin.

Becker, H. (1952): Social-class Variations in the Teacher-Pupil Relationship. In: Journal of Educational Sociology, 25 (8), 451-465.

Beicht, U./Walden, G. (2019): Der Einfluss von Migrationshintergrund, sozialer Herkunft und Geschlecht auf den Übergang nicht studienberechtigter Schulabgänger/-innen in beruflicher Ausbildung. Wissenschaftliche Diskussionspapiere, 198. Bonn.

Beinke, K. (2014): Party statt Probezeit, Leerlauf statt Lehrstelle? Warum Jugendliche keinen Ausbildungsplatz und Betriebe keine Azubis finden. In: Die berufsbildende Schule, 66 (10), 333-338.

Ben-Eliyahu, A./Bernacki, M. L. (2015): Addressing complexities in self-regulated learning: a focus on contextual factors, contingencies, and dynamic relations. In: Metacognition Learning, 10, 1-13, DOI: 10.1007/s11409-015-9134-6.

Bohnsack, R. (2013): Documentary Method. In: Flick, U. (Hrsg.): The SAGE handbook of qualitative data analysis. Sage, 217-233.

Breidenstein, G. (2008): Peer-Interaktion und Peer-Kultur. In: Helsper, W./Böhme, J. (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. 2. überarb. u. erw. Aufl. Wiesbaden, 945-964.

Buchholz, S./Imdorf, C./Hupka-Brunner, S./Blossfeld, H.-P. (2012): Sind leistungsschwache Jugendliche tatsächlich nicht ausbildungsfähig? Eine Längsschnittanalyse zur beruflichen Qualifizierung von Jugendlichen mit geringen kognitiven Kompetenzen im Nachbarland Schweiz. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 64, 701-727.

Debus, K. (2012): Und die Mädchen? Modernisierung von Weiblichkeitsanforderungen. In: Dissens e.V./Debus, K./Könnecke, B./Schwerma, K./Stuve, O. (Hrsg.): Geschlechterre-flektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin, 104-124.

Diefenbach, H. (2010): Jungen - die ,,neuen" Bildungsverlierer. In: Quenzel, G./Hurrelmann, K. (Hrsg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wiesbaden, 245-271.

Dilger, B. (2007): Der selbstreflektierende Lerner. Eine wirtschaftspädagogische Rekonstruktion zum Konstrukt der „Selbstreflexion“. Paderborn.

Dilger, B./Sloane, P. F. E. (2012): Die Veränderung der Lehrerrolle im selbst regulierten Unterricht – dargestellt anhand von Erfahrungen in Modellversuchen. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), 108 (2), 291-299.

Dilger, B./Sloane, P. F. E. (2007): Das Wesentliche bleibt für das Auge verborgen, oder? Möglichkeiten zur Beobachtung und Beschreibung selbst regulierten Lernens. In: bwp@, Ausgabe Nr. 13, Selbstorganisiertes Lernen in der beruflichen Bildung, Online: http://www.bwpat.de/ausgabe13/dilger_sloane_bwpat13.pdf (20.03.2020).

Dobischat, R./Schurgatz, R. (2015): „Mangelnde Ausbildungsreife“: ein Grund für den gescheiterten Übergang in die Ausbildung? In: Buttner, P. (Hrsg.): Wie gelingt der Übergang Schule – Beruf? ARCHIV für Wissenschaft und soziale Arbeit, 3, 48-85.

Dubs, R. (2009): Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und Lernenden im Unterricht. Stuttgart.

Emmler, T. (2015): Rezeptive Textproduktion – Produktive Textrezeption. Die Bedeutung (selbst-)reflexiver Textarbeit im Design-Based Research und ihre Implikationen für die Entwicklung von Innovationen im sozial-ökonomischen Kontext exemplarisch an der Gestaltung eines Forschungsportfolios umgesetzt. Paderborn.

Euler, D. (2014): Design-Research – a paradigm under development. In: Euler, D/Sloane, P. F. E. (Hrsg.): Design-Based Research. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), Beiheft 23, 15-44.

Euler, D. (2011): Lauthals schweigen? – Über den Umgang mit (Ab-)Brüchen und fehlenden Übergängen auf Bildungswegen. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), 107 (3), 321-327.

Euler, D./Sloane, P. F. E. (2014): Editorial. In: Euler, D./Sloane, P. F. E. (Hrsg.): Design-Based Research. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), Beiheft 23, 7-14.

Frehe, P. (2015): Auf dem Weg zu einer entwicklungsförderlichen Didaktik am Übergang Schule – Beruf. Eine designbasierte Studie im Anwendungskontext. Detmold.

Friebertshäuser, B. (2005): Statuspassage Erwachsenenwerden und weitere Einflüsse auf die Bildungsprozesse von Schülerinnen und Schülern. In: Schenk, B. (Hrsg.): Bausteine einer Bildungsgangtheorie. Wiesbaden, 127-144.

Gerholz, K.-H. (2010): Innovative Entwicklungen von Bildungsorganisationen. Eine Rekonstruktionsstudie zum Interventionshandeln in universitären Veränderungsprozessen. Paderborn.

Gössling, B./Daniel, D. (2018): Video analysis in Design-Based Research – Findings of a project on self-organised learning at a vocational school. In: Educational Design Research (EDeR), 2 (2), Online: https://doi.org/10.15460/eder.2.2.1270 (20.03.2020).

Gunder, H.-U. (2001): Schule und Lebenswelt. Ein Studienbuch. Münster.

Haruehansawasin, S./Kiattikomol, P. (2018): Scaffolding in problem-based learning for low-achieving learners. In: The Journal of Educational Research, 111 (3), S. 363-370, DOI: 10.1080/00220671.2017.1287045.

Helsper, W./Böhme, J. (2002): Jugend und Schule. In: Krüger, H.-H./Grunert, C. (Hrsg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden, 567-596

Herold, C./Herold, H. (2013): Selbstorganisiertes Lernen in Schule und Beruf. Gestaltung wirksamer und nachhaltiger Lernumgebungen. 2. Aufl. Weinheim.

Huber, A. A./Müller, G. F. (1998): Die Gruppe als Vermittlerin individueller Lernprozesse. In: Ardelt-Gattinger, A. A./Lechner, H./Schlögl, W. (Hrsg.): Gruppendynamik, Anspruch und Wirklichkeit der Arbeit in Gruppen. Göttingen, 218-233.

Jürgen-Lohmann, J./Borsch, F./Giesen, H. (2002): Kooperativer Unterricht in unterschiedlichen schulischen Lernumgebungen. In: Unterrichtswissenschaft, 30 (4), 367-384.

Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld.

Kremer, H.-H. (2012): Berufsbildung im Übergang – Überlegungen zur curricularen Gestaltung der Bildungsarbeit im Übergangssystem. In: Kremer, H.-H./Beutner, M./Zoyke, A. (Hrsg.): Individuelle Förderung und berufliche Orientierung im berufsschulischen Übergangssystem. Ergebnisse aus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt InLab. Paderborn, 21-35.

Lupatsch, J./Hadjar, A. (2011): Determinanten des Geschlechterunterschieds im Schulerfolg: Ergebnisse einer quantitativen Studie aus Bern. In: Hadjar, A. (Hrsg.): Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten. Wiesbaden, 177-202.

Quenzel, G. (2010): Das Konzept der Entwicklungsaufgaben zur Erklärung von Bildungsmisserfolg. In: Quenzel, G./Hurrelmann, K. (Hrsg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wiesbaden, 123-136. 

Reinert, G.-B./Heyder, S. (1983): Lebensort: Schule. Dokumentarbericht mit Reportagen, Ratschlägen und Kommentaren über die Alltagswelt von Lehrern und Schülern. Weinheim.

Sloane, P. F. E. (2014): Wo die wilden Kerle wohnen! Das Jungenproblem in Klassen des Übergangssystems. Editorial. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 110 (1), 1-16.

Sloane, Peter F. E. (2012): Dr. House als Chefdidaktiker – Diagnose und Unterricht: Welche Diagnostik benötigen Lehrende? Editorial. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), 108 (2), 161-168.

Sloane, P. F. E. (1992): Modellversuchsforschung, Überlegungen zu einem wirtschaftspädagogischen Forschungsansatz. Wirtschafts-, berufs- und sozialpädagogische Texte, 18. Köln.

Sloane, P. F. E./ Daniel, D./ Meier, K./ Schwabl, F./ Volgmann, S. (2018): Neugestaltung von Lernprozessen in Berufskollegs. Unveröffentlichtes Manuskript des Abschlussberichts.

Sloane, P. F. E./Twardy, M./Buschfeld, D. (2004): Einführung in die Wirtschaftspädagogik, 2. überarb. U. erw. Aufl., Paderborn.

Thimm, K. (2015): Soziale Arbeit im Kontext Schule. Reflexion – Forschung – Praxisimpulse. Weinheim.

Thiersch, H. (2012): Lebenswelt-orientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. 8. Aufl. Weinheim.

Wellgraf, S. (2012): Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld.

Zimmerman, B. J. (2002): Becoming a Self-Regulated Learner: An Overview. In: Theory Into Practice, 41 (2), 64-70, DOI: 10.1207/s15430421tip4102_2.

Zinnecker, J. (2001): Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. Weinheim.

 

[1]    Die Schule bezeichnet das von ihr eingeführte Konzept als selbstorganisiertes Lernen (SOL), da es auf einen spezifischen Ansatz zurück geht (vgl. Unterkap. 3.1 und 4.1). In diesem Beitrag verwende ich als übergreifende Bezeichnung den Begriff des selbstregulierten Lernens (SRL), der sowohl das spezifische SOL-Konzept als auch andere Ansätze umfassen soll. Ich beziehe mich damit insgesamt auf Lernkonzepte mit dem Anspruch, den Lernenden mehr Eigenverantwortung für ihr Lernen überlassen (als im Frontalunterricht) und weniger fremd zu steuern.

[2]    Für eine detaillierte Beschreibung des Projektkontextes, der Projektschritte und des fallspezifischen Vorgehens vgl. Sloane et al. (2018); Sloane (2014) sowie Gössling & Daniel (2018).

Zitieren des Beitrags

Daniel, D. (2020): Aushandlungsprozesse über Freiheiten und Grenzen im selbstregulierten Lernen. Erwartungen und Handlungsmuster bei Schüler*innen und Lehrpersonen im Übergangssystem. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-26. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe38/daniel_bwpat38.pdf (24.06.2020).