bwp@ 38 - Juni 20

Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane

Lebensweltorientierung vom Standpunkt des Subjekts im Rahmen der Berufsausbildung: Eine subjektwissenschaftliche Deutung und didaktische Implikationen

Beitrag von Christoph Spott & Andrea Burda-Zoyke
bwp@-Format: Diskussionsbeiträge
Schlüsselwörter: Lebenswelt, Lebensweltorientierung, Subjektstandpunkt, Subjektwissenschaft, Berufsausbildung, Didaktik

Empirische Befunde deuten auf eine bisher nicht hinreichende Orientierung an den Lebenswelten von Auszubildenden hin. Daher geht der Beitrag der Frage nach, wie die individuellen Lebenswelten von konkreten Auszubildenden in der Berufsausbildung deutlicher berücksichtigt und für die Lehr-Lernprozesse gewinnbringend genutzt werden können. Dies erfolgt auf der Basis des subjektwissenschaftlichen Ansatzes der Kritischen Psychologie von Holzkamp, in dem die Lebenswelt vom Standpunkt bzw. aus der Perspektive der*des jeweiligen Auszubildenden eine besondere Bedeutung erhält. Ziel des Beitrags ist, den komplexen Ansatz in seinen wesentlichen Grundzügen zu skizzieren und beispielhaft zu illustrieren, was dies für das Verständnis von Lernen und Lehren in der Berufsausbildung im dualen System bedeuten kann. Zudem möchten wir dazu anregen, didaktische Implikationen, die sich aus diesem Ansatz für die Berufsausbildung und insbesondere den berufsbezogenen Unterricht ableiten lassen, zu diskutieren.

Lifeworld Orientation from the Standpoint of the Subject in the Context of Vocational Education and Training: A subject-scientific Interpretation and Didactic Implications

English Abstract

Empirical findings indicate that the orientation towards the “Lebenswelt” (lifeworld ) of trainees/students is not adequate as yet. Therefore, the contribution investigates the question of how the individual lifeworld of specific trainees can be more clearly taken into account in vocational education and training and enhance the teaching/learning processes. This is based on the subject-scientific approach of the critical psychology by Holzkamp, in which the lifeworld is given special significance from the standpoint or from the perspective of the trainee. The aim of the article is to outline the main features of this complex approach and to exemplify what this can mean for the understanding of learning and teaching in vocational education and training in the dual system. In addition, we would like to encourage discussion of didactic implications that can be derived from this approach for vocational education and training and, in particular, teaching in vocational schools.

1 Problemaufriss

Bezüge zu den Lebenswelten der Schüler*innen werden unter lern- und insbesondere motivationstheoretischen Gesichtspunkten als Merkmal für Unterrichtsqualität ausgewiesen und diskutiert (vgl. Helmke 2015, 223f.), wodurch der Passung von unterrichtlichen Lernangeboten und der unmittelbaren Lebenswelt der Schüler*innen eine zentrale Bedeutung beigemessen wird (vgl. Rihm 2015, 196f.). Empirische Ergebnisse aus der Berufsausbildung stützen jedoch die Vermutung, dass Jugendliche im berufsbezogenen Unterricht eine lebensweltliche Passung lediglich punktuell erfahren sowie die Intensität der inhaltlichen Bezüge zu ihrem konkreten Handeln in außerschulischen Lebenswelten höchst unterschiedlich wahrnehmen (vgl. für die kaufmännische Ausbildung Holtsch et al. 2014, 12 zur inhaltlichen Relevanz für die berufliche und gesellschaftliche Praxis/Tätigkeit). So erkennen Auszubildende kaum Verbindungen zwischen betrieblichen und berufsschulischen Lerninhalten (vgl. Wirth 2013, 13), was auf eine Diskrepanz zwischen betrieblicher und berufsschulischer Lebenswelt hindeuten kann. Zudem werden im Berufsschulunterricht schüler*innenseitig kaum Lerninteressen formuliert, die sich aus dem subjektiven Handlungsvollzug in beruflichen oder privaten Lebenswelten ergeben, da die lernbiografischen Erfahrungen der Lernenden kaum Aussicht auf deren Berücksichtigung in schulischen Kontexten versprechen (vgl. Ittner/Zurwehme 2014, 13). Ferner mangelt es an ernstgemeinten curricularen Angeboten zur Reflexion subjektiver Handlungsproblematiken, mit denen sich Schüler*innen in ihrer jeweiligen beruflichen Lebenswelten konfrontiert sehen, sodass individuelle Lernbedarfe oft nicht erkannt werden (vgl. Thole 2018, 205), obwohl verlässliche lehrkräfteseitige Gesprächsangebote sowie partizipative und kooperative Austauschformate unter bestimmten Voraussetzungen von Schüler*innen als überaus ertragreiche individuelle Förder- und Lerngelegenheiten wahrgenommen werden, um subjektive Handlungs- und Lernproblematiken erkennen, bearbeiten und lösen zu können (vgl. Blindow 2015, 78, 175f.). Lehrkräfteseitig scheinen zudem ein Kontrollanspruch über Lernprozesse sowie die Inanspruchnahme von Auswahl- und Deutungsmacht in Bezug auf Lerngegenstände, Sequenzierungsmöglichkeiten, Lernmethoden und -medien zu dominieren (vgl. Ittner 2017, 189ff.; Wirth 2013, 11), sodass, mangels Einblick in die tatsächlichen Lebenswelten der Schüler*innen, lebensweltliche Bezüge bestenfalls stellvertretend und antizipativ (vom Außenstandpunkt) durch Lehrkräfte aus einer zumeist mittelschichtorientierten Logik heraus modelliert werden (vgl. Berg 2014, 8f.; 2017, 209).

Daher stellt sich die Frage, wie die individuellen Lebenswelten von konkreten Auszubildenden in der Berufsausbildung deutlicher berücksichtigt und für die Lehr-Lernprozesse gewinnbringend genutzt werden können. Der Frage nach einer solchen Lebensweltorientierung gehen wir in dem Beitrag auf der Basis des subjektwissenschaftlichen Ansatzes der Kritischen Psychologie von Holzkamp (1983a; 1993; 1995; 1996) nach, in dem die Lebenswelt vom Standpunkt bzw. aus der Perspektive der*des jeweiligen Auszubildenden eine besondere Bedeutung erhält. Ziel des Beitrags ist, ausgehend von dieser subjektwissenschaftlichen Theorie ein Verständnis einer subjektwissenschaftlichen Lebensweltorientierung zu entwickeln und beispielhaft zu illustrieren, was dies für die Analyse bzw. das Verständnis von Lernen und Lehren in der Berufsausbildung im dualen System bedeuten kann. Zudem möchten wir dazu anregen, didaktische Implikationen, die sich aus diesem Ansatz ableiten lassen, (mit uns) zu diskutieren. Hierzu stellen wir in Kapitel 2 unsere subjektwissenschaftliche Deutung von Lebenswelt und Lebensweltorientierung sowie von Lernen in und unter Bezug auf Lebenswelten dar und wenden diese Gedanken beispielhaft auf eine subjektwissenschaftliche Lebensweltorientierung in der Berufsausbildung und deren Rekonstruktion vom Standpunkt der Auszubildenden sowie auf ein subjektwissenschaftliches Lernen in der Berufsausbildung an. Damit geht es uns nicht um die Skizzierung ‚der‘ Lebenswelt von Auszubildenden per se. Vielmehr ist unser Anliegen, didaktische Implikationen anzuregen, wie eine verständigungsbasierte Erfassung des individuellen Erlebens durchaus heterogener beruflicher Lebenswelten von konkreten Auszubildenden durch diese Auszubildenden selbst erfolgen kann. In Kapitel 3 fassen wir die wesentlichen Erkenntnisse dieser Auseinandersetzung sowie erste didaktische Implikationen zusammen und geben einen kurzen Ausblick auf das sich daraus u. E. aufdrängende Forschungs- und Entwicklungsfeld.

2 Lebenswelten und Lebensweltorientierung: Eine subjektwissenschaftliche Deutung und didaktische Implikationen

Im Folgenden wird die begriffliche/kategoriale Grundlage geschaffen, um ein subjektwissenschaftlich fundiertes Verständnis von Lebensweltorientierung zu begründen. Das heißt, wir explizieren ausgewählte subjektwissenschaftliche Kategorien, die durch die Kritische Psychologie in aufwendigen funktional-historischen Ursprungs- und Differenzierungsanalysen gewonnen wurden, um den Entwicklungszusammenhang bzw. die Vermitteltheit i. S. e. Aufeinanderbezogenheit von Individuum und Gesellschaft begrifflich aufzuschließen und zu erfassen (vgl. Holzkamp 1983a, 48; 1984, 14; Osterkamp 1996, 8). In diesem Zusammenhang versucht die subjektwissenschaftliche Theorie sich der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Lebensführung des Subjekts auf verschiedenen begrifflichen Konkretheitsstufen analytisch anzunähern, u. a. auf gesellschaftstheoretischer und individualtheoretischer Bezugsebene, wodurch unterschiedliche Perspektiven und Aspekte des Vermittlungszusammenhangs fokussiert werden (vgl. Holzkamp 1983a, 356ff.; 1993, 253), die letztlich jedoch zusammengedacht werden müssen, um die Spezifik dieses vermittlungstheoretischen Ansatzes erfassen zu können. Demgemäß nehmen wir im Folgenden zunächst eine subjektwissenschaftliche Deutung von Lebenswelt(en) auf gesellschaftstheoretischer Bezugsebene (2.1) vor. Dabei geht es um die generalisierte Beschreibung konstituierender Strukturaspekte historisch und kulturell bestimmter (bspw. beruflicher, familiärer, privater) Lebenswelten, (zunächst) ohne dabei das Erleben dieser Lebenswelten aus der verallgemeinerten Subjektperspektive in Rechnung zu stellen. Wir fokussieren in diesem Zusammenhang auf die Lebenswelt der Berufsausbildung, um (begrifflich) (er)fassbar zu machen, inwiefern Auszubildenden handlungs- und lernleitende Strukturaspekte potenziell von der objektiven Lebensweltseite her entgegentreten (könnten). Vor diesem Hintergrund unternehmen wir sodann eine individualtheoretische Konkretisierung des lebensweltlichen Handlungs- und Lernzusammenhangs aus einer verallgemeinerten Subjektperspektive, indem wir beschreiben, inwiefern sich diese Lebenswelten von der Subjektseite her darstellen und welchen Einfluss dies auf das Handeln von Menschen allgemein wie auf das Lernen im Speziellen haben kann (Kap. 2.2). Da letztlich auch auf dieser Konkretisierungsstufe offenbleibt bzw. offenbleiben muss, worin genau sich ein konkretes lebensweltliches Handeln und Lernen von spezifischen Subjekten begründet, gehen wir anschließend darauf ein, wie die von der Subjektseite her erlebte Lebenswelt von Menschen sowie die damit verbundenen subjektiven Handlungsgründe individualtheoretisch rekonstruiert werden können und sollten, da im subjektwissenschaftlichen Sinne nur so eine Orientierung an den faktischen Lebenswelten der Auszubildenden durch Lehrkräfte und Ausbilder*innen möglich erscheint (Kap. 2.3). Alsdann explizieren wir eine subjektwissenschaftliche Deutung von Handlungsfähigkeit allgemein (Kap. 2.4) sowie von Lernen als spezifische Handlungsform, welche in und unter Bezug auf Lebenswelten erfolgt (Kap. 2.5). Damit versuchen wir genauer zu verstehen, wie das Handeln und das Lernen eines Menschen aus subjektwissenschaftlicher Sicht begründet und ermöglicht werden können, was eine wesentliche Basis für die in Kap. 3 folgenden didaktischen Implikationen bildet. Unsere Explikationen der subjektwissenschaftlichen Deutungen illustrieren wir jeweils an Beispielen aus der Berufsausbildung.

2.1 Objektive Lebenswelten als raumzeitliche Bedeutungsstrukturen

Zur Bedürfnisbefriedigung richten sich Menschen (physisch und kognitiv) handelnd primär auf die in objektiven Lebenswelten vorhandenen und durch gesellschaftliche Arbeit hervorgebrachten sachlichen Bedingungen sowie die damit einhergehend geschaffenen sozialen Verhältnisse. Diese sachlich-sozialen Lebensweltbedingungen fungieren dabei als Träger objektiver Bedeutungen, die ihrerseits als gesellschaftlich verallgemeinerte Handlungszusammenhänge und Denkformen zu verstehen sind. Bedeutungen bringen insofern die in den Lebensweltbedingungen liegenden Gebrauchszwecke i. S. e. Gemachtseins zum Ausführen von Handlungs- und Denkweisen zum Ausdruck, die zumindest im Durchschnitt durch die verallgemeinerten Gesellschaftsmitglieder realisiert werden (müssen), um das gesellschaftliche Erhaltungssystem zu reproduzieren. Menschliches Handeln wird folglich als Realisierung von Bedeutungen begriffen. Um den unterstellten Bedingungs-Bedeutungs-Zusammenhang hervorzuheben, dass nicht die Lebensweltbedingungen an sich, sondern die diesen innewohnenden objektiven Bedeutungen für die Menschen handlungsrelevant und -leitend sind, werden lebensweltliche Bedingungen in der Subjektwissenschaft auch als Bedeutungseinheiten bezeichnet (vgl. Holzkamp 1983a, 292, 356; 1993, 22f.). So stellt bspw. ein Bewerbungsgespräch eine Bedeutungseinheit dar, die aus Arbeitgeberperspektive im Durchschnitt dem Zweck dient zu prüfen, inwiefern die Voraussetzungen zur Begründung eines Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses im Rahmen eines Personalauswahlverfahrens vorliegen.

Lebenswelten konstituieren sich sowohl durch sachlich-soziale Bedeutungseinheiten – zu denen auch symbolische (bspw. bildliche, musikalische, schriftsprachliche) sowie nichtsymbolische (bspw. technisch-pragmatische, räumliche) Bedeutungseinheiten zählen – als auch durch unmittelbar-intersubjektive (bspw. familiäre, kollegiale, freundschaftliche) Bedeutungseinheiten. Diese Bedeutungseinheiten wiederum dienen nicht lediglich der physischen Lebenssicherung, sondern bspw. auch der Befriedigung geistiger, ästhetischer, künstlerischer und sinnlicher Bedürfnisse (vgl. Holzkamp 1983a, 309f.; 1993, 207f.).

Die gesellschaftliche Verflechtung einzelner Bedeutungseinheiten sowie der darin vergegenständlichten objektiven Bedeutungen führt zur Herausbildung objektiver Bedeutungsstrukturen, die als gesellschaftlich verallgemeinerte Verweisungszusammenhänge von Handlungserfordernissen zur lebensweltlichen Systemerhaltung und Reproduktion innerhalb einer arbeitsteiligen Gesamtstruktur begriffen werden können. Durch derartige Bedeutungsstrukturen sind Menschen in verallgemeinerter Weise (also über ihre unmittelbaren Sozialbeziehungen hinaus) zueinander ins Verhältnis gesetzt (vgl. Holzkamp 1983a, 230).

Bestimmte raumzeitliche Segmente dieser Bedeutungsstrukturen können als (bspw. berufliche, schulische oder familiäre) Lebenswelten gefasst werden (vgl. Holzkamp 1993, 253). Die arbeitsteiligen Strukturen innerhalb von Lebenswelten erzeugen unterschiedliche Positionen (bspw. Berufe oder Stellungen), die als aufeinander bezogene notwendige individuelle Beiträge resp. Teilarbeiten zur gesamtgesellschaftlichen Lebensgewinnung und -reproduktion charakterisiert werden und die Möglichkeiten sowie Grenzen der Einflussnahme eines Individuums auf lebensweltliche Bedeutungseinheiten abstecken. Der lebensweltliche Ort der Realisierung dieser positionsspezifischen Beiträge zur gesellschaftlichen Reproduktion wird sodann als objektive Lebenslage bezeichnet (vgl. Holzkamp 1983a, 358).

Unterstellen wir, dass Menschen, die sich in einem Berufsausbildungsverhältnis befinden, und die wir im Folgenden als Auszubildende bezeichnen, aus diesem bestimmte Bedürfnisse befriedigen, so tritt ihnen eine objektive (verallgemeinerte) Lebenswelt der Berufsausbildung mit innewohnenden Bedingungen, Bedeutungseinheiten und -strukturen entgegen, die für diese Auszubildenden im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse handlungsrelevant und -leitend sind. Diese Lebenswelt der Berufsausbildung kann im Falle der Berufsausbildung im dualen System zeitlich im Wesentlichen durch die Ausbildungsdauer und räumlich (mind.) durch den Betrieb und die Berufsschule sowie ggf. weiterer Lernorte wie überbetriebliche Berufsbildungsstätten, die im Folgenden aus Vereinfachungsgründen vernachlässigt werden sollen, gefasst werden. Aufgrund der prägnanten räumlichen (z. B. Schule vs. Betrieb) und zeitlichen (z. B. Schulzeit vs. Arbeitszeit) Abgrenzbarkeit, welche wiederum mit unterschiedlichen insbesondere sachlich-sozialen Bedeutungseinheiten (z. B. berufsschulische Lernfeldcurricula vs. betriebliche Ausbildungsordnung, Berufsschulunterricht mit Lehrkräften vs. betriebsinterne Unterweisung durch Ausbilder*innen, schulische Klassenräume und Lernbüros vs. betriebliche Büro- und Verkaufsräume, schulische Lernmedien vs. betriebliche Arbeitsmedien, Abbildungen und Grafiken im Lehrbuch vs. betriebsinterne Infografiken zu Arbeitsabläufen und Arbeitssicherheitspiktogramme, Fachtexte vs. Betriebsanweisungen) sowie unmittelbar-intersubjektiven Bedeutungseinheiten (z. B. Schüler*innen-Lehrkräfte- oder schulfreundschaftliche Beziehung vs. Auszubildenden-Ausbilder*innen- oder kollegiale Beziehung), verbunden sind, differenzieren wir die Lebenswelt der Berufsausbildung in zwei raumzeitliche Teilsegmente. Diese bezeichnen wir im Folgenden als die Lebenswelten der betrieblichen sowie der berufsschulischen Berufsausbildung. Vor dem Hintergrund der Berufsbildungsidee, der im Rahmen von Neuordnungen miteinander abgestimmten Ordnungsgrundlagen und der in der Folge zumindest erwarteten Lernortkooperation gehen wir von einem aufeinander bezogenen Verhältnis beider Lebenswelten aus.

Die Lebenswelt der Berufsausbildung und ihre betriebliche und berufsschulische Lebenswelt bringen spezifische Positionen wie Auszubildende und Ausbilder*innen in der betrieblichen Lebenswelt, Berufsschüler*innen und Berufsschullehrkräfte in der berufsschulischen Lebenswelt hervor. Gerade der betrieblichen Lebenswelt sind diverse weitere spezifische Positionen wie Mitarbeiter*innen, Kund*innen sowie Geschäftspartner*innen des Ausbildungsbetriebs immanent. Aus didaktischer Perspektive interessieren uns im Folgenden insbesondere die Positionen der Jugendlichen als Auszubildende, welche in der berufsschulischen Lebenswelt auch als Berufsschüler*innen konkretisiert werden können sowie von Ausbilder*innen i. w. S. (d. h. auch derjenigen Mitarbeiter*innen des Unternehmens, die in einer bestimmten Phase in irgendeiner Form in die Ausbildung der Auszubildenden eingebunden sind) und Lehrkräften in der beruflichen Schule. Den Jugendlichen in der Berufsausbildung kann auf den ersten Blick grds. die Position von Auszubildenden im Beruf XY zugeschrieben werden. In der berufsschulischen Lebenswelt wird ihnen – teils synonym, teils konkretisierend – zugleich die Position von Berufsschüler*innen zugeteilt. Wenn wir im Folgenden den Begriff Auszubildende verwenden, dann meinen wir die Jugendlichen in der Berufsausbildung und unabhängig von einer der beiden Lebenswelten. Als objektive Lebenslagen der Auszubildenden in der Berufsausbildung im dualen System kommen im Wesentlichen der Ausbildungsbetrieb sowie die Berufsschule in Betracht, von denen aus sie ihren Beitrag als Auszubildende bzw. als Berufsschüler*in zur gesellschaftlichen Reproduktion von Berufsausbildung im Beruf XY leisten. Zusammenfassend bietet sich Jugendlichen in der Berufsausbildung folglich eine objektive Lebenswelt Berufsausbildung an, die ein bedeutungsstrukturelles Arrangement aufeinander bezogener berufsschulischer und betrieblicher Lebenswelten darstellt. Die mit der Lebenswelt Berufsausbildung und ihren beiden immanenten Lebenswelten gegebenen diversen Bedeutungen sind annahmegemäß grds. für die Auszubildenden handlungsrelevant und -leitend.

2.2 Unmittelbare Lebenswelten als subjektive Möglichkeitsräume

Die subjektwissenschaftliche Spezifik des für Handeln relevanten und leitenden Bedeutungsbegriffs besteht nun darin, dass auf individualtheoretischer Bezugsebene die in den Bedeutungseinheiten vergegenständlichten objektiven Bedeutungen und Bedeutungsstrukturen dem Subjekt zwar von der Lebensweltseite (bspw. der Lebenswelt der Berufsausbildung) her entgegentreten, diese für das jeweilige Subjekt jedoch lediglich Handlungsmöglichkeiten darstellen, die es als je seine subjektiven Handlungsmöglichkeiten erfassen und (teilweise) realisieren, jedoch auch abändern oder verweigern kann (vgl. Holzkamp 1983a, 233ff.; 1984, 50; 1993, 22f., 207). Menschen beziehen sich in ihren Handlungen in einer je subjektiv-sinnstiftenden Art und Weise auf die in ihren Lebenswelten gegebenen Bedeutungseinheiten. Demnach ist die in unterschiedlichem Umfang und auf unterschiedliche Art und Weise erfolgende Nutzung oder Nicht-Nutzung bspw. der medialen Ausstattung eines Ausbildungsbetriebs für die Erstellung einer Unternehmenspräsentation durch Auszubildende vor dem Hintergrund ihrer je subjektiven Sinnzuweisung zu betrachten und geradezu zu erwarten.

Der subjektwissenschaftliche Bedeutungsbegriff bringt insofern die Bedingungen der Lebenswelt gedanklich mit der Subjektseite zusammen, da die objektiven Gebrauchszwecke der lebensweltlichen Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten weder etwas vom Subjekt noch etwas von der Lebenswelt Getrenntes darstellen (können). Bedeutungen liegen nicht als ausschließlich stoffliche Eigenschaften von Dingen oder als unabhängig vom Subjekt bestehende Gedanken- und Gefühlsinventare auf der Weltseite vor. Ebenso wenig bilden Bedeutungen eine ausschließlich selbstreferenzielle und von der Lebenswelt isolierte Sinnkonstruktion auf der Subjektseite. Bedeutungen werden von Subjekten unter Bezugnahme auf die objektiven resp. realen lebensweltlichen Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten kognitiv erfasst und in einer je subjektiv sinnstiftenden Art und Weise aktiv umgesetzt (vgl. Meretz 2012, 56).

Übertragen auf die Berufsausbildung ist folglich davon auszugehen, dass sich die Bedeutungen, also die objektiven Gebrauchszwecke bspw. eines Sachtextes über Finanzierungsmodelle von PKWs für die Berufsausbildung von Automobilkaufleuten weder aus sich selbst heraus noch alleine aus der Sinnkonstruktion des*der Auszubildenden ergibt. Vielmehr konstituiert sich die Bedeutung jeweils daraus, welchen Sinn ein*e Auszubildende*r diesem Sachtext vor dem Hintergrund seiner Lebensinteressen beimisst. In unserem Beispiel könnten die objektiven Gebrauchszwecke des Sachtextes im Erschließen von Finanzierungsmodellen und zur Bearbeitung einer Finanzierungsanfrage, die an den Auszubildenden gestellt wurde, ebenso liegen wie im Lesen des Textes zum Erzielen von guten Noten für die Übernahme in ein festes Beschäftigungsverhältnis im Anschluss an die Berufsausbildung. Auf individualtheoretischer Bezugsebene manifestiert sich die Lebenswelt des Subjekts daher als raumzeitliches Segment von Bedeutungseinheiten und -strukturen, die dem Subjekt immer als die je seinen gegeben sind (vgl. Holzkamp 1993, 252f.).

Während auf gesellschaftstheoretischer Bezugsebene die objektive Lebenslage (z. B. der Ausbildungsbetrieb oder die Berufsschule) einen durch Positionen (wie die einer*eines Auszubildenden und/oder einer*eines Berufsschülerin*Berufsschülers) bestimmten gesellschaftlichen Teilbereich bildet (siehe 2.1), stellt aus individualtheoretischer Perspektive die unmittelbare Lebenslage die vorrangige, absolute und nicht hintergehbare Realität des Daseins dar, in welcher das jeweilige Subjekt sein Leben praktisch zu bewältigen hat. Die dem Individuum konkret gegebene, unmittelbare Lebenslage konkretisiert sich immer vor dem Hintergrund all jener Bedeutungseinheiten, mit denen das Individuum in den je ihm gegebenen Lebenswelten faktisch in Kontakt kommt. Dazu zählen bspw. auch Haushalt, Parteiarbeit, Ehe, Hobby. Die unmittelbare Lebenslage impliziert demzufolge die Position, erschöpft sich jedoch nicht nur in den die notwendigen individuellen Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung/-reproduktion originär betreffenden Bedeutungseinheiten, sondern geht über diese hinaus (bspw. Hausputz, Nachbarschaftshilfe, Unternehmungen mit der Familie etc.). Die Realisierung einer Position ist für das jeweilige Subjekt folglich stets in einer je individuellen Art und Weise gerahmt resp. raumzeitlich beschränkt und wird damit zu einer spezifischen Ausprägungsform seiner unmittelbaren Lebenslage (vgl. Holzkamp 1983a, 355, 358; Markard 2016, 150; Meretz 2012, 144).

Daraus ergibt sich, dass jedes lebensweltlich segmentierte Handeln des Subjekts in einer konkreten raumzeitlichen Lebenswelt (bspw. der Berufsausbildung) auch immer aus anderen subjektiv gegebenen Lebenswelten heraus strukturiert ist (Holzkamp 1983a, 367). So konstituiert sich die unmittelbare Lebenswelt der Berufsausbildung für das jeweilige Subjekt immer auch durch private resp. alltägliche Lebensweltbezüge (bspw. das Subjekt als Kunde und Konsument im Wirtschaftsgeschehen). Im Kontext der alltäglichen Lebensführung, die als zyklische und selbstreproduktive Handlungsform bzw. -routine zur Organisation der tagtäglichen Lebensbewältigung begriffen werden kann (vgl. Holzkamp 1995, 842ff.), sieht sich das Subjekt der permanenten Herausforderung gegenüber, mehrdimensionale und teilweise widersprüchliche Bedeutungen innerhalb verschiedener und zwischen verschiedenen Lebenswelten (bspw. Berufsausbildung, Familie, Freundeskreis) aufeinander abzustimmen bzw. relational zu arrangieren (vgl. Voß 1991, 261f.). Unter dieser Perspektive bildet die Lebenswelt der Berufsausbildung einen durch mannigfaltige alltägliche Lebensweltbezüge beeinflussten raumzeitlichen sozio-ökonomischen Teilkontext der alltäglichen Lebensführung. Dabei ist auch zu beachten, dass Veränderungen bzw. Brüche (in) der alltäglichen Lebensführung sich auch auf Lern- und Arbeitsprozesse in berufsschulischen und/oder betrieblichen Lebenswelten auswirken können und umgekehrt bestimmte Vorkommnisse oder Verhältnisse in berufsschulischen oder betrieblichen Lebenswelten in familiäre Lebenswelten hineinwirken können, was auch eine Veränderung der unmittelbaren Lebenslage des Subjekts induziert (vgl. Holzkamp 1995, 817ff.).

Das heißt, die unmittelbare Lebenslage der beispielhaften Auszubildenden zur Automobilkauffrau Lotta Matthies stellt die für sie vorrangige und nicht hintergehbare Realität in ihrem Ausbildungsbetrieb der Firma Müller Sportwagen, in dem sie auf eine bestimmte Art und Weise eingesetzt ist und dort mit jeweils realen und spezifischen Anforderungen konfrontiert wird, bzw. in ihrer Berufsschule und Berufsschulklasse, in der konkrete Aufgaben sowie Problemstellungen gestellt werden, was die Auszubildende wiederum mit ganz konkreten Anforderungen konfrontiert (z. B. eine Finanzierungsanfrage des Kunden Emil Friedrichsen für den Kauf eines Neuwagens bearbeiten), dar. Ihre unmittelbare Lebenslage konkretisiert sich zudem vor dem Hintergrund aller spezifischen Bedeutungseinheiten und -strukturen jener unmittelbaren Lebenswelten (bspw. Familie, Sportverein), die Lotta Matthies im Kontext ihrer alltäglichen Lebensführung konkret gegeben sind und die sie relational zu arrangieren hat. So wird die Ausübung ihrer betrieblichen und schulischen Tätigkeiten bspw. zeitlich, räumlich und sachlich eingeschränkt. Nehmen wir bspw. an, Lotta Matthies absolviert eine Teilzeitausbildung, da sie als alleinerziehende Mutter ihr Kind zu betreuen hat und die kleine Kita ihres Wohnortes keine Ganztagsbetreuung anbietet. Für Lotta ist damit die Art und der Grad der Ausführung ihrer Position als Auszubildende aufgrund ihrer unmittelbaren Lebenslage raumzeitlich u. a. durch die Form der Teilzeitausbildung und ihren Ausbildungsbetrieb der Firma Müller eingeschränkt bzw. in gesellschaftliche Anforderungs- resp. Bedeutungsstrukturen (bspw. die Unternehmensziele und Corporate Identity ihres Ausbildungsbetriebes sowie die Kinderbetreuung) eingebunden. Aus der Perspektive des Subjekts bedeutet dies, dass mir „die gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszusammenhänge immer nur in begrenzten Aus- und Anschnitten, quasi als »Infrastrukturen« meiner spezifischen Lebenslage/Position, die meine primäre, unhintergehbare Daseinsrealität ausmachen, zugänglich sind“ (Herv. i. Orig., Holzkamp 1993, 253). Beispielsweise erhält die Auszubildende Lotta Matthies durch ihre Berufsausbildung zur Automobilkauffrau bei der Firma Müller Sportwagen und durch die in der Phase ihrer betrieblichen Ausbildung erscheinenden Kund*innen spezifische Möglichkeiten der Kundenberatung und der Bearbeitung von spezifischen Finanzierungsanfragen, die sie zum Durchdenken spezifischer Finanzierungsmodelle anregen können, während andere ihr verwehrt bleiben.

Die gesamtgesellschaftlichen objektiven Bedeutungseinheiten und -strukturen (z. B. Finanzierungsmodelle für einen PKW-Kauf) untergliedern sich für das Subjekt folglich selektiv-differenzierend als Infrastrukturen, denen „Bedeutungsverweisungen auf das Ganze der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Herv. i. Orig., Holzkamp, 1983a, 363) inhärent sind. Je nach Lebenslage sind diese Infrastrukturen verschiedenartig akzentuiert, was auch spezifische bspw. in einem konkreten Ausbildungsbetrieb oder einer beruflichen Schule gegebene zwischenmenschliche Beziehungs-, Umgangs- und Sprachformen umfasst sowie Traditionen, Normen und Moden. Das konkrete Absolvieren einer Berufsausbildung durch eine/einen Auszubildende*n ist damit immer auch an gewisse (Arbeits-)Handlungen in dem jeweiligen Ausbildungsbetrieb, in den besuchten Abteilungen und Teams und erlebten betrieblichen Situationen etc. sowie an die konkreten (Lern-)Handlungen in der jeweiligen beruflichen Schule, Klasse, Lerngruppe etc. gebunden, denen ihrerseits spezielle kognitive Anforderungen, interpersonale Beziehungsweisen, Sprachregister und Moralvorstellungen immanent sind (vgl. a. a. O., 360f.). Das subjektive Handeln in Lebenswelten gilt damit als in einer spezifischen Art und Weise auf die lage- und positionsspezifischen Bedeutungs- resp. Infrastrukturen bezogen bzw. mit diesen vermittelt (vgl. a. a. O., 368).

Um an Lebenswelten teilhaben zu können, müssen die Infrastrukturen von Individuen zunächst denkend reproduziert bzw. subjektiv erfasst werden (vgl. Holzkamp 1984, 48ff.). Das heißt, Lotta Matthies muss sich bspw. die Unternehmensziele, geschäftsprozessualen Abläufe und organisatorischen Teamstrukturen ihres Ausbildungsbetriebes zunächst handelnd und verstehend erschließen (wollen und können), um diese unternehmensadäquat umsetzen und mitgestalten zu können.

Mit jeder in einer unmittelbaren Lebenslage realisierten Position sind dem Subjekt folglich Infrastrukturen von Bedeutungszusammenhängen i. S. v. spezifischen Handlungs-, Beziehungs- und Denkmöglichkeiten gegeben. Diese Infrastrukturen „begründen sich quasi aus sich selbst, aus ihrer Verbreitung, die gleichzeitig ein Moment der Normativität enthält: Der Umstand, daß man etwas tut, schließt im gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt unmittelbar ein, daß »auch ich« dies tun muß“ (Herv. i. Orig., Holzkamp 1983a, 360). Durch die (fraglose) Akzeptanz und Realisierung der Infrastrukturen, die für das Subjekt immer auch mit Handlungsbeschränkungen verbunden sind, leistet der*die Einzelne einen gesamtgesellschaftlichen Lebensgewinnungs- sowie Reproduktionsbeitrag hinsichtlich der bestehenden Lebensweltbedingungen nebst der darin gegebenen Bedeutungsstrukturen (vgl. a. a. O., 363f.). Übertragen auf die Berufsausbildung bedeutet dies bspw., dass eine Schülerin in der Berufsschule, indem sie regelmäßig am Unterricht aktiv teilnimmt, in dieser Zeit nicht ihren Hobbys nachgehen kann und gleichzeitig dazu beiträgt, dass von Auszubildenden erwartet wird, dass sie am Berufsschulunterricht aktiv teilnehmen.

Jedoch gilt (entsprechend der Charakteristik des subjektwissenschaftlichen Ansatzes), dass die dem jeweiligen Subjekt gegebenen lebensweltlichen Bedeutungs- resp. Infrastrukturen zwar im gesellschaftlichen Durchschnitt realisiert werden (müssen), das jeweilige Subjekt jedoch immer die Möglichkeit hat, eine gnostische (erkennende) Distanz zu seiner unmittelbaren Lebenswelt einzunehmen, sich selbst als Ursprung seiner eigenen Handlungen zu begreifen und ein Bewusstsein für Alternativen auszubilden. Dem Subjekt wird damit die genuine Möglichkeit zugesprochen, durch unmittelbarkeitsüberschreitendes bzw. verfügungserweiterndes Handeln die in den lebensweltlichen Bedingungen enthaltenen Bedeutungen entsprechend der eigenen langfristigen Lebensinteressen zu verweigern oder in abgeänderter bzw. erweiterter Form zu realisieren, wodurch letztlich auch die lebensweltlichen Bedingungen selbst verändert werden können (vgl. Holzkamp 1983a, 233ff., 354f., 396; 1983b, 14ff.; 1988, 35; 1995, 838). Für das einzelne Subjekt in seiner Lebenswelt bedeutet dies, dass kein unmittelbarer oder zwingender Zusammenhang zwischen seiner lebensweltlichen Existenzerhaltung und der gesamtgesellschaftlichen Lebenssicherung besteht (vgl. Holzkamp 1984, 39).

Die Auszubildende Lisa Schmidt kann folglich für sich unter Abwägung der Konsequenzen und vor dem Hintergrund ihrer Lebensinteressen entscheiden, punktuell nicht am Berufsschulunterricht teilzunehmen, obwohl dies durch die Berufsschulpflicht eigentlich von ihr erwartet wird, womit sie eine objektive Bedeutung der berufsschulischen Lebenswelt punktuell verweigert bzw. abändert. Diese Alternative könnte die Auszubildende in Betracht ziehen, wenn sie das langfristige Lebensziel einer Selbstständigkeit verfolgt, und hierfür an dem Berufsschultag an einem aus ihrer Sicht sehr bedeutsamen Start-Up-Wettbewerb teilnimmt. Die gesamtgesellschaftliche Idee der Berufsausbildung, mit der u. a. die regelmäßige Teilnahme am Berufsschulunterricht verbunden wird, welche insbesondere in der Berufsschulpflicht zum Ausdruck kommt, wird dadurch nicht existenziell bedroht. Es liegt dann zum einen an den objektiven lebensweltlichen Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten (z. B. rechtliche Grundlagen zur Schulpflicht sowie zur Befreiung von der Schulpflicht) als auch an deren subjektiver Erfassung durch die Auszubildende (z. B. kennt die Auszubildende diese rechtlichen Grundlagen, recherchiert sie sie und wie interpretiert sie sie?), welche Möglichkeiten die Auszubildende für sich erkennt, um – zum Zwecke der Teilnahme am Start-Up-Wettbewerb – in diesem Zeitraum nicht am Berufsschulunterricht teilzunehmen (z. B. Befreiung von der Schulpflicht, Nach-/Vorarbeiten des Berufsschulunterrichts, unentschuldigtes Fehlen, Fehlen unter Angabe einer vorgetäuschten Erkrankung o. ä.).

Um dem individualtheoretischen Möglichkeits- bzw. Vermittlungszusammenhang Ausdruck zu verleihen, werden Lebenswelten in der subjektwissenschaftlichen Terminologie (auch) als subjektive Möglichkeitsräume charakterisiert, die das subjektive Handeln des Individuums zwar entsprechend der lage- und positionsspezifischen Bedeutungs- bzw. Infrastrukturen rahmend begrenzen, aber dennoch individuell ausmachbare Handlungsspielräume für das Subjekt bergen (vgl. Holzkamp 1983a, 368). Übertragen auf das skizzierte Beispiel bedeutet dies, dass sich dieser Auszubildenden Lisa Schmidt je nach Position und Lebenslage (z. B. Auszubildende im Betrieb XY, der die Pläne der zukünftigen Selbstständigkeit unterstützt oder nicht, und Berufsschülerin in der Berufsschule Z mit dem Klassenlehrer Herrn Gruber, der sie umfangreich über ihre Rechte und Möglichkeiten berät oder eben nicht) unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten stellen (z. B. im Betrieb Arbeitsaufträge bearbeiten oder Urlaub nehmen bzw. in der Schule am Unterricht teilnehmen oder unentschuldigt fehlen, um am Start-Up-Wettbewerb teilnehmen zu können), die wiederum je subjektiv-sinnstiftend erfasst, realisiert oder adaptiert werden.

Bisher wurden die subjektiven Möglichkeitsräume in ihrem Vermittlungszusammenhang primär von der Weltseite her charakterisiert. Fokussiert man innerhalb dieses Vermittlungszusammenhangs stärker auf die Subjektseite so wird deutlich(er), dass sich subjektive Möglichkeitsräume immer auch vor dem Hintergrund der (Zukunfts-)Perspektive des jeweiligen Subjekts konstituieren und zudem personal beschränkt werden durch biografische Aspekte (bspw. früher [nicht] realisierte Handlungsmöglichkeiten oder das Verhaftetsein in unreflektierten Erfahrungen, Beziehungs- und Lebensbewältigungsformen) sowie die Fähigkeiten, Wissensstände und Körperlichkeitsempfindungen des jeweiligen Subjekts (vgl. Holzkamp 1983a, 368f., 499; 1993, 253-269). „Das Individuum kann in seinen subjektiven Möglichkeiten hier also hinter den in den Bedeutungen gegebenen Möglichkeiten (…) zurückbleiben, es kann sich aber auch über das Ausmaß und die Art der real gegebenen Möglichkeiten täuschen“ (Holzkamp 1983a, 368). Übertragen auf die Berufsausbildung wird damit betont, dass die subjektiven Möglichkeitsräume auch durch die Zielsetzungen der Auszubildenden sowie die je subjektive(n) Biographie, Fähigkeiten, Wissensbestände und Körperlichkeitsempfindungen konstituiert und beschränkt werden (bspw. können berufliche und private Ziele und Lebenspläne während und/oder nach der Berufsausbildung dazu beitragen, dass manche Ziele der Berufsausbildung nicht übernommen und entsprechende Lernhandlungen unterlassen werden; bereits vor der Ausbildung Erfahrens und Gelerntes muss resp. kann nicht noch einmal gelernt werden, so dass manche Aufgabenstellungen möglicherweise subjektiv sinnstiftend nicht bearbeitet werden; negative körperliche Erfahrungen können zur Vermeidung von angenommenen körperlich anstrengenden Handlungen beitragen etc.).

Um (Nicht-)Lernprozesse von Schüler*innen verstehen und adäquat unterstützen zu können, sind die in diesem Kapitel skizzierten lebensweltlichen Zusammenhänge didaktisch in Rechnung zu stellen. Für Lehrkräfte ergibt sich daraus zunächst die didaktische Frage, wie es gelingen kann (besser) zu verstehen, wie der*die jeweilige Auszubildende die Bedeutungs- resp. Infrastrukturen der je ihm*ihr unmittelbar gegebenen Lebenswelt(en) in seiner*ihrer lage- und positionsspezifischen Vermitteltheit erfährt und daraufhin sein*ihr Handeln gestaltet. Zur Erschließung derartiger Vermittlungszusammenhänge bedient sich die Subjektwissenschaft der Rekonstruktion vom Subjektstandpunkt. Dieser auf Basis intersubjektiver Verständigung erfolgende Vorgang wird im folgenden Abschnitt vertieft.

2.3 Individualtheoretische Rekonstruktion unmittelbarer Lebenswelten und subjektiver Handlungsgründe vom Standpunkt des Subjekts im Kontext intersubjektiver (Selbst-)Verständigung

Der verallgemeinerte Subjektstandpunkt beschreibt eine individualtheoretische analytische Kategorie, um die lage- und positionsspezifische Perspektive des Subjekts auf sich selbst und auf die Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten sowie die Bedeutungsstrukturen seiner unmittelbaren Lebenswelt zum Ausdruck zu bringen. Der Subjektstandpunkt beinhaltet dabei die Lebensinteressen, Bedürfnisse und Handlungsvorsätze des Subjekts, die als Charakteristika einer je subjektiven handlungsleitenden Intentionalität begriffen werden (vgl. Holzkamp 1993, 21). Die jeweilige Intentionalität richtet den Blick und die Wahrnehmung der Handlungsmöglichkeiten (Bedeutungen) in spezifischer und dadurch unweigerlich begrenzter Form (vgl. Holzkamp 1983a, 539; 1984, 8). Je nach Zielen und Lebensplanung während und nach der Berufsausbildung nehmen Auszubildende bspw. verschiedene und/oder verschiedenartig akzentuierte Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Berufsausbildung wahr. Das heißt, innerhalb einer Klasse oder eines Lehrjahres eines bestimmten Ausbildungsberufes kann und wird es voraussichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen und Interpretationen der sich mit der Berufsausbildung bietenden Handlungsmöglichkeiten geben. Während bspw. manche Auszubildende zur*zum Bankkauffrau*mann bereits während der Ausbildung ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und/oder der Wirtschaftspädagogik anstreben könnten, um anschließend einem schon mehr oder weniger konkretisierten akademischen Wunschberuf nachzugehen oder Lehrkraft an einer beruflichen Schule zu werden, werden andere möglicherweise den Fokus auf die Gründung einer Familie und/oder ein Ankommen im Berufsfeld von Bankkaufleuten anstreben, um nur sehr wenige mögliche Lebensinteressen, Bedürfnisse und Handlungsvorsätze beispielhaft anzuführen, die das jeweilig Handeln der Auszubildenden auch im Rahmen der Berufsausbildung leiten können.

Annahmegemäß lässt sich der Subjektstandpunkt grds. durch Sprache explizieren und kann dadurch für das jeweilige Subjekt sowie andere Subjekte verstehbar werden. Um diese intersubjektive (Selbst-)Verständigung zu ermöglichen, greift die Subjektwissenschaft (in klarer Abgrenzung zum Bedingtheitsdiskurs der klassischen Variablenpsychologie) auf die Diskursform subjektiver Handlungsgründe bzw. Bedeutungs-Begründungs-Diskurse zurück. Die dabei extrahierten und in den jeweiligen Lebensinteressen fundierten Handlungsgründe bringen den Subjektstandpunkt zum Ausdruck, da nur das jeweilige Subjekt Gründe für sein Handeln haben kann, die das jeweils andere Subjekt von seinem Standpunkt aus dadurch berücksichtigen kann, indem es nach den Handlungsgründen seines Gegenübers fragt (vgl. Holzkamp 1991, 198; 1993, 21ff.; 1995, 837; 1996, 261ff.).

So genügt es bspw. in Bezug auf unsere Auszubildende Lisa Schmidt nicht, dass der Klassenlehrer Herr Gruber vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und im Austausch mit Kolleg*innen oder aufgrund verallgemeinerter empirischer Forschungsbefunde zum Schulabsentismus das Fernbleiben vom Berufsschulunterricht von Lisa zu erklären versucht, auch wenn diese lehrkräfteseitigen intersubjektiven (Selbst-)Verständigungsergebnisse erste Hinweise auf mögliche Handlungsgründe sein können. Um zu verstehen, dass sich das punktuelle Fernbleiben vom Berufsschulunterricht im Lebensinteresse von Lisa begründet, den Weg in eine berufliche Selbstständigkeit ebnen zu wollen, muss Herr Gruber die genuinen Handlungsgründe aus der Perspektive von Lisa begreifen resp. je ihre lebensweltlich vermittelten Handlungsgründe, (zunächst) in Absehung der eigenen Interessen (bspw. niedrige oder bestenfalls keine Fehlzeiten in Bezug auf die eigene Klasse vorweisen zu können), zur Geltung kommen lassen sowie rekonstruieren.

Handlungsgründe lassen sich als in Denk-, Gestaltungs- und Sprachformen ausgedrückte Repräsentanzen des subjektiv handlungsleitenden Zusammenhangs zwischen lebensweltlichen Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten und Bedeutungen sowie deren subjektiver (Nicht)Realisierung charakterisieren. Die Handlungsgründe bilden somit die zentrale individualtheoretische Vermittlungsebene zwischen lebensweltlichen Notwendigkeiten/Bedingungen und individuell realisierten Handlungsmöglichkeiten (Bedeutungen) zur Lebensbewältigung. Die in Bezug auf das subjektive Handeln ausschlaggebenden Gründe liegen dabei keineswegs immer auf der Hand. So können durchaus auch unbewusste Gründe hinter den bewusst benannten Gründen handlungsleitend sein, wodurch dann das Subjekt mit seinen als begründet empfundenen Handlungen in selbstschädigender Art und Weise in Widerspruch zu seinen eigenen Lebensinteressen geraten kann (vgl. Holzkamp 1983a, 348; 1988, 35f.; 1996, 264). Damit sind kognitive sowie emotional-motivationale Aspekte der (Selbst-)Verständigung angesprochen, insbesondere die in keiner Ausschließlichkeitsbeziehung zueinander stehenden kognitiven Selbstverständigungsaspekte des deutenden und begreifenden Denkens. Während sich deutendes Denken primär innerhalb der begrenzten Faktizität aktueller Einschränkungen der unmittelbaren lebensweltlichen Lage und Positionsrealisierung und damit in verkürzter Form vollzieht, umfasst begreifendes Denken (darüber hinaus) u. a. die kritisch-reflexive und realistische Erfassung des Vermittlungsverhältnisses personaler und lebensweltlicher Handlungsmöglichkeiten und -grenzen sowie die in diesem liegende Potenzialität in Bezug auf die Verfolgung tatsächlicher Lebensqualität und -interessen (vgl. Holzkamp 1983a, 394ff.; Meretz 2012, 102ff.). In dem angeführten Beispiel könnte Lisa Schmidt das Ziel, ihre Chancen auf Selbstständigkeit erhöhen zu wollen, als Grund für das Fernbleiben des Berufsschulunterrichts bspw. auch nur gegenüber Mitauszubildenden „vorschieben“ (selbstschädigende Handlungsbegründung im Zusammenhang mit deutendem Denken), während unbewusst die Abneigung gegen die Berufsschule und/oder die Lehrkraft sie immer wieder dazu bewegt, dem Berufsschulunterricht fernzubleiben. Letztlich kann der Schulabsentismus dazu führen, dass sie die Berufsausbildung nicht erfolgreich abschließen kann, womit sich ihre Chancen auf eine erfolgreiche Selbstständigkeit wiederum verringern können. Ferner könnte der Auszubildende Tobias Bode bspw. die Wahl der Berufsausbildung zum Bankkaufmann mit dem Interesse begründen, das mit dem Abschluss dieser Berufsausbildung verbundene Einkommen und Prestige realisieren zu wollen (selbstschädigende Handlungsbegründung im Zusammenhang mit deutendem Denken), während die primär handlungsleitenden Gründe in einem bisher unreflektierten und unbewussten Handlungsmodus der Entsprechung elterlicher Erwartungen zur Vermeidung familiärer Konflikte liegen. Dadurch können Motivationsprobleme, Desinteresse und moralische Konflikte in Bezug auf die Lerngegenstände und beruflichen Handlungserfordernisse eines Bankkaufmanns entstehend, die mit seinen tatsächlichen Lebensinteressen, bspw. der Umsetzung von Möglichkeiten zur Mitgestaltung ökologisch nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensweisen, in Widerspruch geraten können. Begreifendes Denken würde im Zusammenhang mit Lisa bspw. die Erfassung der Gründe für die Abneigung gegenüber der Berufsschule und/oder der Lehrkraft implizieren und/oder das Erkennen von Möglichkeiten und Grenzen eines klärenden Gesprächs mit der Lehrkraft. In Bezug auf Tobias umfasst das begreifende Denken u. a. die Erfassung und Reflexion der konfliktären familiären Bedingungen und Bedeutungsstrukturen, die Bewusstwerdung der eigenen Vermeidungsstrategien sowie die Suche nach Gründen für selbige und ggf. die Entwicklung etwaiger Überwindungsmöglichkeiten.

Aus diesen Beispielen zeigt sich bereits, dass Auszubildende (womöglich) zudem nicht unwesentliche (Selbst-)Verständigungsbedarfe hinsichtlich (der Zusammenhänge) ihrer beruflichen, schulischen und privaten Lebensinteressen aufweisen und/oder ihre Handlungsgründe nicht ohne weiteres auf den Begriff bringen können, also noch nicht über die Fähigkeit und/oder Bereitschaft verfügen, lebensweltliche Bedingungen und die in diesen liegenden lage- und positionsspezifischen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen bewusst und kritisch erfassen und reflektieren zu können/wollen. Die potenzielle Vielfalt selbstschädigender Handlungsbegründungen im Zusammenhang mit deutendem Denken – die sich in spezifische Ausprägungsformen defensiver Realitätsverkennung (bspw. Verdrängung von Ängsten, Leugnung von Leiden, Prokrastination am Arbeitsplatz und/oder in Lernzusammenhängen, selektive Wahrnehmung durch Dissoziation, Mystifizierung bestehender Machtverhältnisse) verhärten können (vgl. Holzkamp 1983a, 379ff.; 1993, 268) – lassen die intersubjektive (Selbst-)Verständigung von und zwischen Auszubildenden und Lehrkräften resp. die im Diskurs erfolgende reflexive Perspektiven-Verschränkung (vgl. Holzkamp 1983a, 238) in Form einer subjektstandpunktmanifestierenden, begründungsbasierten „wechselseitigen Prämissenabklärung“ (Holzkamp 1996, 264) umso wichtiger erscheinen.

Über die Explikation von Handlungsgründen kann intersubjektiv verstehbar werden, welche An- und Ausschnitte der Bedeutungs- bzw. Infrastrukturen der unmittelbaren Lebenswelt für das Subjekt handlungsrelevant sind und daher die Begründungsprämissen für das jeweilige Handeln bilden. Also warum das Subjekt manche der lebensweltlichen Bedingungen und Bedeutungen aktiv selegiert und in einer spezifischen Art und Weise realisiert und andere hingegen nicht zu den Prämissen werden, aus denen heraus das Subjekt die Handlungen begründet (vgl. Holzkamp 1983a, 350ff.; 1988, 35f.; 1990, 41; 1993, 23ff.; 1995, 838; 1996, 261). So kann bspw. für den Lehrer Gruber durch die versprachlichten Handlungsgründe von Lisa Schmidt nicht lediglich das Lebensinteresse seiner Schülerin (berufliche Selbstständigkeit) ersichtlich werden, sondern es wird ihm ggf. darüber hinaus begreifbar, warum Lisa spezifische lebensweltliche Bedeutungseinheiten (bspw. den Start-Up-Wettbewerb) als handlungsrelevant und -leitend bewertet und daher aktiv selegiert, andere hingegen verweigert (bspw. die Unterrichtseinheiten zur Bewertung von Lieferantenangeboten durch Nutzwertanalysen unter Rückgriff auf Tabellenkalkulationsprogramme), da Lisa in letzteren bspw. (noch) keinen sinnstiftenden Nutzen in Bezug auf die angestrebte berufliche Selbstständigkeit erkennen kann oder ihr die angebotenen Lerngegenstände aus einer früheren Ausbildung hinlänglich bekannt sind, sodass es von ihrem Subjektstandpunkt aus vernünftige Gründe dafür gibt, Nutzwertanalysen und Tabellenkalkulationsprogramme nicht als Voraussetzungen für eine ihren Lebensinteressen entsprechende Bedeutungsrealisierung zu betrachten und daher ihre Handlungs- und Lernanstrengungen nicht auf diese Lerngegenstände bezieht.

Da sich das jeweilige Subjekt aufgrund seiner Möglichkeitsbeziehung zu seiner unmittelbaren Lebenswelt als Ursprung seiner selbst begreifen kann, kann es durch intersubjektive (Selbst-)Verständigung potenziell auch andere Subjekte als Ursprung ihrer selbst erfassen sowie deren Begründungsprämissen und Lebensinteressen verstehen und dadurch ggf. zu mehr Klarheit im je eigenen Selbstverständigungsprozess gelangen. Subjektivität schließt damit in gewisser Weise Intersubjektivität ein (vgl. Holzkamp 1983a, 238). Subjekte können sich demnach bei ihren Selbstverständigungsversuchen, d. h. beim Begreifen lebensweltlicher Bedeutungen, unterstützen, sind jedoch unweigerlich an je ihren Subjektstandpunkt gebunden (vgl. Holzkamp 1995, 836). Die Auszubildende Lisa Schmidt kann durch den begründungsbasierten Austausch mit Herrn Gruber, in dem auch er seine Handlungsprämissen und -gründe offenlegt, ggf. besser verstehen, wie sich die berufsschulischen Verpflichtungen (bspw. Anwesenheitspflicht) und die curricularen Vorgaben (bspw. das Leitziel der beruflichen Handlungskompetenz oder/und konkrete Lerngegenstände wie die Bewertung von Lieferantenangeboten durch Nutzwertanalysen) aus der Perspektive von Herrn Gruber begründen und wie diese (zumindest mittelbar) mit Möglichkeiten einer ihren eigenen Lebens- und Lerninteressen entsprechenden persönlichen Entwicklung und beruflichen Zukunft in positiver Verbindung stehen (könnten). Da Lisa beim Versuch des Nachvollzugs der Handlungsprämissen und -gründe von Herrn Gruber jedoch unweigerlich an je ihren Subjektstandpunkt gebunden bleibt, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Herr Gruber – fernab von Belehrungsambitionen und bevormundender Besserwisserei – jene Handlungsgründe in einer in Bezug auf Lisa subjektstandpunktadäquaten Form in den intersubjektiven (Selbst-)Verständigungsprozess einbringt, die eine Anschlussfähigkeit an den Subjektstandpunkt von Lisa vermuten lassen. Durch derartige perspektivische Angebote könnte Lisa dabei unterstützt werden, für sich herauszufinden, warum bestimmte Aspekte der beruflichen Handlungskompetenz für sie bislang (nicht) zu Handlungs- und Lernprämissen geworden sind und welche zukünftig zu solchen werden könnten. Durch die Art seiner Problematisierung könnte Herr Gruber Lisa dazu anregen, die eigene Abwehrhaltung gegenüber der Anwesenheitspflicht und/oder konkreter Lerngegenstände kritisch zu hinterfragen sowie sie ggf. davor bewahren, sich und anderen (Lehrkräften, Auszubildenden, Kolleg*innen) etwas vorzumachen oder sich durch Desinteresse und defensive Realitätsverkennung selbst unbeabsichtigt zu schaden (vgl. Holzkamp 1993, 561; 1996, 276).

Der intersubjektive (Selbst-)Verständigungsprozess birgt dabei ein Potenzial zur Selbstverständigung aller beteiligten Akteure, d. h. nicht nur der Auszubildenden, sondern auch – und das erscheint uns hier besonders bedeutsam – der Lehrkräfte, deren didaktisches Handeln sich dann vor diesem Hintergrund entsprechend entfalten kann. So kann Herr Gruber, sich zwar nicht in die Auszubildende Lisa Schmidt hineinversetzten, jedoch ihre (oben angedeuteten) Handlungsprämissen und -gründe sowie Lebensinteressen vor dem Hintergrund seines Subjektstandpunktes (dieser impliziert bspw. seine didaktisch handlungsleitenden, subjektiv sinnstiftenden Interpretationen der ihm aufgrund von Ordnungsgrundlagen gegeben berufsschulischen Lerngegenstände, Lernziele sowie Erziehungs- und Bildungsideale) rekonstruieren und im Zusammenhang mit der Ausgestaltung seines Klassenlehreramtes berücksichtigen (bspw. indem er Lisa eine Freistellung für die Teilnahme am Start-Up-Wettbewerb erteilt und sich die beiden darauf einigen, dass Lisa der Klasse an passender Stelle von ihren diesbezüglichen Erfahrungen berichtet). Darüber hinaus kann Herr Gruber durch den intersubjektiven Austausch mit Lisa ggf. auch für je sich zu mehr Klarheit darüber gelangen, warum und inwiefern bspw. bestimmte seiner Unterrichtskonzepte von Lisa (und anderen Auszubildenden) als motivierend und lernförderlich empfunden werden, während andere Aspekte seiner eingesetzten Unterrichtskonzepte hingegen in bestimmten Situationen bei einigen Auszubildenden (vor dem Hintergrund ihrer lebensweltlichen lage- und positionsspezifischen Vermitteltheit) Lernschwierigkeiten und -widerstände hervorrufen und wie damit umgegangen werden könnte etc.

Zur Gestaltung wechselseitig bereichernder und verständnisförderlicher intersubjektiver (Selbst-)Verständigungsprozesse sind die Kommunikationspartner „gleichermaßen darauf verwiesen, (…) den jeweils anderen mit seinen Gründen zur Geltung kommen zu lassen“ (Holzkamp 1995, 837) und die Gründe des anderen als je seine Gründe anzuerkennen, „die nur ihm von seinem Standpunkt und aus seiner Perspektive zugänglich sind, die ich also nicht auf meinen Standpunkt und meine Perspektive reduzieren kann“ (Herv. i. Orig., a. a. O.). Ein Scheitern einer intersubjektiven (Selbst-)Verständigung bedeutet, dass den Diskurspartnern (wechselseitig) die Prämissen des Gegenübers, unter denen sich die Handlungen des Gegenübers von seinem Standpunkt als vernünftig darstellen, (noch) verborgen sind, und nicht, dass der andere von seinem Standpunkt aus keine vernünftigen, d. h. seinen Lebensinteressen entsprechenden Gründe für seine Handlungen hat (vgl. Holzkamp 1983a, 351; 1996, 264).

Übertragen auf die Berufsausbildung bedeutet dies, dass von Lehrkräften und Ausbilder*innen erwartet wird, die Gründe der Auszubildenden für ihr (Nicht-)Handeln vom Standpunkt der einzelnen Auszubildenden und aus je ihrer Perspektive zu rekonstruieren und anzuerkennen, und nicht lediglich vom je eigenen Standpunkt und der je eigenen Perspektive auszugehen. Inwiefern diese Perspektive tatsächlich und konsequent durch das pädagogische Personal in der Berufsausbildung verfolgt wird, das erscheint uns – auch vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten empirischen Befundlage – als zweifelhaft bzw. zumindest als offen und in weiteren Forschungsvorhaben differenzierter zu ergründen.

Zur differenzierteren Analyse von subjektiven Handlungsgründen und -alternativen hat die subjektwissenschaftliche Theorie einen Vorschlag entwickelt, der im nachfolgenden Kapitel vorgestellt wird.

2.4 Erweiterung oder Erhaltung von Handlungsfähigkeit i. S. d. Verfügung über subjektiv relevante Lebensweltbedingungen und -bedeutungen

Bisher wurden die lebensweltlichen Handlungen vom Standpunkt des Subjekts lediglich in verallgemeinerter Form als intentional gerichtet beschrieben und denkbare Ausrichtungsformen dieser Intentionalität beispielhaft illustriert. Im Folgenden soll daher genauer konturiert werden, worauf sich aus subjektwissenschaftlicher Perspektive die Handlungsintentionen und damit auch die in den Lebensinteressen fundierten Handlungsgründe beziehen.

Handlungen (Bedeutungsrealisierungen) des Subjekts richten sich aufgrund der genuinen menschlichen Bedürfnisstrukturen intentional auf die Erweiterung oder zumindest Sicherung der langfristigen Verfügung über die subjektiv relevanten lebensweltlichen Bedingungen sowie die in diesen enthaltenen Bedeutungen (vgl. Holzkamp 1983a, 241f.). Verfügungserweiterung/-sicherung umfasst die „individuelle Verfügung über alle Aspekte und Ebenen gesellschaftlicher Erfahrungs- und Entfaltungsmöglichkeiten“ (Herv. i. Orig., Holzkamp 1993, 217), d. h. auch Wissens- und Denkformen, künstlerische Erlebensmöglichkeiten und Ausdrucksformen sowie soziale Zugehörigkeiten. Damit geht es allgemein um die Teilhabe an lebensweltlich verallgemeinerten Bedingungs- und Bedeutungsstrukturen resp. Lebensgewinnungsprozessen (vgl. Holzkamp 1983a, 239f.; 1993, 217). Durch die Berufsausbildung zur Automobilkauffrau kann bspw. die Autoliebhaberin Anne Frisch u. a. durch die monetäre Vergütung den Unterhalt ihres Oldtimers sowie weiterhin die Mitgliedschaft in ihrem Oldtimerclub und die aktive Teilnahme an Clubunternehmungen sicherstellen. Darüber hinaus kann sich für Anne eine erweiterte Verfügung ergeben, indem sich ihr Möglichkeiten eröffnen, die neusten Modelle ihrer Lieblingsautomarke aufgrund der Gewährung von Mitarbeiterrabatten vergünstig zu erwerben oder aber dadurch, dass sie die Erarbeitung und Umsetzung ökonomisch wettbewerbsfähiger und ökologisch nachhaltiger Geschäftsmodelle im Zusammenhang mit der Entwicklung neuartiger Leasing oder Carsharing-Konzepte mitgestalten kann.

Die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozess durch die langfristige Verfügung über individuell relevante Bedingungen und Bedeutungen der unmittelbaren Lebenswelt wird als personale Handlungsfähigkeit bezeichnet. Sie beschreibt demgemäß keine nur individuelle Fähigkeit, sondern die Aufeinanderbezogenheit von individueller und gesellschaftlicher Lebenstätigkeit (vgl. Holzkamp 1983a, 241; 1987, 170; 1985, 2). Dies bedeutet u. a., dass die dem jeweiligen Subjekt in seiner Handlungsfähigkeit gegebenen Verfügungsmöglichkeiten durch die Lage- und Positionsspezifik seiner unmittelbaren Lebenswelt vermittelt sind (Holzkamp 1983a, 241). So ist bspw. die Handlungsfähigkeit der Auszubildenden Anne Frisch nicht lediglich durch ihre intraindividuellen Möglichkeiten, bspw. ihr Vorwissen über geschäftsprozessuale Abläufe und den Kundenstamm oder die Nutzung der technischen Ausstattung ihres Betriebes sowie über Lernstrategien zur Erweiterung des eigenen Wissens, charakterisiert. Vielmehr bestimmt sich ihre Handlungsfähigkeit auch dadurch, dass Anne Frisch bspw. über die Möglichkeit (und Pflicht) verfügt, am Berufsschulunterricht einer spezifischen beruflichen Schule während der Berufsschulzeit sowie an i. d. R. Ausschnitten des Unternehmensgeschehens während der betrieblichen Ausbildungszeiten teilzunehmen und hierdurch über die jeweils raumzeitlich gegebenen Bedingungen und Bedeutungsstrukturen tatsächlich verfügen kann. Andererseits wird die Handlungsfähigkeit von Lisa u. a insofern beschränkt, als dass sie nicht ohne Weiteres über die Möglichkeit zur Teilnahme an Arbeitshandlungen in einem anderen Ausbildungsbetrieb mit i. d. R. abweichenden Bedingungen (z. B. andere Automobilmarken, technische Ausstattung, Ausbilder*innen, Sachbearbeiter*innen, Geschäftsfelder, Kundenstamm o. ä.) sowie anderer beruflicher Schulen (z. B. Lehrkräfte mit anderem Qualifizierungshintergrund, Mitschüler*innen) verfügt. Ferner könnten sich für Anne auch innerhalb ihres konkreten Ausbildungsbetriebes bestimmte Beschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit bspw. dadurch ergeben, dass sie aufgrund von Wartungsarbeiten nicht die gesamte technische Ausstattung ihres Ausbildungsbetriebes nutzen kann und in der Position als Auszubildende lediglich über die Genehmigung verfügt, bestimmte Segmente des Kundenstamms zu betreuen sowie an ausgewählten Geschäftsprozessen teilhaben zu dürfen.

Es wird ferner davon ausgegangen, dass die psychische Befindlichkeit und damit die Lebensqualität in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Art und dem Grad der personalen Handlungsfähigkeit bzw. deren Einschränkung stehen (vgl. Holzkamp 1985, 3; 1988, 31). Eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit evoziert eine negative Befindlichkeit und vice versa. So könnte die Zufriedenheit von Anne – und damit letztlich auch ihre Lebensqualität – bspw. unter etwaigen ihrer Verfügung entzogenen strukturellen Ausgeliefertheiten leiden, indem ihr Ausbilder ihr bestimmte betriebliche Einblicke (bspw. die Teilnahme an einem Verkaufsgespräch) verwehrt oder ihre Berufsschullehrerin im Unterricht nicht die Lerngegenstände thematisiert, die für die Erfüllung anstehender betriebliche Aufgaben (bspw. Kundenberatungsgespräch) aus der Perspektive von Anne handlungsrelevant sind.

Zur Unterstützung der intersubjektiven (Selbst-)Verständigung in der unmittelbaren Lebenswelt bzw. zur begrifflichen Aufschlüsselung/Differenzierung des Vermittlungszusammenhangs auf der Ebene subjektiver Handlungsgründe vom Subjektstandpunkt führt Holzkamp das Begriffspaar restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit ein, welche „intrasubjektive Handlungsalternative [n, die Verf.]“ (Holzkamp 1990, 37) kennzeichnen, um widersprüchliche Erscheinungsformen personaler Handlungsfähigkeit und Befindlichkeit realiter Begründungskonstellationen analytisch aufweisbar zu machen (vgl. Holzkamp 1990, 35). Restriktive Handlungsfähigkeit steht für die primär im deutenden Denken fundierte Handlungsalternative zur Sicherung der bestehenden (beschränkten) Handlungsfähigkeit bzw. zur Vermeidung eines drohenden Verfügungs- und Teilhabeverlustes in einer unmittelbaren Lebenswelt. Die lebensweltlichen Bedingungen und Bedeutungen sowie die bestehende Form der Verfügung und Teilhabe werden (in ihrer Begrenztheit) grds. akzeptiert und erhalten. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn die Auszubildende Anne Frisch die bestehenden strukturellen Abhängigkeiten von ihrem Ausbilder duldet, kaum reflektiert und dadurch gleichsam reproduziert, indem sie die ihr zugedachte, tagtägliche und ihrer Meinung nach alles andere als lernförderliche Dokumentenablage und -archivierung widerspruchslos erledigt, um ihre bisher guten Arbeitsbewertungen und die damit verbundenen Übernahmechancen nicht zu gefährden, da sie ihre erst kürzlich bezogene eigene Wohnung und die damit verbundenen Freiheiten keinesfalls gegen die Wohnbedingungen und Bedeutungsstrukturen im Elternhaus auszutauschen gedenkt. Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit kennzeichnet hingegen die auf begreifendem Denken basierende Handlungsalternative der Realisierung der Handlungsmöglichkeit zur Erweiterung der in den Lebensinteressen fundierten teilhabenden Verfügung über die je subjektiv relevanten Bedingungen und Bedeutungen einer Lebenswelt, was die bewusste Reflexion der aus restriktiv begründeten Handlungen resultierenden selbstschädigenden Konsequenzen voraussetzt bzw. impliziert (vgl. Holzkamp 1983a, 370ff.; 1983b, 16; 1985, 4f.; 1990, 35, 38; 1995, 839). Bezogen auf unser Beispiel müsste Anne zur Realisierung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit zunächst begreifen, dass ihr aufgrund der zeitaufwendigen Dokumentenablage und -archivierung verfügungserweiternde, realiter genuin in ihren Berufs- und Lebensinteressen fundierte und im Ausbildungsbetrieb potenziell mögliche Bedeutungsrealisierungen (bspw. die sich aus der Bearbeitung eines Kundenauftrages ergebenden Handlungs- und Lernmöglichkeiten) vorenthalten bleiben bzw. ihrer raumzeitlichen Verfügung entzogen sind. Nach der Reflexion des bedeutungsstrukturellen Gefüges in ihrem Ausbildungsbetrieb und ihrer Position als Auszubildende erkennt sie die Möglichkeit, in der nächsten Besprechung mit ihrem Ausbilder (unter Abwägung etwaiger negativer Konsequenzen) begründet um anspruchsvollere Arbeitsaufgaben und mehr Selbstständigkeit bei der Bearbeitung von Kundenaufträgen bitten zu können.

Allerdings ist zu betonen, dass sich die konkreten Ausprägungsformen der hier skizzierten Handlungsalternativen zwischen Subjekten aufgrund der je subjektiv gegebenen Lebenswelten (innerhalb der Berufsausbildung [z. B. Übernahmemöglichkeiten nach Ausbildungsabschluss] und darüber hinaus [z. B. private Wohnverhältnisse] sowie der mit diesen situativ vermittelten personalen Grenzen [z. B. Wissensbestände, Körperlichkeitsempfindungen, mental-sprachliche und biografische Aspekte] und der darauf bezogenen subjektiven Intentionen [z. B. Wunsch nach Berufsausbildungsabschluss und nach Berufsausübung, Präferenzen zu Wohnverhältnissen]) in ihren spezifischen Vermittlungs- resp. Ausprägungsformen vom Standpunkt des Subjekts unterschiedlich darstellen. Daher erscheint es uns alles andere als trivial, die je personale Handlungsfähigkeit der einzelnen Subjekte differenziert zu erfassen, um sie in Lehr-Lernprozessen konstruktiv nutzen zu können und so – insbesondere auch – zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit der Auszubildenden beizutragen. Inwiefern dies dem pädagogischen Personal im Rahmen der Berufsausbildung bereits gelingt oder misslingt resp. aufgrund der unmittelbar gegebenen berufsschulischen und betrieblichen Bedingungen und Bedeutungsstrukturen gelingen oder misslingen könnte, erscheint uns – auch vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten empirischen Befunde – weitgehend offen und ist in weiteren Forschungsvorhaben notwendig differenzierter zu ergründen.

Im Folgenden werfen wir in einem letzten Schritt einen genaueren Blick auf das Verständnis von Lernen, welches in der subjektwissenschaftlichen Theorie als spezifische Handlungsform begriffen wird, und dessen Ursprung in lebensweltlichen Handlungen liegt.

2.5 Lernen als spezifische Handlungsform in und unter Bezug auf Lebenswelten i. S. e. (intersubjektiven) (Selbst-)Verständigung vom Standpunkt des Subjekts

Um die personale Handlungsfähigkeit und damit die Möglichkeiten lebensweltlicher Verfügung zu bewahren bzw. zu erweitern, müssen die Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten der Infrastrukturen der unmittelbaren Lebenswelt sowie die in diesen liegenden Bedeutungen dem Subjektstandpunkt entsprechend erfasst, realisiert und ggf. verändert werden (vgl. Holzkamp 1987, 170; 1993, 188). In Abgrenzung zur Handlung, bei der die Realisierung von Bedeutungen auch ohne Erweiterung von Handlungsfähigkeit erfolgen kann (z. B. Fahrradfahren ausüben, wenn das Subjekt bereits über diese Fähigkeit und ein Fahrrad verfügt), stellt Lernen aus subjektwissenschaftlicher Perspektive eine mit (intersubjektiven) (Selbst-)Verständigungsversuchen einhergehende „Komplizierung des Handelns“ (Holzkamp 1996, 267) dar, die mit einer lebensweltlich vermittelten Erweiterung der im Subjekt liegenden, intraindividuellen Aspekte der personalen Handlungsfähigkeit (bspw. individuelle Wissensbestände, mental-sprachliche Dispositionen, psychomotorische Bewegungsabläufe) verbunden ist (z. B. nun auch zunehmend besser über das Autofahren betreffende [theoretische und praktische] Fähigkeiten verfügen). Im Zentrum des lerntheoretischen Interesses steht dabei intentionales Lernen, das entweder primär als Mittel zum Zweck der (defensiven) Bewahrung bereits bestehender subjektiv relevanter lebensweltlicher Verfügungs- resp. Teilhabemöglichkeiten vollzogen wird oder im Kern aus sich heraus als werthaft empfunden wird, da es der (expansiven) Erweiterung subjektiv relevanter lebensweltlicher Verfügungs- resp. Teilhabemöglichkeiten dient. Die Bedeutungseinheiten und Bedeutungen der Bedeutungs- resp. Infrastrukturen der unmittelbaren Lebenswelt bilden unter dieser Perspektive potenzielle Lerngegenstände (vgl. Holzkamp 1987, 173; 1993, 207). In der Berufsausbildung zum Einzelhandelskaufmann eines beispielhaften Auszubildenden Fabian Fröhlich könnte ein potenzieller Lerngegenstand bspw. die Kontaktaufnahme in einem Kundenberatungsgespräch sein, an dem der Auszubildende in seinem Ausbildungsbetrieb teilnehmen kann. In der Berufsschule stellen sodann bspw. verschiedene im Unterricht thematisierte Kommunikationsstrategien potenzielle Lerngegenstände dar.

Nach der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie beginnt das Subjekt folgendermaßen zu lernen: Sieht sich das Subjekt im Kontext einer lebensweltlichen Handlung mit einer Situation konfrontiert, in welcher es von seinem Standpunkt aus zwar vernünftige Gründe hat, eine spezifische Bedeutung zu realisieren, dies jedoch aufgrund mangelnder personaler Handlungsfähigkeit misslingt, so erfährt es eine Beschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit resp. lebensweltlichen Verfügungsmöglichkeiten. Nehmen wir beispielhaft an, der Auszubildende zum Einzelhandelskaufmann Fabian Fröhlich wird in seinen ersten Wochen in einem Elektrofachgeschäft von einem Kunden angesprochen, der einen Fernseher mit bestimmten Eigenschaften kaufen möchte. Fabian sieht es durchaus als seine Aufgabe an, den Kunden entsprechend zu beraten und versucht sich daher in der Beratung. Im Laufe des Gesprächs merkt er jedoch, dass der Kunde sehr ungläubig und unzufrieden ausschaut und dass er das Beratungsgespräch voraussichtlich nicht erfolgreich abschließen wird, obwohl er dies in seiner Position als angehender Einzelhandelskaufmann eigentlich sehr gerne tun würde. In diesem Beispiel zeichnet sich bereits ab, was die Subjektwissenschaft folgendermaßen beschreibt: Bei dem Subjekt entsteht eine Handlungsdiskrepanz i. S. e Handlungsproblematik zwischen seinem Können/Wissen, und dem, was es können/wissen müsste, um die ins Stocken geratene lebensweltliche Handlung fortsetzen oder eine (antizipierte) ähnliche zukünftige Handlung bewältigen zu können (Bewältigungshandlung). Das Subjekt hat nun die Möglichkeit, sich unmittelbar oder zeitlich im Anschluss solange in eine Lernschleife zu begeben bzw. die primäre oder eine als ähnlich empfundene lebensweltliche Handlung solange auszusetzen bzw. zu unterlassen, bis die zur Überwindung der Handlungsproblematik als nötig erachteten Aspekte der intraindividuellen Handlungsfähigkeit lernend erworben wurde (vgl. Holzkamp 1987, 178; 1993, 182, 212; 1996, 267ff.).

Übertragen auf unser Beispiel hätte der Auszubildende Fabian Fröhlich nun zum einen die Möglichkeit, sich (mehr schlecht als recht und sicher weder im Sinne der eigenen Zufriedenheit noch der Zufriedenheit der Kunden) durch das und/oder weitere anstehende Kundenberatungsgespräch(e) irgendwie „durchzumogeln“. In diesem Fall würde Fabian die Handlungsproblematik lediglich als Bewältigungsproblematik übernehmen und versuchen, (zunächst) ohne intentionales Lernen und damit ohne bewusste Erweiterung seiner personalen Handlungsfähigkeit resp. Verfügungsmöglichkeiten die Bewältigungshandlung, also das Kundenberatungsgespräch, durchzuführen. Zum anderen könnte Fabian das und/oder weitere Kundenberatungsgespräch(e) nicht weiter- bzw. durchführen (bspw. indem er den Kunden darum bittet, sich an seine Kollegin Frau Klein zu wenden und für den Rest des Tages Kundenberatungsgespräche meidet) und sich stattdessen in der betrieblichen (ggf. auch berufsschulischen und/oder privaten) Lebenswelt direkt oder zeitverzögert (bspw. nach Feierabend, am Wochenende oder ggf. im Berufsschulunterricht) in eine Lernschleife begeben. Darin könnte er versuchen, mögliche Gründe für sein Scheitern im Kundenberatungsgespräch zu identifizieren (bspw. fehlendes Wissen über weitere Produkteigenschaften der im Ausbildungsbetrieb verfügbaren Fernseher und/oder nicht ausreichende Kommunikationsfähigkeit, die für ein solches Kundenberatungsgespräch erforderliche erscheint) und die zur Lösung der Handlungsproblematik notwendig erscheinenden Aspekte zu erlernen (z. B. über Produkteigenschaften von Fernsehern informieren, kommunikationstheoretisches Wissen vertiefen, Strategien zu adressatengerechten Kundenberatungsprozessen bei einer erfahrenen Verkäuferin beobachten und anschließend gemeinsam reflektieren etc.).

Fraglich könnte hier erscheinen, inwiefern ein Auszubildender die Möglichkeit hat, seine Handlung in seiner unmittelbaren Lebenswelt direkt zu unterbrechen und diese nach Abschluss der Lernschleife fortsetzen kann. So kann Fabian Fröhlich zukünftig je nach Bedingungen in seinem Ausbildungsbetrieb voraussichtlich noch einmal ein Kundenberatungsgespräch zum Verkauf von Fernsehgeräten durchführen, dann allerdings voraussichtlich mit einem anderen Kunden oder einer anderen Kundin, der*die wiederum möglicherweise auch andere Interessen mitbringt und möglicherweise auch zu einem veränderten Produktsortiment des Unternehmens. Insofern erscheint lediglich eine Lernschleife zur Bewältigung ähnlicher lebensweltlicher Handlungen, wie in denen das Subjekt ursprünglich eine Handlungsproblematik festgestellt hat, möglich.

Vor Beginn der Lernschleife bedarf es zunächst einer gnostisch-reflexiven Distanz zur primären lebensweltlichen Handlung, um mittels (ggf. intersubjektiver) Selbstverständigung jene subjektiv problematischen, d. h. zunächst nur undifferenziert und unvollständig fassbaren Lernanforderungen und damit auch Lerngegenstände zu identifizieren und zu extrahieren, die lernend zu erschließen sind, um die Handlungsproblematik zu überwinden und die oder eine als ähnlich empfundene lebensweltliche Handlung fortsetzen/durchführen zu können. Das heißt, der Auszubildende Fabian Fröhlich wird zunächst voraussichtlich nur grob erfassen, dass er nicht in dem erforderlichen Umfang über die Produkteigenschaften der Fernseher und/oder über die erforderliche Kommunikationsfähigkeit verfügt und diese erwerben sollte, ohne diese differenziert beschreiben zu können. Möglicherweise erkennt er diese Lernanforderung aber auch gar nicht, sondern sieht das Problem an einer anderen Stelle (z. B. dass der Kunde wohl einfach ein etwas grummeliger Typ ist), so dass er Produkteigenschaften und Kommunikationsregeln u. ä. nicht als Lerngegenstand identifiziert.

Ferner dient diese (intersubjektive) (Selbst-)Verständigung der Abklärung von Prämissen als Voraussetzung zur Ausbildung einer Lernhaltung und konkreter Lernvorsätze. Das Subjekt erfährt eine Lerndiskrepanz i. S. e Lernproblematik, indem ihm klar wird, dass es in Bezug auf die identifizierten Lernanforderungen und -gegenstände mehr zu lernen und zu wissen gibt, als es bisher gelernt hat bzw. weiß. Die sich aus der Handlungsproblematik individuell ergebenden Lernanforderungen und Lerngegenstände qualifizieren sich jedoch nicht zwangsläufig als Lernproblematik. Eine Lernproblematik liegt für das jeweilige Subjekt erst dann vor, wenn es von seinem Subjektstandpunkt aus vernünftige Gründe darin sieht, die identifizierten Lernanforderungen und die damit einhergehenden Lerngegenstände als die seinen anzuerkennen und aktiv zu übernehmen. Dazu ist es erforderlich, dass dem Subjekt die Lernanforderungen als (nur) durch Lernen bewältigbar sowie subjektiv überwindbar erscheinen. Die sich zur Überwindung der Lernproblematik anschließende(n) Lernhandlung(en) kann/können u. a. wiederum in unterschiedlichen Ausprägungsformen durch Flachheit und Tiefe gekennzeichnet sein. Je intensiver die Tiefenstruktur der mit der Lernanforderung in Zusammenhang stehenden Lerngegenstände erschlossen und in bereits vorhandene Wissensstrukturen eingepasst wird, desto umfassender sind die Bezugsmöglichkeiten zu verallgemeinerten (objektiven) Bedeutungsstrukturen und damit die situationsübergreifenden Anwendungsmöglichkeiten sowie die Permanenz des Gelernten (vgl. Holzkamp 1987, 178ff; 1993, 182, 212, 221ff., 310ff., 489f.; 1996, 267ff.).

Übertragen auf den Auszubildenden Fabian Fröhlich bedeutet dies, dass erst dann von einer durch ihn erfahrenen Lernproblematik gesprochen werden kann, wenn er einen Grund darin sieht, die Lernanforderung (z. B. das Erlernen der noch fehlenden Produkteigenschaften sowie der Erwerb einer adäquaten Kommunikationsfähigkeit etc.) für sich zu übernehmen sowie davon ausgeht, dass es ihm unter Ansehung seiner personalen und lebensweltlichen Grenzen (bspw. mental-sprachliche Dispositionen; zur Verfügung stehende Zeitressourcen und Lernmittel sowie die permanente Unruhe in seiner Wohngemeinschaft) tatsächlich auch gelingen kann, die sich ihm stellende Lernanforderung zu bewältigen. Ohne das Erkennen entsprechender Gründe und die Aussicht auf Überwindbarkeit der Lernanforderungen wird sich keine Lernhaltung beim Auszubildenden herausbilden und es werden keine konkreten Lernvorsätze gefasst. Erkennt Fabian keinen Sinn darin, weitere Produkteigenschaften kennenzulernen und eine elaboriertere Kommunikationsfähigkeit zu erwerben, weil er die Situation bspw. als einzigartig und nicht weiter relevant für seine Zukunft erachtet oder denkt, dass andere Kunden nicht mit so detaillierten Fragen kommen und sie ihn auch besser verstehen werden, dann wird sich der subjektwissenschaftlichen Theorie folgend aus dem Handlungsproblem keine Lernproblematik ergeben und in der Folge auch kein Lernprozess angestoßen. Inwieweit der durch die Lernhandlungen realisierte Wissenszuwachs von Fabian nachhaltig auch auf andersartig situierte Kundenberatungsgespräche oder darüber hinausgehende (betriebliche) Handlungsvollzüge transferiert werden kann, ist wiederum abhängig vom Umfang seines vorgelernten Wissens bzw. vom Grad der Vernetzung mit vorgelernten Wissensbeständen zu bspw. Produkteigenschaften sowie seiner bisherigen Kommunikationsfähigkeit und der Tiefe der Auseinandersetzung mit bspw. Kommunikationstheorien. So kann Fabian bspw. seine Lernanstrengungen auf ausgewählte und für ihn relativ leicht verstehbare kommunikationstheoretische Aspekte und Produkteigenschaften von Fernsehgeräten begrenzen, oder aber die sich ihm erst während seines Lernhandlungsvollzugs (neu) stellenden Lernanforderungen und -gegenstände (bspw. multiple Feinheiten situationsabhängiger Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung kommunikationstheoretischen Wissens vertiefen und/oder sich über die Eigenschaften aller Produkte der Produktpalette informieren) als (weitere) Lernproblematiken übernehmen, um ein umfassendes kommunikationstheoretisches und produktpalettenbezogenes Wissen zu erwerben.

Um Lernen in seiner lebensweltlichen Vermitteltheit zu verstehen und didaktisch angemessen begleiten zu können, sind folglich die in den Lebens- resp. Lerninteressen fundierten bzw. auf diese hinweisenden Lernprämissen vom Standpunkt des Subjekts zu rekonstruieren (vgl. Holzkamp 1987, 170), also jene Bedingungen und Bedeutungen aufzudecken, auf die sich das Subjekt in seinen (Nicht-)Lernbegründungen in einer je individuell-sinngebenden Art und Weise lernhandlungsleitend bezieht. Mittels intersubjektiver Begründungsdiskurse kann sodann verstehbar werden, warum das Subjekt bestimmte lebensweltliche Lerngegenstände in einer spezifischen Art und Weise (nicht) extrahiert bzw. diese (nicht) zu Prämissen für individuelle Lernvorsätze werden (vgl. Holzkamp 1993, 189). Bezogen auf die Berufsausbildung könnte mittels intersubjektiver Begründungsdiskurse zwischen Auszubilden oder zwischen Auszubildenden und Lehrkräften bzw. Ausbilder*innen verstehbar werden, warum ein*eine Auszubildende*r bestimmte weitere Produkteigenschaften erlernen möchte (andere hingegen nicht), in welcher je subjektiv-sinnstiftenden Art und Weise er*sie diesen Handlungsrelevanz und -möglichkeiten zuweist und warum und inwiefern er*sie eine elaboriertere Kommunikationsfähigkeit erwerben möchte (bspw. weil er von bestimmten Produkteigenschaften in besonderer Weise überzeugt ist und es ihm Freude bereitet, andere Menschen zufrieden zu stellen). Eine andere Auszubildende, die eine ähnliche, nicht erfolgreiche Kundengesprächssituation erlebt hat wie der Auszubildende, könnte hieraus hingegen keine Lernanforderung und keine Lernproblematik ableiten, da sie solch eine Situation aus ihrer bisherigen Erfahrung als Sonderfall einstuft, der voraussichtlich nicht noch einmal auftreten wird, und sie sich sowieso viel lieber mit der Aufbereitung der Produkte aus der Haushaltswarenabteilung in dem den stationären Handel ergänzenden Online-Katalog beschäftigt.

Entscheidend scheint zu sein, dass das Subjekt die erfahrene lebensweltliche Handlungsproblematik (und auch die Lernproblematik) nicht nur kognitiv erfasst bzw. erfassen muss, sondern immer auch in einer spezifischen emotional-motivationalen Qualität erfährt (Holzkamp 1993, 189ff., 214ff.). Das Begriffspaar expansive/defensive Lerngründe dient in diesem Zusammenhang als „analytisches Instrument, mit welchem die Qualität der Prämissen- und Intentionsstruktur einer Lernproblematik vom (verallgemeinerten) Subjektstandpunkt genauer aufzuschlüsseln ist“ (Holzkamp 1993, 194). Expansive und defensive Lerngründe sind dabei immer an eine bestimmte lebensweltliche Situation bzw. raumzeitliche Bedeutungsstruktur gebunden und bilden daher keine situationsunabhängigen Lernstile oder -typen zur segregierenden Charakterisierung von Subjekten aufgrund personaler Lerndispositionen (vgl. Holzkamp 1996, 269f.). Bezogen auf unseren Auszubildenden Fabian Fröhlich bedeutet dies, dass seine handlungsleitenden (Nicht-)Lerngründe und damit auch die Art und Weise wie er lernt keinesfalls in einer vermeintlich invarianten Persönlichkeitsstruktur festgelegt, sondern stets mit den positions- und lagespezifisch erfahrenen Bedingungen und Bedeutungs- resp. Infrastrukturen der unmittelbaren Lebenswelt vermittelt sind. Entsprechend ist von einer körperlichen, mental-sprachlichen und personalen Situiertheit (vgl. Holzkamp 1993, 253-269; 2004, 35) von Fabian Fröhlich auszugehen. So könnten sich bspw. seine auf den Erwerb einer adäquaten Kommunikationsfähigkeit gerichteten Lerngründe (ursprünglich weil es ihm Freude bereitet, andere Menschen zufrieden zu stellen) sowie die Art und Weise wie er lernt (bspw. regelmäßig, motiviert, selbstbewusst, gut organisiert) aufgrund lebensweltlicher Aspekte dahingehend verändern, dass Fabian nun lediglich (sporadisch, unmotiviert, selbstzweifelnd, eher unorganisiert) lernt, um die anstehende Zwischenprüfung irgendwie zu bestehen, seine Eltern nicht zu enttäuschen und Konflikte mit seinem Ausbilder zu vermeiden. Die nunmehr veränderten Lerngründe und -weisen von Fabian könnten dahingehend mit den lebensweltlichen Bedingungen und Bedeutungen seiner unmittelbaren beruflichen Lebenswelt (situativ) vermittelt sein, als dass er in den vergangenen Wochen erfahren musste, dass – aus seiner Perspektive – der Kundenstamm seines Ausbildungsbetriebes in jedweder Hinsicht nur schwer bis kaum zufriedenzustellenden ist. Ferner entzieht ihm sein Ausbilder, ohne die Erläuterung von Gründen, zunehmend Möglichkeiten, um sich an Kundenberatungsgesprächen zu versuchen.

Expansive Lerngründe liegen in einer spezifischen lebensweltlichen Situation vor, wenn das Subjekt die Handlungsbeschränkung als Verfügungsmangel an der eigenen Befindlichkeit empfindet bzw. ein derartiges Gefühl des Ungenügens zumindest antizipieren kann und daher den Lernanforderungen im eigenen Interesse nachkommt, um eine gesteigerte Lebensqualität zu erlangen (emotionaler Aspekt). Beispielsweise wenn es Fabian eigentlich ein inneres Bedürfnis ist und Freude bereitet, Kunden zufriedenzustellen, er jedoch in einem Beratungsgespräch erfahren musste, dass er einem Kunden nicht alle Fragen beantworten konnte und dieser aufgrund dessen – sichtlich unbefriedigt – die Kaufentscheidung vertagt. Ferner müssen die Lerngegenstände vom Standpunkt des Subjekts insofern als wissenswert bzw. nützlich betrachtet werden, als dass sich durch deren Durchdringung/Aneignung, in Ansehung der dafür aufzubringenden Anstrengungen und etwaiger damit verbundener Risiken, eine erweiterte Verfügung über lebensweltlich relevante Bedingungen und Bedeutungen antizipieren lässt (motivationaler Aspekt). Fabian muss folglich der Überzeugung sein, dass sich die zeitintensive Auseinandersetzung mit Kommunikationstheorien und Kundenberatungsstrategien für ihn bspw. dahingehend lohnt, als dass er dadurch verwertbare Hinweise darauf erhält, wie er besser auf Kundenbedürfnisse eingehen kann, um seine Kunden zufriedenzustellen und Kaufentscheidungen herbeiführen zu können. Beim expansiven Lernen, welches auf expansiven Lerngründen basiert, ergibt sich demzufolge eine gesteigerte Lebensqualität (bspw. Zufriedenheit durch antizipierte oder erlebte Selbstwirksamkeitserfahrungen in Beratungsgesprächen) unmittelbar aus der Durchdringung des Lerngegenstandes. Ferner wird davon ausgegangen, dass die über expansive Lernprozesse erschlossenen Bedeutungseinheiten und -strukturen einen hohen Grad der Verallgemeinerbarkeit auf umfassende gesellschaftliche Bedeutungskonstellationen aufweisen und in positivem Zusammenhang mit der Permanenz des Gelernten stehen (vgl. Holzkamp 1991, 199f.; 1993, 189ff., 213f., 216f., 310ff., 489f.; 1996, 269f.).

Defensive Lerngründe basieren hingegen auf einem beunruhigenden Gefühl des Ausgeliefertseins an eine Situation, in welcher Einbußen hinsichtlich der eigenen Befindlichkeit drohen bzw. antizipierbar sind, die nur durch Lernen abwendbar scheinen (emotionaler Aspekt). Dies wäre bspw. der Fall, wenn Fabian in der Berufsschule ein Referat zur Deckungsbeitragsrechnung halten soll (Lernanforderung), ohne dass ihn diese an sich interessiert, geschweige denn er in dieser eine nutzenbringende resp. (un)mittelbar verfügungserweiternde Anknüpfungsmöglichkeit an die je ihm unmittelbar gegebenen und seinen Lebensinteressen entsprechenden lebensweltlichen (bspw. betrieblichen oder privaten) Bedingungs- und Bedeutungsstrukturen und/oder Handlungs- und Lernproblematiken für sich erkennt. Fabian entscheidet sich dennoch zur lernenden Auseinandersetzung mit der Deckungsbeitragsrechnung und übernimmt diese ihm durch die Lehrkraft gestellte Lernanforderung (zunächst) als Lernproblematik. Die Gründe für diese Entscheidung liegen in diesem Fall jedoch darin, dass Fabian sich zur Bewältigung des Referats gezwungen sieht zu lernen, um die ihm drohenden Gefahren und Befindlichkeitseinbußen (bspw. die Missgunst seiner Lehrkraft, eine schlechte Note, die Schmach eines schlechten Referats vor seinen Mitschüler*innen), die für Fabian potenzielle Verfügungsverluste darstellen bzw. mit solchen verbunden sind, abzuwenden. Lernanforderungen und -gegenstände werden in diesem Fall nur solange und lediglich in der Art und Tiefe als Lernproblematik übernommen, wie es notwendig scheint, um den damit im Zusammenhang stehenden drohenden Verlust der Verfügung bzw. Lebensqualität, der sich ohne Lernen wahrscheinlich einstellen würde, abwenden zu können (motivationaler Aspekt) (vgl. Holzkamp 1991, 199f.; 1993, 189ff., 213f., 216f.; 1996, 269f.). Bezogen auf Fabian bedeutet dies, dass er sich (wahrscheinlich) nur mit denjenigen Aspekten der Deckungsbeitragsrechnung in einer entsprechend thematisch reduzierten Weite und Tiefe lernend auseinandersetzt, die ihm geeignet erscheinen bzw. scheint, um die ihm drohenden Verfügungsverluste (bspw. Missgunst und Schmach) abwenden zu können bzw. die ihm von seiner Lehrkraft und seinen Mitschüler*innen positiv angerechnet werden.

Beim defensiven Lernen, welches auf defensiven Lerngründen basiert, bezieht sich die Lernhaltung daher nicht auf die differenzierte Durchdringung des Lerngegenstands (z. B. die Deckungsbeitragsrechnung) an sich, sondern tendenziell auf die Bewältigung der primären, bedrohlichen lebensweltlichen Handlungsproblematik (z. B. das benotete Referat zur Deckungsbeitragsrechnung). Es liegt damit genau genommen keine reine Lernproblematik vor, sondern vielmehr eine durch externe Lernanforderungen gekennzeichnete Bewältigungsproblematik bzw. das Erfordernis der Anrechenbarkeit des Gelernten bei denjenigen Instanzen, von denen der drohende Verfügungsverlust ausgeht (z. B. Lehrkraft, Mitschüler*innen). Der Gegenstandsbezug ist daher in gewisser Weise widerständig, halbherzig, eher flach als tief und auf das Notwendige reduziert. Ferner besteht eine Tendenz zur Preisgabe der Lernaktivitäten, sofern sich andere Handlungsmöglichkeiten als Lernen zur Bewältigung der Problematik ergeben (bspw. ein fertiges Referat aus dem Internet verwenden). Damit erscheint zudem ein langfristiges Behalten sowie die strukturelle Verallgemeinerbarkeit des Gelernten auf Situationen über die Bewältigungsproblematik hinaus eher unwahrscheinlich und die Lernproblematik nimmt immer stärker den Charakter einer reinen Handlungsproblematik an (Holzkamp 1991, 199f.; 1993, 192f., 214f., 251, 489f.; 1996, 269).

Expansive und defensive Lerngründe stehen nicht in einem dichotomen Verhältnis zueinander, sondern sind auf vielfältige und zum Teil widersprüchliche Weise miteinander vermittelt und können beide einem Lernen mit unterschiedlichem Gewicht zugrunde liegen. So könnte sich Fabian bspw. die Thematik der Deckungsbeitragsrechnung aus defensiven Lerngründen heraus halbherzig, oberflächlich und widerständig erschließen, während die mit der Vorbereitung des Referats einhergehende lernende Auseinandersetzung mit digitalen Präsentationsmethoden und -medien von ihm hingegen als überaus lohnenswert und bereichernd empfunden wird, da er in diesen einen Nutzen in Bezug auf die Optimierung seiner Kundenberatungsgespräche erkennt. Ebenso denkbar ist ein (bspw. durch qualitative Lernsprünge) ausgelöster Dominanzumschlag, sodass zunächst defensiv begründete Lernhandlungen zu primär expansiv begründeten Lernhandlungen werden und vice versa (vgl. Holzkamp 1993, 193, 239, 251). Dies könnte dann der Fall sein, wenn Fabian im Zuge der zunächst widerständigen – dann aber für ihn zunehmend erkenntnisreichen – Erschließung der Deckungsbeitragsrechnung ein grundsätzliches Interesse dafür entwickelt, Geschäftsprozesse sowie die Auswirkungen kaufmännischen Handelns in Gestalt mathematischer Zusammenhänge darstellen zu können. Andererseits könnte eine Auszubildende, die bereits die theoretische Bedeutung der Deckungsbeitragsrechnung in Bezug auf unternehmerische Preis- und Sortimentsentscheidungen erkannt hat und diese als sehr spannend und wichtig erachtet, das (expansive) Lerninteresse an der Thematik verlieren, nachdem ihr gewähr wird, dass die Deckungsbeitragsrechnung in ihrem Ausbildungsbetrieb praktisch keine Anwendung findet. Die Abbildung 1 fasst die begrifflichen Zusammenhänge des Kapitels 2.5 prozessual zusammen.

Abbildung 1: Prozessmodell subjektwissenschaftlichen Lernens (eigene Darstellung)Abbildung 1: Prozessmodell subjektwissenschaftlichen Lernens (eigene Darstellung) 

Mit diesem zusammenfassenden Prozessmodell wird deutlich, wie komplex der Prozess des Lernens allein bis zur Herausbildung einer Lernproblematik aus Sicht des lernenden Subjekts ist, die annahmegemäß Voraussetzung für eine Lernhandlung ist, und wie vieler Schritte es bedarf, bis diese überhaupt entsteht. Aus didaktischer Sicht erscheint es naheliegend, diese einzelnen Schritte im Rahmen von intersubjektiven (Selbst-)Verständigungsversuchen anzusprechen und gemeinsam zu reflektieren, wenn Lernprozesse ins Stocken geraten und/oder um (neue) Lern- und Lehrschritte zu planen. Zumindest erscheint es notwendig, sich als Lehrkraft oder Ausbilder*in dieser einzelnen Schritte bewusst zu werden und diese bei Bedarf gemeinsam zu reflektieren, um den Umfang sowie die Art und Weise des Lernens und Nicht-Lernens der Auszubildenden besser zu verstehen.

Auch wenn aus subjektwissenschaftlicher Perspektive durchaus umfangreiche und differenzierte theoretische Ausführungen zu den lebenspraktischen Zusammenhängen des Lernhandelns – sowohl in Bezug auf das Bewegungslernen (vgl. Holzkamp 1993, 271-294) als auch hinsichtlich mental-verbalen Lernhandelns (vgl. a. a. O., 295-337) – vorgelegt wurden, so ist doch das wesentliche Verdienst der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie u. E. darin zu sehen, den Zusammenhang der Entstehung bzw. Nicht-Entstehung von subjektiven Handlungs- und Lernproblematiken in ihrer lebensweltlichen Vermitteltheit als Basis für Lernhandlungen bzw. Bewältigungshandlungen begrifflich fassbar und damit beschreibbar und verstehbar gemacht zu haben.

Mit Blick auf das Lernen im Rahmen der Berufsausbildung sind wesentliche Handlungsproblematiken, welche zu subjektiven Lernproblematiken werden können, sicherlich vordergründig in Zusammenhang mit den Bedingungen und Bedeutungsstrukturen der oben konturierten unmittelbaren betrieblichen und berufsschulischen Lebenswelten der Auszubildenden zu erwarten. Stellt man zudem die unmittelbaren Lebenslagen der jeweiligen Auszubildenden in Rechnung, ist davon auszugehen, dass nicht nur eine Aufeinanderbezogenheit zwischen den sich in den betrieblichen und berufsschulischen Lebenswelten ergebenden Handlungs- und Lernproblematiken besteht, sondern diese darüber hinaus mit diversen Bedingungen sowie Bedeutungs- resp. Infrastrukturen weiterer (bspw. familiärer) Lebenswelten vermittelt sind. Denkbar ist auch, dass sich für Auszubildende signifikante Handlungsproblematiken außerhalb ihrer betrieblichen und berufsschulischen Lebenswelt ergeben, welche für die Berufsausbildung potenziell bedeutsame resp. lernförderliche Handlungsproblematiken darstellen, und – eine entsprechende Erfassung und Bearbeitung durch das Subjekt vorausgesetzt – zu einer (expansiv begründeten) Lernproblematik für den*die jeweilige Auszubildende*n werden können. So ist bspw. denkbar, dass sich Auszubildende in ihrer privaten unmittelbaren Lebenswelt in der Position eines Konsumenten bzw. einer Konsumentin mit Handlungsproblemen konfrontiert sehen (z. B. Kauf eines mangelhaften Smartphones über das Internet). Diesen während der Berufsausbildung einen gewissen Geltungsraum beizumessen lässt sich u. a. aus dem über die reine berufliche Qualifizierung und Beschäftigungsfähigkeit hinausweisenden allgemeinbildenden Bildungsauftrag der Berufsausbildung begründen, wonach es auch um die Herausbildung einer ganzheitlich-selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung und Teilhabe an der Gesellschaft allgemein geht. Damit sind auch Handlungsproblematiken aus der nicht zwangsläufig beruflichen oder berufsausbildungsbezogenen Lebenswelt in den Blick zu nehmen.

3 Zusammenfassung zu ersten didaktischen Implikationen einer subjektwissenschaftlichen Lebensweltorientierung im berufsbezogenen Unterricht der Berufsausbildung

Vor dem Hintergrund der dargestellten Begrifflichkeiten und theoretisch-konzeptionellen Zusammenhänge lässt sich nunmehr ein erstes subjektwissenschaftliches Verständnis von Lebensweltorientierung in der Berufsausbildung konturieren und erste Implikationen für die Entwicklung von Unterricht und Unterweisung in der Berufsausbildung ableiten.

Unserer Lesart nach beschreibt Lebensweltorientierung vom Standpunkt des Subjekts im Rahmen der Berufsausbildung die Modalität eines intersubjektiven (Selbst-)Verständigungsversuches zwischen Auszubildenden sowie zwischen Auszubildenden und Lehrkräften sowie Ausbilder*innen i. w. S. über die unmittelbar erfahrenen Lebenswelten insbesondere der Berufsausbildung, welche die erfahrene betriebliche sowie die schulische Lebenswelt umfassen, aus der positions- und lagespezifischen Perspektive von Auszubildenden. Zweck dieser Verständigungsversuche ist die Gewinnung gemeinsamer und reflexiver Orientierung über insbesondere berufsausbildungs-lebensweltlich handlungsrelevante Handlungs- und Lernproblematiken der Auszubildenden.

Zur Fokussierung der sich aus dieser Lebensweltorientierung ergebenden didaktischen Implikationen beschränken wir uns in diesem Beitrag auf den berufsbezogenen Unterricht der Berufsausbildung im dualen System. Wir können uns damit insbesondere auf die Verständigungsversuche zwischen Berufsschüler*innen und Lehrkräften sowie zwischen den Berufsschüler*innen konzentrieren. Dabei bleibt jedoch – wie bereits beschrieben – zu berücksichtigen, dass sich die Lebensweltorientierung nicht allein auf die Bedingungen und Bedeutungsstrukturen der berufsschulischen Lebenswelt einschränken lässt.

Aus der obigen Lesart wird nicht nur deutlich, dass es in diesem subjektwissenschaftlichen Sinne nicht die eine Lebenswelt der Berufsschüler*innen einer Ausbildungsklasse, geschweige denn von Auszubildenden eines Ausbildungsberufs allgemein gibt, so dass Lehrkräfte auch nicht in Orientierung an dieser einen Lebenswelt einen für alle Schüler*innen gleichermaßen lebensweltbezogenen und lernförderlichen Unterricht gestalten können. Vielmehr gilt es, die unmittelbaren Lebenswelten der einzelnen Schüler*innen zu berücksichtigen.

Darüber hinaus wird deutlich, dass es für diese Berücksichtigung eines Verständigungsversuchs und im besten Falle einer Verständigung zwischen allen Schüler*innen einer Klasse und der Lehrkraft über die unmittelbar erfahrenen Lebenswelten vom Subjektstandpunkt bedarf. Eine in diesem Sinne verstandene Lebensweltorientierung führt uns zur Schlussfolgerungen, dass im Rahmen des berufsschulischen Unterrichts i. w. S. intersubjektive (Selbst-)Verständigungsprozesse notwendigerweise zu ermöglichen sind, um verantwortungsbewusste Verfügungs- resp. Handlungsfähigkeitserweiterung (bspw. die Fähigkeit/Möglichkeit zur erfolgreichen und ethisch redlichen Teilhabe an Verkaufsverhandlungen) der Auszubildenden in und unter Bezug auf ihre unmittelbaren Lebenswelten zu unterstützten. Diese (Selbst-)Verständigungsprozesse sind im subjektwissenschaftlichen Sinne in Form von Bedeutungs-Begründungs-Diskursen zu realisieren, in denen folgende Aspekte jeweils vom Subjektstandpunkt jedes*jeder Auszubildenden besonders zu berücksichtigen, zu reflektieren und ggf. zu bearbeiten sind:

  • Lebensweltliche insbesondere berufsschulische und betriebliche Bedingungen resp. Bedeutungseinheiten, Bedeutungen und Bedeutungsstrukturen sowie – darauf bezogen – die dem*der jeweiligen Auszubildenden in je seiner*ihrer Position und Lebenslage unmittelbar zugänglichen Bedingungen und Bedeutungs- resp. Infrastrukturen. Darüber können subjektive Möglichkeitsräume der Auszubildenden exploriert werden, die je individuelle Handlungs- und damit auch Lernspielräume (z. B. im Rahmen berufsschulischen Unterrichts und betrieblicher Arbeitshandlungen) bergen, andererseits diese aber auch begrenzen.
  • Konkrete Lernanforderungen und Lerngegenstände, die sich Auszubildenden stellen (bspw. Multiple Perspektiven auf Finanzierungsarten und deren Sinnhaftigkeit in verschiedenen Anwendungskontexten) sowie Lernhandlungen (bspw. Lernstrategien zur Vorbereitung auf eine Klausur).
  • Handlungs- und Lernprämissen der Auszubildenden (bspw. die defensiven und expansiven Gründe für konkrete betriebliche Arbeitsweisen sowie schulische Lernhandlungen, aber eben auch für das Unterlassen von möglichen Arbeits- und Lernhandlungen und letztlich für Lernwiderstände), welche auf die Lebens- und Lerninteressen der Auszubildenden (bspw. die privaten, beruflichen und schulischen Ziele) hinweisen bzw. in diesen fundiert sind, und die daraus resultierende Lernhaltung der Auszubildenden (z. B. inwiefern der*die Auszubildende mit Blick auf die Lernanforderungen ein Ungenügsamkeitsgefühl empfindet und eine Verfügungserweiterung oder -bewahrung antizipiert).
  • Handlungs- und Lernproblematiken der Auszubildenden (bspw. die [Ungenügsamkeits-]Erfahrung eines gescheiterten Kundenberatungsgesprächs sowie unterrichtliche Lernschwierigkeiten während einer Gruppenarbeitsphase) sowie ihr Verhältnis zueinander und zu etwaigen Bewältigungsproblematiken und -handlungen (bspw. der Aspekt, dass i. d. R. nur die in Lernproblematiken fundierten Bewältigungshandlungen mit Verfügungserweiterung einhergehen).

Wir gehen davon aus, dass die hier konturierten Bedeutungs-Begründungs-Diskurse für die Lehrkräfte wie für die Auszubildenden durchaus anspruchsvoll sind (z. B. Flexibilität und Offenheit, sprachliche Ausdrucksweise etc.) und zeitlich-organisatorische Herausforderungen bergen. Hier erscheinen entsprechende Bereitschaften bei allen Beteiligten ebenso erforderlich wie eine spezifische Handlungsfähigkeit, welche – im subjektwissenschaftlichen Sinne – sowohl von den individuellen Fähigkeiten der Lehrkräfte und der Auszubildenden, als auch von ihrer je spezifischen Lage und Position abhängt, d. h. u. a. von den schulischen und unterrichtlichen Bedingungen und Bedeutungsstrukturen (z. B. zeitliche und räumliche Ressourcen, Gestaltungsspielräume im Unterricht und Bildungsgang, Schulleitbild, Zusammenarbeit im Bildungsgangteam u. ä.).

Zudem stellen sich aus (fach-)didaktischer Perspektive Fragen, wie diese Bedeutungs-Begründungs-Diskurse in den berufsschulischen Unterricht i. w. S. integriert werden können bzw. in welchem Verhältnis diese zum Unterricht stehen können oder sollten. Ein auf dem subjektwissenschaftlichen Lernverständnis basierender didaktischer Ansatz ist beispielsweise die dialogische Lernberatung vom Subjektstandpunkt nach Ludwig (2012a; 2012b; 2012c; 2012d; 2015), welcher hinsichtlich seiner Eignung für den berufsbezogenen Unterricht im Rahmen der Berufsausbildung noch zu prüfen ist (siehe die ersten Überlegungen zum Transfer auf die Berufsausbildung bspw. in Burda-Zoyke/Spott 2020). In der Folge schließen sich Fragen der flexiblen Unterrichtsgestaltung an, um den je subjektiven Lernproblematiken der Schüler*innen gerecht zu werden und diese angemessen zu begleiten, und das nicht (nur) in Form von Einzelunterricht/-beratung, sondern in Form von üblicherweise klassenförmig organisierten Unterrichtssettings.

Die Implikationen aus dem subjektwissenschaftlichen Ansatz beziehen sich jedoch nicht allein bzw. im Wesentlichen auf methodische Aspekte. Vielmehr – und das erscheint uns noch bedeutsamer und folgenreicher – offenbaren sich curriculare Implikationen, die zu einem kritischen Überdenken und ggf. einer Weiterentwicklung des für den berufsbezogenen Unterricht maßgeblichen Lernfeldansatzes auffordern. Hierzu ein paar abschließende Gedanken, die zur weiteren Diskussion anregen und keinesfalls als abgeschlossen verstanden werden sollen.

Curricular betrachtet kann sich unseres Erachtens ein subjektiv lernförderliches Konzept von Lebensweltorientierung in der Berufsausbildung aus subjektwissenschaftlicher Perspektive nicht darauf beschränken, die durch Lernfeldcurricula angedeuteten objektiven Bedeutungsstrukturen der vermeintlichen beruflichen Lebenswelt sowie die damit verbundenen objektiven Lernanforderungen vom Standpunkt der Lehrkräfte zum alleinigen Ausgangspunkt für die lernförderliche Legitimation und Ableitung von Kompetenzzielen zu hypostasieren. Ferner sind die im Rahmen der durch Lehrkräfte vollzogenen Umsetzung von Lernfeldcurricula in problem- und handlungsorientierten Lernsituationen didaktisch rekonstruierten beruflichen Handlungen, die so zum Lerngegenstand bzw. zum Gegenstand des Lehrens und Lernens werden sollen (vgl. Sloane 2007, 486ff.), aus subjektwissenschaftlicher Perspektive – wenngleich auf objektive berufliche Handlungssituationen bezogene – dennoch letztlich als berufsschulische Bedeutungseinheiten zu betrachten, welche von den Schüler*innen als Lerngegenstände akzeptiert werden können oder eben nicht oder in veränderter Form. Inwiefern hierdurch tatsächlich die intendierten Lernhandlungen der Schüler*innen angestoßen und die Lernerfolge erzielt werden, ist fraglich. Zwar fordern die Kriterien zur Gestaltung von Lernsituationen von Sloane (2009) durchaus bspw. zur Berücksichtigung subjektiv bedeutsamer Problemsituationen auf. Allerdings scheint die Einschätzung der subjektiven Bedeutsamkeit im Wesentlichen den Lehrkräften überlassen, zumindest finden sich keine expliziten Hinweise darauf, dass und wie die Bedeutsamkeit aus Sicht des Subjekts selbst berücksichtigt werden sollte. Dies wird auch aus den angeführten Interventionsstrategien von Lehrkräften, die zur Umsetzung der Lernsituationen gerade bei Schwierigkeiten im Lernprozess der Lernenden diesen unterstützen sollen (vgl. Sloane 2009) nicht deutlich.

Besonders fraglich ist, inwiefern – u. a. für nachhaltige und verallgemeinert anwendbare Wissenszuwächse so wichtig erscheinende – expansiv begründete Lernprobleme der Auszubildenden aufgegriffen werden bzw. werden können. Gestalten Lehrkräfte stellvertretend und antizipativ vermeintlich lebensweltbezogene Lerngegenstände, ohne dabei die unmittelbaren (beruflichen) Lebenswelten (der betrieblichen sowie der berufsschulischen Berufsausbildung) der Auszubildenden zu berücksichtigen, laufen sie Gefahr, den Subjektstandpunkt und damit das dem*der jeweiligen Auszubildenden konkret gegebene Erfahren seiner*ihrer lage- und positionsspezifischen Lebenswelt zu unterlaufen. Die wirklichen bzw. subjektiven lebensweltlichen Handlungs- und Lernproblematiken der Auszubildenden bleiben dann möglicherweise verborgen und unbearbeitet. Ohne intersubjektive Verständigung (i. S. v Bedeutungs-Begründungs-Diskursen) zwischen Auszubildenden und Lehrkräften bleiben die expansiven und/oder defensiven Begründungsprämissen für die subjektive (Nicht-)Übernahme lebensweltlicher Handlungs- und Lernproblematiken weitgehend unaufgeklärt und können keine systematische Berücksichtigung im berufsbezogenen Unterricht erfahren. Die Ermöglichung expansiver Lernprozesse würde somit tendenziell dem Zufall überlassen.

Zugespitzt lässt sich die Aufforderung formulieren, die bzw. – im besten Falle – alle Auszubildenden zum Partner bei der Gestaltung des Unterrichts zu machen, um den Lebensweltbezug vom Standpunkt der jeweiligen Subjekte der Klasse ermöglichen zu können. Denn, um es mit den Worten Holzkamps zu sagen: „Was jeweils meinem Leben so »nahe« ist, daß ich meine Lernanstrengungen darauf beziehen will, dies ist nicht durch (wie immer »politisch« oder »fortschrittlich« gemeinte) Vorgaben der Schule/ des Lehrers ohne mich als Lernsubjekt zu entscheiden“ (Holzkamp 1993, 538).

Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung leiten wir einerseits den Beitrag abschließend und andererseits ein neues Forschungs- und Entwicklungsfeld aufschließend den Bedarf ab, das Lernfeldkonzept aus subjektwissenschaftlicher Sicht zu reinterpretieren und alsdann eine Weiterentwicklung desselben zur stärkeren Berücksichtigung einer Lebensweltorientierung vom Standpunkt der jeweiligen Auszubildenden zu erreichen.

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Zitieren des Beitrags

Spott, C./Burda-Zoyke, A. (2020): Lebensweltorientierung vom Standpunkt des Subjekts im Rahmen der Berufsausbildung: Eine subjektwissenschaftliche Deutung und didaktische Implikationen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-34. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe38/spott_burda-zoyke_bwpat38.pdf (11.10.2020).