bwp@ 38 - Juni 2020

Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane

Editorial bwp@38

Beitrag von Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane

EDITORIAL zur Ausgabe 38:
Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung

Als Gegenidee zur rationalisierten Welt der Wissenschaft und Technik spielte in den Sozialwissenschaften in den 1970er/80er Jahren die „Lebenswelt“ als eine durch Erfahrungen, gemeinsam geteilten Sinn und kulturelle Werte geprägte Welt des alltäglichen Lebens sowohl auf theoretischer als auch auf forschungsmethodologischer und empirischer Ebene eine besondere Rolle (vgl. Matthes 1981). Von dort aus fand das Konzept der „Lebenswelten“ auch Eingang in unterschiedliche pädagogische Disziplinen (vgl. Lippitz 1980; Meyer-Drawe 1989), so zum Beispiel auch in die Sozialpädagogik und in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Die „lebensweltorientierte Jugendsozialarbeit“ beispielsweise nahm die Jugendlichen in ihren Alltagsverhältnissen, mit ihren subjektiven Erfahrungen, Deutungs- und Handlungsmustern in Bezug auf ihre soziale, räumliche und zeitliche Umwelt in den Blick und fragte danach, wie sich die Jugendlichen in ihren Lebenswelten behaupteten und bewährten (vgl. Thiersch 2002, 779f.). In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik hat die Perspektive der Lebenswelt unter anderem zu der Frage geführt, „wie sich im jeweiligen subjektiven Horizont Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Erfahrungsweisen sowie Handlungspotentiale“ (Eckert 1989, 39) durch berufliche Bildung verändern. Insgesamt hat das Lebensweltkonzept so Profilierungen in theoretischen und praktischen Diskursen erfahren, kann auf unterschiedliche Rezeptionen in Handlungsfeldern und theoretische Bezugspunkte verweisen (vgl. Sierra 2013).

Obwohl inzwischen in den unterschiedlichen Teildisziplinen der Pädagogik das Lebensweltkonzept „theoretisch und empirisch differenziert ausgearbeitet ist, wird der Begriff […] gegenwärtig stark inflationär […] [und] trivialisiert gebraucht, so dass die eigentliche theoretische Konzeption der L. verloren geht“ (Bock 2015, 200). Nachdem mit der kompetenzorientierten Wende in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik seit den 1990er Jahren zumindest der Begriff der Lebensweltorientierung nicht oder nicht mehr zu den häufig benutzten Kategorien der Disziplin gehörte, stellt sich mittlerweile erneut die Frage, in welchem Kontext gegenwärtig Auseinandersetzungen mit jugendlichen Lebenswelten stattfinden und in welchem Zusammenhang jugendliche Lebenswelten und die berufliche Bildung stehen.

Sich mit jugendlichen Lebenswelten zu befassen bedeutet ein Eintauchen in eine Sphäre, in der Selbstverständlichkeiten von Milieu, Lebensformen, Biographien, von Privatheit, des Alltagslebens sowie subjektive Erfahrungen und Erlebnisse von Jugend sichtbar werden. Im Zusammenhang mit der beruflichen Bildung kann die Sicht auf jugendliche Lebenswelten je nach theoretischer Perspektive und praktischem Anspruch unterschiedlich intendiert sein. So können jugendliche Lebenswelten als ein kulturelles Gegenüber einer äußeren zweckbezogenen, formalisierten und rationalisierten Welt der Arbeit, Berufe und auch der beruflichen Bildung betrachtet werden. Sie sind aus dieser Perspektive quasi in einem Vor- oder Parallelleben von Lernenden in der beruflichen Bildung zu finden. Daneben können auch innerhalb der beruflichen Bildung unterschiedliche Lebenswelten ausgemacht werden, wie betriebliche oder berufsschulische Lebenswelten, in denen jeweils eigene Alltagspraktiken und Umgangsformen herrschen. Außerdem können jugendliche Lebenswelten als eine die berufliche Bildung bzw. berufliche Lernkulturen mitkonstituierende Ressource gedacht werden, insofern die biographischen und alltäglichen Erlebnisse und Erfahrungen der Jugendlichen in der Konzeption von Lernumgebungen und Lernprozessen Berücksichtigung finden. Im Kontext der beruflichen Bildung können die Ansprüche einer Hinwendung zu jugendlichen Lebenswelten vom Beobachten, Beschreiben, Erfassen, Nutzen, Bewerten, Optimieren von „Lebensweltpotentialen“ bis hin zur Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags und biographischen Entscheidungen reichen.

Mit dieser Ausgabe von bwp@ möchten wir einen Einblick in den aktuellen Stand der Diskussion und Forschung zum komplexen Thema jugendliche Lebenswelten in der beruflichen Bildung geben.

Die angenommenen Beiträge können wir drei Rubriken zuordnen.

Teil 1: Lebensweltbezug und berufliche Bildung

In diesem Abschnitt sind Beiträge versammelt, die aus unterschiedlicher disziplinärer und theoretischer Perspektive und auf verschiedenen empirischen Grundlagen einen Zusammenhang zwischen jugendlichen Lebenswelten und beruflicher Bildung herstellen. Einen besonderen Bezugspunkt der folgenden Beiträge bilden Fragen der Inklusion und Förderung von Jugendlichen.

Nicolas Schöpf diskutiert in seinem Beitrag aus einer sozialwissenschaftlichen und sozialpädagogischen Perspektive über Jugend als „Bewältigungsaufgabe“ den Zusammenhang von jugendlicher Lebenswelt und Bildung und Beruf. Einen besonderen Fokus richtet er auf die Differenz von Integrations- und Qualifikationsaufgabe der „Bewältigungskulturen“ Jugendlicher und fragt nach einer sich stellenden „Integrationsfalle“. Entlang ausgewählter theoretischer Elemente wird insbesondere der Zusammenhang von Bildung, Ausbildung und Beruf bei der Bewältigung des Übergangs Schule – Beruf in den Blick genommen.

Anja Gebhardt und Han Sam Quach widmen sich in ihrem Beitrag den alltäglichen Herausforderungen, die Jugendliche zu bewältigen haben. Diese stellen sich beispielsweise in Form von kritischen Lebensereignissen und Entwicklungsaufgaben dar. Auf der Basis einer onlinebasierten und qualitativ ausgewerteten schriftlichen Befragung von 953 Auszubildenden der Ostschweiz gelangen sie zu Befunden in Bezug auf die Herausforderungen, mit denen Auszubildende sowohl in ihren privaten als auch ihren berufsbezogenen Lebenswelten umzugehen haben. Die Studie gibt Auskunft über berufsfeld- und lernortspezifische sowie über lernortübergreifende lebensweltliche Anforderungen.

Matthias Vonken, Jens Reißland, Patrick Schaar und Tim Thonagel sehen in der Lebenswelt einen Ausgangspunkt für inklusives Lernen und Lehren in der beruflichen Bildung. In ihrem Beitrag verdeutlichen sie, zunächst anhand von Theoriebezügen, die Wichtigkeit eines Verständnisses von den Lebenswelten Jugendlicher als Voraussetzung im Umgang mit Heterogenität. Anschließend werden Ergebnisse einer empirischen Untersuchung mit Lehrkräften zum Thema „inklusive Berufsbildung und Situationsdefinition“ vorgestellt.

Auf der Basis empirischer Befunde, denen zufolge die Lebenswelten Auszubildender im berufsbezogenen Unterricht nicht oder kaum Berücksichtigung finden, gehen Christoph Spott und Andrea Burda-Zoyke auf Grundlage eines subjektwissenschaftlichen Ansatzes der Frage nach, wie die individuellen Lebenswelten von konkreten Auszubildenden in der Berufsausbildung deutlicher berücksichtigt und für deren Lehr-Lernprozesse gewinnbringend genutzt werden können. Der Beitrag setzt sich mit einem subjektwissenschaftlich-lebensweltorientierten Theoriekonzept sowie mit dessen Bedeutung für die Analyse von Lernen und Lehren in der Berufsausbildung im dualen System auseinander.

Mit dem Hinweis auf eine oftmals nicht nachvollziehbare Verbindung von Lebenswelt und Bildungsanforderungen, die anhand einer Konfrontation von Konzepten der Lebensweltorientierung mit dem Kompetenzparadigma deutlich gemacht werden, gehen Martin Koch, Dirk Schröder, Jennifer Seifert und Ariane Steuber anhand kulturtheoretischer und subjektwissenschaftlicher Überlegungen davon aus, dass sich Lernprozesse auf der Basis biographischer Aneignungserfahrungen vollziehen, und dass berufliche Inklusion am lebensweltlichen Erfahrungswissen der Schüler*innen ansetzen muss. Ihre Überlegungen ergänzen sie durch eine empirische Betrachtung verbaler Repräsentationen sprachlicher Register.

Davon ausgehend, dass die Lebensphase Jugend für geflüchtete Jugendliche eine „besondere Herausforderung“ darstellt, fragen Dietmar Heisler und Susanne Schemmer nach einer gelingenden Integration und Gestaltung der Lebenswelten junger Geflüchteter. Nach einer historischen und forschungsstandbezogenen Einführung werden Ergebnisse einer egozentrierten Netzwerkanalyse vorgestellt, die zeigen, welche Funktionen und Wirkungen die pädagogischen Angebote für geflüchtete Jugendlichen entfalten und inwieweit in diesem Rahmen die Lebensweltorientierung (nicht) gelingt.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Frank Braun, Tilly Lex und Christine Steiner stehen Zugänge von Schüler*innen der bayerischen Mittelschule ins Ausbildungssystem. Auf der Grundlage einer Analyse von Daten aus zwei Erhebungswellen wird gezeigt, dass bei bayerischen Mittelschüler*innen der Anteil der mit schulischen Problemen belasteten Förderbedürftigen deutlich geringer ist als in anderen Bundesländern. Als einen Grund hierfür thematisieren sie die Lebensumstände der Jugendlichen, weshalb sie für die Berücksichtigung der Lebenswelten der Jugend bei der Auseinandersetzung mit Übergängen plädieren.

Desiree Daniel setzt sich in ihrem Beitrag mit Erkenntnissen auseinander, die im Rahmen eines Projektes zur Neugestaltung von Lernumgebungen und Lernprozessen für Jugendliche im Übergangssystem an Berufskollegs gewonnen wurden. Ein Anspruch des Projektes bezüglich der Neugestaltung der Lernumgebungen und Lernprozesse bestand darin, die subjektiven Erfahrungen der Jugendlichen aus ihren bisherigen Bildungsverläufen und ihren alltäglichen Lebenswelten zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Aushandlungsprozesse über Freiheiten und Grenzen im selbstregulierten Lernen. 

Teil 2: Lebenswelten und Identitätsbildung in der beruflichen Bildung

Die Beiträge in diesem Abschnitt beleuchten subjektive Bewältigungsstrategien und die Identitätsbildung im Kontext von Lebenswelt und beruflicher Bildung. Diesbezüglich wird insbesondere auf Übergänge, die Phase der Berufsorientierung und den Berufswahlprozess Bezug genommen.

Robert Pfützner geht davon aus, dass jugendliche Lebenswelten stark durch neoliberale Imperative geprägt sind und, dass vor diesem Hintergrund kritisch-emanzipatorische Konzepte der Berufsbildungstheorie an politisierender Kraft verloren haben und durch eine solidaritätsorientierte Berufsbildungstheorie zu ergänzen sind. Auf der Grundlage einer Diagnose der aktuellen Lebenswelten von Jugendlichen und der Diskussion kritisch-emanzipatorischer Berufsbildungstheorie schlägt der Autor eine theoretische Verschiebung vor, die auf eine theoretische und praktische Wiederaneignung des Solidaritätsbegriffs zielt.

Anja Gebhardt und Michael Beck thematisieren in ihrem Beitrag Wertorientierungen und berufsbezogene Präferenzen von Jugendlichen und gehen der Frage nach, was Schüler*innen und Schülern der Sekundarstufe I und Auszubildenden im Leben und Berufsleben wichtig ist und inwiefern sich Jugendliche vor und nach dem Übergang in die Berufsausbildung diesbezüglich unterscheiden. Empirische Basis für die Untersuchung sind zwei Online-Befragungen Schüler*innen und Auszubildenden in der Ostschweiz. Anhand der Ergebnisse konstatieren die Autoren, dass sich Schüler*innen und Auszubildende hinsichtlich ihrer Wertorientierungen und berufsbezogenen Präferenzen nur punktuell unterscheiden.

So geht Angela Ulrich in ihrem Beitrag der Frage nach, inwiefern Jugendliche in der Berufswahlphase ihre Situation als stressbelastet erleben, und von welchen lebensweltlichen Faktoren dies abhängig ist. Anhand der Daten des Sozio-Ökonomische Panels (SOEP) mit 16-/17-jährigen Jugendlichen zeigt die Autorin auf, dass die Berufswahl nicht allgemein als stressbelastet empfunden wird, die gesellschaftliche Situation einen Einfluss hat und durchaus auch bei nicht klaren Berufsvorstellungen ein Optimismus vorliegen kann.

Tessa Demel, Katja E. Richter und Robert W. Jahn werfen mit ihrem Beitrag Fragen nach Zusammenhängen zwischen einer gesellschaftliche Konventionen widersprechenden, geschlechtsuntypischen Berufswahl, den privaten und beruflichen Lebenswelten von Jugendlichen und deren beruflicher Identitätsentwicklung auf. Die empirische Grundlage des Beitrags bilden Ergebnisse einer problemzentrierten Interviewstudie mit männlichen und weiblichen Auszubildenden in geschlechtsuntypischen Berufen. Bestätigt wird ein enger Zusammenhang zwischen der Lebenswelt Familie, der eigenen beruflichen Orientierung und der Identitätsbildung.

Bildungsbiographische (Um-)Orientierungsprozesse von Jugendlichen stehen im Mittelpunkt der Fallstudien von Janika Grunau und Lena Sachse, in denen Beweggründe von Jugendlichen für den Wechsel vom Gesundheitsfachberuf ins Studium untersucht werden. Im Kern geht es um Frage, wann und warum biographische Umorientierungen bei Jugendlichen stattfinden. Die Autorinnen stellen fest, dass bei der Entscheidung für die Aufnahme des Studiums die familiäre Tradition und Bildungsaspiration eine wichtige Rolle spielt.

Aus zwei Perspektiven befasst sich Lena Freidorfer-Kabashi mit der Wahrnehmung von Jugendlichen im Wandel der Zeit am Beispiel des Lehrlings: Zum einen als soziales Konstrukt im Spiegel von Deutungen und Denkmustern Erwachsener zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten, zum anderen mit dem Alltagserleben der Jugendlichen in beruflicher Ausbildung. Hierzu werden verschiedene Dokumente analysiert. Im Fokus stehen die Kantone der Deutschschweiz im Zeitraum von 1950-1970. Der Beitrag zeigt, wie sich das Bild des Lehrlings und sein/ihr Alltagsleben im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat.

In der Phase der Berufsorientierung gehört das Schauen von Jugendserien zur Alltagswelt junger Menschen, so Florian Berding, Gernot Dreisibner, Heike Jahncke, Peter Slepcevic-Zach und Jane Porath. Folglich, so das Autorenteam, stellt die Auseinandersetzung mit Vorbildern aus Film und Fernsehen eine wichtige Determinante der Berufsorientierung dar. Vor diesem Hintergrund widmen sie sich anhand einer Videoanalyse der Frage, welche Bilder über welche Berufe in diesen Serien transportiert werden. Dabei stellen sie u. a. fest, dass die Berufsdarstellungen nur bedingt realitätsnah eingestuft werden können und Geschlechtsstereotype verstärken.

Franziska Schwabl sieht in Fotografien einen Zugang zur Lebenswelt Jugendlicher und widmet sich in ihrem Beitrag Selbstfotografien (Selfies) von Jugendlichen in berufsvorbereitenden Bildungsgängen. Sie geht davon aus, dass Selfies eine mediale Auseinandersetzung mit Identitätsentwürfen repräsentieren können. Anhand einer rekonstruktiven Analyse wird gezeigt, wie sich Jugendliche selbst präsentieren. Im Ergebnis weist die Autorin auf sieben Inszenierungstypiken sowie auf gender- und migrationsspezifische Differenzen hin. 

Teil 3: Lebensweltorientierung und Gestaltung beruflicher Bildung

Die Frage danach, was eine auf die Lebenswelt der Jugend ausgerichtete berufliche Bildung ausmacht und wie diese konzeptionell entworfen und praktisch gestaltet werden kann, wird in den Beiträgen dieses Abschnitts anhand von empirisch-methodischen, didaktischen, berufsfeld- und bildungsgangspezifischen Beispielen behandelt.

Ralf Erlebach, Peer Leske und Carolin Frank sehen in den Forderungen nach Subjekt- oder Potenzialorientierung angesichts der Heterogenität der Lernenden eine Herausforderung für Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen. In ihrem Beitrag berichten sie über ein Analysetool für den gewerblich-technischen Unterricht, das mit dem Anspruch verknüpft ist, lernpsychologische und technikdidaktische Erkenntnisse aufzugreifen. Beispielhaft zeigen sie auf, wie man mit Hilfe dieses Tool die kognitiven Ressourcen der jugendlichen Schüler*innen und deren lebensweltlichen Erfahrungen berücksichtigen kann.

Petra Frehe-Halliwell und H.-Hugo Kremer erläutern in ihrem Beitrag, dass der Ansatz der Tageslernsituationen ein Format zur lebensweltorientierten Didaktik in der Berufs- und Ausbildungsvorbereitung ist. Ziel dabei ist es, den besonderen Herausforderungen in diesem Bereich lebensweltorientiert zu begegnen. In diesem Zusammenhang geht es beispielsweise um Schulabstinenz, Motivationsprobleme und die hinterfragte Relevanz schulischer Lerngegenstände seitens der Lernenden. Nach Auffassung des Autorenteams bietet das Lebensweltkonzept Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung mit Tageslernsituationen und eine Basis, um diese für und in Bildungsgängen weiter zu entwickeln.

Sabine Albert untersucht Diskrepanzen zwischen bisherigen lebensweltlichen Erfahrungen Jugendlicher und ihren Wahrnehmungen von Praxisformen im Unterrichtsalltag und fragt danach, wie diese identifiziert werden können. Auf der Basis einer rekonstruktiven Untersuchung stellt sie die Gruppendiskussion als geeignete Methode heraus, um die Lebenswelten von Jugendlichen in berufsbildenden Schulen stärker zu berücksichtigen. Die Autorin stellt u. a. die Bedeutung von Respekt und Wertschätzung zur Entstehung einer neuen schulischen Lebenswelt heraus.

Meike Panschar, Fara Steinmeier, Florian Berding, Julia Kastrup, Karin Rebmann und Andreas Slopinski gehen anhand von identitätstheoretischen Überlegungen und von empirischen Befunden der Frage nach, inwiefern der Wert der Nachhaltigkeit die Lebenswelt und Identität Jugendlicher prägt, und welche Spannungen in diesem Zusammenhang deutlich werden. Anhand der im Rahmen des Verbundprojekts „Nachhaltiges Wirtschaften im Lebensmittelhandwerk“ gewonnen Erkenntnisse wird gezeigt, wie nachhaltigkeitsorientierte und identitätsbildende Zusatzqualifikationen inhaltlich sowie didaktisch-methodisch gestaltet werden können.

Andreas Slopinski, Jane Porath und Gina Maria Krizan geben einen Einblick in betriebliche Lebenswelten von kaufmännischen Auszubildenden im thematischen Kontext der Nachhaltigkeit. Sie fragen nach deren Vorstellungen, Wahrnehmungen und Relevanzeinschätzungen hinsichtlich einer nachhaltigen Unternehmensführung sowie nach Nachhaltigkeitsaktivitäten des Ausbildungsbetriebes der Auszubildenden und wie diese von den Auszubildenden wahrgenommen werden. Am Ende des Beitrags fokussieren sie komplexe Lehr-Lernarrangements und Lernaufgaben, die dazu beitragen sollen, die Sensibilität der Auszubildenden in punkto Nachhaltigkeit zu fördern.

Wiebke Petersen plädiert in ihrem Beitrag dafür, die Lebensweltorientierung in der (berufs-)schulischen Ausbildungsvorbereitung zu stärken, um den Übergang in die und den Verbleib in der Berufsausbildung zu erleichtern. Die Autorin argumentiert mehrperspektivisch für die Stärkung der Lebensweltorientierung, auf einer individuellen Ebene durch die Unterstützung bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, auf der institutionellen Ebene durch die Lebensweltorientierung in der schulischen Ausbildungsvorbereitung und schließlich auf der strukturellen Ebene durch die Übernahme von Verantwortung berufsbildender Schulen als Sozialisationsinstanz der Jugendlichen auch mit Blick auf die Vorbereitung auf weiterführende schulische Bildungsverläufe.

Silke Lange betrachtet in ihrem Beitrag die Berufsausbildungseingangsphase als eine Lebenswelterweiterung. Sie geht der Frage nach, mit welchen Anforderungen sich die Auszubildenden in der Berufsausbildungseingangsphase konfrontiert sehen, und wie sie die Lebenswelterweiterung zu Beginn der Berufsausbildung subjektiv wahrnehmen. Grundlage der Auseinandersetzung ist eine qualitative Untersuchung, in der die Berufsausbildungseingangsphase aus der Perspektive von Auszubildenden im Kfz-Mechatronikerhandwerk im Vordergrund steht.

Anja Günther und Thomas Kuscher beleuchten in ihrem Beitrag die Frage nach dem Zusammenhang zwischen individueller Lebenswelt und beruflicher Identität angesichts von beruflicher Orientierungssuche an den Übergängen zwischen allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung. Bezugspunkt der Auseinandersetzung sind Befunde eines Projektes im Bereich der ökonomischen Bildung in der Sekundarstufe II.

Angesichts einer Vielzahl an Optionen für die Gestaltung ihres Bildungs- und Berufswegs, die Jugendlichen mit Hochschulzugangsberechtigung nach der Schulzeit zur Verfügung stehen, stellen Dieter Euler und Nicole Naeve-Stoß verschiedene Angebote zur Unterstützung der Jugendlichen vor und fokussieren dabei auf das innovative „Modell der studienintegrierenden Ausbildung“. Ein zentraler Bestandteil des Modells bildet das Bildungs- und Berufswegcoaching, das im Beitrag beschrieben wird. Außerdem wird ein methodologischer Rahmen beschrieben, innerhalb dessen eine Implementierung erfolgen könnte. 

Die vielfältigen Beitragseinreichungen haben uns darin bestätigt, dass es an der Zeit war, das Thema in den Blick zu nehmen. Ebenso konnten wir über die Beiträge feststellen, dass das Konzept der Lebenswelt in vielfältigen Bereichen eine hohe Bedeutung hat und doch gewissermaßen nur mitgeführt wird. Damit wird mit der Bezugnahme auf die Lebenswelt in verschiedenen Beiträgen ein neuer Zugang zu den Forschungsthemen und Handlungsbereichen aufgenommen. Dies ist insofern interessant, dass u. a. über diese Perspektive neue Einsichten gewonnen und (neue) Verbindungen zwischen Forschungsthemen aufgedeckt werden können.

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, beim Redaktionsteam und der Webmasterin für die gute Zusammenarbeit und wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane   
(im Juni 2020, aktualisiert und finalisiert im November 2020)

 

Literatur

Bock, K. (2015): Lebenswelt. In: Thole, W./Höblich, D./Ahmed, S. (Hrsg.): Taschenwörterbuch Soziale Arbeit. 2. Aufl. Wien u.a., 198-200. 

Eckert, M. (1989): Lernen und Entwickeln in Maßnahmen. Zur Wirksamkeit berufsvorbereitender Maß­nahmen und Förderlehrgänge im Kontext der Lebenswelt Jugendlicher in der Problemregion Duisburg. Opladen.

Lippitz, W. (1980): „Lebenswelt“ oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel

Matthes, J. (Hrsg.) (1981): Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen. Frankfurt a. M.

Meyer-Drawe, K. (1989): Lebenswelt. In: Lenzen, D. (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. Band 2. Reinbek bei Hamburg, 923-930.

Sierra, R. (2013): Kulturelle Lebenswelt. Eine Studie des Lebensweltbegriffs in Anschluss an Jürgen Habermas, Alfred Schütz und Edmund Husserl. Würzburg.

Thiersch, H. (2002): Lebensweltorientierte Sozialarbeit. In: Fülbier, P./Münchmeier, R. (Hrsg.): Hand­buch Jugendsozialarbeit. Geschichte, Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder, Organisation. 2. Aufl. Münster, 777-789.

Zitieren des Beitrags

Büchter, K./Kremer, H.-H./Sloane, H./Gebhardt, A. (2020): EDITORIAL zur Ausgabe 38: Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-8. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe38/editorial_bwpat38.pdf (14.11.2020).