bwp@ 38 - Juni 2020

Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Anja Gebhardt & Hannah Sloane

Lebensweltorientierung in der beruflichen Bildung: Subjektwissenschaftliches Prinzip einer beruflichen Inklusionspädagogik

Beitrag von Martin Koch, Dirk Schröder, Jennifer Seifert & Ariane Steuber
Schlüsselwörter: Lebensweltorientierung, Kompetenzparadigma, Tätigkeitstheorie, Alltagssprache, Bildungssprache

Lebensweltorientierung verbleibt im pädagogischen Diskurs häufig ohne nachvollziehbare Anknüpfung an schulische und berufliche Bildungsanforderungen. Im Gegenteil: Sie scheint diesen in vielen Aspekten sogar konträr gegenüber zu stehen. Der vorliegende Beitrag stellt diese gering ausgeprägte Bezogenheit exemplarisch durch eine Gegenüberstellung von Konzepten der Lebensweltorientierung mit dem Kompetenzparadigma dar und versucht über die Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule eine verknüpfende Grundlage zu einem pädagogischen Verständnis berufsbildender Prozesse sog. benachteiligter Jugendlicher herzustellen. Dabei wird von der zentralen These ausgegangen, dass sich Lernprozesse auf der Basis biographischer Aneignungserfahrungen vollziehen und eine berufliche Inklusionspädagogik darum an dem vorhandenen lebensweltlichen Erfahrungswissen ihrer Klientel ansetzen muss. Dieser theoretische Ansatz wird durch eine empirische Betrachtung verbaler Repräsentationen sprachlicher Register erweitert – sie zeigt die emanzipativen Momente sprachlicher Suchbewegungen junger Menschen, die sich zwischen unterschiedlichen Sozialräumen bewegen und sich dabei individuell den ihnen teils verschlossenen Sprachsphären annähern. Der Beitrag schließt mit einem Vorschlag zur didaktischen Umsetzung einer solchen tätigkeitsbezogenen Lebensweltorientierung.

The concept of the lifeworld orientation in vocational education and training: The subject-scientific principle of vocational inclusion pedagogy

English Abstract

The orientation on the conditions of life often stays without any particular connection to active educational processes, but is often perceived as diametrically opposed to them. As a theoretical base the present article offers a conjunction between the activity theory by cultural-historical approaches and the concept lifeworld orientation. This allows a focus on the educational processes of so called underprivileged teenagers in their vocational training. The underlying thesis, thereby is, that learning processes happen on the basis of bibliographical appropriation. A vocational inclusive pedagogy must therefore build on the existing Experiences of the student’s lifeworld. This theoretical base is completed by an empirical exploration of verbal representation in the social spaces – the present data shows the individual emancipatory potential of teenagers to explore an otherwise closed social space by approaching it through a more formal language. The article closes with a didactic scenario which applies the foregoing insights.

1 Einleitung

Lebensweltorientierung steht für einen veränderten Zugang zu Verständnisweisen und Wirklichkeitskonstruktionen gerade wenig erfolgreicher Lernender und kann damit einen wesentlichen Beitrag zur Konzeption einer inklusiven Schulpädagogik leisten. Denn die Fokussierung individuellen biographischen Welterlebens enthält die latente Möglichkeit, über Defizitkategorien hinaus an den Wirklichkeitsvorstellungen sog. benachteiligter junger Menschen anzusetzen und die darin eingeschriebenen Verständnisse mit allgemeinbildenden und beruflichen Lernanforderungen zu verbinden. Aus biographischen Erfahrungen resultieren immer auch Bewältigungsstrategien, die allerdings an den Kontext ihrer Hervorbringung gebunden bleiben. Insofern beinhaltet dieses vorwiegend in der Sozialpädagogik ausgearbeitete Konzept ein erhebliches Potenzial, um es mit dem zeitgenössischen (berufs-)pädagogischen Paradigmen der Kompetenzorientierung zu verbinden.

In diesem Beitrag wird darum der Frage nachgegangen, unter welchen Voraussetzungen es gelingen kann, diese beiden Ansätze in einer Weise zu kombinieren, dass bildungsbezogene Anforderungen und lebensweltliche Bewältigungsstrategien unmittelbar aufeinander Bezug nehmen. Denn beide Pole sind auf unterschiedlich situierte Handlungsräume bezogen, deren innere Regelhaftigkeiten und Bedeutungsstrukturen keineswegs in unmittelbarem Einklang stehen müssen. Vor diesem Hintergrund betrachten wir Lebenswelten und schulische sowie betriebliche Lernorte hier als zunächst eine Dichotomie, in der sich formale und informelle Handlungskompetenzen relativ autark voneinander ausprägen.

Vor diesem Hintergrund untersuchen wir zunächst ausgewählte Ansätze der Lebensweltorientierung einerseits und der Kompetenzorientierung andererseits hinsichtlich möglicher Ansatzpunkte zu ihrer wechselseitigen Bezugnahme. Diesbezüglich ist vorwegzunehmen, dass beide Ansätze zwar Möglichkeiten zu einer inklusionspädagogischen Verbindung enthalten, als Konzepte der Berufs- bzw. Sozialpädagogik jedoch auf unterschiedliche Lern- bzw. Handlungsräume bezogen bleiben und insofern implizit die oben angedeutete Dichotomie fortsetzen.

Aufgrund dessen machen wir im Folgenden einen Vermittlungsvorschlag, indem wir mit der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule die Implementierung eines theoretischen ‚Brückenglieds‘ vorschlagen. In seinen Ausarbeitungen und Adaptionen von vor allem Leontjew und Holzkamp enthält dieses Konzept bereits wesentliche Grundlagen für ein Verständnis von auch lebensweltlicher Tätigkeit als Lern- und Aneignungsprozess, an den künftige Lernhandlungen grundsätzlich anschließen können.

Wie eine solche Verknüpfung in konkreten pädagogischen Handlungskontexten funktionieren könnte, veranschaulichen wir abschließend anhand exemplarischer Auswertungen von Interviews mit bildungsbiographisch wenig erfolgreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der außerschulischen Berufsvorbereitung. Dabei stellen wir das Medium der Sprache als universelles Distinktionsmittel, auf dem Bedeutungsstrukturen ebenso wie situierte Aneignungserfahrungen gründen, in den Vordergrund. Wir beziehen uns zentral auf die Unterscheidung zwischen Alltags- und Bildungssprache, die in den Sprachwissenschaften insbesondere hinsichtlich ihres formalen Komplexitätsgrads in der Regel als hierarchisch getrennte Sprachregister unterschieden werden. Dabei wird deutlich, wie einzelne Jugendliche diese separierten Sprach- und Handlungsräume erleben; welche Barrieren sie empfinden, welche Abwehrstrategien daraus resultieren und welche Brücken sie zwischen ihnen zu bauen versuchen.

Damit lassen wir die interviewten Jugendlichen die entscheidenden Brückenschläge für eine lebensweltorientierte berufliche Inklusionspädagogik selbst vorwegnehmen. Auf dieser empirischen Grundlage formulieren wir abschließend einen exemplarischen didaktischen Vorschlag für die pädagogische Umsetzung eines gleichermaßen handlungs- und lebensweltorientierten Unterrichts.

2 Zum Konzept der Lebensweltorientierung

Dass der Begriff der Lebenswelt gerade im Diskurs der Sozialen Arbeit als „geschunden“ und „abgemagert“ kritisiert wird (Fuchs/Halfar 2000, 56), liegt nicht zuletzt an der Verwendung des Begriffs ohne seine phänomenologischen und sprachanalytischen Kontexte, der derart entkernt als nur noch taugliches Synonym für den Begriff ‚Leben‘ angesehen wird (vgl. ebd.). Um jedoch die Lebenswelt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen erfassen und verstehen zu können, bedarf es mehr als nur einer groben Beschreibung der äußeren Umstände. Daher ist es unumgänglich, sich auf die Wurzeln des Konzepts zu besinnen und die aus dieser Betrachtung resultierenden Schlüsse auf die alltägliche Arbeit mit jungen Menschen zu beziehen. Der Begriff der Lebenswelt, von Husserl stammend, wird von Schütz (1976, 284) als „Gesamtzusammenhang der Lebenssphäre“ beschrieben, was mehr beinhaltet, als die bloßen Umstände. Beschrieben wird hier die intersubjektiv sinnhafte Welt. An ihr nehmen Menschen durch ihre Handlungen, durch ihre (vorwissenschaftlichen) Erfahrungen im Alltag teil. Im Fokus des Konzepts der „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ stehen dabei deren Adressat*innen nicht nur mit ihren Lebensverhältnissen. Ihre Probleme und Ressourcen des Alltags, aber auch Einschränkungen und Freiheiten sind Thema dieser Auseinandersetzung. Der persönliche Umgang mit den Anstrengungen vor dem Hintergrund materieller und politischer Bedingungen als auch sozialer Beziehungen findet besondere Beachtung (vgl. Grundwald/Thiersch 2018, 303).

Dies eröffnet ein Dilemma, welches sich insbesondere auch in der (vor-)beruflichen Bildung mit sog. benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen manifestiert. Es betrifft die Anforderungen der Gesellschaft einerseits, die Ressourcen und lebensweltlichen Erfahrungen der jungen Menschen auf der anderen Seite. Das Konzept der Lebensweltorientierung bietet hier einen Umgang, der auf darauf abzielt, die Stärkung lebensweltlicher Potentiale ebenso in den Blick zu nehmen und dadurch einen gelingenden Alltag zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dabei nutzt es seine professionellen Möglichkeitsräume, um Menschen ihren Ressourcen entsprechend ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu verhelfen (vgl. ebd.).

Zum prägnanteren Verständnis ist eine bezugnehmende Abgrenzung von den Begriffen Alltag bzw. Alltäglichkeit, Lebenslage versus Lebenswelt sowie Wirklichkeit gegenüber Realität notwendig. Alltag ist zunächst als Bild für die ‚Welt‘ mit ihren gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen zu verstehen. Daneben sind

„Lebenswelten [...] geprägt durch anthropologische und gesellschaftliche Strukturen, die Lebenslagen, ohne dass beide ineinander aufgehen würden. Als Lebenslagen lassen sich Genderstrukturen, ethnische und materielle, politische, soziale und kulturelle Bedingungen und Ressourcen verstehen“ (Grundwald/Thiersch 2018, 304).

Die Lebenslage stellt zugleich den Begriff der Realität, der physikalischen Welt, der materiellen und immateriellen Lebensbedingungen dar. Wichtig hierbei ist, dass den Menschen ausschließlich die subjektiv konstruierte Wirklichkeit zugänglich ist, nicht aber die Realität. Sie ist stets nur über die Wahrnehmung zugänglich (vgl. Kraus 2006, 124f.). Dabei sind Lebenswelten und Lebenslagen miteinander verknüpft. Wenn als Realität die physikalische Welt gilt, so gilt als Wirklichkeit die subjektive Erlebenswelt. Wirklichkeit ist so das Ergebnis der subjektiv wahrgenommenen Realität (vgl. ebd.). Lebenswelt, Alltäglichkeit und Wirklichkeit sind so das Abbild des unhintergehbar subjektiven Wirklichkeitskonstrukts. Dies bildet sich in Auseinandersetzung mit der Lebenslage, der Realität und dem Alltag (vgl. Kraus 2006, 125; Grundwald/Thiersch 2018, 303). Dementsprechend verhält sich der Begriff Wirklichkeit zu dem Begriff Lebenswelt wie der Begriff Realität zu dem Begriff Lebenslage (vgl. Kraus 2017, 31f.).

Das Erleben von Menschen verstehen zu wollen, kristallisiert sich als anspruchsvolle pädagogische Aufgabe heraus, deren Bearbeitung nicht selten an der Vermischung oder dem Entkernen von Verständnis scheitert. Doch auch dann ist diese Aufgabe zwischen zwei miteinander vermeintlich unvereinbaren Polen angesiedelt, auf deren Auflösung nicht zu setzen ist. Die Anforderungen der Realität und die Wirklichkeit der Menschen, mit denen gearbeitet wird, erfordern eine spezielle ‚Übersetzungsleistung‘, die z. B. in Bildungskontexten auf den Versuch einer didaktischen Vermittlung beider Ebenen abzielt. Dazu ist es nötig zu respektieren, dass der Mensch mehr ist als seine Lebenslage. Die Sichtbarmachung des individuellen Erlebens der Welt und der besprochenen Lebenslage erfordert keine präzise quantitative Erfassung, sondern sie setzt auf eine relationale Annäherung über das Gespräch.

Bildungsbestrebungen und -anforderungen können demnach vor allem auch als Teil der Realität verstanden werden, mit ihren Strukturen und überindividuellen Ansätzen. Formale Bildungsbestrebungen müssen jedoch nicht Teil der individuellen Wirklichkeit sein. Anforderungen im Bildungssystem wie z. B. der Erwerb oder die Performanz berufsbezogener Kompetenzen stehen so der Lebenswelt der Menschen teils ohne jede konkrete Verknüpfung gegenüber. Eine lebensweltliche Orientierung ist daher zuallererst die Akzeptanz einer nicht auflösbaren Subjektivität. Ein objektives Erfassen ist nicht möglich, sondern wird immer in der eigenen Subjektivität Rahmung finden müssen (vgl. Kraus 2006, 126). Eine solche Orientierung trägt somit vorhandenen lebensweltlichen Ressourcen eher Rechnung als formalen Kompetenzen.

Entscheidend für eine Bezugnahme des Lebensweltkonzepts auf Anforderungen beruflicher und allgemeiner Bildung ist nun jedoch, dass insbesondere im Rahmen seiner sozialpädagogischen Verwendung allenfalls indirekte Bezüge zu deren Inhalten hergestellt werden. Lebensweltorientierte Jugendsozialarbeit benennt und würdigt zwar vielfach Praktiken, Ressourcen und Wirklichkeitskonstruktionen aus dem oft bildungsfernen Alltag junger Menschen als ‚Bewältigungshandeln‘. Aber gerade weil der lebensweltliche Fokus auf Handlungsräume jenseits institutioneller Lernorte gerichtet ist, erscheint es kaum vorstellbar, wie eine dort erlebte Selbstwirksamkeit mit räumlich und kulturell entlegenen Anforderungskontexten verbunden werden könnte. Zwar ist es aus unserer Sicht richtig und nachvollziehbar, den Ausgangspunkt auch anforderungsbezogenen Lernens stets in bereits herausgebildeten Sphären lebensweltlichen Handlungswissens zu suchen. Doch die Konsequenz vieler lebensweltorientierter Ansätze läuft auf eine relative Trennung dieser unterschiedlichen Handlungs- und Erlebnisräume hinaus. Exemplarisch schreibt Krafeld (2008, 6) zum Konzept einer lebensweltorientierten Jugendberufshilfe:

„Denn nur dort, in den eigenen Alltagswelten, gibt es reelle Chancen, mit eigenen Leistungen auch tatsächlich immer eigene Nützlichkeit zu erleben, dadurch entsprechende soziale Anerkennung zu erfahren und soziale Zugehörigkeit wachsen zu sehen.“

Unser Ansatz zielt darum auf eine Verbindung von Lebensweltorientierung mit der Bewältigung von Bildungsanforderungen ab, indem wir nach konzeptuellen Wegen suchen, mit denen jugendliche Akteur*innen dabei unterstützt werden können, bereits ausgeprägtes lebensweltliches Handlungswissen zur Bewältigung formaler Aufgabenstellungen zu nutzen.

3 Das Kompetenzparadigma: Die ‚andere‘ Seite des Handelns und Denkens

Ein begriffliches und konzeptionelles Äquivalent zur Lebensweltorientierung könnte vor diesem Problemhintergrund das Kompetenzparadigma darstellen. Denn trotz der vielen „Definitionspirouetten“ rund um den Kompetenzbegriff, der Vielfalt der Feststellungverfahren und Einsatzbereiche, lässt sich doch eine übergreifende Verständnisschnittmenge erkennen, nach der Kompetenzen als „Selbstorganisationsdispositionen“ aufgefasst werden, die „bis zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelte innere Voraussetzungen“ bezeichnen, die „nicht nur individuelle Anlagen, sondern auch Entwicklungsresultate“ umfassen und deren Grundlagen „»interiorisierte« Werte“ darstellen (Erpenbeck et al. 2017, XIIf.; Hervorhebung im Original). Die damit gesetzten Analogien zur Lebensweltorientierung sind trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten offensichtlich. Denn wenn Lebenswelten als handlungsleitende Verständnissysteme auf die Erfahrung bestimmter sozialer und gegenständlicher Realitäten zurückgehen, so überschneidet sich dieses Verständnis mit dem von kompetenzgenerierenden Dispositionen, sofern diese zumindest teilweise als Resultate verinnerlichter (Entwicklungs-) Erfahrungen angesehen werden.

Unübersehbare Differenzen zwischen beiden Konzepten bestehen jedoch hinsichtlich der Bezugskontexte, aus denen diese Erfahrungen hervorgehen. Zwar scheint es unter der Vielzahl an Kompetenzdefinitionen eine grundsätzliche Übereinstimmung bezüglich der nach Chomsky (1969, 14f.) getroffenen Unterscheidung zwischen Kompetenzen als inneren Dispositionen eines Individuums und Performanzen als deren beobachtbare Handlungsresultate zu geben. Doch die damit definierte, eingeschränkte Messbarkeit von Kompetenzen wird gerade in der Berufspädagogik mit der Unterscheidung zwischen ‚Kompetenz‘ und ‚kompetentem Handeln‘ überbrückt, wonach „kompetentes Handeln in einer Situation der Beobachtung durch Dritte zugänglich ist“ (Baethge et al. 2006, 28) oder „die wiederholte Beobachtung von Verhaltensweisen die Vermutung begründe[t], dass dauerhaft verfügbare Handlungskompetenzen das Verhalten anleiten“ (Euler 2020, 207f.). Allerdings beziehen wesentliche Verfahren und Definitionen nicht nur Fertigkeiten, Kenntnisse und zum Teil auch Qualifikationen mit ein, sondern sie sind auf ein „Handeln in abgegrenzten Situationstypen“ (ebd., 208) bezogen.

Mit einer solchen Kontextfixierung schließen zeitgenössische Kompetenzverständnisse Bezüge zu Konzepten der Lebensweltorientierung tendenziell aus. Die damit gegebene Fokussierung zielt auf ein dualistisches Modell, in dem einer gegenständlichen Welt die Sphäre des Denkens und der Begriffe gegenübersteht und das planende und zielorientierte Denken dem gegenständlichen Handeln vorausgeht (vgl. Eckert 2008, 200). Aus unserer Sicht heißt das auch, dass kompetentes Handeln in bildungsbezogenen Kontexten nicht nur an fachliches Wissen, sondern immer auch an besondere fachkulturelle Normen und damit an Kenntnisse von normierten Handlungserwartungen gebunden bleibt. Handelnde, die ihre situationsgebundenen Bewältigungsstrategien in formellen Kontexten aufgrund von lebensweltlichen Erfahrungen ausrichten, müssen von dieser Form kompetenten Handelns darum der Tendenz nach ausgeschlossen bleiben.

Damit bietet es sich an, das Phänomen von Kompetenz als soziales Verhältnis zu denken, in dem formell und informell etablierte Anforderungsnormen auf lebensweltlich entwickelte Verständnisse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen treffen, die sich je nach Gestalt der in ihnen repräsentierten Verständnisse in unterschiedlichem Maße unterscheiden (vgl. Koch/Straßer 2008, 41ff.).

In einem erweiterten Verständnis widerspricht dies dem zeitgenössischen Inklusionsparadigma. Denn abgesehen von einer in Deutschland gegebenen Engführung auf Merkmale von Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf, gewährt der damit transportierte Teilhabebegriff zwar räumliche Zugänge zu formellen Lernorten. Teilhabe im Sinne einer ‚Inklusion lebensweltlicher Erfahrungen‘ erscheint vor dem Hintergrund einer solchen dichotomischen Fokussierung von verschiedenen gesellschaftlichen Erfahrungsorten jedoch versperrt. Genau dies wäre aber zur Überschreitung eines nur kategorialen Diversitätsverständnisses notwendig (vgl. hierzu Rein/Riegel 2016).

Wie aber ließe sich das gängige Kompetenzverhältnis begrifflich und konzeptionell öffnen und auch auf lebensweltliche Erfahrungen beziehen? Diesbezüglich liegen zwar Verfahren eines eher sozialpädagogisch orientierten Kompetenzverständnisses vor (vgl. z. B. Lippegaus-Grünau 2009) sowie Konzepte, die im Anschluss an Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handels zwischen den Motiven lebensweltlicher Bewältigungsstrategien und der Gestalt konkret gestellter Anforderungen im Sinne von „Kompetenzverhandlungen“ zu vermitteln versuchen (Bode 2015; Koch/Hagedorn 2018). Hinsichtlich konkreter inhaltlicher Anknüpfungspunkte sehen wir jedoch ein verbleibendes Desiderat. Wenn wir also den Zugang der Lebensweltorientierung ernst nehmen, den „Menschen in seinen Alltagsverhältnissen [...] in seinen Erfahrungen, Deutungs- und Handlungsmustern“ (Thiersch 2002, 780) zu sehen, dann müssen diese Lebenswelten als Reservoire von Weltverständnissen, Bewältigungsvermögen und Lernvoraussetzungen anerkannt werden, die in der Lebensphase des Übergangs von der Schule in den Beruf bereits weitgehend ausgeprägt sind. Wenn diese Reservoire aber als Ressourcen in beruflichen und allgemeinbildenden Bildungsprozessen genutzt werden sollen, bedarf es eines didaktischen Konzepts, mit dem die von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen bereits entwickelte Komplexität lebensweltlicher Verständnisse auch in formalen und informellen Bildungsanforderungen abgebildet werden kann, auch wenn sie sich als nicht unmittelbar mit ihnen kompatibel erweisen sollte.

4 Tätige Weltaneignung als didaktisches ‚Brückenglied‘ zwischen Lebenswelt und Kompetenzparadigma

Dass eine solche Konzeption theoretisch und pädagogisch umsetzbar sein kann, erscheint uns aus unserer pädagogischen und wissenschaftlichen Erfahrung heraus evident. Wir setzen hier insbesondere auf der Grundlage von biographischen Interviews und ethnographischen Rekonstruktionen (vgl. Koch 2008; 2012) eine hoch ausgeprägte Differenziertheit und Geschlossenheit der Wahrnehmungsweisen, Deutungsmuster und Bewältigungsstile der überwiegenden Anzahl schulisch wenig erfolgreicher Jugendlicher voraus. Allerdings bezeichnet dies eine Komplexität, die zu deren schulischem Leistungsvermögen oft in keinerlei nachvollziehbarem Verhältnis steht. An dieser Stelle ist jedoch aufgrund der Vielfalt der enthaltenen zeitlichen, räumlichen, personalen und emotionalen Bezüge eine Darstellung selbst auf exemplarische Weise nicht möglich.

Über die angerissene Problematik eines Gegensatzes zwischen formellem gegenüber lebensweltlichem Lernen stellen sich damit noch einmal grundlegende Fragen nach dem Wesen des Lernens und dabei auftretender Probleme und Hemmnisse.

Ein aus unserer Sicht dafür geeignetes Konzept bietet die Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule. Ausgehend von dem Marxschen Postulat, menschliches Bewusstsein und Denken subjektiv als „sinnlich menschliche Tätigkeit“ (Marx 1958, 5) aufzufassen, geht diese Denkrichtung davon aus, „dass es ein Produkt jener besonderen, das heißt gesellschaftlichen Beziehungen darstellt, die die Menschen eingehen und die nur vermittels ihres Gehirns, ihrer Sinnesorgane und ihrer Tätigkeitsorgane realisiert werden. In den durch diese Beziehungen erzeugten Prozessen erfolgt die Reproduktion der Objekte als subjektive Abbilder im Kopf des Menschen, in Form des Bewusstseins“ (Leontjew 2002, 40). Für die Entstehung des individuellen Bewusstseins, das Lernen und das Kennenlernen der sozialen und dinglichen Welt folgt daraus, dass es unsere tätigen und damit gestaltenden Handlungen sind, mit denen wir uns die Welt angeeignet haben, aus denen unsere Vorstellungen vom Leben hervorgehen und die darauf zu den inneren Prozessen geistiger Handlungen werden. Was und vor allem, wie ein Mensch denkt, was er weiß und kann, geht also auf seine tätigen Handlungen in Gegenwart und Vergangenheit zurück, mit denen er die Welt auf seine Weise gestaltet und kennengelernt hat. Wissen und vor allem auch Kompetenz sind darum etwas, das wir in jeder individuell besonderen Form in der gelebten Vergangenheit suchen und verstehen müssen. Dabei kann jedoch kein Mensch frei über die Bedeutung der Dinge und Erscheinungen und damit über die besondere Gestalt seines Denkens entscheiden. Denn ganz wie die Worte einer gesprochenen Sprache ist die Bedeutung jedes Gegenstands und jeder Erscheinung in eine besondere Struktur von Beziehungen und ideellen Bedeutungen eingewoben, welche die Art und Weise repräsentieren, mit der die Menschen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt mit der Welt umgehen und die sich in gegebenen Bedeutungen ausdrücken. Diese Bedeutungen eignen sich Kinder in der Auseinandersetzung mit Erwachsenen, vor allem aber auch im kindlichen Spiel an, mit dem sie „die gegenständliche Welt der Erwachsenen willkürlich nachahmen“ (Deinet 2014, 18) und dabei im Sinne Wygotskis ständig neue Komplexitätshorizonte einer ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ erschließen (vgl. Keiler 2002, 291ff.).

Dabei ist jedoch die Unterschiedlichkeit dieser Aneignungserfahrungen und mit ihnen die Besonderheit der Beziehungen hervorzuheben, in die Menschen hineingeboren und innerhalb derer sie sozialisiert werden. Dementsprechend geht Deinet (2014) mit Bezug auf Holzkamp von „klassenspezifischen Unterschiede[n] in der Wahrnehmung und Vermittlung der Gegenstandsbedeutung“ (ebd., 25) und Aneignungsprozessen aus, die „eingebettet“ sind in den „‚Raum‘ unserer Gesellschaft“, wo sie „als schöpferische Leistung, als Eigentätigkeit [...] durch die realen Anforderungs- und Möglichkeitsstrukturen bestimmt und gerichtet“ werden (ebd., 23f.).

Lebensweltliche Erfahrungen und damit verbundene Lernprozesse gehen also einerseits auf konkrete Aneignungserfahrungen und andererseits auf die besonderen Beziehungen und die damit verbundenen Bedeutungen zurück, unter denen sie zu bestimmten Zeitpunkten gemacht wurden. Unsere These ist es nun zunächst, dass die Form dieser Aneignungsprozesse zwar unterschiedlich klassifiziert wird, sich aber hinsichtlich der Komplexität der dabei gemachten Erfahrungen nicht notwendigerweise unterscheiden muss. Zwar sind soziale Räume immer auch Räume der Ausgeschlossenheit, in bestimmter Weise geregelt und mit Restriktionen versehen. Trotzdem gehen auch aus diesen sozialen Räumen notwendiger Weise Aneignungs- und Lernerfahrungen hervor, die sich aus einem bestehenden Komplexitätskontext heraus zu erweitern und damit zu verdichten vermögen. Das Kompetenzverhältnis erscheint vor diesem Hintergrund wie die Konfrontation zweier mehr oder weniger unterschiedlich beschaffener Räume und daraus resultierenden, mehr oder weniger kompatiblen Geschichten von Aneignungserfahrungen. Ihre wechselseitige Bezugnahme bleibt also an ein Dechiffrieren der Beziehungen und Erfahrungen gebunden, aus denen die jeweils handlungsleitenden Gegenstandbedeutungen hervorgehen.

Ein solches Verständnis hat jedoch auch weitreichende Konsequenzen für jede Form beruflichen, schulischen und lebensweltlichen Lernens. Im Anschluss an die Kulturhistorische Schule sah Holzkamp (1994) auch Lernen als Handlung an, mit der Menschen an der „Erhaltung oder Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensverhältnisse, damit der subjektiven Lebensqualität, als emotional-motivationaler Grunddimension interessiert sind“ (4). Dabei zeichnen sich Lernhandlungen dadurch aus, dass sie nicht beiläufig, sondern „intentional“ sind. Zu ihnen kommt es demnach im eigentlichen Sinne immer dann, wenn Menschen der Bewältigung eines Problems auf direktem Wege mit den üblicherweise angewendeten Mitteln nicht beikommen können. In diesem Fall tritt die Person in eine „Lernschleife“ (ebd. 1995, 183) ein, in der sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln überlegt, ob und in welcher Weise sie das ihr gestellte Problem zu lösen vermag. In dieser Situation gibt es für die Betroffenen zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Entweder es gelingt, die bestehende Problematik mit den ihnen verfügbaren oder gezielt nachgefragten Mitteln im Sinne eines „expansiven Lernens“ zu lösen und damit bestehendes Handlungswissen eigenständig motiviert zu erweitern. Oder aber die lernende Person erfährt die ihr gestellte Lernanforderung als Bedrohung ihrer Weltverfügung und Lebensqualität und verweigert entweder das Lernen komplett oder lernt – sofern sie dabei überhaupt etwas lernt – „defensiv“ mit der alleinigen Motivation, diese Bedrohung abzuwehren (vgl. ebd., 188f.). Ob aber expansives Lernen im Sinne einer eigenständigen Wissenserweiterung gelingt, hängt entscheidend von der Möglichkeit eines „Weltaufschlu[sses]“ ab, zu verstehen als das Eindringen in die „Tiefenstruktur der Bedeutungszusammenhänge“ eines „Lerngegenstands“ (ebd., 221). Dabei ist zu berücksichtigen, dass „die Tiefendimension eines Lerngegenstands, damit auch die in ihm enthaltenen Bedeutungszusammenhänge, nur in expansivem Lernen aufschließbar werden, während defensivem Lernen nur vereinzelte Oberflächenmerkmale zugänglich sind, deren Zusammenhang sich lediglich aus den jeweiligen individuellen Strategien der Bedrohungsabwehr ergibt“ (ebd., 224).

Die Möglichkeit zu einem solchen expansiven, aufschließendem Lernen ist neben den Bedeutungsstrukturen des Lerngegenstands und der durch die Lernsituation gegebenen möglichen Motivation der Lernenden aber auch zentral von der ‚Situiertheit‘ dieser Anforderungssituation abhängig. Damit nimmt Holzkamp direkt auf das Lebensweltkonzept und eine mögliche Diskrepanz zwischen dort gemachten Erfahrungen, dem „Vorgelernten“ (ebd., 214) und der Gestalt von Lernanforderungen und Anforderungssituationen Bezug. Denn mir als dem lernenden Individuum kann „die lernende Gegenstandsannäherung immer nur innerhalb der erfahrenen Grenzen meiner personalen Situiertheit zur Welt und zu mir selbst auf der Folie der genuinen Intersubjektivität meiner Selbsterfahrung möglich sein“ (ebd., 266).

„Demgemäß ist also der Standort, von dem aus ich mich zur Welt und zu mir selbst situiere, über die raumzeitliche Bestimmtheit hinaus Inbegriff dessen »wo ich jetzt stehe« als diese konkrete Person, die aufgrund spezifischer Lebensverhältnisse (als individueller Aus- und Anschnitt allgemeiner gesellschaftlicher Lebensbedingungen) das geworden ist, was ich bin, mit dieser bestimmten Vergangenheit, aus der meine gegenwärtige Befindlichkeit und meine zukünftigen Möglichkeiten erwachsen. Dazu gehört natürlich auch mein Alter, Geschlecht, Wohnort, Beruf, meine soziale Stellung, aber nicht als bloß äußerliche Kennzeichen, sondern einbezogen in meinen konkreten individualgeschichtlichen Erfahrungshintergrund, von dem aus sie gewichtet, akzentuiert, eingefärbt sind. Dazu gehört auch mein personaler Aktionsradius, aber nicht nur als raumzeitliche, sondern darin auch soziale Erreichbarkeit bestimmter Orte/Lebenslagen: Manche Situationen sind mir zugänglich, andere könnte ich mir zugänglich machen, in wieder andere »passe« ich nicht hinein und kann dies nicht (mehr) ändern“ (ebd., 263f.; Hervorhebungen im Original).

Das heißt jedoch nicht, dass Menschen aufgrund abweichender lebensweltlicher Aneignungs- und Lernerfahrungen keinen lernenden Zugang zu bestimmten, in ‚anderer‘ Weise formellen Anforderungen erlangen können. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die z. B. in schulischen Kontexten entstehenden Lernproblematiken entweder auf Unkenntnis der mit der Anforderung verbundenen Verhaltensmaßstäbe oder der erwarteten Sprachcodes oder auf ein verinnerlichtes ‚Nichtzutrauen‘ zurückgehen. Dies muss jedoch keineswegs auf eine für die Aufgabenstellung nicht hinreichende Komplexität des Denkens zurückgehen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht in der bisherigen Biographie der Lernenden Erfahrungen enthalten sind, von denen ein Gegenstandsaufschluss im Sinne einer didaktisch entsprechend situierten Aufgabenstellung ausgehen könnte. Eine lebensweltorientierte berufliche Inklusionspädagogik müsste also die tätigen Aneignungserfahrungen von Lernenden zu Ausgangspunkten von Lernprozessen machen und in ihnen nach komplexen Äquivalenten zu den eigentlichen, formellen Aufgabenstellungen suchen.

5 Situationsgebundener Sprachgebrauch in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten

Hierfür ist es in einem ersten Schritt notwendig, begriffliche Differenzierungen und möglicherweise bestehende (Sprach-) Barrieren zwischen lebensweltlichen Aneignungserfahrungen und formellen Bildungsanforderungen aufzuzeigen, um dann in einem zweiten Schritt nach Analogien und pädagogischen Möglichkeiten zu ihrer Überbrückung und didaktischen ‚Übersetzung‘ zu suchen. Für eine solche Herangehensweise bietet sich zunächst aus linguistischer Perspektive eine differenzierte Betrachtung von lebensweltlicher und bildungsbezogener Sprachlichkeit an. Aufgrund ihrer sozialsymbolischen Funktion (vgl. Morek/Heller 2012, 78) stellt Sprache ein aussagekräftiges und zugleich für empirische Untersuchungen gut zugängliches Kommunikationsmedium dar, in dem sich zugleich unmittelbar eine mögliche Differenz zwischen unterschiedlichen Aneignungs- bzw. Anforderungsräumen ausdrückt. Denn tätige Erfahrungen verbinden sich nach dem Prozess der ‚Interiorisierung‘ mit sprachlichen Begriffen, die mit ihrer jeweils besonderen Form auch auf die soziale Besonderheit des Aneignungsortes und damit auch der Aneignungshandlungen verweisen.

Wenn wir nun im ersten Schritt Barrieren aufzeigen wollen, stoßen wir darum zunächst auf die gesellschaftliche Unterscheidung und Klassifizierung unterschiedlicher Sprachstile bzw. Varietäten: Im sozialen Raum ist generell nicht von homogenen sprachlichen Verhältnissen auszugehen, sondern in verschiedenen gesellschaftlichen Domänen werden unterschiedliche Varietäten praktiziert (Maas 2008, 23). Im Rahmen soziolinguistischer Beschreibungsansätze wird von einer systematisch geordneten Heterogenität natürlicher Sprachen ausgegangen. Sprache wird als eine komplexe Menge von sprachlichen Varietäten betrachtet, die einen mehrdimensionalen Varietätenraum abbilden. Jede Varietät ist demnach als ein Schnittpunkt unterschiedlicher außersprachlicher Variationsparameter zu betrachten. Es wird – je nach dominantem Parameter – zwischen historisch differenzierten, sozialen, regionalen und situativen Koordinaten unterschieden. Die einzelnen außersprachlichen Parameter sind dabei varietätendefinierend. Beispiele für sozial definierte Varietäten sind u. a. Soziolekte sowie geschlechts-, alters- und gruppenspezifische Varietäten. In Bezug auf situative Differenzierungen lassen sich z. B. formelle und informelle Gesprächskontexte voneinander unterscheiden (Bußmann 2008, 771f.). In allen Fällen (ko-) variieren „jeweils sprachliche Phänomene unterschiedlicher linguistischer Ebenen (Phonetik, Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon, Pragmatik) mit außersprachlichen Faktoren“ (ebd., 771).

Wenn sprachliche Varianten von ein und demselben bzw. ein und derselben Sprecher*in einer Sprache verwendet werden, bezeichnet man sie traditionell als Register (Maas 2008, 42). Register sind durch Situationstypen der Sprachpraxis definiert (ebd., 761), d. h. es handelt sich um „für einen bestimmten Kommunikationsbereich […] charakteristische Sprech- oder Schreibweise[n]“ (Bußmann 2008, 577). Durch verschiedene gesellschaftliche Domänen, d. h. Situationstypen der Sprachpraxis, werden spezielle Anforderungen an das individuelle Sprachverhalten definiert. Durch Registervariation wird den spezifischen kommunikativen Anforderungen in den verschiedenen Domänen Rechnung getragen (vgl. Maas 2008, 761; Riebling 2013, 112). Der Domänenbegriff hat seinen Ursprung ebenfalls in der Soziolinguistik und bezeichnet ein Bündel von sozialen Situationen. Diese sind durch ein spezifisches Setting und Rollenbeziehungen zwischen den Interaktionsteilnehmenden charakterisiert. Zudem sind Domänen durch typische Themenbereiche gekennzeichnet, wie z. B. Familie, Schule, Arbeitsplatz, gesellschaftliche Institutionen (Bußmann 2008, 148).

Damit wird deutlich, dass sprachliche Register auf unterschiedliche soziale (Aneignungs-) Orte verweisen, die in der Regel unterschiedlich klassifiziert sind. Vor dem Hintergrund der oben erörterten Dichotomie bilden diese Register darum auch lebensweltliche und bildungsbezogene Ausdrucksweisen ab, die sich grundsätzlich in Form der sog. Alltagssprache auf der einen und eines bildungs- und fachsprachlichen Registers auf der anderen Seite gegenüberstehen.

5.1 Alltagssprache

Unter Alltagssprache werden im Allgemeinen diejenigen sprachlichen Ausdrucksmittel verstanden, die für das Bewältigen von alltäglicher Kommunikation notwendig sind (Ahrenholz 2010, 15). Mit dem Begriff werden sprachliche Varietäten bzw. Stilschichten bezeichnet, deren Verwendung in informellen und privaten Situationen üblich ist und die in diesen Kontexten als angemessen erachtet wird (vgl. Bußmann 2008, 759). ‚Alltag‘ ist jedoch soziokulturell unterschiedlich ausgeprägt (Riebling 2013, 115). Dementsprechend ist die Alltagssprache nicht standardisiert, sondern sie variiert je nach Bildungshintergrund und sozialer Umwelt der Sprechenden (Günther/Trömer 2013, 17).

Der Begriff Alltagssprache verbindet Sprache mit dem genuin soziologischen Konzept des Alltags und erfasst sie als grundlegend soziales Phänomen. In einer phänomenologischen Betrachtung entspricht Alltag dem Konzept von Lebenswelt (vgl. Kap. 2) und bezieht sich sowohl auf gewöhnliche als auch auf außergewöhnliche Vorkommnisse. Innerhalb des Wirklichkeitsbereichs Alltag wird kein Phänomen ausgegrenzt (vgl. Auer 1990, 6f.). Im Rahmen einer solchen Betrachtungsweise wird Alltag nicht als gegeben angesehen, „sondern als Ergebnis eines Prozesses, in dem die Mitglieder einer Gesellschaft denselben Alltag konstruieren, der ihnen als selbstverständlicher Hintergrund ihrer Lebensführung entgegentritt“ (ebd., 7). Nach unserem tätigkeitstheoretischen Verständnis stellt Alltagssprache somit den unmittelbaren Ausdruck lebensweltlicher Aneignungserfahrungen dar, der mit dem verbalisierten Erlebnis direkt auf das erworbene Handlungswissen verweist. Nach Riebling (2013) lässt sich Alltagssprache darum als ein Register charakterisieren, „das auf segmentär organisiertes Erfahrungswissen aus der Lebenswelt des Alltags bezogen ist“ (116). Es handelt sich um ein eher unbestimmtes Wissen, das keine klaren Grenzen und präzisen Definitionen aufweist. Es ist auf Segmente der alltäglichen Lebenswelt, d. h. auf Personen, Tätigkeiten und Ereignisse bezogen. Es beruht auf Prozessen und wird meist unbewusst erworben. Deshalb ist es im Allgemeinen nicht überprüfbar (ebd., 115ff.). Alltagswissen weist „die für den Alltag typischen Randunschärfen, die Fokussierung auf alltagsrelevante Sachverhalte und die wesentlich geringere Vernetzung in Begriffshierarchien auf, so daß [sic] ein deutlicher Unterschied zwischen Fachkonzepten und ihren ‚Übersetzungen‘ im Alltag besteht“ (Becker/Hundt 1998, 126).

In solchen Alltagssituationen findet die Kommunikation in der Regel mit vertrauten Personen statt. Hierfür sind meist basale sprachliche Fähigkeiten ausreichend: „Im intimen Register ist die Verständigung gewissermaßen vorsprachlich gesichert, fungieren sprachliche Äußerungen vor allem auch konnotativ als Reproduktion von bereits gemeinsam erfahrenen situativen Konstellationen. Daher reichen hier in der Regel auch Anspielungen bzw. formal wenig ausgebaute Äußerungen“ (Maas 2008, 44). Die an personale Vertrautheit gebundenen Sprachformen können sich in einem weiteren öffentlichen Umfeld „vererben (auf Freunde, Arbeitskollegen…)“ (ebd., 44). Die Erweiterung des individuellen Aktionsradius impliziert allerdings die Kommunikation mit bislang unbekannten Personen. Dies erfordert einen Abgleich mit den sprachlichen Formen der Anderen im informell-öffentlichen Raum (ebd., 45). Der dadurch initiierte Sprachausbau verläuft „spontan, funktional gesteuert im Sinne einer Optimierung der Verständigung/Interaktion“ (Maas 2015, 6). Für den Kompetenzerwerb von Lernenden bedeutet dies, dass sowohl lebensweltliche als auch (vor-) berufliche Erfahrungen, die in kontextgebundenen und dialogisch bzw. kommunikativ arrangierten Anforderungssituationen erworben werden, die entscheidende Grundlage für formale Bildungsprozesse bilden.

5.2 Bildungs- und Fachsprache

Bei Bildungssprache handelt es sich demgegenüber um ein formelles und zum Teil fachsprachlich angereichertes Sprachregister, das sich an schriftsprachlichen Normen orientiert. Als zentrales Merkmal gilt die sprachliche Explizitheit, „im Sinne detaillierter, kontextentbunden verständlicher Textentfaltung und begrifflicher Präzision“ (Morek/Heller 2012, 68). Zudem wird sowohl an den mündlichen als auch an den schriftlichen Sprachgebrauch die Erwartung weitgehender formaler Korrektheit gestellt (Thürmann 2014, 74). Bildungs- und Fachsprache haben sich in verschiedenen Studien als eine kritische Barriere in der schulischen Sozialisation – vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern und insbesondere für Jugendliche aus sozial schwachen Schichten und/oder mit nicht-deutscher Herkunftssprache – herausgestellt. Daher sind „besondere Anstrengungen in Bildungssystemen erforderlich, um diese Sprachvarietäten für alle gesellschaftlichen Gruppen zugänglich zu machen und differenzierte diagnostische und fördernde Maßnahmen anzubieten“ (Bickes/Steuber 2017, 72).

Aus einer eher soziologischen bzw. soziolinguistischen Perspektive fungiert die Bezeichnung Bildungssprache als Erklärungsansatz für Bildungsungleichheiten (Gantefort 2013, 72). Im Alltagsverständnis ist Bildungssprache mit Vorstellungen von einer ‚hohen‘, besseren Sprache verknüpft, die auch als eine ‚Sprache der Gebildeten‘ bezeichnet wird (Gogolin/Lange 2011, 107f.). Bereits im pädagogischen Sprachgebrauch des 19. und 20. Jahrhunderts wurde mit diesem Begriff eine „Hierarchie des Sprachkönnens“ (Gogolin 2013, 11) angezeigt: „Als Bildungssprache galt die ‚hohe‘ und ‚reine‘ (Aus-) Sprache der Gebildeten und besseren Schichten, im Gegensatz zur ‚Mundart‘, der Sprache der gesellschaftlichen Unterschichten“ (ebd.). Bourdieu (2005, 60) versteht Bildungssprache als Element des Habitus, d. h. als ein verinnerlichtes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema und geht von statusabhängigen bzw. klassenspezifischen Sprachgebrauchsweisen aus (Morek/Heller 2012, 77). Diese sind „nicht primär Ausdruck nebeneinander bestehender, sich ergänzender gesellschaftlicher Felder, sondern zugleich Produkt bestimmter Klassenlagen“ (ebd.). Mit ihnen werden Klassenunterschiede sowohl zum Ausdruck gebracht als auch konstituiert. Der sprachliche Habitus manifestiert sich demnach in der Aneignung eines Sprachstils, der eine milieuspezifische Hierarchie bzw. Klassifizierung zum Ausdruck bringt (vgl. ebd.; Bourdieu 2005, 60). Obwohl hier also von je her gesellschaftliche Hierarchien konstruiert wurden, muss die Unterscheidung zwischen Bildungs- und Fachsprache auf der einen und Alltagssprache auf der anderen Seite aus unserer Perspektive nicht auf eine unterschiedlich ausgeprägte Komplexität des dahinter liegenden Handlungswissens verweisen.

Die Bezeichnung Bildungssprache verstellt damit „bisweilen den Blick auf die sehr komplexen Prozesse, in denen sich sprachliche Registervariation vollzieht. Denn Register spiegeln vielfältige Anforderungen, die in unterschiedlichen Kontexten bzw. Domänen sprachlich zu meistern sind“ (Bickes/Steuber 2017, 76). Sprachregister stellen keine hermetischen Systeme dar, sondern sie kennen vielfältige Übergangsformen in der Form unterschiedlicher sprachlicher Varietäten (Riebling 2013, 121). In kommunikativ bzw. dialogisch situierten Lernumgebungen können die Sprachkompetenzen von Lernenden demnach durch eine zunehmend explizite Beschreibung des in einem bestimmten (vor-) beruflichen Kontext erworbenen Erfahrungswissens mithilfe von bildungssprachlichen Begriffen und Strukturen sukzessive erweitert werden (Bickes/Steuber 2017, 78; vgl. Kap. 7). Allerdings ist es dazu notwendig, Alltagssprache trotz ihrer ggf. nur formal geringeren Komplexität als Ausdruck lebensweltlichen Erfahrungswissens anzuerkennen und zum Ausgangspunkt jedes weiteren, auch bildungssprachlichen Lernens zu machen. Eine lebensweltbezogene berufliche Inklusionspädagogik geht stets von einem bereits bestehenden Wissensfundus ihrer Klientel aus, der sich in formalisierte Anforderungen übersetzen lässt, dabei aber nicht einfach von ihnen ‚überschrieben‘ werden kann.

Im Folgenden wird deshalb der Sprachgebrauch von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Berufsvorbereitung genauer betrachtet, um didaktische Anknüpfungspunkte für den Kompetenzerwerb in formellen Bildungskontexten aufzuzeigen.

6 Empirischer Teil

Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Dichotomie zwischen Lebenswelt und Bildungskontexten, die sich auch in der Sprachverwendung der Jugendlichen abbildet, versuchen wir darum nun, in einem zweiten Schritt, aus der Empirie heraus zu ergründen, wie ein Bedeutungsaufschluss formeller Lerngegenstände bzw. eine Symbiose mit lebensweltbezogener Alltagssprachlichkeit funktionieren könnte.

6.1 Methodisches Vorgehen

Für den vorliegenden Beitrag haben wir zu diesem Zweck sechs qualitative Interviews aus einem vorhandenen Datenkorpus einer Sekundärdatenanalyse unterzogen. Die Daten wurden in den Jahren 2012 und 2013 in Form von narrativen und semi-strukturierten Interviews erhoben und auf Grundlage einer transkriptbasierten Analyse ausgewertet.

Die interviewten Jugendlichen und jungen Erwachsenen waren zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 18 und 24 Jahren alt. Aufgrund von Übergangsschwierigkeiten an der ersten Schwelle im Übergang Schule-Beruf haben sie im außerschulischen Bereich des Übergangssektors an Bewerbungstrainings im Rahmen unterschiedlicher Bildungsmaßnahmen zur Berufsvorbereitung teilgenommen. Bei drei Proband*innen handelte es sich um Lernende nicht-deutscher, bei drei weiteren um Lernende deutscher Herkunftssprache.

Im Folgenden werden sowohl die Sprachverwendung der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen als auch ihre Selbstpositionierungen zur deutschen Sprache und/oder zur Sprachverwendung in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten betrachtet. Dabei folgen wir in einem ersten Schritt der in den Theoriekapiteln vorgenommenen Gegenüberstellung von formellen und lebensweltlichen Kontexten. In einem zweiten Schritt arbeiten wir Ansatzpunkte für eine didaktische Vermittlung zwischen diesen beiden Sphären heraus, welche die befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ihren Aussagen selbst andeuten.

6.2 Formelle Kontexte/Bildungskontexte

Die nachfolgend angeführten Beispiele verdeutlichen zunächst, dass die insbesondere in formellen Kontexten wie Schule und Beruf üblicherweise verwendeten Register Bildungs- und Fachsprache von einigen Befragten als Barrieren zwischen diesen beiden Aneignungssphären empfunden werden. Als besonders problematisch – durchaus auch in alltagsweltlichen Kontexten (z. B. ‚Freizeit‘) – wird dabei die Verwendung von Fachbegriffen angesprochen.

Ali[1]: Ja halt so/ Jetzt hochdeutsche WÖRTER verstehe ich gar nicht fast, also/ [...] Wie also (.) wenn der Text jetzt/ Also wenn ich den Text jetzt äh wirklich verstehen würde, alles was drinsteht, dann kann ich den auch wiedergeben mit meinen Worten. Aber wenn da jetzt ein paar Wörter sind, wo ich nicht weiß, was die Wörter bedeuten, weiß ich auch nicht, wie ich den mit meine Sätze geben würde. (Z. 54-79)

Celina: Weil gerade so beim Bewerbungsgespräch sind ja dann/ Die Chefs, die benutzen dann ja irgendwie manchmal so Fachwörter, und dann/ Wenn man nicht weiß, was das heißt, dann versteht man natürlich auch nicht, was der damit GEMEINT hat. (Z. 36-39)

Diese Barrieren gehen jedoch über die bloße Verwendung bildungssprachlicher Ausdrucksweisen hinaus. Sie verbinden sich überdies mit einer auch räumlichen-sozialen Zuordnung, mit denen die Jugendlichen offenbar Empfindungen der Zugehörigkeit oder Deplatzierung verbinden. Aufgrund einer deswegen empfundenen Fremdheit und ihren bislang verinnerlichten Lernerfahrungen scheinen sich einige die Bewältigung kommunikativer Anforderungen in schulischen und/oder beruflichen Kontexten nicht zuzutrauen. Sie weichen deshalb auf eine Strategie der Vermeidung aus (vgl. Kap. 4), oder sie versuchen, kommunikative Nähe zu den Gesprächspartner*innen herzustellen, um sich das Handeln in der Situation im Sinne einer ‚lebensweltlichen Wiedergewinnung‘ zu erleichtern, die zugleich bereits die Strategie einer ‚Erweiterung des individuellen Aktionsradius‘ vorwegnimmt:

Melissa: Ich hasse Anrufen bei fremden Leuten, das kann ich nicht. Das/ das/ DANN gehe ich lieber persönlich hin und frage die. Aber davor muss ich immer hundert Jahre überlegen, was ich sage und wie ich das sage, aber dann sage ich es eh falsch. (Z. 75-77)

Daria: Es kommt drauf an fremde Personen (.)/ ob ich mit der alleine bin, oder ob noch mehr Leute sind. (.) Und ja es kommt auch ein bisschen/ (.) Wäre das jetzt so ein Wissenschaftler, der vor mir steht und mir was sagt, und das eigentlich für den selbstverständlich ist, dass ich das weiß. Wenn ich das nicht weiß, dann denkt die auch bestimmt, warum sitzt der dann hier oder so/ Oder warum sitzt die dann hier, sagen wir mal. Dann frage ich das nicht, eher. (Z. 110-116)

Aus den Schilderungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht ebenfalls hervor, dass mit der Kommunikation in formellen Kontexten zunächst vorwiegend negative Emotionen bezüglich eines Verlusts an Handlungsfähigkeit verbunden sind, wie z. B. Aufregung, Nervosität und die Angst, von anderen anwesenden Personen, denen implizit ein höherer sozialer Status zugeschrieben wird, ausgelacht zu werden.

I: Da haben wir ja hier in einer relativ großen Gruppe diese Vorstellungsgespräche gemacht. Ähm wie war das?

Celina: Ja, das fand ich wirklich/ Also zu Anfang, muss ich sagen, war ich sehr nervös und aufgeregt, weil ich ja jetzt nicht so genau wusste, wie ERNST nehmt oder macht ihr das jetzt, also sag ich mal. Macht ihr jetzt wirklich so, dass/ dass ihr dann da wirklich so/ so wie so ein Arbeitgeber dann da halt so/ so richtig ernst sitzt, oder ob/ ja, das halt so ein bisschen lockerer ist, sag ich mal, ne? […] Und gerade, wenn ich so nervös bin, kriege ich so gut wie kein Wort raus. (Z. 93-108)

Tina: Ja, also das war für mich leicht. Also wenn ich so nachdenke, in meiner alten Schule, da war ich immer voll aufgeregt, als ich [etwas vor der Klasse präsentieren; d. Verf.] musste. Weil ich habe immer gedacht, dass die anderen gleich LACHEN //oder irgendwas sagen// (Z. 49-50)

Die nachfolgend aufgeführten Aussagen der Befragten verdeutlichen eine aus diesen negativen Emotionen resultierende Distanzierung von der bildungssprachlichen Sphäre, die sich z. B. in einer Ablehnung der für entsprechende Texte und Diskurse charakteristischen Detaillierungspraxis bzw. Explizitformenerwartung, d. h. der umfangreichen Ausführung von Teilthemen im Zuge der Darstellung von Sachverhalten, zeigt (Ortner 2009, 2234; Feilke 2012; vgl. Kap. 5.2):

Ali: Ja, weil/ zum Beispiel jetzt/ wenn da jetzt zum Beispiel ein/ (.) ein Satz steht, ne? Der so KURZ gefasst ist/ Also schreibe ich auch lieber kurz/ Ich schreibe lieber kurz, ne? […] Und äh, ich wünsche mir auch nicht, dass jemand mir irgendwie lang Text schreibt, dass ich mir alles lesen muss, wegen/ um eine Sache zu bekommen. So bin ich einfach. Also einfach ZUSAMMENFASSEN, halt, ne? Wenn man zum Beispiel sagen möchte so (.), „Ali, mach mal Musik leiser“, das reicht. Und nicht sagen, „Ali, mach mal Musik leiser, weil es so laut ist, und das und dies.“ (Z. 133-144).

Benjamin: Ich KANNS halt nicht. […] (.) Also ich habe es versucht öfter hinzukriegen, und es gibt/ Gut, inzwischen bin ich schon BESSER und alles. Aber es gibt immer noch bestimmte Fälle, wo ich immer noch (.) nicht ganz drauf komme halt, wie das jetzt geschrieben wird, das Wort. […] Also es gibt da manchmal so Sachen, die sind natürlich sehr (.) sehr KOMPLIZIERT. […] Ich glaube, ich hab da nicht so den DRAHT zu, einfach. (.) Ich habe zu anderen Dingen den Draht. (..) Das/ Mehr kann ich dazu auch nicht sagen. Also das ist irgendwie nicht ganz mein Ding, die Grammatik. (.) Gut, ich weiß, ich bin nicht der EINZIGE, dem das so geht, aber/ […] Also es ist wirklich nicht mein Thema einfach. (Z. 105-126)

Anhand der nachfolgend aufgeführten Aussage wird deutlich, dass die zitierte Jugendliche im Vergleich mit den anderen jungen Menschen in ihrer Peer-Group, die über einen höheren formalen Bildungsstatus verfügen, einen eingeschränkten Aktionsradius empfindet (vgl. Kap. 4). Die bildungssprachliche Sphäre scheint ihr nicht zugänglich zu sein, obwohl sie gerne ‚dazugehören‘ würde. Die Strategie einer ‚Erweiterung des individuellen Aktionsradius‘ scheint zunächst also zu scheitern und die wahrgenommene Diskrepanz führt bei ihr zu einer Selbststigmatisierung:

Melissa: [...] Ich bin ja mit ganz vielen Leuten befreundet, die jetzt auf die Uni gehen, und die sprechen SPRACHEN/ Frage ich mich manchmal, was das für eine Sprache sein soll, aber es ist ja DEUTSCH, ne?

I: Es ist Deutsch.

Melissa: Ja, aber ich verstehe nicht, was die wollen, oder wie die das manchmal AUSSPRECHEN und so/oder so/ das so ERZÄHLEN einfach so. Ganz so, als ob die nichts anderes zu tun hätten auf der Welt als so zu REDEN, und ich dann immer so, „Hä, was?“ […] //Dass ich so eine Asi-Braut// bin. Nee, ich finde, dass die das richtig GUT machen, aber ich bin so eine Asi-Braut oder irgendwie so asozial. Und ich wurde nie damit so KONFRONTIERT, also mir wurde das ja noch nie beigebracht, auch nicht in der Realschule oder so/ so zu reden. Deswegen finde ich das voll schlimm, wenn die anderen so/ die Studenten oder Abiturienten so reden und ich da kein Wort verstehe.

I: Würdest du das denn auch gerne können? Oder/

Melissa: Ja KLAR. (I: Ja, aha.) JA voll gerne. […] Das ist so wie Shakespeare. Verstehst du auch nicht alles, aber finde ich schön, ne? (Z. 90-114).

6.3 Alltag/Lebenswelt

Diesen Empfindungen von Fremdheit und eingeschränkter Handlungsfähigkeit, auf die unsere Proband*innen mit Distanzierung und Flucht, zum Teil aber auch bereits mit Versuchen der Wiederaneignung begegnen, steht unseren theoretischen Erörterungen entsprechend eine Sphäre der lebensweltlich geprägten Alltagssprache gegenüber. Hier erleben sich die Jugendlichen als sicher und selbstwirksam. Sie versuchen, dieses lebensweltlich und alltagssprachlich geprägte Terrain zu bewahren und gegenüber der als bedrohlich empfundenen Welt bildungssprachlicher Anforderungen zu verteidigen. Dabei wird offensichtlich, dass sich in den Bereichen, in denen die Jugendlichen eigene, spezifische Interessen haben, ihre kommunikativen Praktiken denen in formellen Kontexten üblichen Kommunikationsformaten annähern. Hierbei ist vor allem der Erfahrungsschatz bedeutsam, den die jungen Menschen bei der Auseinandersetzung mit der jeweiligen lebensweltlichen Thematik gewonnen haben:

I: Was schreibst du im Alltag? Das wäre vielleicht noch mal ganz interessant.

Melissa: Soll ich schreiben Chatten? […] CHATTEN, mit Freunden schreiben (.) manchmal so/ hört sich jetzt voll do-/ voll doof an, aber manchmal schreib ich auch so Gedichte oder (so). (Z. 142-147)

I: Hm. Gibt es denn irgendeinen Bereich, in dem du das vielleicht/ also ganz GUT kannst, und ähm, wo //zum Beispiel//

Ali: //Also// wenn wir jetzt über Autos reden würden, über den Bereich Automobilkaufmann oder allgemein Autos, Motoren und sowas, ne? Da könnte ich viele mitmachen. (Z. 113-115).

I: Ich kann längere Redebeiträge und Gespräche, zum Beispiel in Filmen verstehen.

Daria: Es kommt drauf an, WELCHE Filme.

I: Hm. (.) Ja, erklär mal. Welche kannst du gut und welche //kannst//

Daria: //Wenn es// jetzt irgendwie eine/ über Geschichte ist oder (.) so etwas, was mich nicht interessiert, und je länger die Sätze sind, desto weniger höre ich dann zu sagen, wir mal. Und verstehe das dann auch nicht. Und anderen Filme, die man gerne guckt, sagen wir mal, die im Kino, so/ So da könnten die eigentlich auch einen Satz fünf Minuten dauern, kann ich eigentlich verstehen. (Z. 79-85)

Celina: Aber dann/ ja als ich dann halt das mit den Pferden machen durfte, da ging es dann eigentlich (unv.). Ist ja jahrelange Erfahrung. Ja, das war dann ganz gut.

I: Aha. Was hast du denn dabei gelernt?

Celina: Hm. (.) Ja, dass ich äh das SO eigentlich ganz/ ganz gut mache, aber ähm (.)/ Ja, dass ich halt trotzdem noch so ein bisschen/ ja halt üben muss. (Z. 97-103)

Benjamin: Genau, Elbisch[2] habe ich aufgeschrieben. Das habe ich dann/ Ab meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich das gelernt, weil ich dafür Interesse hatte, weil ich die Sprache interessant finde. (Z. 27-30)

6.4 ‚Vorweggenommene‘ Übergänge

Wenn wir nun in einem zweiten Schritt nach Überbrückungsmöglichkeiten der auch von den Jugendlichen empfundenen Dichotomie suchen, so zeigt sich, dass Ansätze für eine entsprechende Pädagogik von den Proband*innen bereits vorweggenommen wurden. Denn die Interviewpassagen können zum einen unterschiedlichen sozialen Aneignungsräumen zugeordnet werden. Zum anderen tasten sich die Jugendlichen bereits individuell aus diesen lebensweltlichen Räumen heraus und sukzessive an die akademischen Sprachräume heran. Dabei finden sowohl Annäherungen an den formellen Sprachgebrauch als auch Distanzierungen von einer als ‚subkulturell‘ empfundenen Alltagssprache statt:

I: Genau. Und dann hast du noch SPEZIALDEUTSCH aufgeschrieben.

Benjamin: Ach ja, das das dieses [verstellt die Stimme] „Ey Alter ey!“ […] Das finde ich sehr WITZIG offen gestanden. Und ich kann darüber sehr viel lachen, außer man redet mit mir SO, das finde ich dann nicht so toll, aber/

I: Das findest du NICHT so toll?

Benjamin: Nee, wenn man/ wenn Leute vor mir stehen und sagen [verstellt die Stimme], „Ey Alter ey!“, ne? Das mag ich NICHT so. […] Wenn man nicht mal GEPFLEGT mit den Leuten reden kann. Aber zum Spaß kann man sowas ruhig mal machen. (Z. 39-52).

Melissa: CHATTEN, mit Freunden schreiben (.) manchmal so/ hört sich jetzt voll do-/ voll doof an, aber manchmal schreibe ich auch so Gedichte oder (so). […]

I: Aber die dann nur für dich?

Melissa: Ja KLAR. Voll peinlich, wenn die/ das/ andere das sehen würden. […] Oder wenn mich irgendwas aufregt, oder so. Oder manchmal mache ich auch einfach so Songtexte oder, ich versuch mir irgendwas in den Kopf reinzurei(m/b)en, so ein Gedicht halt, ne? Wenn mich irgendwas richtig STÖRT, so Liebeskummer oder so Freunde, dann mach ich/ bau ich mir so einen Satz auf oder so ein Gedicht, und verfasse ich den auf Englisch. Das mache ich auch sehr oft, weil es einfach viel schöner als in Deutsch ist (Z. 146-156).

Benjamin: Genau. Ähm ja, ich habe sehr philosophische Gedanken auch, die ich auch ganz gerne äußere und auch aufschreibe, (.) das ist auch ein Teil der Sprache, die ich dann verwende im Alltag. (Z. 68-70)

Wenn wir diese kurzen empirischen Einblicke nun in ihrer Gesamtheit betrachten, so zeichnet sich darin bereits unsere pädagogische Schlussfolgerung ab. Die Jugendlichen beschreiben nicht nur ihre Empfindungen einer Diskrepanz zwischen den beschriebenen Sprach- und Erfahrungsräumen. Sie nehmen auch vorweg, wie ihnen der Übergang in den bildungssprachlichen Bereich gelingen könnte. Denn sowohl in ihren ‚Rückzügen‘ als auch in ihren Versuchen, aus dem individuellen Aktionsradius der eigenen lebensweltlichen Sprachlichkeit in Kontexte bildungssprachlicher Anforderungen vorzudringen, nehmen sie einen Ansatz ‚expansiven‘ Lernens vorweg, mit dem sie ihre eigene alltagsweltliche Sprachdomäne zur Ausgangsbasis ihrer expansiven Lernstrategien machen.

7 Ein didaktischer Umsetzungsvorschlag von (sprachlicher) Lebensweltorientierung

Damit ist das Konzept einer tätigkeitsorientierten Inklusionspädagogik bereits umrissen. Als exemplarischen Vorschlag zu seiner didaktischen Umsetzung haben wird das Beispiel eines Bewerbungstrainings ausgewählt. Denn das Schreiben von Bewerbungen steht gleichsam nahezu symbolisch für (Sprach-) Barrieren wie auch für den Versuch einer Überwindung der Diskrepanz zwischen lebensweltlichen vs. anforderungsbezogenen bzw. alltags- vs. bildungssprachlich geprägten gesellschaftlichen Räumen. Im Zuge von Bewerbungsverfahren müssen sich junge Menschen für die Tätigkeit in einem Handlungskontext empfehlen, dessen formelle und informelle Anforderungen sich zunächst scheinbar kaum mit ihrem lebensweltlichen Wissen verbinden. Sie müssen die Anforderungen des Bewerbungsverfahrens noch dazu in einer Sprache bewältigen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht diejenige ihrer unmittelbaren Erfahrungen und der gewohnten Form der Mitteilung ist.

Doch Lernen stellt sich im Sinne unserer theoretischen Überlegungen immer nur dann als die Aneignung von etwas tatsächlich Neuartigem dar, wenn sich die damit gestellten Anforderungen eben nicht mit bereits gemachten Aneignungserfahrungen verbinden. Wenn also Jugendliche im Praktikum sind, stellt sich die Frage, ob ihnen das dort Erlebte tatsächlich als etwas Unbekanntes gegenübertreten muss, oder ob ihnen nicht auch die Möglichkeit eingeräumt werden kann, eine in lebensweltlichen Kontexten bereits entwickelte sinnliche Erfahrung zur Ausgangsbasis einer Erweiterung dieses Handlungswissens zu machen. Aus einer solchen Perspektive stellt Sprache nicht nur eine Ausdrucksform unterschiedlicher Erfahrungswelten, sondern auch die Bedeutungsform unterschiedlicher Erfahrungszugänge dar. Denn Sprache lässt sich im oben benannten Sinne nicht auf die bloße Form eines Ausdrucks reduzieren: Indem sich lebensweltliche Erfahrungen im Zuge von Aneignungsprozessen unmittelbar mit sprachlichen Bedeutungen verbinden, sind sie mit ihnen in kaum differenzierbarer Weise verschmolzen. Insofern sehen wir den Rückgriff auf eine lebensweltliche Alltagssprachlichkeit auch als direkten Zugriff auf eine sinnliche Aneignungserfahrung an, die einen nur scheinbar neuartigen Lerngegenstand mit der Grundlage einer subjektiv vorhandenen (Vor-) Bedeutung ausstattet.

Die Grundidee dieser bereits im berufsschulischen Kontext erprobten didaktischen Einheit ist es darum, die Erfahrungen einer in diesem Sinne scheinbar fremden betrieblichen Welt in einem ersten Schritt mit den eigenen alltagssprachlichen Mitteln zu artikulieren. In einem zweiten Schritt können die auf diese Weise formulierten ‚Prätexte‘ im Sinne eines erweiterten ‚Weltaufschlusses‘ sukzessive einem betrieblichen, bildungs- und fachsprachlich geprägten Register angenähert werden.

7.1 „Mein Betriebspraktikum im mp4-Format“

Als Eingangselement für diese didaktische Einheit ist die zunehmend explizite Versprachlichung von Erfahrungen sog. benachteiligter Jugendlicher aus einem zweiwöchigen Betriebspraktikum vorgesehen. Dabei drehen Jugendliche aus niedersächsischen BVJ- und BVJ-A-Sprachförderklassen im direkten Anschluss an ihr Praktikum zunächst einen kurzen Film, der im Sinne eines handlungs- und lebensweltorientierten Unterrichts als Medium sprachlicher und beruflicher Qualifikation genutzt wird. Ein herkömmlicher schriftlicher Praktikumsbericht erfordert dagegen eben jene spezifischen sprachlichen Kenntnisse, mit denen gerade Jugendliche aus sog. bildungsfernen Milieus oder aus Sprachförderklassen die oben beschriebenen Schwierigkeiten haben, und die sich damit – aller Wahrscheinlichkeit nach – nicht in ein unmittelbares Verhältnis zu ihren originären Erfahrungen und Empfindungen setzen lassen. Wir gehen im Anschluss an unsere theoretischen Überlegungen vielmehr davon aus, dass sich tätige Erfahrungen, die selbst in einer wenig vertrauten betrieblichen Anforderungssphäre gemacht werden, auf der Basis ‚vorgelernter‘ Empfindungen angeeignet werden. Sie lassen sich darum unmittelbar in einer Sprachlichkeit ausdrücken, die sich direkt mit lebensweltlichen Aneignungserfahrungen verbindet. Ein weitergehendes Eindringen in die ‚Tiefendimension‘ der mit dem betrieblichen Handeln verbundenen Lerngegenstände kann vor diesem Verständnishintergrund nur dann möglich sein, wenn mit den bereits vorliegenden lebensweltlichen Aneignungserfahrungen auch auf die damit verbundenen alltagssprachlichen Praktiken zurückgegriffen wird. Dabei ist im weiteren Vorgehen immer die Frage zu stellen, in welcher Form und in welcher Explizitheit dem Praktikumserlebnis vorgängige Aneignungserfahrungen vorliegen. Sind dies Erfahrungen aus dem eigentlichen Handlungsfeld, mit denen die Jugendlichen etwa in einem Friseur*innensalon aus der Rolle von Konsument*innen in eine professionelle Rolle wechseln? Sind vorhandenen Erfahrungen mit einzelnen Werkstücken oder -stoffen? Oder sind es (bloß) vergleichbare soziale und Tätigkeitserfahrungen, auf deren Grundlage ein kommunikatives Handlungserlebnis interpretiert wird?

Anstelle der Abfassung eines herkömmlichen, schriftlichen Praktikumsberichts wurde den Lernenden in diesem Unterrichtsprojekt vor diesem Hintergrund die Möglichkeit gegeben, ihren Bericht zunächst in digitaler, audiovisueller Form (mp4) herzustellen und mit den Mitteln einer alltagssprachlichen Lebensweltlichkeit selbst zu vertonen. Dadurch kann in einer didaktischen ‚Kleinschrittigkeit‘ von einer alltagssprachlich-mündlichen Darstellung im Sinne eines erweiterten Weltaufschlusses/ Aktionsradius zu einer bildungs- bzw. fachsprachlichen Darstellung übergegangen werden.

In einer langfristigen Perspektive soll auf diese Weise eine Steigerung der sprachlichen Komplexität und Variabilität erzielt werden.

7.2 Didaktisch-methodische Vorgehensweise

Zunächst wurden von den Jugendlichen während ihres zweiwöchigen Betriebspraktikums mit dem eigenen Handy etwa 30 Fotos von einschlägigen Tätigkeiten (z. B. Reifenwechsel in einer Kfz-Werkstatt, Haare waschen im Friseur*innensalon) gemacht. Nach dem Praktikum – zurück im Klassenraum – beschrieben die Jugendlichen ihren Mitschüler*innen zunächst in ihrer Alltagssprache, was sie erlebt hatten. Diese anderen Lernenden gehören zur ihrer Lebenswelt und erscheinen somit als Repräsentant*innen eines vertrauten Raums, in dem die Jugendlichen es unserer Erfahrung nach einerseits wagen, vor anderen frei zu sprechen. Andererseits wurde dieser kommunikative Raum auch dafür genutzt, die besondere Form der subjektiven Erfahrung zu artikulieren: Was war den einzelnen Jugendlichen bereits in den Handlungssituationen bekannt, wie und vor welchem Erfahrungshintergrund interpretierten sie das situativ abgebildete Geschehen?

Anschließend wurden die Fotos mithilfe des Handys bzw. am Computer (aus) sortiert und – dem Arbeitsablauf entsprechend – in einen den erlebten Arbeitsabläufen entsprechende Reihenfolge gebracht, ausgedruckt und (nach einem bedeutungszentrierenden Abgleich mit der selbst verwendeten Alltagssprachlichkeit) teils schon mit fachsprachlichen Ausdrücken beschriftet. Dieser Übergang von einem unmittelbaren Situationserleben und seinem zunächst alltagssprachlichen Ausdruck in eine erste Sphäre der Fachsprachlichkeit markiert einen weiteren entscheidenden didaktischen Schritt. Denn hier kommt es nun darauf an, sogar einzelne fachsprachliche Begriffe in den Kontext lebensweltlicher Aneignungserfahrungen zu setzen. Fachwörter, die entweder im Betrieb ‚aufgeschnappt‘ oder von der unterrichtenden Lehrkraft vermittelt werden, können aus unserer Sicht nur dann in den Kontext eines vorhandenen Weltverständnisses gesetzt werden, wenn sie in die individuelle Komplexität eines erzählten Welterlebens eingepasst werden. Begriffe wie z. B. ‚Fräse‘ oder ‚Perücke‘ können aus der hier eingenommenen Perspektive nur dann in ihrer tieferen Gegenstandsbedeutung erfasst werden, wenn sie sich in mit dem unmittelbaren Erleben der sozialen und materiellen Eigenschaften der damit verbundenen Objekte und der in diesem Zusammenhang erfahrenen und interpretierten Rolle verbinden. Es muss demnach schon zuvor in einer lebensweltlichen Sprachsphäre dahingehend thematisiert worden sein, wie mit dem Bezeichneten umgegangen wurde, wie es sich anfühlte, welche konkret wahrnehmbaren Eigenschaften es hatte und welche Beziehung jede/r einzelne der in der beschriebenen Handlungssituation agierende Protagonist*in einnahm. Dem bloßen Auswendiglernen eines Fachbegriffs wird also die Gesamtheit seines sinnlichen und sozialen Erlebens gegenübergestellt.

Im nächsten Schritt präsentierten die Jugendlichen ihre auf diese Weise erzielten Ergebnisse im Plenum und zeigten dabei ihre ausgedruckten und sortierten Fotos. Dazu wurde ein Plakat angefertigt. Die Lernenden konnten sich nun einer präziseren und fachlich versierten Sprache bedienen, weil sie sich bei der Präsentation des Plakats zugleich auf die fachsprachlich beschrifteten Fotos und den Kontext ihres originären Situationserlebens bezogen (mündlicher Vortrag mit ersten fachsprachlichen Spezifika).

Die Erweiterung des Sprachenrepertoires der Jugendlichen ist in diesem Falle ein Vehikel, das einen zusätzlichen Lernzugang eröffnet, der an den subjektiven Wirklichkeitsvorstellungen der benachteiligten jungen Menschen anknüpft – gleichgültig, mit welcher Sprachlichkeit sich die Lebenswelten dieser sog. bildungsfernen Milieus darstellen.

Im nächsten Schritt wurde nun vom Gebrauch einzelner Fachbegriffe in einen Prozess der ‚Übersetzung‘ der Tätigkeitserfahrungen in komplexe, bildungssprachliche Satzstrukturen übergegangen. Dieser didaktische Schritt ist deutlich aufwendiger als der vorhergehende, gehorcht jedoch demselben erlebnisorientierten Prinzip: Auch hier wird bereits Versprachlichtes auf seinen erlebten Bedeutungsgehalt hin untersucht. Dabei stellen sich die Fragen: Was ist geschehen? Wie habe ich es erlebt? Warum drücke ich das Erlebte so aus, wie ich es ausdrücke? Dabei wird zunächst reflektiert, was genau einzelne Jugendliche mit einer sprachlichen Äußerung gemeint haben und welche Erfahrung sich mit ihr verbindet. Erst dann wird dem Erzählten eine im bildungssprachlichen Sinne korrekte Formulierung gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit dem vorherigen Ausdruck des eigens Erlebten verglichen.

Nach dieser Reflexion des Sprachgebrauchs wurden mithilfe der Lehrkraft vollständige Satzstrukturen erarbeitet. Anschließend verschriftlichten die Jugendlichen ihre zuvor verbalisierten Praktikumserfahrungen. Exemplarisch bedeutet dies – bezogen auf die zu verwendenden Tempora – die Diskussion und Reflexion der in den Arbeitsprozessen erlebten Zeitstrukturen und ihres zunehmend bildungssprachlichen Ausdrucks (ZUNÄCHST habe ich..., SPÄTER durfte ich…, MEINE ARBEITSZEITEN WAREN VON … BIS…, Meine Aufgaben BESCHRÄNKTEN SICH AUF… etc.). Sprachstrukturen, welche die Lernenden in ihrer Alltagssprache kennengelernt und verstanden haben, werden demnach lexikalisch mithilfe von ‚Sprachgerüsten‘ ausgebaut. Diese Hilfsmittel werden in dem dargestellten Rahmen allerdings nicht in einem fachsprachlichen Vakuum verwendet; vielmehr formt sie der von den Jugendlichen erlebte soziale und kulturelle Kontext, in dem sie eingesetzt werden.

Nach diesem Lernschritt wurde die Erstellung des Videos vorgenommen. Nachdem das eigene Situationserleben in bildungssprachliche Satzstrukturen übertragenen worden war, konnten die Lernenden selbstständig einen kompletten Text zu ihrem Betriebspraktikum verfassen und ein Video von einem Standpunkt erweiterter Subjektivität aus vertonen.

Das Medium Film wird im Rahmen der hier vorgestellten didaktischen Einheit als Transmitter für den Lernprozess genutzt. In der Verarbeitung setzen sich die Schüler*innen mehrfach mit dem Thema Arbeit und Beruf sowie der sprachlichen Darstellung und dem Übergang von ihrem eigenen lebensweltlichen Erleben in einen fach- und bildungssprachlich geprägten Kontext auseinander. Die Jugendlichen gehen auf diese Weise von ihren lebensweltlichen Aneignungserfahrungen zu komplexen fachsprachlichen Kontextualisierungen über.

Eine Ausstellung der mp4-Videos in der Schule vollendete das Projekt. Durch die öffentliche Präsentation gewannen auch andere Lernende Einblicke in verschiedene Berufsfelder und deren jeweils subjektiven Erleben. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass das selbst vertonte Video und die Präsentation nicht nur Einblick in die Berufswelt aus Schüler*innenperspektive geben, sondern sich auch auf das erweiterte Sprachverständnis der Jugendlichen und damit auf ein individuelles Verständnis für das Potenzial des eigenen Wirklichkeitserlebens auswirken.

8 Fazit

Unser Anliegen, Lebensweltorientierung in der (vor-) beruflichen Bildung als subjektwissenschaftliches Prinzip einer beruflichen Inklusionspädagogik zu konzeptualisieren, zielt darauf ab, lebensweltliche Aneignungserfahrungen auch schulisch bislang wenig erfolgreicher Jugendlicher und junger Erwachsener zum Ausgangspunkt für die Bewältigung formeller Bildungsanforderungen zu machen. Um ein solches Vorgehen überhaupt konzeptionell realisieren zu können, bedarf es eines für pädagogische Überbrückungen offenen Differenzierungsverständnisses zwischen lebensweltlichen Aneignungs- und bildungsbezogenen Anforderungssphären. In der exemplarischen Gegenüberstellung von Lebenswelt- und Kompetenzorientierung sehen wir den gleichwohl überwindbaren Gegensatz zweier unterschiedlicher Handlungskontexte, der wesentlich auf der Kenntnis unterschiedlich normierter Bedeutungsstrukturen beruht und der u. a. in verschiedenen sprachlichen Varietäten zum Ausdruck kommt. Dies heißt jedoch nicht, dass außerhalb von Sphären anforderungsorientierten Handelns und Lernens keine dem jeweiligen Lerngegenstand angemessene und in diesem Sinn mit geringerer Komplexität verbundene Aneignungserfahrungen gemacht worden sind. Mit Rückgriff auf die Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule schlagen wir darum einen Rückbezug auf bereits erlebte Aneignungserfahrungen als Ausgangspunkte allen weiterführenden Lernens vor, von denen aus die Bedeutungsstrukturen (vermeintlich) neuartiger Lerngegenstände erschlossen werden können.

Dabei kommt es aus unserer Sicht entscheidend darauf an, längst ausgeprägte Aneignungserfahrungen auf anknüpfungsfähige Äquivalente zu Bildungsanforderungen hin zu untersuchen. Eine solche Herangehensweise geht jederzeit von der Komplexität lebensweltlicher Aneignungserfahrungen aus und rehabilitiert sie als produktive Bewältigungsressourcen unterschiedlichster Lernerfahrungen. Sie versteht Heterogenität unter keinen Umständen als Leistungshierarchie unterschiedlicher Komplexitäts- und Entwicklungsstufen. Sie differenziert zunächst nach Formen und Hintergründen individuell unterschiedlich ausgeprägter lebensweltlicher Aneignungskontexte und begibt sich mit allen Lernenden gemeinsam auf die Suche nach vorhandenen Erfahrungsreservoirs, an die bei der Bewältigung formeller Bildungsanforderungen angeknüpft werden kann.

Dabei kommt der verstehenden Akzeptanz der Alltagssprache als lebensweltlichem Erfahrungstransmitter und den mit ihr zum Ausdruck gebrachten Erzählungen eine zentrale Bedeutung zu. Denn Sprachstile verbinden sich mit lebensweltlichen Aneignungserfahrungen zum Ausdruck erlebter Gestaltbarkeit eines eigenständig bewältigten Lebens. Für eine tätigkeitsorientierte berufliche Inklusionspädagogik kommt es also darauf an, Alltagssprache als Ausdrucksform erlebter Geschichte und mit ihr verinnerlichten Weltbedeutungen zu rehabilitieren, in deren Rahmen sich lebensweltlich erfahrene Selbstwirksamkeit abbildet. Die nur vordergründig reduzierten Sprachformen der Alltagssprache auf hinterlegte Bedeutungsverständnisse zu untersuchen und daraus didaktische Anknüpfungspunkte für den bewältigenden Aufschluss weitergehender Aufgabenstellungen abzuleiten, ist darum die zentrale Aufgabe einer beruflichen Inklusionspädagogik.

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Anhang: Transkriptionssystem

Tabelle 1:     Transkriptionssystem (vgl. Dresing/Pehl 2018, 20ff.)

(.)

Pause (ca. eine Sekunde)

(..)

Pause (ca. zwei Sekunden)

(…)

Pause (ab drei Sekunden)

SEHR

betont, laut gesprochen

//

Überlappung von Redebeiträgen

/

Wort- und Satzabbruch

(unv.)

schwer verständliche Transkription, vermutete Äußerung in der Klammer

[…]

Auslassungen im Text

Nun sage ich zu Elias und Pascal, „Ey HALLO, hier ist die Aufmerksamkeit!“

wörtliche Rede

[Interviewpartner scheint unter Zeitdruck zu sein.]

Anmerkung der Transkribierenden

 

[1]    Personen- und einrichtungsbezogene Daten wurden aus Gründen der Anonymisierung geändert. Das verwendete Transkriptionssystem ist im Anhang am Ende dieses Beitrags aufgeführt.

[2]    Elbisch steht für eine Vielzahl von Sprachen aus J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe.

Zitieren des Beitrags

Koch, M./Schröder, D./Seifert, J./Steuber, A. (2020): Lebensweltorientierung in der beruflichen Bildung: Subjektwissenschaftliches Prinzip einer beruflichen Inklusionspädagogik. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-27. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe38/koch_etal_bwpat38.pdf (24.06.2020).