bwp@ 47 - Dezember 2024

Attraktivität des Lehrer:innenberufs in der Berufsbildung

Hrsg.: Karl Wilbers, Nicole Naeve-Stoß, Silke Lange & Matthias Söll

Entwicklungsperspektiven durch digital unterstützte Lehr-Lernprozesse am Beispiel des Bildungsgangs Berufsschule in Rheinland-Pfalz – Folgerungen für die Tätigkeit von BBS-Lehrkräften

Beitrag von Yvonne Anders & Udo Anders
bwp@-Format: Aus der Praxis
Schlüsselwörter: Kultur der Digitalität, Präsenzunterricht, Distanzunterricht, Hybridunterricht, Selbstlernunterricht, Lehrerrolle

In diesem Beitrag werden Status Quo und Entwicklungsperspektiven der Digitalisierung an rheinland-pfälzischen berufsbildenden Schulen (BBS) – insbesondere mit Blick auf den BBS-Bildungsgang Berufsschule – hinsichtlich der “Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Organisation von digital gestütztem Unterricht in den Bildungsgängen der beruflichen Schulen” (KMK, 2024a) dargestellt. Basierend auf einem dafür entwickelten Reifegradmodell werden Notwendigkeiten für die Erreichung von Entwicklungsstufen identifiziert und Rückschlüsse für die Tätigkeit von Lehrkräften benannt. Dabei werden vier Entwicklungsbereiche in den Blick genommen, die direkten Einfluss auf die Lehrtätigkeit in der Kultur der Digitalität haben. Im Einzelnen sind das die Bereiche “Unterrichtsorganisationsformen”, “Infrastruktur und Digitalität”, “schulisches Personal (konkretisiert in Ausführungen zur konsequenten kollegialen Teamarbeit, zur Rolle als Kurator digitaler Lernprozesse und zur Rolle als Lernprozessbegleiter)” sowie das “Assessment in digitalen Lernprozessen”. Aus Folgerungen für die Tätigkeit von Lehrenden in digitalen Lernumgebungen werden abschließend Thesen zur Attraktivität der Tätigkeit als Lehrkraft im berufsbildenden Schulwesen durch Digitalisierung abgeleitet.

Development perspectives through digitally supported teaching-learning processes using the example of the vocational school programme in Rhineland-Palatinate – Conclusions for the work of teachers at vocational schools

English Abstract

The article presents the status quo and development prospects for digitalization at vocational schools in Rhineland-Palatinate. Based on a maturity model developed for this purpose, the requirements for reaching different stages of development are identified and conclusions are drawn for the work of teachers. It focuses on four areas of development that have a direct influence on teaching activities in the digital culture. Specifically, these are the areas of “forms of teaching organization”, “infrastructure and digitality”, “school personnel (specified in terms of consistent collegial teamwork, the role of curator of digital learning processes and the role as learning process facilitator)” and “assessment methods in digital learning processes”. Conclusions for the work of teachers in digital learning environments are used to derive theses on the attractiveness of working as a teacher in vocational education and training through digitalization.

1 Standortbestimmung und aktuell Erreichbares

Der Lernort Berufsschule begleitet als Partner der Betriebe Auszubildende auf ihrem Weg in die Berufs- und Arbeitswelt. Dabei ist die Berufsschule sowohl Kooperationspartner als auch eigenständiger Lernort mit eigenständigen Zielen (vgl. BBiG, KMK, 2024b).

Ziel der Ausbildung im Betrieb ist das Erreichen von beruflicher Handlungsfähigkeit sowie das Erlangen von Berufserfahrung. Dazu erwerben Auszubildende jene Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die erforderlich sind, um in ihrem Beruf bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten erfolgreich auszuführen. Der Fokus liegt hier vornehmlich auf den konkreten beruflichen Anforderungen eines Betriebes bzw. Unternehmens.

Ziel des berufsbezogenen sowie berufsübergreifenden Unterrichts in der Berufsschule ist es, den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz zu ermöglichen. Dabei umfasst die berufliche Handlungskompetenz neben fachlichen Kompetenzen auch soziale und personale Befähigungen, um spätere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu befähigen, sich in verschiedenen beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten (vgl. KMK, 2024b). Im Fokus der Berufsschule steht also die Aufgabe, die im Betrieb erworbenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse in allgemeinere, den Einzelbetrieb übergreifende Kontexte zu stellen.

Der technologische Fortschritt und die damit verbundene digitale Transformation umfasst sämtliche Bereiche der Gesellschaft – insbesondere auch die Arbeits- und Geschäftsprozesse in den ausbildenden Unternehmen. Wenn Berufsschule in der Lage sein will, den Erwerb der beruflichen Handlungskompetenz in einer „Kultur der Digitalität” (KMK, 2021) zu ermöglichen und dabei insbesondere „den verantwortungsbewussten und eigenverantwortlichen Umgang mit zukunftsorientierten Technologien, digital vernetzten Medien sowie Daten und Informationssystemen“ (KMK, 2024b, S. 2) zu fördern, ist die digitale Transformation der Berufsschulen und der schulischen Arbeit selbst unerlässlich.

Für Berufsschullehrkräfte ist es bedeutend, ihre Inhalte und Methoden an die sich ständig verändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Lebenswelt ihrer Lernenden durch Digitalisierung anzupassen, um die Lernenden optimal auf ihre Zukunft vorzubereiten. Die Tätigkeit von Lehrkräften an Berufsschulen hat sich durch die begonnene digitale Transformation bereits massiv verändert. Digitale Veränderungsprozesse schreiten rasch voran und stellen Herausforderungen an Lehrkräfte, die mit einer „nostalgischen Verhinderungskultur“ (Heng, 2021, S. 351) kaum positiv gestaltbar sind. „Digitale Transformation von Schule bedeutet also auch, den Gestaltungsanspruch und die Gestaltungsverantwortung für eine Kultur der Digitalität anzunehmen und Schüler:innen dazu zu befähigen, kompetent und kritisch die Bedingungen der Digitalität mitgestalten zu können“ (Schwalbe, 2020). Die Tätigkeit als Lehrkraft im digitalisierten lernfeldorientierten Berufsschulunterricht wird für jene Lehrkräfte attraktiv sein, die einer nostalgischen Verhinderungskultur auf Basis ihrer Haltung und ihres Professionswissens erfolgreich eine fortschrittliche Gestaltungskultur entgegensetzen.

1.1 Bisherige Schritte zur Weiterentwicklung von Berufsschule in Rheinland-Pfalz

Das rheinland-pfälzische System der Berufsbildenden Schulen (BBS) befindet sich einschließlich seines Administrations- und Unterstützungssystems seit vielen Jahren in einem stetigen Entwicklungsprozess. Wenn auch lange nicht unter dem Begriff der „digitalen Transformation“, wurden dennoch über viele Jahre hinweg im Rahmen unterschiedlicher landesweiter Schulentwicklungsprojekte wichtige Schritte in diese Richtung unternommen. So konnten mit den beiden Schulentwicklungsprojekten „Transfer von Eigenverantwortung, Qualitätsmanagement und Lehr- und Lernkultur” (kurz: EQuL, Laufzeit 2009-2013) sowie „Berufsschule 2020” (kurz: BS20, Laufzeit 2015-2017) wichtige Weiterentwicklungen im Bereich der teamorientierten Aufbauorganisation, der prozess- und outputorientierten Ablauforganisation, einer veränderten Führungskultur sowie einer – am selbstgesteuerten Lernen orientierten – Lehr- und Lernkultur erreicht werden. Insbesondere das Schulentwicklungsprojekt BS20 beförderte ausgehend von der Prämisse „Ausbildung in der zu Fläche erhalten“ die Auseinandersetzung mit Fragen zum schulstandortübergreifenden Unterrichten unter Einsatz digitaler Lehr-/Lernmanagement- sowie Kommunikationssysteme oder auch das Unterrichten von unterschiedlichen Ausbildungsberufen in Berufssammelklassen. Diese schulorganisatorischen Betrachtungen in BS20 skizzierten erste Ansätze einer schüler- und nicht mehr klassenbezogenen Betrachtung von Unterrichtsversorgung sowie der Bereitstellung personalisierter Lehr- und Lernangebote. Im Modellversuch „Kompetenzorientiertes Lernen an berufsbildenden Schulen“ (kurz: KOOL-BBS, Laufzeit 2016-2020) arbeiteten Ausbildungsschulen und das Studienseminar Neuwied in Kooperation mit dem Studienseminar Trier daran, wie digitale Kompetenzraster zur Förderung selbstgesteuerten Lernens eingesetzt werden können. Diese Raster bilden die zu erlangenden Kompetenzen und Niveaustufen ab und verknüpfen diese mit der Bereitstellung kompetenzorientierter Lernaufgaben und Materialien zum Selbstlernen. Das Schulentwicklungsprojekt „Digitale berufsbildende Lernzentren” forciert seit 2021 an zwölf berufsbildenden Schulen durch schulindividuelle Weiterentwicklungsansätze und den Austausch von Lösungsansätzen und Erfahrungen die Digitalisierung in verschiedenen Bereichen der schulischen Arbeit, die dabei den Unterricht selbst, aber auch Verwaltungs- und/oder technische Unterstützungsprozesse in den Blick nehmen. 

Alle hier exemplarisch angeführten Schulentwicklungsschritte zielen darauf ab, die schulische Arbeit punktuell an eine Vielzahl von technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen und durch Lehrkräfte positiv gestaltbar zu machen. Die durch EQuL, BS 20 und KOOL-BBS etablierten Strukturen und gemachten Erfahrungen erleichterten den berufsbildenden Schulen, während der Covid-19-Pandemie auf das physische Schließen von Schulen zu reagieren und u. a. vom Einstellen des Berufsschulunterrichts abzusehen und wenigstens ein “Emergency-Remote-Teaching” (Hodges et al., 2020) sicherzustellen. So konnte in Rheinland-Pfalz der Berufsschulunterricht in dieser Zeit ohne Unterbrechung in Distanzform und später in Wechselmodellform sichergestellt werden. Dennoch verfolgten die hier umrissenen Schulentwicklungsprojekte noch nicht explizit die ganzheitliche digitale Transformation der berufsbildenden Schulen in Rheinland-Pfalz hin zum Lehren und Lernen in einer Kultur der Digitalität.

Die Erkenntnis, dass es notwendig ist, eine tiefgreifende digitale Transformation in den berufsbildenden Schulen und insbesondere im Bildungsgang Berufsschule anzustoßen, setzte erst mit dem Abklingen der Covid-19-Pandemie ein. Seitdem erfolgt die tiefergehende Auseinandersetzung mit professionell gestalteten digitalen Lernumgebungen im Präsenzunterricht (vgl. Anders & Usinger, 2023) sowie seit dem laufenden Schuljahr die Erprobung digital hinterlegter Lernsettings in Präsenz-, Distanz-, Hybrid- und Selbstlernunterricht einschließlich einer strukturierten Prozessbegleitung durch die Schuladministration.

Im ersten Schritt wurde dazu mit der Absicht einer systematischen Ausweitung und mit Hilfe eines Beratungs- und Genehmigungsprozess der Schulaufsicht die kriteriengeleitete Etablierung von Blended Learning in den BBS-Bildungsgängen „Fachschule“ und „Duale Berufsoberschule“ forciert.

Seit Beginn des Schuljahres 2024/25 tritt Rheinland-Pfalz nun auch in die Etablierung von Blended-Learning-Konzepten im Bildungsgang Berufsschule ein, wofür zwei Entwicklungen von entscheidender Bedeutung sind: Einerseits wurde mit Beschluss vom 21.03.2024 die unter rheinland-pfälzischer Federführung erarbeitete „Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Organisation von digital gestütztem Unterricht in den Bildungsgängen der beruflichen Schulen” (KMK, 2024a) verabschiedet und andererseits trat ebenfalls im Frühjahr 2024 das „Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz (BVaDiG)” in Kraft, welches vor dem Hintergrund der digitalen Möglichkeiten u. a. den betrieblichen Teil der Ausbildung sowie das Wesen der Berufsausbildungsabschlussprüfung berührt.

Digitalisierung des Präsenzunterrichts und Blended Learning wird per se nicht innovativer Gehalt oder gar eine Attraktivitätssteigerung des Lehrkräfteberufs zugesprochen werden können. In welchem Gestaltungsrahmen jedoch beides gefördert werden kann, soll nachfolgend näher betrachtet werden.

1.2 Grad der Digitalisierung rheinland-pfälzischer berufsbildender Schulen

Das Ausmaß der Digitalisierung rheinland-pfälzischer BBS lässt sich mit einem Reifegradmodell einordnen, um daraus Entwicklungsperspektiven zu entwickeln. Seufert und Tarantini bieten ein organisationales Reifegradmodell für berufsbildende Schulen an, welches – insbesondere für die Zukunft der Lernortkooperation in der Schweiz – auf Basis einer umfassenden Literaturrecherche sowie durch die Auswertung von Experteninterviews mit Schulleitungen von achtzehn Berufsschulen in der Schweiz entwickelt worden ist (vgl. Seufert & Tarantini, 2022).

In diesem Reifegradmodell wird ausgehend vom Status Quo zwischen zwei Entwicklungsstufen der Digitalisierung unterschieden, deren Ausgangspunkt dadurch gekennzeichnet ist, dass digitale Technologien eher durch additive E-Learning-Elememte in bestehendenUnterrichtsprozesse eingesetzt werden (vgl.Seufert & Tarantini, 2022, S. 319). Den Entwicklungsstufen liegt darauf aufbauend ein Verständnis von Digitalisierung der Bildung zugrunde, dass für den grundlegenden Transformationsprozess der Bildungsarbeit im Unterschied zu E-Learning „die gesamte Wertschöpfung des Wissenserschließung in den Blick nimmt” (Kerres, 2016, zit. in Seufert & Tarantini, 2022, S. 306). 

In den nachfolgenden Abschnitten finden die im Reifegradmodell von Seufert und Tarantini vorgenommenen normativen Setzungen als ein – für die rheinland-pfälzische Schulentwicklungsterminologie modifizierter – Leitfaden Anwendung, um die Standort- und Entwicklungszielbestimmung nachvollziehbar werden zu lassen. Zusätzlich werden die Kategorien des digitalen Reifegradmodells von Seufert und Tarantini so verengt, dass sie entsprechend der Prämisse des hier vorliegenden Beitrags primär das Lehrkräftehandeln in den Fokus nehmen (s. Tab. 1).

Für Rheinland-Pfalz kann an dieser Stelle festgestellt werden, dass mit Blick auf die Gesamtheit der berufsbildenden Schulen aktuell der Weg zu Entwicklungsstufe I zu leisten ist, was allerdings nicht bedeutet, dass nicht einzelne Schulen bereits einen höheren Grad der digitalen Transformation erreicht haben.

Um den eigenen Stand der Digitalisierung einschätzen zu können und Digitalisierungsziele zu formulieren, ist es hilfreich kriteriengeleitet vorzugehen. Das dargestellte Reifegradmodell formuliert Kriterien und Entwicklungsstufen. Es adressiert auf institutioneller Ebene Schulleitungen, deren Aufgabe es ist, gemeinsam mit dem Gesamtkollegium eine Vision der Digitalisierung zu entwickeln und durch strategische Führung eine geeignete teambasierte Schulorganisation und -struktur sowie Aufbau- und Ablauforganisation zu. Auf operative Ebene adressiert das Modell Lehrkräfte als Schlüsselakteure für die Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen, die sich in Teams organisieren, um ihre gemeinsamen Prozesse weiterzuentwickeln und zu reflektieren. Die Teams können ihren Entwicklungsstand mithilfe des Reifegradmodells einschätzen und daraus Digitalisierungsmaßnahmen ableiten und professionell initiieren.

Tabelle 1: Digitaler Reifegrad berufsbildender Schulen (eigene Darstellung in Anlehnung an Seufert & Tarantini, 2022)

 

Digitaler Reifegrad berufsbildender Schulen

 

Ausgangspunkt

digital effizient/ explorierend

Entwicklungsstufe I

digital transformierend

Entwicklungsstufe II

im digitalen Ökosystem

Strategie und Kulturveränderung zur Kompetenzentwicklung

Anwendung etablierter und Exploration neuer digitaler Technologien im Präsenzunterricht, isolierte Veränderung in den Lernorten 

umfassende und koordinierte digitale Veränderungen von Unterrichtsprozessen mit lernortintegrierenden Arbeitsprozessen

Smart Government, Learning Analytics zur Qualitätsentwicklung, KI-basierte und personalisierte Bildungsangebote

Entwicklung von Unterrichtsorganisations-formen

punktuelle Projekte in bestehender Organisationslogik, Digitalisierungsbemühungen im Präsenzunterricht

veränderte digitale Unterrichtsorganisation in Präsenz-, Distanz-, Hybrid- und Selbstlernphasen 

Organisationslogik für personalisierte, KI-basierte Kompetenzentwicklung

Entwicklung von

Infrastruktur und Technologie

punktuelle und additive Anwendung digitaler Tools als Anreicherung des Präsenzunterrichts

digitales Lernprozess- und Bildungsgangmanagement durch Nutzung digitaler Lehr-Lernplattformen sowie  Informations- und Kommunikationssystemen und der Entwicklung digitaler

Contents

Smart Learning Environments, digitale Tools als Mediatoren, Personal learning experience Plattformen, intelligente tutorielle Systeme

Entwicklung des schulischen 

Lehrpersonals

klassische Rolle der Lehrpersonen als einzelner Wissens- und Kompetenzvermittler, Produzent und Kurator von persönlich verfügbaren Lernmitteln zur Aktivierung von Lernaktivitäten 

neue Rolle der Lehrpersonen

durch konsequente kollektive Teamarbeit und als Kuratoren von Lernaktivitäten und Begleiter von Lernprozessen

neue Rolle für das Entwickeln und Trainieren von KI-basierten Lernlösungen

Assessmententwicklung

klassische Prüfungen, wenig formative Assessments

formative und summative Assessments,

kompetenzorientiertes Prüfen

portfoliobasiertes Prüfen, formative, summative Assessments mittels Learning Analytics

2 Zielklärung zur Erreichung von Reifegrad I

Die Entwicklungsstufe I im Reifegradmodell unterscheidet sich vom Status Quo dahingehend, dass Digitalisierung nicht mehr als additiver Medieneinsatz verstanden wird und zu isolierten Veränderungen führt, sondern eine „Strategie- und Kulturveränderung zur Kompetenzentwicklung” darstellt, die umfassende koordinierte digitale Veränderungsprozesse initiiert (s. Zeile 3, Tab 1). Im Folgenden werden die vier Entwicklungsebenen des hier verwendeten Reifegradmodells “Entwicklung von Unterrichtsorganisationsformen”, “Entwicklung von Infrastruktur und Technologie”, “Entwicklung des schulischen Personals” und “Assessmententwicklung” (s. Tab. 1)  auf Notwendigkeiten und deren Reflexion hinsichtlich des Erreichens der Entwicklungsstufe I näher betrachtet.  

2.1 Entwicklung von Unterrichtsorganisationsformen

Die „Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Organisation von digital gestütztem Unterricht in den Bildungsgängen der beruflichen Schulen” (KMK, 2024a) konstatiert in ihren einführenden Textpassagen, dass – insofern Lernenden und Lehrenden ein digitales Endgerät zur Verfügung steht, welches Zugriff auf Lernplattformen, Lernmanagement- und Kommunikationssysteme hat – Teile der schulischen Lernprozesse zeit- und bzw. oder ortsungebunden (z. B. im Ausbildungsunternehmen oder im privaten Umfeld) stattfinden können. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen unterscheidet das KMK-Papier vier gleichwertige Organisationsformen des Unterrichts mit Potenzialen zur spezifischen Förderung des Erwerbs fachlicher, sozialer, personaler und digitaler Kompetenzen:

a) Präsenzunterricht, b) Distanzunterricht, c) Hybridunterricht, d) Selbstlernunterricht.

Unterschieden werden die Unterrichtsorganisationsformen im Wesentlichen unter Betrachtung der Koordinaten zeitgebunden vs. zeitungebunden und ortsgebunden vs. ortsungebunden. Angewandt auf die bereits seit längerem im Sprachgebrauch etablierten Organisationsformen digital gestützten Unterrichts „Präsenzunterricht“, „Distanzunterricht“ und „Hybridunterricht“ werden in den KMK-Empfehlungen konkretisierende Aussagen zum Ort des Lernens gemacht, während die zeitliche Gebundenheit allen drei gleichbleibt. Der im KMK- Papier neu geformte Begriff des „Selbstlernunterrichts“ umfasst zusätzlich die Ablösung von der zeitlichen Bindung des Stundenplans und lässt an dessen Stelle verpflichtende Zeitkontingente für Lernende und Lehrende treten. Der verpflichtende Selbstlernunterricht wird durch Lernende orts- und zeitunabhängig für die Bearbeitung von Selbstlerneinheiten genutzt. Die mit den entsprechenden verpflichtenden Stundenkontingenten versehenen Lehrkräfteteams stellen im Gegenzug in gemeinsamer Verantwortung und Autonomie die inhaltliche, zeitliche und organisatorische Lernbegleitung während üblicher Arbeitszeitregelungen durch Vereinbarungen mit den Lernenden sicher. Dieser Gestaltungsrahmen mit neuen Betreuungsformaten durch einzelne Mitglieder funktionierender Lehrkräfteteams kann für Lehrkräfte sehr attraktiv sein, da Arbeitszeiten im Team abgesprochen werden und sich somit auch an individuellen Bedürfnissen flexibel orientieren können.

Für die strukturierte und abgestimmte Weiterentwicklung der BBS in Rheinland-Pfalz bedeutet die hier abgebildete Begriffsdefinition der Unterrichtsorganisationsformen in einem ersten, bereits eingeleiteten Schritt, dass sie sprachlich konkretisierter Bestandteil der Etablierung von Blended Learning in den berufsbildenden Schulen ist. Nachfolgend werden sie dann in bildungsgangspezifische und bildungsgangübergreifende Normen entsprechend den Empfehlungen der KMK zur Organisation von digital gestütztem Unterricht in den Bildungsgängen der beruflichen Schulen aufgenommen. Hierfür bietet das rheinland-pfälzische Schulgesetz bereits jetzt einen – insbesondere für die Berufsschule und deren Auftrag zur Ermöglichung der beruflichen Handlungskompetenz in einer Kultur der Digitalität – geeigneten Rahmen ab. Nach §1 Absatz 6 SchulG kann die Schule zur Erfüllung ihres Auftrags auch digitale Lehr- und Lernsysteme sowie Netzwerke nutzen. „Sie sind regulärer Bestandteil der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit. Im Bedarfsfall können digitale Lehr- und Lernformen an die Stelle des Präsenzunterrichts treten” (SchulG). 

Neben den digital gestützten Unterrichtsorganisationsformen, die den Präsenzunterricht nun zukünftig ergänzen, werden u. a. für den Bildungsgang Berufsschule weitere inhaltliche Impulse der KMK-Empfehlung verfolgt:

  • „Der Umfang der Unterrichtsformen Distanz-, Hybrid- und Selbstlernunterricht überschreitet insgesamt den Präsenzunterricht in der Regel nicht.” 
  • „Die Teilnahme am Distanzunterricht, am Hybridunterricht und am Selbstlernunterricht ist für die Schülerinnen und Schüler verpflichtend (vgl. KMK, 2024a, S. 9).”  

2.2 Entwicklung von Infrastruktur und Technologie

In Rheinland-Pfalz besteht darüber Konsens, dass zur Umsetzung einer Kultur der Digitalität Lernplattformen bzw. Lehr-/Lernmanagement- und Kommunikationssysteme erforderlich sind, die „pädagogischen und rechtlichen Anforderungen (insbesondere hinsichtlich Datenschutz, IT-Sicherheit und Barrierefreiheit) sowie den Bedürfnissen der beruflichen Bildung genügen“ (KMK, 2024a, S. 8). Das Pädagogische Landesinstitut stellt dazu im „Schulcampus RLP“ die Plattform Moodle und das darin integrierte Open-Source-Webkonferenzsystem "BigBlueButton" zur Verfügung.

Lernplattformen können drei Nutzungsfunktionen zugewiesen werden: die Nutzung als Distributionszentrale, als Arbeitsumgebung und als Kollaborationsraum (vgl. Ebner et al., 2023a, S. 40). Werden Lernplattformen primär als Distributionszentrale genutzt, so stellen Lehrkräfteteams Inhalte und Materialien in der Plattform bereit, die von den Lernenden gesichtet, heruntergeladen und in Einzel-, Partner- oder Teamarbeit bearbeitet werden können, um Teile einer Lernsituation zu absolvieren. Diese Nutzung entspricht jedoch nicht Entwicklungsstufe 1 des Reifegradmodells, sondern bildet eher die Ausgangslage ab. Die Nutzung von Plattformen als Arbeitsumgebung geht deutlich darüber hinaus. „Neben der Nutzung als Materialumschlagspunkt kommen den Lernumgebungen Aufgaben zu, die sie zu einer Arbeitsumgebung werden lassen. Über den Bezug von Informationen und Aufträgen hinaus verbleiben Lernende auf der (Lern-)Plattform und durchlaufen dort den Bearbeitungsprozess“ (Ebner et al., 2023b, S. 40). Digitale Arbeitsumgebungen ermöglichen dabei eine selbständige Bearbeitung bereitgestellter Teilaufgaben durch die Lerner. Neben der Nutzung als Arbeitsbereich für individualisiertes Lernen können Plattformen auch als Raum für eine Zusammenarbeit Verwendung finden, denn sie bieten Potenzial für kooperatives und kollaboratives Arbeiten in virtuellen Arbeitsräumen. Lern-Management-Systeme wie „Moodle“ ermöglichen somit eine konsequente Nutzung als Arbeitsumgebung für kooperatives und kollaboratives Arbeiten. Um dieses Potenzial im Sinne von Entwicklungsstufe 1 des Reifegradmodells und für eine aufeinander abgestimmte und curricular verortete Durchführung der vier Unterrichtsorganisationsformen nutzen zu können, ist die konsequente digitale Bereitstellung mehrerer Lernaufgaben zu allen Lernfeldern eines Ausbildungsberufs auf dem Lern-Management-System Moodle durch Lehrkräfteteams Voraussetzung. Dazu wird ein digitaler Lernraum als digitales Klassenzimmer genutzt. Lernprozesse lassen sich so sukzessiv individualisieren und insbesondere in einem weiteren Entwicklungsschritt personalisieren. Die Integration digitaler Contents kann dabei in einer ersten Annäherung nach dem von Puentedura entwickelten „SAMR-Modell“ erfolgen, das den Umstieg von analogen Lehrmitteln auf digitale Contents unterstützt. 

Über die Gestaltung digital unterstützter Lehr- und Lernprozesse hinaus bieten Lern-Management-Systeme Potenziale für das Bildungsgangmanagement, die zur Entlastung der Lehrkräfte bei unterrichtsfremden Tätigkeiten beitragen. Krankmeldungen und Anträge auf Unterrichtsbefreiung können z. B. in einem gesonderten Bereich hoch- oder heruntergeladen werden, womit die oftmals beklagte „Zettelwirtschaft“ entfällt. Gleiches gilt für Terminierungen besonderer Ereignisse, wie z. B. Prüfungsphasen, überbetriebliche Ausbildungsphasen, Exkursionen und Ausbildersprechtage, die über die Kalenderfunktion eingetragen werden und für alle Beteiligten zeit- und ortsunabhängig zur Verfügung stehen. Chatfunktionen und Verknüpfungen mit integrierten Videokonferenzsystemen erlauben Kommunikation auch außerhalb des Präsenzunterrichtes (vgl. Anders & Usinger, 2023). Zum Bildungsgangmanagement gehört außerdem die kontinuierliche qualitative Weiterentwicklung, welche durch leicht integrierbare Evaluations- und Rückmeldetools erleichtert wird. 

Experten der Enquete-Kommission Berufliche Bildung sprechen der „Digitalisierung große Chancen für Lernortkooperation zu“ (Deutscher Bundestag 2020). In einer Vielzahl auch jüngerer Veröffentlichung werden einerseits Optimierungsbedarfe einer teilweise rudimentär ausgeprägten Lernortkooperation konstatiert, aber gleichzeitig Potenziale der Lernortkooperation im Kontext der Digitalisierung in der beruflichen Bildung identifiziert (exemplarisch Bach, 2019, Freiling & Mozer, 2020, KMK, 2021, Maiß & Speck, 2022). Seufert und Tarantini gehen darüber hinaus und weisen Bildungseinrichtungen auf der Entwicklungsstufe I Potenziale für eine lernortintegrierende Kompetenzentwicklung durch die Nutzung digitaler Tools in einem gemeinsamen Lern-Managementsystem zu (vgl. Seufert & Tarantini, 2022, S. 319). Maiß und Speck sehen digitale Lernplattformen künftig als „eine Art Real-Live-Case-Portal, das die Bildungsangebote und wirtschaftlichen Angebote einer Region verbindet“ (Maiß & Speck, 2022, S. 264).

2.3 Entwicklung des schulischen Lehrpersonals

In der Phase der digitalen Transformation zur Erreichung der Entwicklungsstufe I werden drei zentrale Anforderungen an Lehrkräfte gestellt, die es dezidiert zu betrachten gilt: 1. Konsequente Mitarbeit in kollegialen Teams, 2. Übernahme der Rolle als Kurator/Kuratorin von Lernaktivitäten und 3. Übernahme der Rolle als Lernprozessbegleiter/Lernprozessbegleiterin (s. Tab. 1).

2.3.1 Konsequente Mitarbeit in kollegialen Teams

Voraussetzung für die Umsetzung des Konzeptes und für die Erreichung von Entwicklungsstufe I des Reifegradmodells ist eine konsequent teambasierte Aufbauorganisation der berufsbildenden Schulen, wie sie im eingangs erwähnten rheinland-pfälzischen Schulentwicklungsprojekt EQuL verfolgt worden ist. Eine moderne Bildungseinrichtung ist dadurch gekennzeichnet, dass auf allen Ebenen und in allen Teilbereichen kollegiale Teams als Organisationseinheit etabliert sind. Für die hier insbesondere in den Blick genommene Schulform Berufsschule bedeutet dies, dass für jeden Ausbildungsberuf Lehrkräfte idealerweise in einem Team langfristig zusammenarbeiten und diesen Bildungsgang unter den Kategorien „Zielklarheit“, „Verantwortung“ und „Autonomie“ gemeinsam gestalten, evaluieren und weiterentwickeln (vgl. Anders & Usinger, 2023, S, 39). Pittich und Tenberg verwenden in ihrem Modell der „Hybriden Lernlandschaften” den Begriff „Kollektive Teamarbeit“, den sie als einen wesentlichen Erfolgsfaktor für die Etablierung digitaler Lernumgebungen herausstellen (Pittich & Tenberg, 2020, S. 19). Weiterhin ist mit Pittich und Tenberg festzuhalten, dass in einem kollegial arbeitenden Team der Arbeitsaufwand gering bleibt, da dieser sich auf mehrere Teammitglieder verteilt. Eine gleichzeitige Erhöhung der Effizienz bei der Inhalts- und Medienauswahl sowie deren technischer Bereitstellung ist erwartbar, insbesondere wenn eine in funktionierenden Teams vorhandene Sharing-Kultur entwickelt worden ist. Einmal geschaffene Infrastrukturen lassen sich skalieren, so dass mit zunehmend geringerem Aufwand weitere Lernfelder in Lehr-Lernsituationen sequenziert und digitalisiert werden können (vgl. Pittich & Tenberg, 2020, S. 21). Eine Teamarbeit wird dann erfolgreich und effizient sein, wenn sich einzelne Lehrkräfte mit ihren spezifischen Kompetenzen, Stärken, Talenten und Leidenschaften arbeitsteilig einbringen und sich gegenseitig ergänzen. Der oftmals beklagten „Allzuständigkeit“ einer Lehrkraft wird durch Teamarbeit entgegengewirkt, wenn digitale Kompetenzen, eine positive pädagogische Grundhaltung und fachdidaktische Expertise zusammenkommen und nicht mehr jede Lehrkraft alles wiederholt und in gleicher Intensität bewältigen muss. Unter dem Stichwort Attraktivität des Lehrkräfteberufs ist mit Tenberg davon auszugehen, dass die kollektive Planung und Konzeptentwicklung 

  • generell zu einer Verbesserung der Unterrichtsqualität führt.
  • informelles Lernen im Team u. a. durch Feedback-Feedforeward-Situationen fördert.
  • etwaigen sozialen Isolationseffekten im Lehrkräfteberuf entgegengewirkt.
  • Entwicklungsaufgaben und Neuerungen mit geringem Aufwand umsetzbar macht.
  • neue Lehrkräfte unproblematisch in das Team integriert.
  • den Autonomie-Anspruch von Teams gegenüber der Schulleitung behauptet.
  • zu einer Erhöhung der Arbeitseffizienz führt (vgl. Tenberg, 2017, S. 197–198).

Professionell agierende Lehrkräfte bringen ihre pädagogische, didaktisch-methodische und digital–technische Expertise in Bildungsgangteams ein, um auf Basis ihrer inhaltlichen und methodischen Umsetzungserfahrungen sukzessive gemeinsam alle Lernfelder in Lernsituationen und Lernjobs zu sequenzieren, diese digital bereitzustellen und mit digitalen Contents anzureichern.

2.3.2 Übernahme der Rolle als Kurator/Kuratorin von Lernaktivitäten

Mit der Digitalisierung verändert sich die Rolle der Lehrkraft in Entwicklungsstufe I des Reifegradmodells. Die digitale Transformation und die dadurch geschaffenen neuen Möglichkeiten, Unterricht inhaltlich und didaktisch-methodisch zu gestalten, führen zu neuen Handlungsfeldern von Lehrpersonen. Mit Lund ist festzustellen: „Die berufliche Fachexpertise der Lehrpersonen fließt künftig mehr in das Kuratieren und die Vorbereitung von digital abrufbarem Lernmaterial” (Lund, 2018, S. 32). Das Kuratieren digital bereitgestellter Lernsituationen stellt Herausforderungen an Lehrkräfteteams in zweifacher Hinsicht: Erstens gilt es, die vier gleichwertigen Phasen des Präsenz-, Hybrid-, Distanz- und Selbstlernens didaktisch-methodisch prozessual in den Bildungsgängen der Berufsschule zu verorteten bzw. zu kuratieren. Zweitens müssen die Lehrkräfteteams strukturell jede dieser Phasen digital ausgestalten. Damit müssen zur Umsetzung digital hinterlegter Lernprozesse zwei Dimensionen zur didaktischen Gestaltung berücksichtigt werden, die in Anlehnung an das “Nürnberger Didaktikmodell” herangezogen werden: die prozessuale Dimension, die „Vorstellungen über Phasen bzw. eine sequentielle Struktur” (Wilbers, 2013, S. 1) in den Blick nimmt und die strukturelle Dimension, in der Strukturelemente und Relationen in einem Modell ausgewiesen werden. Letztere beantwortet die Frage: „Welche Elemente konstituieren den Unterricht und welche Relationen werden zwischen den Elementen unterstellt?” (Wilbers, 2013, S. 1, vgl. Wilbers, 2023, S. 25).

Auf Ebene der prozessualen Dimension nimmt das Lehrkräfteteam die vier Unterrichtsorganisationsphasen in den Blick und verortet diese – um am Beispiel des Bildungsganges Berufsschule zu bleiben – in den drei- bis dreieinhalbjährigen Ausbildungsprozess. Hierbei bietet sich ein spiralcurricularer Aufbau an. Am Anfang einer Ausbildung steht der Präsenzunterricht im Zentrum des Lernens, in welchem die Formate Distanz- und Hybridunterricht durch Lehrkräfteteams begleitet geübt und phasenweise erprobt werden können. Auf Basis der gemachten Erfahrungen wird im mittleren Teil der Ausbildung vermehrt in Formaten des Distanz- und Hybridunterrichts gelernt werden können. In dieser Phase kann für die dritte Phase geübt werden, die sich verstärkt dem Selbstlernunterricht widmet (s. Tab.2). Ziel dabei ist, die Lernenden im Bildungsgang Berufsschule schrittweise im Übergang vom allgemeinbildenden Schulwesen in die digitalisierte Arbeits- und Lebenswelt zu begleiten und die dafür erforderlichen digitalen Kompetenzen aufzubauen.

Tabelle 2: Unterrichtsorganisation in der Erprobungsphase (idealtypische Abbildung)

erstes Ausbildungsjahr 

(Grundstufe)

zweites Ausbildungsjahr

(Fachstufe1)

drittes Ausbildungsjahr

(Fachstufe 2)

Präsenzunterricht

Einübung für Hybrid- 

und Distanzunterricht

Präsenzunterricht 

Hybridunterricht

Distanzunterricht

Einübung für Selbstlernunterricht

Präsenzunterricht 

Hybridunterricht

Distanzunterricht

Selbstlernunterricht

In Bezirks-, Landes- und Bundesfachklassen mit teilweise weiten Anfahrtswegen und etwaigen Übernachtungskosten stellt sich generell die Frage, ob die physische Präsenz aller Lernenden am Lernort Schule erforderlich ist, wenn digitalisierte Bildungsprozesse dies nicht erfordern. Je nach Beruf und den individuellen Kompetenzen der Lernenden wird die in der Tabelle 2 idealtypische Verortung unterschiedlich ausfallen und auf Basis der professionellen Expertise eines Lehrkräfteteams unterschiedlich digital kuratiert werden müssen. Dazu werden in der Erprobungsphase des Konzeptes ab dem Schuljahr 2024/25 verschiedene Modelle erprobt, evaluiert und in Best-Practice-Workshops vorgestellt.  

Auf Basis ihres Literaturreviews, in dem 28 Beiträge zum Blended Learning in der Berufsbildung näher untersucht worden sind, stellt das Autorenteam um Ebner et al. (2023a) fest: „Bezüglich der Verteilung der Lerninhalte auf die Präsenz- und Selbstlernphasen lässt sich aus der vorhandenen Literatur keine allgemeingültige Schlussfolgerung ziehen” (Ebner et al,, 2023b, S. 30). Dennoch liefert dieser Literaturreview wichtige Hinweise zum Kuratieren der unterschiedlichen Phasen für Lehrkräfteteams. Weitere Hinweise finden sich in Veröffentlichungen zur Digitalisierung des Präsenzunterrichtes in der beruflichen Bildung (Anders & Usinger, 2023; Pittich & Tenberg, 2020; Ebner et al., 2023a). Zum Wechsel von Präsenz- und Selbstlernphasen finden sich folgende Empfehlungen:

  • Eine systematische Verzahnung der Phasen muss erfolgen, dabei sind Redundanzen zu vermeiden.
  • Selbstlernphasen sind durch eine diskrete und geführte Wissensvermittlung und integrierte Feedbacks zu unterstützen und Kompetenzerwartungen vorab zu präzisieren.
  • Selbstlernphasen eignen sich besonders im Sinne remedialen Lernens zur übenden Wissens- und Handlungsvertiefung, aber auch zum Praxistransfer in komplexen Anwendungsaufgaben.
  • Selbstlernphasen sind zeitlich zu begrenzen und in Präsenzphasen vor- und nachzubereiten.
  • Selbstlernphasen eignen sich besonders zur Homogenisierung des Vorwissens durch Selbstlernmaterialien.
  • Präsenzphasen sind von großer Bedeutung für den sozialen Austausch und für die Diskussion und Reflexion von Lernergebnissen und Handlungsprodukten.
  • Präsenzphasen als Kick-Off eignen sich zur Erfassung von Erwartungen, Befürchtungen und Kompetenzen der Lerner.
  • Im Kick-Off werden Arbeitsaufträge, Jour-Fixes und Lerngemeinschaften vereinbart.
  • Kick-Out als abschließende Präsenzphasen eignen sich besonders zur gemeinsamen Reflexion und zur Analyse, Übertragung, Verallgemeinerung und Schlussfolgerung der individuellen und /oder kollaborativen Lernergebnisse (vgl. Ebner et al., 2023, S. 30ff.).

Zur strukturellen Dimension des Kuratierens digital hinterlegter Lernprozesse im lernfeldorientierten Unterricht wird die Kompetenzorientierung in den Vordergrund gerückt. Ziel der beruflichen Bildung ist es, dass Lernende in die Lage versetzt werden, berufliche Handlungen selbständig zu planen, durchzuführen, zu kontrollieren und zu bewerten. Damit ist zentral die Förderung beruflicher Handlungskompetenz als Aufgabe an Lehrkräfte im beruflichen Unterricht adressiert. Im Einzelnen haben Lehrkräfteteams die Aufgabe, Kompetenzerwartungen festzulegen und Methoden sowie (digitale) Medien entsprechend der Kompetenzentwicklung vor dem Hintergrund der individuellen Lern- und Kompetenzvoraussetzungen der Lernenden auszuwählen und zu gestalten. In ihrem Modell der “Berliner Didaktik 2.0” gehen Slopinski und Steib darüber hinaus und begründen drei Entscheidungsdimensionen, die in einer Kultur der Digitalität für die Gestaltung von Lehr-Lernsituationen bedeutsam sind: 1. die Entscheidungsdimension Kompetenzorientierung, welche die Förderung beruflicher Handlungskompetenz als beruflichen Lernens fokussiert, 2. die Entscheidungsdimension Konstruktionsorientierung als entscheidende Kategorie der Planung und Analyse komplexer Lernarrangements und 3. die Entscheidungsdimension  Digitalität als Anpassung und Aufwertung des Entscheidungsfeldes Medien in (vgl. Slopinskik & Steib, 2023, S. 9–10).

Diesen Ansatz verfolgt auch die Unterstützung des Pädagogischen Landesinstituts Rheinland-Pfalz im Bereich der Beratung für Lehr- und Lernkultur oder die Ausbildung in den Studienseminaren, in dem auf Ergebnisse der rheinland-pfälzischen Modellversuche “Kool BBS” und “EQuL” zurückgegriffen wird. Hierbei wird ein Lernfeld durch das Team zunächst in Lernsituationen sequenziert, deren Ausgangspunkte berufliche Handlungssituationen sind. Die Modellierung von Lernsituationen erfordert in einem ersten Schritt die Analyse der angestrebten Kompetenzen sowie Überlegungen zu möglichen bedeutsamen Handlungssituationen, welche die Ausbildung in diesem Lernfeld leiten können und rückt somit die Kompetenzorientierung in den Vordergrund. Lernjobs (die in Rheinland-Pfalz teilweise auch als Lernaufgaben bezeichnet werden) strukturieren die Bearbeitung der Lernsituation nach den Stufen der beruflichen/lebensweltlichen Handlung, wie sie in der Realität tatsächlich durchlaufen werden müssen. Dabei kann für jeden Handlungsschritt ein Lernjob erstellt werden, es können gleichwohl auch Handlungsschritte in einem Lernjob zusammengefasst werden. Besonders Lernjobs ermöglichen es, das Anforderungsniveau zu differenzieren, indem beispielsweise mehr oder weniger Strukturen oder Informationen vorgegeben werden, der Komplexitätsgrad angepasst wird oder der Grad der Offenheit variiert. In diesem Zusammenhang muss das Lehrkräfteteam im Sinne der Konstruktionsorientierung Entscheidungen zur methodischen Ausgestaltung treffen und festlegen, ob in einem Handlungsschritt einer Lernsituation mehrere Lernjobs z. B.auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus zur Bearbeitung angeboten werden, ob und in welcher Zusammensetzung Lerngruppen Lernjobs kooperativ oder kollaborativ bearbeiten und ob fakultative Lernjobs als Wahlaufgaben für schnelle Lernende angeboten werden. Das Kuratieren einer Lernsituation in digital abrufbare Lernjobs ermöglicht somit eine Abkehr vom homogenen “one-size-fits-all-Prinzip”, welches gleichbedeutend dem “7-G-Prinzip” ist, bei dem die gleichen Lernenden bei der gleichen Lehrperson im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen Tempo die gleichen Aufgaben mit dem erwartbar gleichen Ergebnis lösen sollen (vgl. Anders & Usinger, 2023, S. 41).

Neu ist die Entscheidungsdimension “Digitalität”, welche den Begriff der Medienauswahl ersetzt und von zentraler Bedeutung für die digitale Ausgestaltung der Lernjobs mit Informationstexten, öffentlich zugänglichen oder vom Lehrerteams erstellten Lernvideos, Kriterienkatalogen zur Selbsteinschätzung, Animationen, Selbstreflexionsaufgaben in Form von Selbstüberprüfungstests und weiterführenden Links ist. Diese Ausgestaltung ist in Hinblick auf die „innere und äußere Konsistenz des Gesamtarrangements” (Pittich & Tenberg, 2020, S. 22) didaktisch-methodisch begründet vorzunehmen, um die Lernenden in die Lage zu versetzen, diese selbständig und für den Kompetenzaufbau zielführend und widerspruchsfrei nutzen können. „Ähnliches gilt für die Übergänge zum Unterricht in unmittelbarer Lehrer*Innen-Interaktion: Diese müssen stimmig und nachvollziehbar sowie ohne Brüche oder Redundanzen sein” (Pittich & Tenberg, 2020, S. 22). Weiterhin gilt es, notwendige Kompetenzen in einer “Kultur der Digitalität” zu fördern. Für den Begriff digitale Kompetenz hat sich auch im deutschsprachigen Raum der Begriff “Digital Literacy” etabliert, der in einer kurzen Definition verstanden werden kann als die Fähigkeit, Informationen aus digitalen Medien zu finden, zu bewerten, selbst auszugestalten und zu kommunizieren. Hier haben Lehrkräfteteams die Aufgabe, die Lernenden insbesondere im kritischen und reflexiven Umgang mit digital vernetzten Medien zu begleiten.

Professionell agierende Lehrkräfte gestalten somit im Ergebnis den von ihnen gemeinsam im Team verantworteten Bildungsgang und kuratieren digitale Lehr-Lernaktivitäten. Dabei verorten sie die gleichrangigen Formate Präsens- Hybrid, Distanz- und Selbstlernphasen in den Bildungsgang. Sie sequenzieren alle Lernfelder in digital abrufbare und kompetenzorientierte Lernsituationen, deren Ausgangspunkt immer konkrete berufliche Handlungen von Arbeits- und Geschäftsprozessen sind. Diese Lernsituationen werden durch Lernjobs konkretisiert, die in ihren Anforderungsniveaus variieren.

2.3.3 Übernahme der Rolle als Lernprozessbegleiter/Lernprozessbegleiterin

Sorgfältig kuratierte und digital bereitgestellte Lernsettings führen zu einer Individualisierung und Personalisierung des Lernprozesses. Einzelne Lernende, Lerngruppen oder -teams bearbeiten weitestgehend selbstgesteuert digital verfügbare Lernjobs in unterschiedlichen Lerntempi, ggf. in verschiedenen Lernräumen unter Nutzung unterschiedlich bereitgestellter oder selbst recherchierter Informationsquellen mit eigenen individuellen Handlungsergebnissen, deren methodisch-mediale Präsentation sie zunehmend selbst festlegen. Dabei werden sie von einem Lehrkräfteteam betreut. Die direkte Instruktion tritt weitestgehend zugunsten einer aktiven Rolle bei der Konstruktion des Wissens durch die Lernenden in den Hintergrund. Lehrende haben dabei nicht die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern die Lernenden bei ihrem aktiven Konstruktionsprozess der Wissensaneignung – welcher gemeinhin als „Lernen” bezeichnet wird – zu unterstützen, indem sie diesen Prozess aufmerksam begleiten. Digital hinterlegte Lernsettings schaffen Zeitkontingente für Lehrkräfte zu einer aktiven Lernprozessbegleitung, da die Lernenden ihren individuellen Lernweg beschreiten und die Lehrkraft nicht mehr im Fokus des Lerngeschehens steht. Die Lernbegleitung sollte sich auf ein Maß der bedarfsgerechten Unterstützung beschränken, die die Lernenden in die Lage versetzt, selbständig und eigenverantwortlich zu arbeiten. Die bedarfsgerechte Unterstützung bezeichnen Pittich und Tenberg als „Scaffolding und Fading” (Pittich & Tenberg, 2020, S. 23). Unter Berücksichtigung des individuellen Kompetenzniveaus geben die Lehrkräfte nur notwendige Hinweise und Impulse, ohne fertige (Teil)Lösungen zu präsentieren. „Scaffolding bedeutet hier, individuelle Begleitstrukturen aufzubauen, die nur dort helfen, wo es erforderlich ist, nicht aber Lern- oder Orientierungsleistungen der Schüler*innen zu kompensieren” (Pittich & Tenberg, 2020, S. 23). Beim „Fading” werden anfänglich ausgeprägte Unterstützungsangebote durch die Lehrkraft in ihrer Rolle als Seniorpartner im fortschreitenden Lernprozess sukzessive verringert und eine zunehmende Selbstorganisation sowie -steuerung des Lernprozesses durch den Lerner ermöglicht. 

Professionell agierende Lehrkräfte entlasten sich von der permanenten Doppelrolle als Fachwissenschaftler, Fachdidaktiker in klassischen Unterrichtsstunden, indem sie auf Basis ihrer fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Expertise gemeinsam im Team Lernsettings für unterschiedliche Lernphasen im Vorfeld des Unterrichtens (oder besser: der Lernprozessbegleitung) kuratieren. In der Kontaktzeit mit den Lernenden fokussieren sie sich “nur” auf eine bedarfsgerechte Unterstützung der Lernenden und übernehmen damit die Rolle als Lernprozessbegleiterin bzw. Lernprozessbegleiter.

2.4 Assessmententwicklung

In der Entwicklungsstufe I verändern sich Lernstandserhebungen und Prüfungspraktiken. Während sich seit der Einführung des Lernfeldkonzeptes seit dem Jahr 1996 bereits zunehmend handlungskompetenzorientierte Prüfungsformate in der beruflichen Bildung etabliert haben, beginnt durch die Digitalisierung von Lernprozessen die Nutzung von vielfältigen neuen Assessments an Bedeutung. Assessment wird dabei verstanden als eine systematische Sammlung und Analyse sowie Auswertung von Informationen über den Lernstand und die Entwicklung von Lernleistungen über einen längeren Prozess. Ein effektives Assessment hilft Lehrkräften, die Bedürfnisse der Lernenden in den Blick zu nehmen und individualisierte bedarfsgerechte Unterstützung anzubieten. Informationen aus dem Assessment sind jedoch nicht in erster Linie an die Lehrkraft adressiert, sie dienen insbesondere auch als Standortbestimmung für die Lernenden, die sie in die Lage versetzen, ihre Lernausgangslage und individuelle Kompetenzentwicklung selbstreflexiv zu überprüfen (vgl. Seufert & Tarantini, 2022, S. 320). Als Basis dafür können Kompetenzraster zur Selbsteinschätzung dienen, die für jedes Lernfeld durch Lehrkräfteteams entwickelt werden. Im Lern-Management-System können digitale Werkzeuge und Plattformen für die Assessmententwicklung mit den grundsätzlichen Vorteilen digital bereitgestellter Tools genutzt werden. Sie sind:

  • flexibel, indem Lernende sie zeit- und ortsunabhängig nutzen können,
  • adaptiv, indem sie auf den individuellen Lernstand und die Bedürfnisse der Lernenden angepasst werden können,
  • effizient, da sofortiges Feedback durch automatisierte Bewertungen den Lernprozess beschleunigt,
  • skalierbar, indem Lernfortschritte digital dokumentiert werden können.

Grundsätzlich lässt sich zwischen formativen und summativen Assessments unterscheiden. Formative Assessments sind in den Lernprozess integriert und ermöglichen den Lernenden und Lehrenden ein kontinuierliches Feedback. Sie können in Form von digitalen Tests und Quizzes bereitgestellt werden. Diskussionsforen und Blogs helfen, zeit- und ortsunabhängig Verständnisfragen zum Lernprozess zu beantworten, Peer-Reviews ermöglichen Feedbacks zwischen den Lernenden. Die zunehmende Verbreitung KI-basierter Assessmenttools wird weitreichende Möglichkeiten bieten, sodass kurzfristig mit Effekten für eine schnelle Erreichbarkeit der Entwicklungsstufe II des Reifegradmodells erwartbar sind. Dazu gehören insbesondere “intelligente tutorielle Systeme” (vgl. Bacia et al., 2024).

Summative Assessments werden am Ende eines Lernabschnitts durchgeführt, um die Gesamtheit des Gelernten zu bewerten. Um kumulierte Wissensbestände zu bewerten, sind digitale “Kick-out”- oder “End-of-course”-Tests und -Quizzes möglich, haben aber den Nachteil, dass sie keine Kompetenzen abbilden, sondern Wissen abfragen. Zur Dokumentation der Kompetenzentwicklungen eignen sich Projektarbeiten und Portfolios. Eine neuere Form eines summativen Assessment bietet sich durch Gamification. Gamification ermöglicht in Form eines fallbasierten Designs, komplexe Aufgaben innerhalb eines Gesamtprojektes zu bearbeiten.

Professionell agierende Lehrkräfteteams nutzen verschiedene Methoden und Medien formativen und summativen Assessments, da die Überprüfung der Leistungen in digitalen Lernumgebungen vielfältig, flexibel und adaptiv sein sollte. Dabei wählen sie Formate aus, die sowohl die individuellen Lernfortschritte und die Kompetenzentwicklung als auch die Zusammenarbeit und Kommunikationsfähigkeiten der Lernenden berücksichtigen und abbilden. Insbesondere die Nutzung digitaler Assessment-Tools kann zur Attraktivitätssteigerung des Lehrkräfteberufes beitragen, da sie sehr effizient sind. Anamnese- und Evaluationsprozesse können weitestgehend automatisiert erfolgen, was zu einer enormen Zeitersparnis führt.

 Attraktivitätssteigerung des Lehrkräfteberufs Attraktivität bedeutet Anziehungskraft und beschreibt etwas, das starken Anreiz oder Anziehung bietet. Sie wird individuell unterschiedlich bewertet, ist deshalb subjektiv und hängt von Erwartungen der betrachtenden Person ab. Als subjektive Kategorie unterliegt sie kultureller Sozialisation und gesellschaftlichem Wandel, weshalb das Label „attraktiv“ z. B. generationenübergreifend abweichend Verwendung findet. Stellt man die Frage nach der Attraktivität oder Attraktivitätssteigerung des Lehrkräfteberufs muss gleichzeitig die Frage mitgestellt werden: Für wen ist dieser Beruf unter den oben beschriebenen Charakteristika attraktiv? Die im Kapitel 2 ausführlich beschriebenen vier Entwicklungsebenen des verwendeten Reifegradmodells “Entwicklung von Unterrichtsorganisationsformen”, “Entwicklung von Infrastruktur und Technologie”, “Entwicklung des schulischen Personals” und “Assessmententwicklung” gestatten eine in Form von Thesen geschärfte Herausstellung dessen, worauf sich perspektivische eine Steigerung der Attraktivität des Lehrkräfteberufs ergeben könnte. Hierzu gehören Folgende:

  1. Die Möglichkeit, Lernprozesse in Teilen zeit- und ortsunabhängig durchzuführen, eröffnet prinzipiell die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und somit den Arbeitsalltag der einzelnen Lehrkraft in Absprache mit dem Team flexibler zu gestalten.
  2. Eine teambasierte Aufbauorganisation führt zu flachen Hierarchien und eröffnet Lehrkräften autonome Gestaltungsspielräume in einem eigenen Verantwortungsbereich.
  3. Die aktive Mitarbeit in einem Team führt zu einer Verbesserung der Unterrichtsqualität durch kollektive Planung und Konzeptentwicklung und entlastet von der “Allzuständigkeit” einer einzelnen Lehrkraft in der Vorbereitung und Durchführung von Lehr-Lernprozessen und im Bildungsgangmanagement.
  4. Das Kuratieren von Lernsettings und Assessments durch kollektive Erarbeitung und digitale Aufbereitung führt zu einer Erhöhung der Arbeitseffizienz durch Kompetenz- und Arbeitsteilung, da nicht mehr jede Unterrichtseinheit von einer Lehrkraft methodisch entwickelt und medial aufbereitet werden muss.
  5. Die konsequente Nutzung von Lern-Management-Systemen führt zu einer Zeitersparnis, indem wiederkehrende Arbeitsprozesse wie die Bereitstellung von Lernmaterialien automatisiert werden. In der Kontaktzeit mit den Lernenden bleibt somit Zeit für eine aktive Lernprozessbegleitung in Form bedarfsgerechter Unterstützung.
  6. Unterrichtsferne Tätigkeiten, wie das Bildungsgangmanagement und administrative Aufgaben werden über das Lern-Management-System betrieben, sodass Termine, Anschreiben, Arbeitsunfähigkeitsbeschreibungen etc. digital abgelegt werden und orts- und zeitunabhängig verfügbar sind. Das führt zu einer enormen Reduzierung unterrichtsferner Tätigkeiten.
  7. Umfassend digital hinterlegte, kompetenzorientierte Lernsituationen, die in Lernjobs sequenziert sind, ermöglichen einen individuellen Kompetenzaufbau und personalisierte Lernpfade, wodurch Lernwirksamkeit gesteigert wird und Unterrichtszeit effektiv nutzbarer wird.
  8. Digitale Assessments entlasten die Lehrkraft, da sie flexibel, zeit- und ortsunabhängig genutzt werden können. Sie ermöglichen effizient und automatisiert Feedback und liefern skalierbare und verlässliche Aussagen über Lernzuwächse, sodass adaptive Lernsettings bereitgestellt werden können.

Der Antwort auf die Frage, für wen die hier thesenartig beschriebene berufliche Tätigkeit attraktiv ist, bzw. attraktiv sein könnte, kann sich über die im einleitenden Kapitel vorgenommene Unterscheidung zwischen nostalgischer Verhinderungskultur und fortschrittlicher Gestaltungskultur weiter genähert werden. Lehrkräfte die in der erstgenannten Kultur verhaftet sind, werden die beschriebenen Veränderungen in ihrer nostalgischen Betrachtung als wenig attraktiv bewerten. Lehrkräfte hingegen, die eine fortschrittliche Gestaltungskultur positiv erleben, werden den beschriebenen Gestaltungsanspruch und die Gestaltungsverantwortung durch digitale Transformation leichter annehmen und ihr professionelles Handeln entsprechend anpassen können, um die nächsten digitalen Entwicklungsstufen mit ihrem Team zu erreichen.

Somit lässt sich konstatieren, dass digitalisierungsaffine Lehrkräfte – die bereits gegenwärtig in der Lage sind, auf Basis ihrer fachlichen und pädagogischen Kompetenzen fachdidaktisch begründet Lehr-Lernprozesse digital aufzubereiten, sodass sie die Handlungskompetenzen der Lernenden fördern – die hier beschriebenen Entwicklungsanforderungen als attraktiv empfinden. Dies gilt auch für „Teamplayer“, die ihre individuellen digitalen Kompetenzen als „Digital Immigrants“ (Prensky, 2001) ausbauen möchten und gemeinsam mit digitalisierungsaffinen Lehrkräften den Digitalisierungsprozess positiv begleiten. Arbeiten sie in einem Lehrkräfteteam, in dem jede einzelne Lehrkraft ihr individuelles Professionswissen einbringt, lässt sich auf Basis der individuellen Stärken eine gemeinsame positive Haltung entwickeln, um den verantworteten Bildungsgang autonom und digitalisierte Lehr-Lernprozesse gemeinsam zu gestalten.

Darüber hinaus kann die dargestellte Veränderung der Lehrkräftetätigkeit den Beruf auch für Personengruppen attraktiver machen, die sich zunächst für einen anderen Beruf entschieden haben, aber ihre berufliche Expertise gewinnbringend in die Ausbildung künftiger Fachkräfte einbringen möchten. Hierzu gehören z. B. Personen, die aus anderen berufsfeldaffinen Branchen in den Lehrberuf an berufsbildenden Schulen wechseln möchten und von den modernen digitalisierten Arbeitsmethoden und Entwicklungen unter dem Stichwort „New Work“ (vgl. Faßauer & Berner, 2024; Stausberg & Schmidt, 2024) profitieren, da sie ihren bisherigen Berufserfahrungen und Kompetenzen entsprechen. Dies gilt insbesondere für technikbegeisterte berufserfahrene Quereinsteiger mit Interesse für technische Mangelfächer.

Attraktiv sind die aufgezeigten Veränderungspotenziale, der in diesem Beitrag aufgezeigten Entwicklungsbereiche auch für jüngere Generationen, die als sogenannte “Digital Natives” in einer digitalisierten Lebenswelt aufwachsen, in der digitale Technologien für nahezu alle Bereiche zur Verfügung stehen (vgl. Prensky, 2001, Gerholz, 2021). Da ihnen digitale Kommunikation und ein sofortiger Zugang zu digitalen Inhalten wichtig ist, kann sich ein modernes, technologisch unterstütztes Bildungsumfeld mit flexiblen Gestaltungsspielräumen auch dieser Gruppe als attraktiv darstellen. Lang konstatiert in seinem Aufsatz unter dem Stichwort „Systemwechsel“ einen seit Jahren anhaltenden Lehrkräftemangel und stellt die Frage: „Wie kann der Lehrberuf für die Generation Z attraktiver werden“? (Lang, 2022, S. 16). Dabei stellt er u. a. fest, dass der Arbeitsplatz modern und digital sein muss und der Arbeitsbereich in (multiprofessionellen) Teams) autonom und in eigener Verantwortung gestaltet werden können muss, wozu auch das bisher nicht ausgereizte Potenzial hybrider Unterrichtsgestaltung gehört (Lang, 2024, S. 19–20).

Zusammenfassend lassen sich vier Personengruppen identifizieren für die der Lehrkräfteberuf unter den aufgezeigten Veränderungen attraktiver sein wird:

  1. aktuell im Dienst befindliche digitalisierungsaffine Lehrkräfte,
  2. aktuell im Dienst befindliche Lehrkräfte, die als Teamplayer und „Digital Immigrants“ individualisiertes Lernen ermöglichen möchten,
  3. berufserfahrene Quereinsteiger als potentielle Lehrkräfte,
  4. „Digital Natives“ jüngerer Genrationen als potentielle Lehrkräfte

Literatur

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Zitieren des Beitrags

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Veröffentlicht am 13. März 2025