bwp@ Ausgabe 12 - Juni 2007

Qualifizierung von Berufs- und Wirtschaftspädagogen zwischen Professionalisierung und Polyvalenz

Hrsg.: Tade Tramm & H.-Hugo Kremer

Berufsbiographische Selbstreflexion als Beitrag zur berufspädagogischen Professionalisierung. Zur Erinnerung an WOLFGANG WIRSICH (1948-2006)

Nachfolgend wird versucht, die hochschuldidaktische Konzeption eines früh verstorbenen Kollegen zusammenhängend darzustellen, die dieser zwar als Dozent an der TU Berlin entworfen und jahrelang – zeitweise in gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit dem Verfasser – erprobt und weiterentwickelt, nicht aber durch Veröffentlichungen verbreitet hat, so dass interessierte Berufspädagoginnen und Berufspädagogen sie mühelos aufgreifen, rezipieren, anwenden, abwandeln und vervollkommnen könnten.
Sein Ansatz erscheint besonders geeignet zur Förderung jener Studierenden der Berufspädagogik, die vor, neben oder/und nach einem ingenieurwissenschaftlichen oder ähnlichen Studium eine betriebliche Ausbildung absolviert und/oder eine entsprechende Erwerbstätigkeit ausgeübt haben. Er läuft darauf hinaus, berufliche und betriebliche Ausbildungs- und Arbeitserfahrungen der Studienanfänger nicht – verunsichernd und entmutigend – durch wissenschaftliche ‚Wahrheiten’ zu entwerten, sondern sie als biographische Ressourcen aufzugreifen, zu reflektieren, anzuerkennen und schrittweise in professionelle berufspädagogische Handlungspotentiale zu transformieren, die die Absolventen als Lehrkräfte, Ausbilder und Berater wirksam einzusetzen vermögen.
Nach der Einleitung (1), einer biographischen Skizze (2.1) sowie Hinweisen auf den Entstehungskontext der Konzeption (2.2) wird diese präzisiert (3.1), illustriert (3.2) und evaluiert (3.3). Zudem wird über deren weitere Verwendung spekuliert (4).

Reflection on one’s own professional biography as a contribution to the professionalisation of vocational teachers In memory of Wolfgang Wirsich (1948-2006)

English Abstract

This paper attempts to present, in a coherent manner, the conception of higher education pedagogy developed by a colleague whose work was cut short by his premature death. He worked as a lecturer at the TU Berlin and developed this conception in that context, tested and developed it over many years, in part in co-operation in joint seminars with the author of this article. However, it was not disseminated through publications, so that interested vocational education trainers could not, until now, easily pick it up, adapt it, apply it, modify it and perfect it.
His approach seems particularly suited to supporting those students of the pedagogy of vocational training who had completed an in-company apprenticeship and/or had been employed in a corresponding field before, during or after completing a degree in engineering or another similar discipline. The basic core of the concept is not to devalue the professional and in-company training and employment experience of the students beginning their courses through academic and scientific ‘truths’, which is disconcerting and discouraging. Rather, the aim is to engage with those experiences as a biographical resource, reflect on them, recognise them and, step-by-step, transform them into professional and vocational potential which can be used effectively by the graduates as teachers, trainers and advisers.
Following an introduction (1), a biographical outline (2.1), as well as some indicators of the context within which the concept was developed (2.2), the concept is presented in detail (3.1), illustrated (3.2) and evaluated (3.3). Finally, the paper concludes with some considerations about potential future further uses for it.

1 Zum Thema:

Das hochschuldidaktische Vermächtnis eines pädagogisch begnadeten Kollegen

Sozialwissenschaftler sind bekanntlich auf kommunikative Kompetenzen angewiesen:

  • Als Forschende in disparaten Handlungsfeldern sehen sie sich immer wieder genötigt, wildfremde Menschen, Angehörige verschiedenster sozialer Milieus und Schichten als Informanten über ihr Leben und ihre Lage, ihre Fähigkeiten und Orientierungen zu gewinnen und zu beanspruchen. Um Kontakte mit den zu befragenden und zu beobachtenden Personen und Gruppen anbahnen, eine Vertrauensbasis schaffen, diese in Gesprächen, Interviews, Diskussionen und Beobachtungen nutzen, festigen und auch über heikle Punkte und schwierige Situationen hinweg aufrechterhalten zu können, müssen sie einfühlsam und taktvoll, umgänglich und gewandt agieren, imstande sein, Zweifel zu zerstreuen, Missverständnisse zu klären und Widerstände zu überwinden.
  • Als Lehrende an Hochschulen haben sie vielfach ähnliche Probleme zu meistern:
    Zwar stehen sie hier in der Regel einer homogeneren Klientel gegenüber;
    dafür ist aber die Diskrepanz zwischen den zu vermittelnden abstrakten und/oder komplexen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Fragestellungen der Dozenten und den diesbezüglichen einfachen, meist konkretistischen Überzeugungen, die die Studierenden aus ihrer Arbeits- und Lebenswelt ins Studium mitbringen –
    oft eingefleischten ‚Selbstverständlichkeiten’ des ‚gesunden Menschenverstands’ der Mitglieder ihrer Herkunftsgruppen – ähnlich groß;
    verlangt werden deshalb auch hier erhebliche Übersetzungskünste und eine entsprechende Flexibilität situationsadäquater Wahrnehmung und Eloquenz.
  • Als Forschende und Lehrende sind sie zugleich ständig auf soziales Lernen Denn Sozialforschung, die sich nicht mit der ermüdenden Prüfung präzise vorformulierter Hypothesen nach kodifizierten Regeln methodisch kontrollierter Datensammlung und -analyse im sogenannten Begründungszusammenhang begnügt, sondern – im ‚Entdeckungszusammenhang’ auf substanzielle Erkenntnisse kapriziert – um die Erhellung bisher dunkler Punkte und Enthüllung zuvor unbekannter Zusammenhänge bemüht – solche Forschung ist immer an soziales Lernen gebunden, ja fällt mit ihm zusammen (während das Umgekehrte nicht gilt, weil wir nur zu begreifen vermögen, was wir für uns selbst wie neu entdecken, und sei es anderen auch seit langem bekannt; weswegen von „forschendem Lernen“ nur im vorigen Falle zu sprechen wäre). Auch die lehrende Vermittlung schon gewonnenen sozialen Wissens kann nur soweit gelingen, wie die Lehrenden sich auf die ‚Wellenlänge’ der Lernenden einlassen, sie nicht nur zu belehren trachten, sondern sich auch mit ihnen austauschen, also deren ihnen fremde ‚Wahrheiten’ zumindest zeitweise unzensiert auf sich wirken lassen und mit ihnen wie mit Menschen interagieren, von denen auch sie etwas über sich sowie ihre wechselseitigen Beziehungen erfahren, also ebenfalls lernen können.

Solche kommunikative Leistungen und die ihnen zugrundeliegenden Fähigkeiten aber bestimmen kaum sozialwissenschaftliche Karrieren. Hierfür zählen eher Publikationen in renommierten Fachzeitschriften (über deren Zitierung in ebensolchen Organen der „Social Science Citation Index“ laufend berichtet) und andere mehr monologische Inszenierungen der eigenen Person. Weil beides – entgegen leichtfertigen Behauptungen einzelner erfolgreicher (meist sehr wendiger, manchmal auch etwas ‚windiger’) Kollegen – zumindest nicht durch­gehend korreliert, geraten Sozialwissenschaftler, die sich der in größeren Forschungs­projekten üblichen hierarchischen Arbeitsteilung beharrlich widersetzen, indem sie sich auch noch als „senior fellows“ immer wieder in die Niederungen konkreter Feldarbeit herablassen und daher nicht genug dazu kommen, regelmäßig als Autoren von Artikeln in Journalen des bezeichneten exklusiven Genres und höheren Ranges zu brillieren, ebenso ins Hintertreffen wie jene, die sich mehr der Lehre und den Studierenden widmen als fortgesetzt zu forschen, und andere, die weltweit beachtete Fachkonferenzen eher schwänzen, als dort vor Ihres­gleichen zu glänzen, und die ihr internationales Image, ihre globale „visibility“ auch sonst nicht sonderlich kultivieren, nicht permanent polieren.

Die karriererelevant diskriminierende Akzentuierung sozialwissenschaftlicher Biographien spiegelt nicht allein unterschiedliche subjektive Vorlieben und Abneigungen der betreffenden Wissenschaftler wider, deutet auch nicht nur auf soziale Moden und individuelle Idiosynkra­sien; sie ist zudem auf divergente persönliche Stärken und Schwächen zurückzuführen. So habe ich während der längsten Zeit meines Berufslebens nicht nur mehr geforscht als gelehrt und lieber geschrieben als gesprochen, mir daher auch bis heute kaum erklären können, warum mancher Kollege, der in komplexen psychosozialen Problemsituationen so schnell, wie es der jeweils erwartete Redefluss verlangt, etwas Treffendes zu sagen vermag, am Schreibtisch vor einem weißen Bogen (oder Bildschirm) sitzend, in Panik gerät, die sein Denken blockiert oder im Leerlauf rotieren lässt, statt die Freiheit von lästiger Hetze und bedrängenden Zumutungen zu genießen und die Gelegenheit zu ungehemmter gedanklicher Entfaltung und virtuoser Textgestaltung zu nutzen.

Damit ist bereits etwas über das Charisma, aber auch über die Schwierigkeiten WOLFGANG WIRSICHs angedeutet, über dessen Wirken und Werk als Hochschullehrer ich hier einiges berichten will. Auch darüber, wie wir einander ergänzten:

  • wie er in so mancher Seminarsitzung strandende Diskussionen und andere stockende Kommunikationsprozesse durch das rechte Wort zur rechten Zeit zu retten verstand, aber keine beeindruckende Publikationsliste hinterließ,
  • während ich zwar in meiner Studierstube, von der Hoffnung auf überraschende Einfälle beflügelt, der Vorfreude auf treffende Formulierungen getrieben und der Jagd nach gewagten Metaphern fasziniert, eilends seitenlange Überlegungen meinem Computer anvertraute, sie aber später, im Seminar, nur stockend und mürrisch mit wenigen dürren Worten kommentierte, mich fragend, ob meine Hörer denn nicht lesen könnten, um von meiner doch weitaus ‚schöneren’ Schreibe (die zudem bald in gedruckter, zitierbarer Form vorliegen würde) sehr viel mehr als von dieser dürftigen Diktion zu profitieren.

Weswegen ich nun versuchen möchte, kohärenter, auch hörbarer respektive sichtbarer, als es ihm vergönnt gewesen ist, über einen Wesenszug seiner Konzeption zu informieren, den ich als deren Zentrum und Kern betrachte, zumindest für ihre originellste Komponente halte, und von hier aus den Aufbau und Ablauf und einige Ergebnisse seiner eigenen und unserer gemeinsamen Seminare sowie einen primär durch ihn gestalteten Curriculumentwurf zu illu­minieren, um dazu beizutragen, dass sein Werk sein Leben überdauert und weiterwirkt, so dass er, der hoffentlich auch das vorliegende Skript akzeptieren würde, wenigstens auf diese Weise weiterhin ‚zum Zuge kommen’ kann.

2 Hintergrundinformationen:
Biographische Skizze – Entstehungskontext der Konzeption

2.1 Zum Werdegang, Wesen und Wirken der Person:

Professionelle berufspädagogische Kompetenz und Effizienz als Produkt und Lohn lebendiger Verarbeitung vielfältiger biographischer Erfahrungen

Wer war WOLFGANG WIRSICH? Vergeblich alles Bemühen, ihn in einer jener Schubladen unterzubringen, die unsere Gesellschaft für die Sortierung von Menschen bereithält. Auch wenn wir sein Privatleben außer Acht ließen, kämen wir so nicht zurecht. Schon deshalb nicht, weil es ebenso unsinnig anmutet, zwischen seinem beruflichen und privaten Werde­gang zu trennen und uns mit seiner beruflichen Seite zu begnügen, wie es unmöglich erscheint, mit wenigen Worten beides einzufangen und mitzuteilen. Letzteres sei hier den­noch versucht – was auch immer dabei herauskommen mag.

Abb. 1

Also nochmals: Wer ist er wirklich gewesen?

  • War er zeitlebens nur der rastlose Wanderer zwischen zwei gegensätzlichen Welten:
    einem Reich der (vielleicht nur vermeintlichen) materiellen Notwendigkeiten,
    aus dem er kam, und
    einer anderen Sphäre der (womöglich ebenso illusionären) geistigen Freiheit,
    nach der er strebte?
    Zwischen denen er immer wieder wechselte,
    weil ihm weder die eine noch die andere allein behagte,
    sondern die jeweils andere ihn stets ebenso anzog und abstieß
    wie die eine, die ihn gerade jetzt faszinierte und frustrierte?
    Oder hat er nicht fortgesetzt weitere Grenzen überschritten, Horizonte aufgerissen,
    sich und seinesgleichen neue Räume erschlossen,
    bis die vormals getrennten Felder zu verschmelzen begannen?
  • Wie stellten die polaren Bereiche sich ihm vorrangig dar?
    • Verunsicherte ihn besonders der Kontrast zwischen den beklemmenden,
      allzu geordneten Verhältnissen jener süddeutschen Kleinstadt,
      wo er 1948, noch im Schatten der Not der Nachkriegszeit, geboren wurde und aufgewachsen war, seine Kindheit, Schul- und Lehrzeit verbrachte, einerseits,
      und dem schon wieder turbulenten Treiben und mondänen Milieu der Metropole,
      in die er 1967, knapp neunzehnjährig, kurz vor dem Höhepunkt der studentischen Kulturrevolution, entfloh und wo er sich seither überwiegend bewegte,
      als hätte er sich von seiner Herkunft emanzipiert, andererseits,
      er, der sich gleichwohl immer wieder fragte, ob es für ihn, Kind kleiner Leute,
      nicht vermessen sei, so weit nach oben zu streben, nach den Sternen zu greifen.
    • Oder wurde er primär durch einen anderen Gegensatz hin und her gerissen:
      durch die Kluft zwischen der harten Fron nicht enden wollender Fabrikarbeit,
      zwar nicht wie sein Vater, den der inkorporierte monotone Maschinentakt und die Geißel der im Akkord entlohnten taylorisierten Maloche noch als Rentner tyrannisierten, sondern ‚nur’ der gehobenen Form: qualifizierter Facharbeit,
      zu deren minutiös reglementierter Verrichtung er, der Sohn, zeit seiner mit Vierzehn begonnenen Lehre genötigt wurde und deren Zwang er sich soweit ‚einverleibte’,
      dass er sich ihr auch danach, sein Geld als gelernter Elektromechaniker verdienend, noch jahrelang unterwarf, obwohl sie ihn kaum minder malträtierte,
      als deren archaische Variante, die noch immer seinem Vater die Träume verdarb –

kurz: Quälte ihn vor allem die Kluft zwischen dieser übermächtigen Realität und der scheinbar unwirklichen Sphäre artifizieller Glasperlenspiele im relativen Freiraum (ökonomistisch noch nicht voll kolonisierter) wissenschaftlicher Institutionen mit ihren subtileren Ritualen und Repressionen?

Bewegte ihn in erster Linie dieser Widerspruch, ihn, der sich, nach wie vor, lieber ans Konkrete hielt als ans Abstrakte, mehr dem Körper als dem Kopf vertraute und freie, geistige Tätigkeit niemals ganz als Arbeit zu achten vermochte?

  • Oder wurde seine Entwicklung eher durch die Trennung
    zwischen dem wirklichen Leben und der „pädagogischen Provinz“
    vorangetrieben, durch die Isolation, die von 1970 bis 1978 seinen weiteren Werdegang bestimmte,
    als er nach dem Besuch einer Abendschule zum Erwerb der Fachschulreife
    (vor der Lehrzeit hatte er lediglich die Hauptschule abgeschlossen)
    ein insgesamt siebzehnsemestriges Studium absolvierte, während dessen er zwar vier akademische Abschlüsse kassierte, vom Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik über den Diplom-Volkswirt und den Diplom-Kaufmann bis zum Diplom-Handelslehrer,
    jedoch, so sehr er sich bei alldem auch um den Erwerb theoretischen Wissens bemühte, seine Wahrheit allein in den Erfahrungsberichten des Praktikers MAKARENKO erkannte (vgl. WIRSICH 1992, 1997)?
  • Denn: Wer er eigentlich sein könnte, das erfuhr er – endlich effektvoll lernend, weil gleichzeitig arbeitend – wohl erstmals in der folgenden Phase, in der er sich jahrelang als phantasievoller Projektentwickler und unerschütterlicher Krisenmanager bewährte.

Damals hat er – vom Studieren ebenso gründlich enttäuscht wie von seinen bisherigen Arbeitserfahrungen angewidert, auf der Suche nach neuen, selbstbestimmten, kooperativen Arbeits- und Lebensformen, die ihn mit anderen Menschen solidarisch verbinden sollten – der Welt der Wissenschaft und des verschulten Lernens zunächst (1978-1984) für sechs und später (1990-1998) für acht weitere Jahre den Rücken gekehrt, um wiederum praktischen, zugleich aber geradezu extrem erfahrungsträchtigen Beschäfti­gungen nachzugehen, und

  • während der ersten Phase im Rahmen der vom Berliner Senat betriebenen Maßnahmen der Stadtsanierung als Konsultant, Planer und Mitarbeiter,
    bald auch als Leiter gemeinnütziger Organisationen und Wirtschaftsbetriebe, insbesondere von Einrichtungen zur beruflichen Förderung benachteiligter Jugendlicher im Berliner Problembezirk Kreuzberg,
  • im zweiten Zeitraum als beratender Ingenieur und Gutachter bundesdeutscher Bildungshilfe in China, als Geschäftsführer einer großen Gesellschaft für Stadtentwicklung und als wirtschaftlich selbständiger Anbieter weiterbildungsrelevanter Leistungen für kleine und mittlere Betriebe, öffentliche Einrichtungen und soziale Organisationen

Aufgaben übernommen, die sich von seinen bisherigen,
durch technische, wirtschaftliche und bürokratische Zwänge determinierten Tätigkeiten durch ihre Dispositionsspielräume deutlich unterschieden:
ihm weitaus mehr Freiheit gewährten, aber auch viel mehr Verantwortung auferlegten.

  • Zwischendurch (1985-1990) und danach (1998-2005), das heißt bis zu seiner erneuten, angeblich unwiderruflichen Entlassung (der bald seine Erkrankung folgte)
    kehrte er an die Hochschule zurück, nun aber als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Lehraufgaben des Instituts für berufliche Bildung und Weiterbildungsforschung (später: für berufliche Bildung und Arbeitslehre) der TU Berlin betraut und
    als solcher offiziell gehalten, sich durch aktive Beteiligung an Forschungsvorhaben und als Leiter von Lehrveranstaltungen – also auch hier jetzt eigenverantwortlich tätig –
    höher zu qualifizieren, nach Möglichkeit zu promovieren.
    Während dieser Zeiten hat er
    • sich intensiv um die individuelle Förderung der dort studierenden Lehramtsanwärter, später auch der Teilnehmer am Aufbaustudiengang Diplom-Berufspädagogik bemüht, schließlich für Letztere die Hauptverantwortung getragen, sowie
    • über seine Lehrtätigkeit hinaus auch noch Probleme seiner vorhergehenden
      praktischen Bildungsarbeit wissenschaftlich untersucht und die Resultate
      in zum Teil umfangreichen, meist „grauen“ Veröffentlichungen dokumentiert,
    • es aber – immer noch eher ‚Feldarbeiter’ als ‚Schreibtischtäter’,
      wohl auch dem Habitus eines Doktoranden längst entwachsen –
      versäumt, eine Dissertation zu schreiben, auf dass er, mit dem Doktorhut ausgestattet, rechtzeitig von der Universitätsverwaltung jene unbefristete Anstellung zugesprochen bekomme, die ihm statt dessen verspätet,
      erst nach einer erfolgreichen Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht,
      von der TU-Bürokratie aufs Sterbebett nachgeworfen wurde.
  • Ebenso, wie er zu einer für ihn wenigstens halbwegs befriedigenden Synthese von Arbeiten und Lernen gelangte, hat er zielstrebig jene Distanz, die ihn immer wieder von einigen guten Freunden und ihren Familien trennte, zugunsten eines ausgewogeneren Verhältnisses von Privatheit und Nähe zu verringern vermocht:
    als einer der Protagonisten der Idee und Initiatoren der Realisierung einer Wohn- und Lebensgemeinschaft befreundeter Menschen, die zusammen ein Mehrfamilienhaus erwarben, ausbauten und bezogen, um darin miteinander alt zu werden und gegenseitig entsprechend dem jeweiligen Verhältnis von Kräften und Bedürfnissen zu unterstützen – eine Vereinbarung, deren existenzielle Bedeutung ihm,
    der sich auch als Mediator der dank seiner Vermittlung stets einvernehmlich endenden Auseinandersetzungen zwischen den Hausbewohnern bewährt hatte,
    spätestens nach seiner Erkrankung bewusst geworden sein muss, als diese ihm alle nötigen Hilfen großzügig gewährten und unter anderem seiner erwerbstätigen Frau und seiner studierenden Tochter die Sorge um seine täglichen Mahlzeiten abnahmen.

Doch das ist immer noch nicht alles. Denn war er nicht auch

  • der praktizierende Gestalttherapeut, dem eine 1992-1997 absolvierte berufsbegleitende Ausbildung es nicht nur erleichtert hatte, mit sich selbst besser zurechtzukommen,
    sondern auch half, mit anderen Personen zunehmend einfühlsam umzugehen,
    bis er schließlich sogar in kritischen Situationen gestalttherapeutischer Supervisionssitzungen immer häufiger ‚den richtigen Ton’ traf?
  • ...der „nachhaltige“ Lebensgefährte seiner späteren Frau und liebevolle Vater der gemeinsamen Tochter, die er nach ihrer Geburt über ein Jahr lang (1984/1985) als Hausmann umsorgte?
  • ...und – last not least – der leidenschaftliche Tangotänzer, der das erst spät entdeckte,
    dann aber schnell entwickelte Hobby nicht nur zu seinem Privatvergnügen betrieb,
    sondern sich um die feste Ansiedlung dieser aus Südamerika importierten Pflanze in der mitteleuropäischen Millionenstadt verdient machte, indem er in Berlin ein lateinamerikanisches Kultur- und Tanzzentrum konzipierte, aufbauen half und beriet?

All das war WOLFGANG WIRSICH und noch manches mehr – mehr, als hier auch nur auf­gezählt, geschweige denn im Einzelnen beschrieben werden kann. Erwähnt seien nur noch

  • seine ebenfalls eher späte und steile Karriere als Kunstmaler, dessen Bilder bald in einer Londoner Galerie ausgestellt wurden – in denen sich ein Potential manifestierte,
    das zwar schon vorher, fachlich-sachlich kanalisiert sowie medial verfremdet,
    insofern gebändigt und eher verstohlen, in seiner Fähigkeit zur Veranschaulichung komplexer technischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge zum Ausdruck gekommen war, aber erst voll hervortrat, nachdem er die zweckrationalistischen Zügel gekappt und die mediale Maske abgestreift hatte; und, endlich,
  • ein früher Hang zur Melancholie, der, bemerkenswert zu seinem mitreißenden
    Aktivismus’ kontrastierend, sich auch in seinen späteren Jahren nicht verlor,
    sondern die Zwiespältigkeit des Selbstgefühls als ein durchgängiges Wesensmerkmal
    des sonst so tatkräftigen Mannes markierte, das ihn jedoch – so scheint es jedenfalls –weniger lähmte als ihm den Zugang zu ähnlich leidenden Mitmenschen erschloss und ihn damit zu deren empathischem Ratgeber prädestinierte,
    der ihre Schwächen ebenso in Stärken umzuwandeln versprach und verstand,
    wie er sein Leiden in eine Quelle mitmenschlicher Hilfeleistung zu verwandeln vermochte – hierüber ist noch ausführlicher zu berichten.

So erwies sich auch der zuletzt genannte – für sich genommen eher kontraproduktive – Aspekt seines Erlebens als wichtiges Ingredienz jenes durch vielfältige biographische

Erfahrungen angereicherten, überaus fruchtbaren Nährbodens,

aus dem während des letzten Jahrzehnts – im Zuge der bewussten Verarbeitung und Fortsetzung seines eigenen Weges – die darzustellende Konzeption selbstreflexiv gelenkter berufspädagogischer Professionalisierung erwuchs. (Vielleicht hat sich darin zudem eine Vorahnung jener tückischen Krankheit angedeutet, gegen die er sich, nachdem sie endlich diagnostiziert worden war, bis zuletzt verzweifelt wehrte, weil er nicht wahrhaben wollte, dass ihm, der noch so vieles vorhatte, unausweichlich ein frühes Ende beschieden sein sollte.)

2.2 Der institutionelle Kontext der Genese seiner Konzeption:

Berufspädagogische Ausbildung angehender Gewerbelehrer und Diplom-Berufs­pädagogen an der TU Berlin

Bevor wir uns seinem Ansatz selbst zuwenden, sei noch etwas genauer auf die äußeren Bedingungen der Entstehung und Erprobung dieser Konzeption eingegangen: Wie erwähnt, wurden zur Zeit seiner Tätigkeit an der Technischen Universität Berlin zwei Kategorien von Berufspädagogen ausgebildet:

  • angehende Gewerbelehrer, umständlich als „technisch-wissenschaftliche Lehramtskandidaten“ bezeichnet oder – abgekürzt bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt – „TWLAKs“ genannt, sowie
  • prospektive Diplom-Berufspädagogen für die außerschulische berufliche Aus- und Weiter­bildung.

Die Anwärter auf das Lehramt an beruflichen Schulen absolvierten – wie ihresgleichen an den meisten Studienorten in der ‚alten’ Bundesrepublik – einen in den sechziger Jahren ebenso eilfertig wie unzulänglich eingerichteten, bis heute nur teilweise zufriedenstellend organisierten grundständigen, in ein Grund- und Hauptstudium unterteilten Studiengang von insgesamt mindestens 9 Semestern beziehungsweise 160 Semesterwochenstunden, von denen nur ein Achtel auf die Erziehungswissenschaft und eine andere Sozialwissenschaft entfiel.

Das war im Vergleich zu deren Ausbildung in den Fachwissenschaften, erst recht zu anderen sozial­wissenschaftlichen Studiengängen wie denen der Psychologen und Soziologen eine völlig unzurei­chende Basis für eine Promotion und damit ein strukturelles Handicap für die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Berufspädagogik. Als weiteres Manko dieser Ausbildung, das gerade auch im Hinblick auf den hochschuldidaktischen Ansatz WIRSICHs erwähnt werden sollte, erscheint die Mindestdauer der betrieblichen Praxis in der gewählten beruflichen Fachrichtung, die für die Zulassung zu diesem Studium gefordert wurde und wird: Sie beträgt (in Berlin wie fast überall in der Bundesrepublik) lediglich ein Jahr. Dabei sollen diese Lehramtsanwärter sich hinterher vor Lehrlingen im dritten oder vierten Ausbildungsjahr als Experten eines Ausbildungsberufs ihrer Fachrichtung behaupten können! Zu ihrem eigenen und ihrer Schüler Vorteil haben die meisten von ihnen jedoch bisher mindestens eine entsprechende betriebliche Lehre (beziehungsweise Ausbildung im dualen System) abgeschlossen.

Eine Ausbildung zum Diplom-Berufspädagogen dagegen gab es nur in Berlin. Hier wurde sie erst während der neunziger Jahre als Aufbau- (und insofern als Haupt-) Studium installiert und bald nach WIRSICHs Entlassung wieder storniert. Sie war als mindestens viersemestri­ges erziehungs- und sozialwissenschaftlich akzentuiertes Studium von insgesamt – je nach Vorbildung – 70 bis 78 Semesterwochenstunden angelegt. Sie setzte ein Ingenieurs-Diplom einer Fachhochschule, ein Vordiplom einer universitären Einrichtung oder ein äquivalentes anderes Examen in einer Fachrichtung beruflicher Schulen voraus. Die Teilnehmer unter­schieden sich von den meisten Lehramtskandidaten durch ihr höheres Alter, das durch die längere Dauer und größere Vielfalt der vor dem Aufbaustudium absolvierten und abge­brochenen Ausbildungsgänge und Erwerbstätigkeiten bedingt war. Das Studium selbst wurde durch mindestens zwei obligatorische Studienprojekte zentriert, die die Studierenden in weit­gehend selbständiger Gruppenarbeit planen, ausführen, evaluieren und dokumentieren sollten, um miteinander vernetzte fachliche, fachdidaktische und berufspädagogische Probleme mög­lichst in Zusammenarbeit mit außeruniversitären Einrichtungen praxisnah zu lösen. Die weit­gehende Freiheit der Wahl und Gestaltung dieser studienstrukturierenden Vorhaben boten den Studierenden erhebliche Chancen, ihr Studium individuell zu organisieren. Die Hoch­schullehrer – auch WIRSICH – fungierten weniger als Lehrkräfte und dominierende Leiter denn als Mentoren und unterstützende Begleiter der Projektgruppen.

3 Die Konzeption

3.1 Das hochschuldidaktische Prinzip:

Berufsbiographische Selbstreflexion als erster Schritt einer wissenschafts- und handlungsorientierten Professionalisierung

Was „berufspädagogische Professionalisierung“ heißen soll, kann dem von der SEKTION BERUFS- UND WIRTSCHAFTSPÄDAGOGIK DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT im Jahre 2003 veröffentlichten „Basiscurriculum Berufs- und Wirtschaftspädagogik“ entnommen werden, das ausdrücklich auf die Professio­nalisierung dieser Berufsgruppe zielt: Es geht um die Vermittlung und den Erwerb der „Fähigkeit und Bereitschaft zu einem theoriegeleitet-reflexiven, erfahrungsoffenen und ver­antwortlichen Handeln im pädagogischen Handlungsfeld Berufsbildung“ (5). Präzisierend wird dann zwischen drei Dimensionen der Entwicklung berufs- und wirtschaftspädagogischer Professionalität unterschieden:

„1. Differenziertes und integriertes Wissen und Können in Bezug auf pädagogisch relevante Bedingungs- und Entscheidungsfelder,

2. (Selbst-)kritisch-experimentelle Haltung und Bereitschaft zu reflexiver Praxis und

3. Pädagogisches Ethos und balancierende Identität“ (8).

Diese Trias wird auch in WIRSICHs curricularem Entwurf als Orientierungsrahmen zitiert. Deren entscheidende Komponente war für ihn auch schon vorher die Reflexivität des Lernens und Lehrens gewesen, und zwar ebenfalls in dreifacher Hinsicht:

  • So wie er sich – erstens – seinen eigenen, ursprünglich überwiegend fremdbestimmten beruflichen Werdegang und seine persönliche Entwicklung nur mühsam, zunächst stückweise, erst später (nicht zuletzt mit fortschreitender gestalttherapeutischer Ausbildung und Erfahrung) umfassender und kohärenter zu vergegenwärtigen vermochte und den weiteren Verlauf dieses Prozesses in dem Maße, in dem er nicht mehr nur seine Schwächen, sondern auch seine Stärken erkennen und anerkennen, verstehen und erklären lernte, auch zu lenken, zumindest zu beeinflussen begann,
  • hat er – zweitens – im Hinblick auf die zu fördernden Studierenden der Berufspädagogik die Folgerung gezogen, ihnen sei, anstatt sie mit rasch verfallendem Fakten- und Verfahrenswissen zu überfüttern, in ihrer Studienzeit nicht nur genügend Muße als Chance zu solcher Besinnung zu bieten, sondern sie wären von Anfang bis zum Ende dieser Jahre in jeweils geeigneten Formen systematisch zu autobiographischen Reflexionen und daran anschließenden Definitionen und Präzisierungen, Revisionen und Korrekturen ihrer Studien-, Berufs- und Lebenspläne anzuregen,
  • auf dass sie – drittens – nicht nur ihre eigenen besonderen Kompetenzprofile optimieren könnten, sondern auch befähigt würden, die von ihnen in Schulen und Betrieben aus- und fortzubildenden sowie zu beratenden Jugendlichen und Erwachsenen in ähnlicher Weise zu solch bildungs- und berufsbiographischer Selbstreflexion und Selbstbestimmung zu stimulieren.

Weil die professionelle Kompetenz sich weniger in alltäglichen Standardsituationen bewährt, die durch den zweckrationalen Einsatz technischer und strategischer Fähigkeiten gemeistert werden können, als zur grundwertbezogenen Bewältigung existenziell, das heißt leibseelisch oder/und sozial einschneidender (Entwicklungs-) Krisen, zum souveränen Umgang mit unvorhersehbaren Umständen, schwer berechenbaren Verhältnissen und komplexen Problemfällen sowie mit unauflösbaren Widersprüchen und Paradoxien benötigt wird, wozu entsprechend komplexe kreative Kompetenzen – auch die oben aus dem „Basiscurriculum“ zitierten Handlungspotentiale – gehören, sind auch nach seiner Erfahrung und Auffassung

  • zwar wie bisher Methoden und Resultate der Berufsbildungs- und berufsbezogenen Sozialisationsforschung in theoretischen, wissenschaftsorientierten Lehrgängen systematisch zu vermitteln,
  • zusätzlich aber Problemdiagnosen und -lösungen in praktischen, handlungsorientierten Kontexten kasuistisch einzuüben und
  • beide Formen der Qualifizierung, das berufstheoretische und betriebspraktische, wissenschaftliche und handlungsbezogene Lernen stärker aufeinander zu beziehen und besser miteinander zu verbinden, sind die Vermittlung und Aneignung dieser zwei Komponenten berufspädagogischer Kompetenz, die hierzulande immer noch zeitlich, räumlich und institutionell weitgehend voneinander getrennt entwickelt werden, von vornherein genauer zu koordinieren (vgl. OEVERMANN 2002),

Dementsprechend bemühte WIRSICH sich vor allem um die reflexive Aktivierung, aktive Optimierung und optimale Nutzung aller verfügbaren und irgendwie verwertbaren Orientie­rungen und Fähigkeiten, die die von ihm auszubildenden Studierenden von ihren bisherigen Bildungs- und Berufswegen an die Hochschule mitbrachten. Was er von 1998 bis 2005 in diesem Sinne an der TU Berlin versucht und erreicht hat, wird jetzt nachgezeichnet. Dabei konzentriere ich mich auf den Diplomstudiengang Berufspädagogik, der – wie bereits mitge­teilt – schon wegen seines großzügiger zugeschnittenen Zeitbudgets hierfür weitaus günsti­gere Möglichkeiten bot als der Studiengang für die Lehramtskandidaten und der zudem überwiegend von Studierenden beansprucht wurde, die zuvor schon längere und ungewöhn­lichere Ausbildungs- und Berufswege und -irrwege zurückgelegt hatten als das Gros der „TWLAKs“ (wenn auch keiner und keine von ihnen sich in dieser Hinsicht mit WIRSICH selbst zu messen vermochte). Gleichwohl war ein großer Teil der berufspädagogischen Lehr­veranstaltungen prinzipiell für beide Gruppen vorgesehen, und die meisten wurden auch von Mitgliedern beider Kategorien von Studierenden besucht.

3.2 Exemplarische Veranschaulichung:

Selbstreflexive Akzente pädagogischer Lehrveranstaltungen im Grund- und Hauptstudium angehender Gewerbelehrer und Diplom-Berufspädagogen sowie im Masterstudium

An den nachfolgend behandelten Lehrveranstaltungen war ich in verschiedener Weise und in unterschiedlichem Maße beteiligt und bei ihrer Darstellung auf dementsprechend divergie­rende Informationsquellen angewiesen:

  • Über die Pilotprojekte/Einführungsseminare zum Diplomstudiengang haben wir nur wieder­holt miteinander gesprochen; im Übrigen greife ich bei deren Behandlung auf Notizen aus WIRSICHs Nachlass zurück.
  • Das danach skizzierte Studienprojekt/Hauptseminar haben wir gemeinsam veranstaltet; hierüber bin ich durch meine Erinnerungen und durch das Produkt: einen detaillierten Planungs-, Verlaufs- und Ergebnisbericht (KRUMHOLZ u. a. 2003) hinreichend informiert.
  • Ähnliches gilt für den Entwurf zum Masterstudiengang. Dessen Vorläufer habe ich seinerzeit kritisch kommentiert und mit Verbesserungsvorschlägen bedacht; das (vorläufige End-) Produkt liegt mir ebenfalls vor.

Die Pilotprojekte/Einführungsseminare zum Diplomstudiengang

Den typischen Handlungssituationen entsprechend, in denen sich die meisten Studierenden vor und nach dem Studium, bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit auch während dessen zu bewähren hatten, war diese Ausbildung nicht – wie die Mehrzahl insbesondere der geistes- und sozialwissenschaftlichen universitären Studiengänge – als exzessive Sequenz vorerst relativ folgenloser symbolischer Operationen – insbesondere der Rezeption, Transformation und Produktion abstrakter Texte – konzipiert, sondern von Anfang an als Projektstudium organi­siert. Das bedeutete unter anderem: Die absolvierten Lernprozesse sollten sich jeweils in konkreten, praktisch verwertbaren Produkten niederschlagen. Als Produkte wurden in den obligatorischen Einführungsseminaren der Erstsemester des Diplomstudienganges für alle Teilnehmer individuelle Studienpläne erarbeitet, die primär auf die Steigerung spezieller, in deren späterem Arbeitsgebiet besonders geforderter Kompetenzen zielten, die mit bereits entwickelten Fähigkeiten und Lerninteressen der einzelnen Studienanfänger(innen) möglichst weitgehend korrespondierten. Deshalb ging es in diesen Seminaren

  • nicht nur um die gemeinsame beziehungsweise arbeitsteilige Erstellung einer orientierenden Übersicht über die wichtigsten außerschulischen Einsatzbereiche und Beschäftigungschancen diplomierter Berufspädagogen,
  • sondern auch um die reflexive Vergewisserung möglichst aller relevanten Kenntnisse und Fertigkeiten, Wünsche und Interessen, Talente und Schwächen, Hoffnungen und Befürchtungen, die die einzelnen Teilnehmer vor ihrem berufspädagogischen Studium entwickelt oder auch – mehr oder minder gezwungenermaßen – verdrängt oder zumindest unterdrückt hatten, und
  • dann schließlich darum, zu überlegen, wie diese biographischen Ressourcen unter Nutzung der speziellen Angebote der TU und der erheblichen Wahlmöglichkeiten, die die Studien- und Prüfungsordnung vorsah, im Hinblick auf subjektiv bevorzugte und objektiv gefragte spätere Tätigkeitsschwerpunkte optimal weiterzuentwickeln wären.

Zur Vergegenwärtigung der bereits vorher ausgebildeten, zu Studienbeginn ansprechbaren Kompetenzen, Interessen usw. der Teilnehmenden diente ein Interview, das der Seminarleiter (WIRSICH) vor der versammelten Anfängergruppe mit jedem/jeder Einzelnen führte, um anschließend mit allen Anwesenden erwägenswerte persönliche Akzentuierungen seines/ihres Studiums zu erörtern und diese nach Möglichkeit in einen im Rahmen der obligatorischen und fakultativen Lehrveranstaltungen des Studienganges realisierbaren individuellen Studienplan umzusetzen. Gefragt wurde unter anderem nach

  • den erfahrenen äußeren Anstößen und inneren Antrieben zu lernen,
  • früheren Berufswünschen, auch ‚verbotenen’ Berufen,
  • als förderlich oder hinderlich erlebten (sonstigen) Umständen,
  • Vorbildern,
  • relevanten Einflüssen allgemeinbildender Schulen und einzelner ihrer Lehrpersonen,
  • wichtigen Cliquen und Freunden, Hobbies und anderen persönlichen Vorlieben, ihren Einflüssen auf die Wahl des ersten Berufs sowie eventueller weiterer Berufe,
  • nach der Zufriedenheit mit dieser Wahl/diesen Wahlen, nach ihren Vor- und Nachteilen,
  • der rückblickenden Bereitschaft, sie unter gegebenen Umständen zu wiederholen,
  • (weiteren) einschneidenden Schul-, Ausbildungs- und Arbeitserfahrungen,
  • den Gründen für die Aufnahme des berufspädagogischen Studiums und
  • hierauf bezogenen Erwartungen und inhaltlichen Interessen, generell und in Bezug auf das Einführungsseminar.

Dadurch sollte vor allem herausgefunden werden,

  • welche Personen oder Faktoren Einfluss auf die Ausbildungs- und Berufsentscheidung hatten und wie wichtig diese im Einzelnen waren, sowie,
  • welche Erfahrungen in der Ausbildung und Arbeit gemacht wurden und welche Bedeutung diese für die angestrebte pädagogische Tätigkeit haben könnten.

Vor diesem Hintergrund wurden dann in Gruppen- und – soweit das erforderlich schien – auch in Einzelgesprächen die individuellen Studienpläne entworfen und festgelegt.

Das Studienprojekt/Hauptseminar „Berufsbiographische Orientierungs- und Handlungs­muster studierender Berufspädagogen“ (vgl. bes. KRUMHOLZ u. a. 2003)

Die später zu absolvierenden Studienprojekte deckten ein weites Spektrum berufspädagogisch relevanter Tätigkeiten ab. Sie erstreckten sich von

  • der Ausführung, Dokumentation und Evaluation
    exemplarischer, vielfach innovativer Ingenieur- und Facharbeiten über die
  • Bearbeitung fachdidaktischer Fragen bis hin zu
  • berufspädagogischen Modellversuchen mit jugendlichen Problem

Akzentuierung. Die Mehrzahl dieser Projekte, die jeweils am letzten Mittwochabend des Semesters von den Projektgruppen einem größeren Personenkreis vorgestellt wurden – Studierenden und Dozenten der TU, auch Hochschullehrern technischer Disziplinen, Lehr­kräften und Leitern beruflicher Schulen, Mitgliedern des Landesamts für Lehramtsprüfungen sowie weiteren, auch eigens zu diesem offenen Abend angereisten externen Interessenten –, war fachlich oder fachdidaktisch ausgerichtet. Dabei spielten reflexive Betrachtungen zwar insofern eine bedeutende Rolle, als viel Wert auf die Evaluation der Arbeits- und Lernpro­zesse und -produkte gelegt wurde. Die Reflexion bezog sich jedoch mehr auf die vollbrachten Leistungen als auf die zugrundeliegenden Handlungspotentiale der Projektmitglieder; inso­fern kann im Hinblick auf diese Projekte nur in einem eingeschränkten, von Fall zu Fall variierenden Sinne auch von Selbstreflexion gesprochen werden.

Demgegenüber stellte das hier präsentierte, inhaltlich dem Wahlpflichtbereich „Berufliche Sozialisation“ zugeordnete Vorhaben eine betont selbstreflexive Projektvariante dar, bei der die berufsbiographische Selbstreflexion nicht nur im Mittelpunkt stand, sondern ausgewählte professionalisierende Effekte auch als vorrangige Evaluationskriterien fungierten. Diese Effekte – berufsbiographische Deutungs- (oder Orientierungs-) und Handlungs- (Steuerungs- oder Entscheidungs-) Muster – bildeten sich nämlich – so lautete die sozialisa­tionstheore­tische Grundannahme des Projekts/Seminars – bei den meisten Menschen vor allem im Laufe ihrer Ausbildungszeit und ihrer ersten Berufsjahre aufgrund einschlägiger Erfahrungen her­aus, beeinflussten unbewusst ihre Wahrnehmung späterer beruflicher Alter­nativen, ihre Sicht und Nutzung sich bietender Gelegenheiten und würden nur bei starken Kontrasten zwischen den sie prägenden Eindrücken und späteren Erfahrungen merklich modifiziert. Sie bestimmen weitgehend, so wurde unterstellt und fallweise auch exemplarisch nachgeprüft,

  • ob die Individuen sich ihnen bietende Chancen überhaupt erkennen oder ignorieren,
  • wie sie diese im Einzelnen interpretieren und
  • wie rational sie sich angesichts ihrer mehr oder minder illusionär oder realistisch eingeschätzten Arbeitsmarktposition entscheiden.

Die Rationalität ihrer Entscheidungen wurde also nach dem Realitätsgehalt der betreffenden Einschätzungen der eigenen Person, ihrer Interessen und Kompetenzen einerseits und ihrer sozialen Situation andererseits zu beurteilen versucht. Vor allem irrationale Muster – auch die Neigung zu überstürzten Entschlüssen sowie die übermäßige Scheu, sich festzulegen – waren bewusst zu machen und zu revidieren. Um solche Prozesse bei anderen Personen fördern zu können, müssen Pädagogen ihre eigenen Muster zumindest kennen.

Teilnehmerzahl. Zu diesem Studienprojekt – als solches wurde die Veranstaltung den ange­henden Diplom-Berufspädagogen angerechnet, den Lehramtskandidaten hingegen die erfolg­reiche Beteiligung an dessen erster Phase als absolviertes Hauptseminar gutgeschrieben – haben insgesamt 23 Studierende (fast ebenso viele Lehramtskandidaten wie Diplomanden) durch spezielle Leistungen beigetragen.

Arbeitsformen. Um die anspruchsvollen Projektziele wenigstens näherungsweise zu reali­sieren, reichte die vorgesehene Laufzeit vom Beginn des Sommersemesters 2002 bis zum Ende des Wintersemesters 2002/03 nur deshalb gerade aus,

  • weil die Veranstaltung durch ein Literaturseminar vorbereitet worden war, dessen wichtigste Ergebnisse, zusammenfassende Darstellungen der Untersuchungsberichte
    • von BAETHGE u. a. (1988) über subjektive „Lebenskonzepte“ von Jugendlichen,
    • von KONIETZKA (1999) über objektive Verlaufsmuster beruflicher Werdegänge der Geburtsjahrgänge 1919 bis 1960 im Gebiet der alten Bundesrepublik sowie
    • von WITZEL/ KÜHN (2000) über „berufsbiographische Gestaltungsmodi“ von Lehrabsolventen

weitgehend in das Projekt eingebracht werden konnten, denn 18 Studierende nahmen an beiden Veranstaltungen teil,

  • weil die Hauptarbeit nicht durch das Plenum, sondern durch Arbeitsgruppen geleistet wurde, die weitgehend außerhalb der regulären Sitzungen tagten, und
  • weil die beiden Dozenten (W. und L.) auch einen Teil jener Arbeiten übernahmen, die wegen ihres Lernpotentials hätten von Studierenden ausgeführt werden sollen (Beispiele: Entwurf des Fragebogens für die schriftliche Befragung und des Interviewleitfadens, Entwurf der betreffenden Auswertungsverfahren).

Projektphasen. Die erste Phase (Sommersemester 2002) galt vor allem der Vorbereitung, Führung und Auswertung der ersten zwei berufsbiographischen Intensivinterviews mit Studierenden, deren unterschiedliche Werdegänge und Berufsverläufe auf stark kontras­tierende Orientierungs- und Steuerungsmuster schließen ließen, die sich für eine exempla­rische Erhellung ihrer Struktur, Genese und Wirksamkeit empfahlen. In der zweiten Phase (bis zum Ende des Wintersemesters 2002/2003) wurden die bereits geführten Interviews ‚fertig’ ausgewertet, zwei weitere geführt und ebenfalls ausgewertet, das ganze Projekt eva­luiert, schriftlich dokumentiert und beim Semesterabschlusstreffen durch diesen Bericht, einen Film und einige Kurzvorträge präsentiert (vgl. KRUMHOLZ u. a. 2003).

Bevor detaillierter auf den Verlauf, den Interviewleitfaden und die Ergebnisse des Projekts eingegan­gen wird, sei noch etwas über die Umstände berichtet, die die Kooperation der beiden Dozenten nahe legten: Seit dem Beginn meiner Lehrtätigkeit an der TU (1996) hatte ich bereits in jedem Winterse­mester ein Seminar für Studienanfänger zur Identifizierung jener beruflich sozialisierenden Erfahrun­gen gehalten, die sie in dem Betrieb gesammelt hatten, in dem sie eine Lehre oder ein einschlägiges Praktikum absolvierten. Im Rahmen dieser Seminare haben jeweils zwei Studierende (verschiedenen Geschlechts) eine(n) dritte(n) Teilnehmer(in) anhand eines sozialisationstheoretisch begründeten Leit­fadens interviewt. Die Interviews wurden immer sofort nach ihrem Abschluss diskutiert. Dabei wurde die für die Veranstaltung vorgesehene Doppelstunde oft bei weitem überschritten; dennoch verließ meist keiner der Teilnehmenden vor dem Ende der Diskussion den Raum – ein Zeichen der außer­ordentlichen Beliebtheit der Seminare. In den letzten Sitzungen wurden jeweils Protokolle ausge­wählter kontrastierender Fälle theoriegeleitet verglichen. Diese Seminare hatte ich nicht selbst ‚erfun­den’; vielmehr war mir eine derartige Vorgehensweise schon vor Jahren, als ich noch an der FU Berlin unterrichtete, durch eine Gruppe angehender Diplom-Handelslehrer, -Pädagogen, -Psychologen und -Soziologen, die alle eine betriebliche Lehre durchlaufen hatten und ein von mir geleitetes zweise­mestriges, jeweils vierstündiges, ursprünglich forschungsorientiertes Seminar über die moralische Sozialisation im Betrieb besuchten, geradezu aufgezwungen worden: Auch damals hatte ich zwar mit ähnlichen Interviews operiert wie hinterher an der TU; sie sollten aber zur Optimierung eines Inter­viewleitfadens, zur Erprobung einer Befragungsstrategie und zur Entwicklung eines Auswertungsver­fahrens dienen sowie erste ‚objektive’ Informationen erbringen – und nicht jene intensiven selbst­reflexiven Prozesse einleiten, über die wir auch am Ende des zweiten Semesters noch nicht hinausge­kommen waren (vgl. LEMPERT 1995). Diese Erfahrung hat mich dann dazu bewegt, die berufsbio­graphische Selbstreflexion in allen sozialisationsbezogenen TU-Seminaren für Studienanfänger in den Vordergrund zu rücken, auf entsprechende Forschungsmethoden zunächst nur soweit einzuge­hen, wie es nötig schien, um die Unterschiede zwischen berufsbiographischer Selbstreflexion und berufsbio­graphischer Forschung zu verdeutlichen und jede gründlichere Behandlung der Sozialisationsfor­schung auf hieran anschließende Hauptseminare zu vertagen (vgl. LEMPERT 2004, Kap. 5). Das also war im Wesentlichen mein „Input“ in die mit WIRSICH gemeinsam veranstalteten Seminare. Er brachte in deren Planung, Leitung und Moderation diagnostische, didaktische und therapeutische Kompetenzen ein, die er auf seinem Berufs- und Lebensweg entwickelt und bereits im Rahmen seiner Einführungsveranstaltungen eingesetzt hatte. Beim Erfahrungsaustausch und im Anschluss an seine Hospitationen in meinen Seminaren hatten wir soviel Übereinstimmungen und Möglichkeiten wechselseitiger Ergänzung entdeckt, dass wir uns bald entschlossen, jenes Projekt/Seminar gemein­sam zu veranstalten, über das jetzt noch genauer berichtet werden soll. Ihm folgte im Wintersemester 2002/2003 ein weiteres gemeinsames Seminar – mein letztes. Danach habe ich meine Lehrtätigkeit beendet, mit WIRSICH nur noch als Prüfer kooperiert und ihn bei der Entwicklung jenes Masterkon­zepts beraten, das ich anschließend vorstellen werde.

Auch die folgenden Ausführungen sind sehr knapp gehalten. Sie fokussieren jene unmittelbar selbstre­flexionsbezogenen Aspekte des Projekts, die die ‚Handschrift’ WIRSICHs verraten. Wer sich ein Gesamtbild der Veranstaltung verschaffen möchte, sei auf die Langvariante des Projektberichts ver­wiesen (KRUMHOLZ u. a. 2003).

Projektverlauf. Die wichtigsten Schritte der ersten Phase waren:

  • Vorbereitung der Empirie:
    • Explikation und wechselseitige Abstimmung der Vorgaben der Dozenten und der Teilnehmerinteressen, entsprechende Revision des Verlaufsplans,
    • Vergegenwärtigung der Hauptresultate der im vorhergehenden Semester ausgewerteten Forschungsberichte,
    • standardisierte schriftliche Erhebung relevanter Lebenslaufdaten aller Teilnehmer,
    • Bildung von neun Arbeitsgruppen – die meisten Teilnehmer gehörten zwei Agn an
      (I. Planung, II. Prozessbeobachtung und -evaluation, III. Fragebogenauswertung,
      -VII. Vorbereitung, Führung und Auswertung je eines Interviews,
      VIII. Berichterstattung und IX. Projektpräsentation),
  • Datensammlung und -analyse:
    • Festlegung von Kriterien für die Auswahl der zu interviewenden Teilnehmer(innen),
    • deren Auswahl anhand der Ergebnisse der schriftlichen Befragung,
    • Entwurf, Diskussion und Erprobung eines Interviewleitfadens in einem ‚Musterinterview’ des einen Dozenten durch den anderen,
    • Leitfadenrevision,
    • Interviewertraining,
    • Ausführung der ersten beiden Studierenden-Interviews,
    • Entwurf, Diskussion und Erprobung eines Auswertungsverfahrens für die Interviews anhand des Protokolls des Musterinterviews,
    • Revision dieses Auswertungsverfahrens anhand der Ergebnisse der schriftlichen Befragung und des Musterinterviews und
  • Evaluation des bisherigen Projektverlaufs.

Bis dahin lag der Schwerpunkt der Projektarbeit auf den Plenarsitzungen.

Zweite Phase: Die bereits genannten weiteren Aufgaben – das waren vor allem die Führung und Auswertung von zwei weiteren (Studierenden-) Interviews, der Entwurf, die Diskussion und Überarbeitung des Abschlussberichts sowie die Vorbereitung und Ausführung der Projektpräsentation – konnten nur weitgehend arbeitsteilig, das heißt in Gruppen- und Einzel­arbeit bewältigt werden.

Der Interviewleitfaden umfasste – außer relativ detaillierten allgemeinen Instruktionen für Interviewer und Befragte – zwei nacheinander zu stellende Gruppen von offenen Fragen, deren erste die befragte Person zur Vergegenwärtigung wichtiger, im Laufe des Berufslebens vollzogener Weichenstellungen anregen sollte, während die zweite einen Erzählanstoß und eine Checkliste enthielt, die die Erörterung aller Aspekte sicherzustellen hatte, die wir als Charakteristika berufsbiographischer Deutungs- und Handlungsmuster betrachteten. Diese zweite Serie von Antwortimpulsen wurde jeweils auf mindestens zwei der zuvor identi­fizierten – in chronologischer Sequenz zu erörternden – berufsbiographischen Weichen­stellungen angewandt.

Ergebnisse: In allen vier ausgewerteten Fällen waren relativ prägnante Muster zu erkennen. Diese wurden – den leitenden Gesichtspunkten des entwickelten Interpretations- und Analy­severfahrens entsprechend – zunächst in enger Anlehnung an die Interviewprotokolle rekon­struiert, ausführlich beschrieben und anschließend als Kombinationen spezifischer Ausprä­gungen von vier Strukturkomponenten – wie des eher intrinsischen oder instrumentellen Berufsverständnisses oder der mehr oder minder entwickelten Zielstrebigkeit – und ebenso vielen Strukturindikatoren – wie des mehr arbeits- oder eher freizeitorientierten Lebenskon­zepts und des „Mottos“, des Generalnenners oder der Quintessenz der Genese des betreffenden Musters – in einer ersten (hier nicht wiedergegebenen) Tabelle festgehalten.

Zur Illustration seien wenigstens zwei „Mottos“ mitgeteilt:

Das ihr zunächst nur unterstellte, dann aber nachdrücklich von ihr bestätigte berufsbio­graphische „Motto“ einer Tischlerin lautete lakonisch : „Die Unterstützung durch ältere, kompe­tente Personen hat mich selbständig gemacht, eigene praktische Erfahrung zum theoretischen Lernen motiviert, das Arbeiten im handwerklichen Milieu toleranter werden lassen“ (wobei ihre gewachsene Toleranz im Abbau mittelschichtspezifischer Stereotype über ‚einfache Leute’ bestand).

Das „Motto“ eines Fleischermeisters dagegen vermochten wir in Reimen zu „verdichten“:

„Einfach „Einfach irgend etwas machen, Wünsche anderer erfüllen, auch nach Schlappen nicht verzagen. Eignen Willen nun erkunden, suchen, finden, ausprobieren; gründlich üben, was man kann; endlich sicher auch verspüren, was man mehr als andres möchte, was man bringt und auch gelingt. Dann erst ist man ganz erwachsen, ist man ein gemachter Mann!“

Auch die Evaluation des Projekts/Seminars lief letztlich auf eine Tabelle hinaus. Deren erster Teil ist auf der nächsten Seite wiedergegeben, weil er nicht nur

  • wesentliche Stärken und Schwächen des Vorhabens differenziert markiert und auf deren Ursachen hindeutet, sondern auch
  • detaillierter, als das hier bisher geschehen ist, über die Lehrziele der Dozenten und die Lerninteressen der Studierenden sowie
  • über nahe liegende Optimierungsmöglichkeiten informiert (Tabelle 1).

Damit wurde in dem Projekt die (Selbst-) Reflexion geradezu auf die Spitze getrieben. Der Enthusiasmus, mit der sich die meisten Teilnehmer bis zu dessen abschließenden Präsentation an dem Vorhaben beteiligten, lässt zumindest hoffen, dass von dieser leitenden Perspektive nicht nur vorübergehend etwas bei ihnen ‚hängen geblieben’, sondern (soweit es ihnen nicht im Referendariat wieder ausgetrieben wurde) auch in ihr späteres Unterrichts- und Aus­bildungshandeln umgesetzt worden ist.

Der Entwurf des Moduls „Berufliche Sozialisation und individuelle Bildungsberatung“ für einen Masterstudiengang „Bildungsmanagement in Arbeit und Beruf“ an der TU Berlin

Die Lehrveranstaltungen, die hier vorgestellt worden sind – selbstreflexiv akzentuierte berufspädagogische Pilot- und Studienprojekte alias Einführungs- und Hauptseminare der TU Berlin – wurden erst gegen Ende jener Phase unserer Hochschulgeschichte konzipiert und ausprobiert, die vor zweihundert Jahren mit der Universitätsreform HUMBOLDTs begonnen hatte.

Tabelle 1: Zur Evaluation des Studienprojekts/Hauptsseminars „Berufsbiographische Orientierungs- und Handlungsmuster von Studierenden ...“

intendiert:
die Studierenden sollen/ wollen

realisiert

empfohlen:
aus den Mängelursachen abgeleitete Verbesserungs­möglichkeiten

Stärken: verwirklichte Intentionen

Schwächen: verfehlte Intentionen

erkennbare Mängel-ursachen

die Entwicklung, Strukturen, Wirkungsweise und Veränderung von BBOHM sowie deren soziale Ursachen kennen lernen

alles behandelt außer einigen soziogenetischen Erklärungen

einige soziogenetische Erklärungen nicht behandelt

durch allzu viele Ziel­setzungen bedingter Zeit­druck

- 4-stündige Sitzungen oder/und

- 3-semestrige Veranstaltungen

- Schwerpunktsetzung:
„Die Soziogenese von BBOHM“

sich die eigenen BBOHM vergegenwärtigen ,deren handlungs- und (persönlichkeits-) entwicklungsbehindernde Elemente und Relationen abbauen, ihr Problem­lösungspotential stärken

bei fünf Studierenden (durch Intensiv-Interviews) angeregt

bei den übrigen Studierenden (die nicht interviewt wurden) nicht ermittelt

durch allzu viele Ziel­setzungen bedingter Zeit­druck

- Verlängerung(en) wie vorige Zeile

- Schwerpunktsetzung:
„Berufsbiographische Selbst­reflexion.“ 

- kleinere Teilnehmerzahl

- alle Interviews in Arbeits­gruppen führen

die BBOHM von Lernenden

identifizieren ,ihr Verhältnis­ses zu den eigenen BBOHM reflektieren, diese Relation im pädagogischen Handeln berücksichtigen

nicht genau bekannt, Realisa­tion eher unwahrscheinlich

nicht genau bekannt, Realisation eher unwahrscheinlich

durch allzu viele Ziel­setzungen bedingter Zeit­druck

- Verlängerung(en) wie erste Zeile

- Schwerpunktsetzung:
„BBOHM von Aus/Weiterbildnern und ihrer Klientel – Probleme ihrer Berücksichtigung in der Aus- und Weiterbildung“

Lernende anregen zur Ver­gegenwärtigung ihrer BBOHM sowie zu deren Veränderung und Nutzung im Interesse selbst­kontrollierter Lenkung der eigenen beruflichen Ent­wicklung und Bildung

nicht genau bekannt, Realisation eher unwahrscheinlich

nicht genau bekannt, Realisation eher unwahrscheinlich

durch allzu viele Ziel­setzungen bedingter Zeit­druck

- Verlängerung(en) wie erste Zeile

- Schwerpunktsetzung:
„Anregung von Teilnehmern an der beruflichen Aus- und Weiterbildung zur Reflexion, gezielten Veränderung und bewussten Nutzung ihrer BBOHM“

zwischen einer wissen­schaftlichen, selbstreflexiven und beratungsbezogenen Erhebung, Rekonstruktion und Zuordnung von BBOHM unterscheiden

detailliert wird nur zwischen wissenschaft-
lichem und selbst­reflexivem Vor­gehen unter­schieden

beratungs-bezogenes Vor­gehen wird nicht behandelt

durch allzu viele Ziel­setzungen bedingter Zeit­druck

- Verlängerung(en) wie erste Zeile

- Schwerpunktsetzung:
„Identifizierung von BBOHM in Forschungsprojekten, im berufspädagogischen Studium und in der Beratung von Aus- und Weiterzubildenden“

Instrumente und Prozeduren berufsbiographischer Selbst­reflexion und Beratung ein­schätzen und auswählen, entwickeln und anwenden

Selbstreflexives Vorgehen wird erprobt und optimiert

Interview­leitfaden wird von Dozenten entworfen, beratungs-bezogenes Vor­gehen wird nicht behandelt

durch allzu viele Ziel­setzungen bedingter Zeit­druck

- Verlängerung(en) wie erste Zeile

- Schwerpunktsetzung:
„Beurteilung, Auswahl, Ent­wicklung und Anwendung von Methoden der Erfassung von BBOHM in Studium, Aus- und Weiterbildung“

 

intendiert:
die Studierenden sollen/ wollen

realisiert

empfohlen:
aus den Mängelursachen abgeleitete Verbesserungs­möglichkeiten

Stärken: verwirklichte Intentionen

Schwächen: verfehlte Intentionen

erkennbare Mängel-ursachen

schriftliche Vollerhebung bei allen Teilnehmenden mit Intensivinterviews von aus­gewählten teilnehmenden sinnvoll kombinieren

Differenzen und sinnvolle Kombination werden nur diskutiert, nicht konsequent genutzt

einige Frage­bogen werden nicht ausgefüllt, einzelne danach zu befragende Studierende nicht befragt (statt ihrer andere inter­viewt),

Zeitknappheit, dazu: Weigerung. einzelner aus­gewählter Studierender, sich interviewen zu lassen

- Verlängerung(en) wie erste Zeile 

- Schwerpunktsetzung:
„Erhebung von BBOHM durch Fragebogen und Interviews – Differenzen und sinnvolle Kombination“

- Beschränkung der Teilnehmer­zahl

- Interviews in Arbeitsgruppen führen

im Projekt einen druckreifen Bericht erstellen sowie den Verlauf und die Ergebnisse der Veranstaltung TU-intern und -extern präsentieren

bis zum Abschlusstermin werden nur interne Vorlagen erstellt, die Druck- sowie die Filmvariante nur geplant

Produkte sind extern noch kaum ‚vorzeigbar’: etwas umständlich und unpräzise

Zeitknappheit und Seitenlimit („wir hatten keine Zeit, uns kurz zu fassen“)

- andere Vorhaben sofort professionell dokumentieren, im vorliegenden Fall

- Langfassung und Film verbessern, in begrenzter Anzahl für Interessenten bereit­halten und

- in der Druckvariante auf die Existenz und Bezugsquelle der Langfassung und des Films hinweisen

Kursiv: dominante Motive der Studierenden;

BBOHM = berufsbiographische Orientierungs- und Handlungsmuster

Das vorläufige Schicksal dieser Veranstaltungen – das ‚Auslaufen’ jenes Studiengangs, der als ihr Entstehungs-, Erprobungs- und Bewährungskontext anzusehen ist und bisher auch an keiner anderen (deutschen) Hochschule installiert und etabliert werden konnte – legt die Befürchtung nahe, der vorliegende Text sei weniger ein Beitrag zur Rettung, Verstetigung, Weiterentwicklung und Verbreitung eines aussichtsreichen Programms als nurmehr das histo­rische Dokument einer hochschuldidaktischen Utopie. Doch hat WIRSICH sich der drohen­den Verschulung und Meritokratisierung auch der berufspädagogischen Studiengänge weder unterworfen noch nur ohnmächtig protestiert; vielmehr war er bestrebt, sie systematisch zu unterwandern, ja auszuhebeln, indem er der Selbstreflexion in der berufspädagogischen Masterausbildung eine Schlüsselrolle zu sichern versuchte.

Auf keiner anderen Ausbildungsstufe wären derartige Lehrveranstaltungen unverkürzt und unverkehrt in jenem weitgehend modularisierten sowie kleinteilig ‚abzuprüfenden’ und zu zertifizierenden Studium sinnvoll unterzubringen gewesen, das im Zuge des sogenannten „Bologna-Prozesses“ seit der Jahrtausendwende europaweit für alle universitären Unter­richtsfächer, also auch in Deutschland für die Berufspädagogik eingerichtet wird. Denn das Selbst der BA-Studierenden gibt – wenn das einmal salopp ausgedrückt werden darf – in der Regel noch nicht allzu viel her, was solcher Reflexion wert erscheint – sie dürften sich über­wiegend noch am Anfang ihrer beruflichen Biographie befinden; und die Doktoranden werden auch künftig eher eine Minderheit bleiben, deren Mitglieder zudem – mehr als die Majo­rität der Studierenden karriereorientiert – sich meist lieber die Erfüllung ihrer professio­nellen Zukunftsträume ausmalen als bei der Erhellung ihrer beruflichen Vergangenheit auf­halten mögen. Deshalb wäre der Hebel befreiender Selbstreflexion im Hochschulbereich (und dies­seits der beruflichen Weiterbildung) am wirksamsten bei der Masterausbildung anzuset­zen, wäre solche Rückbesinnung im Studium bei der Mehrzahl der angehenden Berufspäda­gogen erst nach einer bereits durchlaufenen schulischen, unter Umständen auch universitären, zudem betrieblichen Erstausbildung und beruflichen Erfahrung, das heißt auf dem Niveau des bisherigen Hauptstudiums systematisch zu forcieren.

Diese Begründung fehlt zwar in dem Konzept, mit dem WIRSICH sich – zusammen mit einer Gruppe engagierter Diplomanden – während der letzten Monate seines Arbeitslebens unter Einbeziehung lokaler, regionaler, nationaler und internationaler, universitärer und extrauni­versitärer Kontextbedingungen befasste und dessen als Entwurf vervielfältigte Version er – formell als Drittautor hinter zwei Ordinarien rangierend, tatsächlich aber federführend – gerade noch zu vollenden vermochte (GREINERT/ DÖRING/ WIRSICH o. J.), bevor seine Entlassung ihm den Boden für derartige Aktivitäten entzog und seine Krankheit ihm die Kraft für weitere Überlegungen nahm. Eine solche Begründung hätte sich in dem Doku­ment vielleicht auch als kontraproduktiv erwiesen, das heißt: viele Interessenten, auch ganze Personen (-Kreise), deren Zustimmung es zur Durchsetzung des Konzepts bedurft hätte, eher abgestoßen als überzeugt, zumindest befremdet. Doch jetzt, nachdem es sowieso auf Eis, womöglich sogar im Sarge liegt, können wir konstatieren, dass dieses Konzept in der Tat am besten für die universitäre Ausbildung auf jener Studienstufe geeignet erscheint, für die es entwickelt worden ist.

Im Entwurf eines einen modularen Masterstudiengangs „Bildungsmanagement in Arbeit und Beruf“, der an der TU Berlin

  • anstelle der Ausbildung zum Diplom-Berufspädagogen und des derzeit ebenfalls auslaufen­den Zertifikat-Studiengangs „Betriebliches Weiterbildungsmanagement“
  • im Rahmen eines übergeordneten grundständigen viersemestrigen Masterkonzepts „Technisch-Berufliche Bildung“ eingerichtet werden sollte,
  • fungierte WIRSICHs Vorstellung selbstreflexiver berufspädagogischer Professionalisierung als ‚harter Kern“ nicht nur dieser Ausbildung,
    sondern insofern sogar als Angelpunkt des gesamten Entwurfs,
    als ein zugleich wissenschafts- und handlungsorientiertes Pflichtmodul
    „Berufliche Sozialisation und individuelle Bildungsberatung“ als
    Basismodul im Qualifizierungsfeld Kommunikation und Beratung“ und
    „gleichzeitige Einführung und Profilbildung für das Studium“

    auch der beiden anderen Studiengänge des Konzepts
    („Lehramt an beruflichen Schulen und Berufsvorbereitung“ sowie „Berufsbildungsforschung“) vorgesehen war,
  • während die übrigen acht Module des Konzepts in studiengangsspezifischen Vierer-Kombinationen absolviert werden sollten.

Zu dem genannten „Basismodul“ heißt es dann weiter: „Im Kontext der Reflexion der eigenen Berufsbiographie werden Verfahren der beruflichen Sozialisations- und Kompetenz­forschung erlernt sowie das Entwickeln, Führen und Auswerten leitfadenge­stützter Interviews zur subsumtiven und rekonstruktiven Identifizierung von berufsbiogra­phischen Verläufen“. In diesen Seminaren „wird das Ziel verfolgt, für jede/n Studierende/n ein individuelles Studienprofil zu erstellen“. Über die Reflexion und produktive Verwertung der eigenen berufsbiographischen Ressourcen hinaus sollen multimethodisch Kompetenzen zur Beratung anderer Personen erworben, angewandt und reflektiert werden. „In allen Seminaren wird mit einem lernerzentrierten Ansatz gearbeitet, der den Studierenden die Möglichkeit gibt, ihre Vorerfahrungen systematisch zu den Studieninhalten in Beziehung zu setzen. ...Zur Erarbeitung der Inhalte werden Steuerungs- und Arbeitsinstrumente des Pro­jektmanagements zugrunde gelegt, die für alle weiteren komplexen Aufgaben im Studium ... und für die spätere Praxis von grundlegender Bedeutung sind. Input-, Experimentier-, Bear­beitungs- und Transferphasen sollen die Grundstrukturen didaktischen Handelns in der Erwachsenenbildung erfahrbar machen. Gearbeitet wird dabei mit einem Methodenmix in Groß- und Kleingruppen mit (Kurz-)Vorträgen, Präsentationen, Interviews und Fallbe­sprechungen, Projektarbeiten, Lernzirkeln, Leittexten unter Einsatz der Methoden Metaplan, Mind-Map, Brainstorming, Rollenspiel, Bewegungs- und Entspannungsübungen, Blitzlicht und Feedback“. Als Pflichtveranstaltungen werden Seminare zu den Themen „Einführung in das Studium und individuelle Studienprofilbildung“ sowie „Berufsbiographie und Profil­bildung“ angeführt. Darüber hinaus ist eine von zwei Wahlpflichtveranstaltungen („Berufs­biographische Deutungs- und Entscheidungsmuster als Orientierungsrahmen für berufliche Entscheidungsprozesse“ und „(Berufliche) Bildungsberatung und Verantwortung“) zu besuchen. „Teilnehmer/innen arbeiten ... in selbstgesteuerten kooperativen Arbeitsgruppen im Rahmen einer Projektorganisation mit Teilnehmer/innen aus allen Seminaren zusammen“. Insgesamt sollten in diesem Studiengang auf die Berufspädagogik und Fachdidaktik – ähnlich wie bei dem zuvor beschriebenen Aufbaustudiengang und dank der auch für dieses Studium geforderten fachwissenschaftlichen Vorbildung der Studierenden –, weit mehr als die Hälfte der vorgesehenen Semesterwochenstunden entfallen.

Dieser Entwurf liest sich über weite Strecken hinweg wie eine Reformulierung des aus­laufenden Aufbaustudiengangs im nunmehr allgemein verbindlichen BA-MA-Rahmen. Alle essentials der früheren Konzeption sind darin aufgehoben, bemerkenswerte inhaltliche Modi­fikationen kaum zu erkennen – sie waren angesichts der bereits weitgehenden Bewährung der beiden vorgestellten Seminarmodelle auch kaum zu erwarten – wohl aber Ansätze zur Syste­matisierung sowie zur Präzisierung der Konzeption, die die Richtungen ihrer wünschens­werten Fortschreibung und Weiterentwicklung fast überdeutlich vorzeichnen, wobei wiederum auch auf die vorhergehenden Beschreibungen der Einführungsseminare und eines späteren Studienprojekts und auf jene Texte zurückgegriffen werden könnte, die diesen zugrunde liegen.

 

3.3 Vorläufige Evaluation:
Punktuelle Indizien und generelle Einschätzungen,
empirische Postulate und eine theoretische Prämisse –
Grenzen der Wirksamkeit des präsentierten Modells

Punktuelle Indizien und generelle Einschätzungen. Nach der Kritik der Teilnehmenden am Studienprojekt (Tabelle 1) werden manche Leser und Leserinnen vielleicht fragen: Hat der Aufwand sich wirklich gelohnt? Hätte bei einem derart ambitiösen Unternehmen nicht mehr herauskommen müssen? Was war denn – ‚unterm Strich’ betrachtet – überhaupt das Resultat? Der Ertrag nicht nur dieses Projekts, sondern der Erprobung der gesamten Konzeption?

Doch die Kritik betrifft nur Einzelheiten, nicht die Lehrveranstaltung insgesamt. In resü­mierenden Beurteilungen der Studierenden schneidet diese sehr viel besser ab. Zur Gesamt­einschätzung des Ansatzes (wie des Einsatzes seines Initiators) zitiere ich zunächst aus einem Brief, den WIRSICH kurz vor seinem Tode von einem älteren Studienabsolventen erhielt, der dessen Entwicklung von der vermittelten Wahrnehmung und gewährten Wertschätzung seines bisherigen Berufswegs zum Selbstvertrauen und von wiederkehrender familial bedingter Unsicherheit zu erneuter Erfolgszuversicht exemplarisch nachzeichnet:

„Es ist mir ein großes Bedürfnis, Dir diese Grüße auszusprechen, denn meine berufliche Entwicklung wurde in den letzten Jahren durch Dich sehr stark positiv beeinflusst. Dazu zählt insbesondere, dass Du mir großen Mut zur Aufnahme dieses Studiums gemacht hast. Ich fühlte mich mit meiner damali­gen beruflichen Biographie sehr ernst genommen, und das war eine ganz neue Erfahrung für mich; denn zuvor hatte ich die Universität als wenig praxisnah empfunden. Kurzum, ohne Deine Ermun­terung hätte ich das Studium damals wohl gar nicht begonnen“. Später, als eine schwere Erkrankung seiner Mutter ihn, so schreibt er (sinngemäß), fast aus der Bahn geworfen hätte, „hattest Du mir wieder Mut gemacht, das Studium zu Ende zu bringen, und das mit einem Selbstverständnis [gemeint ist hier wohl: einer Selbstverständlichkeit; WL], das [die] jeglichen Selbstzweifel an meinem Erfolg ausgelöscht hat. Natürlich habe ich auch inhaltlich sehr viel von Dir gelernt“. Der Brief schließt mit herzlichen Grüßen auch von anderen Studierenden.

Kurz: Er wurde dort abgeholt, wo er zu Beginn des Studiums stand, und bis zum Studienziel hilfreich begleitet. Sein Schreiben lässt zwar den Erwerb wissenschaftlicher Komponenten pädagogischer Professionalität, der durch das Projektstudium gefördert werden sollte, nur ahnen. Umso mehr aber verrät es über WIRSICHs beispielhafte Verkörperung ihrer fallbe­zogenen Dimension, über seine persönliche Zuwendung, emotionale Unterstützung und ein­fühlsame Beratung von Studierenden, die in Krisensituationen geraten waren. Über Haltungen und Verhaltensweisen also, die – erinnern wir uns – ebenso zum professionellen pädago­gischen Habitus gehören und die W. ihnen nach Aussagen anderer Absolventen des Diplom­studienganges bereits im Einführungsseminar, aber auch in anderen Kontexten durch sein Vorbild so eindringlich nahe gebracht hat, dass sich immer alle Teilnehmenden im Wortsinn „teilnehmend“ dem jeweils befragten und beratenen Mitglied der Gruppe zuwandten, die zu erlernende professionelle Haltung schon ansatzweise selbst einnahmen und einzuüben began­nen. So wurde alles erreicht, was im Rahmen eines solchen Anfängerseminars überhaupt bewerkstelligt werden konnte: gemeinsam mit jedem und jeder Einzelnen herauszufinden, welche der institutionell angebotenen Gelegenheiten zu wissenschaftsorientiertem Lernen den individuellen Bedürfnissen am weitesten entgegenzukommen versprachen und welche geeig­net erschienen, ihre/seine besonderen Handlungspotentiale im Interesse der Erbringung gesellschaftlich wünschenswerter wie nachgefragter berufspädagogischer Leistungen zu steigern.

Empirische Postulate und eine theoretische Prämisse. Empiristen mögen einwenden,

  • dass diesen positiven Einschätzungen vielleicht die Meinung einer schweigenden Mehrheit gegenübersteht, die sich auf Befragen ganz anders geäußert hätte, und
  • dass solche subjektive Einschätzungen nicht genügten, sondern objektive Beobachtungen erforderlich seien, um die Wahrheit ans Licht zu fördern.

Beiden Einwänden können zwei Tatsachen entgegengehalten werden:

  • zum einen die regelmäßige Anwesenheit und hohe Leistungsbereitschaft fast aller Studierenden, die sich für die Teilnahme an dem Projekt entschieden hatten –sie arbeiteten auch während der sogenannten Semesterferien weiter intensiv daran mit,
  • zum anderen der Umstand, dass fast alle Absolventen des Diplomstudiengangs sofort nach dessen Abschluss ausbildungsadäquat beschäftigt waren, also Tätigkeiten ausübten, die dem Inhalt und Niveau dieses Studiums entsprachen –
    und das, obwohl ihnen der Zugang zur Lehrerlaufbahn trotz des eklatanten lokalen Lehrernachwuchsmangels gerade in den klassischen Fachrichtungen der beruflichen Schulen und trotz ihrer im Vergleich zu den meisten Lehramtskandidaten höheren fachlichen und pädagogischen Qualifikationen von der Berliner Schulbürokratie
    ohne Angabe einleuchtender Gründe verweigert wurde (und wird).

Allerdings lässt keine dieser Erwiderungen erkennen,

  • auf welchen Komponenten der Konzeption die beobachteten Effekte beruhen könnten, auch nicht,
  • wieso die skizzierten Interview- und Auswertungsprozeduren bei den Interviewten selbstreflexive Prozesse in Gang gesetzt haben sollen, in deren Verlauf
    die auf der Ebene des „gesunden Menschenverstandes“ provozierten Erinnerungsbilder, Ursachenzuschreibungen und Absichtserklärungen der jeweils Befragten mit sozialwissenschaftlichen Argumenten zurechtgerückt und
    auf das Niveau des professionellen Sachverstands gehoben werden konnten.

Diese Fragen, so mögen Zweifler weiter argumentieren, seien nur durch objektive, reliable und valide Längsschnittuntersuchungen repräsentativer Stichproben beantwortbar, in denen klar formulierte, plausible Hypothesen über (quantitative) Beziehungen zwischen ‚pfiffig’ operationalisierten Variablen hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit respektive Wahrschein­lichkeit überprüft würden.

Doch auch solche Studien reichten allein noch nicht aus: Sie wären – abgesehen von erheb­lichen Kosten – zwar sehr wünschenswert; gleichwohl, für sich genommen, nur geeignet, anderweitig gewonnene Erkenntnisse abzusichern und insofern zu ergänzen. Ersetzen könnten sie diese nämlich nicht. Denn erst wenn die subjektiven, durch unterschiedliche frühere Sozialisationsbedingungen, differierende aktuelle Handlungssituationen und diver­gente Zukunftsperspektiven bedingten Sichtweisen nicht nur der untersuchten sozialen Sub­jekte, sondern auch der untersuchenden Sozialwissenschaftler in die Betrachtung einbezogen und deren Besonderheiten als solche berücksichtigt werden – erst dann kommt es nicht mehr zu projektiven (objektivistischen) Fehlinterpretationen, ist der Blick frei für valide Diagnosen (vgl. BOURDIEU 1993; LEHMKUHL 2002). Gewiss greifen rein subjektive Deutungen sozialer Verhältnisse durch sozialwissenschaftliche Laien ebenfalls zu kurz, bedürfen sie ebenso der „methodologischen Relationierung“ wie die „Als-ob-Theorien“ objektivistischer Ethnologen, Soziologen und anderer ähnlich (konstruktivistisch) operierender Sozialwissen­schaftler; aber eben nicht nur sie allein. Erst durch die bezeichnete doppelte Relativierung kann der soziale Laienverstand der Lehramtskandidaten auf die Ebene des aufgeklärten sozialwissenschaftlichen Fachverstandes gehievt und so gleichsam geläutert werden zum professionellen Bewusstsein selbstkontrollierter simultaner Nähe und Distanz zu der (späteren) Klientel (ausführlicher: LEMPERT 2007).

Solches ist zwar weder in irgendwelchen Texten WIRSICHs zu lesen, noch habe ich ihn je so argumentieren gehört. Dass er aber etwas Ähnliches intendierte, ist seinen Seminarpapieren und dem Entwurf berufspädagogischer Masterstudiengänge zu entnehmen, nach denen die Unterschiede zwischen selbstreflexions- und forschungsbezogenen Befragungen und Analy­sen im berufspädagogischen Studium gleichermaßen hervorgehoben werden sollten wie die berufspädagogische Verwertbarkeit berufsbiographischen ‚Kapitals’.

So endet die Kette der Einwände und Gegenargumente zugunsten des Initiators der disku­tierten Konzeption. Dabei bleibt deren Bewertung immer auch eine Frage der Theorie – nicht nur letztlich, a posteriori, sondern auch schon a priori, von vornherein. Denn In diesem Sinne überzeugt nicht erst deren Resultat, sondern bereits ihre Voraussetzung: dass gerade ‚krumme’‚ ‚bunte’ Lebensläufe beachtliche Chancen bieten:

  • Chancen, brachliegende motivationale und qualifikatorische Hinterlassenschaften früherer berufsbiographischer Phasen umzuwandeln in psychische Rücklagen für die Bewältigung späterer Lebensabschnitte,
  • Chancen, Gemeinsamkeiten individueller beruflicher Herkunft und möglicher Zukunft, die nach konkretistischem Verständnis wenig miteinander zu tun haben mögen,
    durch deren deutliche Kennzeichnung anhand übergeordneter Kategorien
    als bestimmende Merkmale sowohl früherer als auch späterer Tätigkeiten derselben Personen in den Rang von Kriterien ihrer beruflichen Identität zu erheben, dadurch
  • Chancen, Berufe ‚nachhaltiger’ zu definieren, als das durch die Bestimmungsmerkmale allein der vormaligen Arbeitsfunktionen der betreffenden Subjekte gelingen kann, und
  • Chancen, Letzteren Erfahrungen biographischer Brüche und Sinnkrisen zu ersparen,
    die zwar unnötig, doch fast unvermeidlich mit einem Berufswechsel verbunden sind,
    wenn das Selbst- und Fremdbild der Individuen,
    auch ihr sozialer Status und ihr Selbstbewusstsein dermaßen
    von ihrer beruflichen Tätigkeit und Stellung abhängen wie bei uns, folglich auch
  • Chancen, ihre personalen Identität zu stabilisieren.

So hätten die meisten Buchdrucker und Schriftsetzer industrialisierter Länder, wenn sie sich von vornherein primär als „Textverarbeiter“ verstanden hätten, während der letzten hundert Jahre zwar kaum weniger ‚umlernen’ müssen, als das tatsächlich der Fall gewesen ist; sie wären aber nicht genötigt gewesen, sich gleichzeitig auch noch auf die Suche nach einer neuen beruflichen Identität zu begeben und/oder ihre zentralen Lebensinteressen weitgehend auf außerberufliche Sozialsphären zu verlagern; auch hätten sie ihr Umlernen weniger als Ver- oder ‚Entlernen’ denn als Hinzulernen erlebt.

Insofern ist jeder Berufswechsel existenziell relevant, auch wenn er sich zunächst nur als Etikettenwechsel manifestiert. Freilich wäre zu fragen, ob es sinnvoll erscheint, auch indivi­dualisierte Kombinationen von Tätigkeiten und Tätigkeitspotentialen, denen mit trenn­scharfen amtlichen Standardklassifikationen allenfalls auf hohem Abstraktionsniveau und/oder nur abschnittsweise beizukommen wäre, „Berufe“ zu nennen, statt auch in diesem Falle wie bei anderen realen wie begrifflichen Strukturveränderungen besser nur noch von „Beruflichkeit“ zu sprechen (vgl. KRAUS 2006).

Grenzen der Wirksamkeit des vorgestellten Modells. Schließlich sei noch vor übertriebenen Erwartungen gewarnt: Gravierende psychische Störungen können mit den beschriebenen Verfahrensweisen kaum beseitigt werden. Sie bedürfen eher intensiver Einzelfalltherapien – jenseits schul- und betriebspädagogischer Interaktionen. Doch ließen sich diese Interaktionen selbst noch intensivieren: Sie könnten noch wirksamer gestaltet werden nach Prinzipien gruppendynamisch reflektierter und entsprechend modifizierter, ursprünglich individual­therapeutischer Strategien, wie sie WIRSICH eher ‚adhokratisch’, spontan beansprucht hat. Ich denke dabei nicht zuletzt an Prozeduren psychoanalytischer Provenienz, die LEHMKUHL (2002) eindringlich vorstellt und nachdrücklich empfiehlt.


4 Was bleibt?

Zur wünschenswerten Zukunft einer vorerst verworfenen Konzeption

Rückblick: Wie schon mehrfach berührt, verlief die faktische Entwicklung anders, als wir sie antizipierten: An der TU Berlin wurde das Lehrerstudium auf die Ausbildung der Lehrkräfte für Arbeitslehre und für berufliche Schulen zurückgeschraubt, der Diplomstudiengang Berufspädagogik – wie vermeldet – gestoppt, die Realisierung des modularen Masterkonzepts abgelehnt und damit auch die Institutionalisierung und Weiterentwicklung der Master­studiengänge „Bildungsmanagement in Arbeit und Beruf“ sowie „Berufsbildungsforschung“ blockiert. Die Weiterbildung beruflicher Fachleute wurde dem hiermit völlig überforderten Institut für allgemeine Erziehungswissenschaft übertragen, dessen Fortexistenz bedroht erschien, nachdem alle anderen Lehrerstudiengänge aus dem Programm der TU gestrichen worden waren. Hier wurde inzwischen ein Masterstudiengang „Bildungsmanagement“ instal­liert, für dessen künftige Absolventen aber bisher kaum Beschäftigungschancen nachge­wiesen werden konnten. Ob die Intentionen des abgelehnten Entwurfs wenigstens bei der Ausbildung der angehenden Lehrkräfte beruflicher Schulen berücksichtigt werden, erscheint ungewiss und – abgesehen von institutionellen Vorkehrungen wie der Beibehaltung, Wieder­herstellung oder Neuschaffung eines Wahlpflichtbereichs (als Voraussetzung individueller Studiengestaltung) und der Sicherung generell und domänenspezifisch ausreichender Kapa­zitäten – von der Motivation und Kompetenz der betreffenden Dozenten, vor allem auch jener Person abhängig, die den Ruf auf die derzeit vakante berufspädagogische Professur erhalten und annehmen wird.

Ausblick: Nicht nur wehmütige Erinnerungen an vergangene bessere Zeiten, zu denen die Berufspädagogik mehr Chancen zu haben schien, sich in Forschung und Lehre als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, haben mich zu diesem Versuch motiviert, die hier­für besonders relevante reflexive Komponente der universitären Lehrtätigkeit WOLFGANG WIRSICHs festzuhalten. Auch ging es mir nicht allein darum, einem hoch geschätzten Kolle­gen, mit dem ich freundschaftlich verbunden war, und seinem weithin unbekannten, fast nur in persönlichen Notizen, informellen Texten und ‚grauen’ Veröffentlichungen vorliegenden Werk ein Denkmal zu setzen. Vorrangig wollte ich dessen fast schon verschüttetes Wirkungspotential interessierten ‚Zunftgenossen’, vor allem auch jüngeren Berufspädago­ginnen und -pädagogen wieder zugänglicher machen, ihnen – sei dass nun erwünscht, werde es lediglich toleriert oder ist es allenfalls als subversive Betätigung anzuraten – die Rezep­tion, Verwendung und Weiterentwicklung der Konzeption zu erleichtern und hierdurch helfen, diese um ihrer zukünftigen Nutzung willen über aktuelle Verstrickungen des Zeit­geistes hinweg in hoffentlich wieder besonnenere Jahrzehnte hinüber zu retten. Das ent­spräche auch der Priorität, die WIRSICH, wenn er noch lebte, sich jetzt, angesichts der ein­getretenen weiteren Erschwerungen seines Vorhabens, wohl selbst gesetzt hätte: soweit möglich, dafür zu sorgen, dass der Nachklang seines berufspädagogischen Engagements nicht schon vor dem Ende des derzeitigen Niedergangs unserer Disziplin (wie vielleicht unseres ganzen Wissenschaftssystems, zumindest unserer Sozial- und Geisteswissenschaften in ihrer bisherigen Ausformung) ungehört verhallt, sondern jenseits dieser regressiven Jahre wieder mobilisierend wirkt. Denn in der gegenwärtigen Ära vermeintlich kostensparender zweckra­tionalistischer Verformungen der universitären Lehre, nach deren elitärer, nassforsch zukunftsbezogener Agenda die selbstreflexive und zugleich pädagogisch, auch erziehungs­wissenschaftlich produktive integrative Verwertung berufsbiographischer „Umwege“ als wettbewerbsverzerrende Konsequenz unzeitgemäßer Rücksichtnahme gering geschätzt, ja entlarvter Trugbilder sozialer Gerechtigkeit diffamiert zu werden droht – in dieser Verfalls­epoche ist nicht nur der Aufbaustudiengang Berufspädagogik der TU Berlin ersatzlos dem Rotstift zum Opfer gefallen. Auch andernorts findet sich im zunehmend taylorisierten Lehr- und Prüfungsbetrieb der deutschen Hochschullandschaft für dergleichen vorerst kaum ein geeigneter Platz. Doch wo sonst sind solche Oasen heilsamer Reflexionen und konsequenten Umdenkens – von Regenerationsprozessen also, die nur in relativer Distanz zum Kampf ums Überleben und Da(bei)sein in Bewegung gesetzt, in Gang gehalten und erfolgreich zu Ende geführt werden können – zu suchen oder (wieder) einzurichten?

So bleibt nur die Hoffnung, dass die hier behandelten Gedanken und Erfahrungen nicht nur noch kurze Zeit prägnant im Gedächtnis weniger Nutznießer und Augenzeugen ihrer Wirk­samkeit haften bleiben, bald aber mehr und mehr in Vergessenheit geraten, sondern – im virtuellen Speicher dieser Fachzeitschrift zwar kaum nachhaltiger konserviert, aber für interessierte Zeit­genossen greifbarer bereitgestellt als auf dem Papier verstaubender Folianten – das Regime der heute an unseren Hochschulen dominierenden Torheiten unver­kürzt überdauern mögen. Die Hoffnung also,

  • dass der Wahn des weltweiten Wettbewerbs um die immer eiligere Erzeugung und Verbreitung neuen Wissens zum Preise einer gleichzeitigen, immer schnelleren Entwertung und Verdrängung älterer, längst noch nicht amortisierter Bestände dieses kulturellen Kapitals,
  • die sinnlose Hetze des permanenten Umlernens, der immer kürzeren Halbwertszeiten und Verfallszyklen wissensbasierter Fähigkeiten und Fertigkeiten,
  • jenes ruinösen Rennens, bei dem es mehr darum geht, Konkurrenten zu schädigen und aus dem Feld zu schlagen, als effektiv kooperierend dem Gemeinwesen zu nützen,
  • mit dem Ergebnis, dass eine wechselnde, zugleich schrumpfende Minderheit von Gewinnern über eine wachsende Majorität verzweifelter Verlierer triumphiert,

kurz: die Hoffnung, dass dieser globale Unfug endlich hinreichend durchschaut und öffent­lich als solcher angeprangert wird und dass – angesichts der überhandnehmenden Raserei – sich der Ruf nach Entschleunigung, deren es zur regelmäßigen Rückschau und Neuorientie­rung immer wieder bedarf, Gehör verschafft. Dann könnten auch unmoderne Gedanken und altmodische Vorstellungen wie die hier vertretene Konzeption wieder aufgegriffen, aus der Virtualität in die Realität zurückgeholt, konkretisiert, mit neuem Leben erfüllt, kreativ und erfolgskontrolliert weiter entwickelt und flächendeckend angewandt werden. Denn schon heute haben sich bei uns fast überall Unmengen von berufsbiographischem ‚Müll’ – pardon: berufsbiographischer Rückstände – angesammelt, die kaum systemkonform – etwa rein verhaltenstherapeutisch – entsorgt werden können, sondern solcher quasi kompostierender Wiederaufbereitung bedürfen (vgl. LEHMKUHL 2002; GEISSLER 2007).

Da aber weder die Durchsetzungschancen derart anspruchsvoller Unternehmungen sich automatisch aus Mehrheitsbeschlüssen zuständiger Gremien ergeben noch ihre Erfolgssaus­sichten wie von selbst aus Anweisungen autorisierter Behörden resultieren, sondern vor allem durch die professionelle Motivation und Kompetenz maßgeblicher Akteure im Feld bestimmt werden dürften, kommt es entscheidend auf die Hochschullehrer an, die mit der berufspäda­gogischen Ausbildung angehender Lehr- und Ausbildungskräfte betraut sind. Weil sie die berufliche Entwicklung der Studierenden nur soweit fördern können, wie sie sich der Besonderheit, Bedingtheit und Begrenztheit ihrer eigenen berufsbiographischen Erfahrungen bewusst sind, hätten die Protagonisten der vorgeschlagenen Umkehr erst einmal selbstreflexiv ihre berufs­biographischen Ressourcen zu reaktivieren, um sie dann – eingedenk der differentiellen Effekte ihrer beruflichen Sozialisationsprozesse im Verhältnis zu den Entwicklungs-, Vorstellungs- und Handlungsmustern ihrer Klientel – mit Augenmaß zur Förderung der Letzteren einsetzen zu können. Die Chancen ihres Erfolgs beziehungsweise die Risiken ihres Scheiterns sind eng an solche Besinnung geknüpft. Deren Kodifizierung und Institutionali­sierung als obligatorische Erfordernisse berufspädagogischer Hochschulkarrieren (vgl. noch­mals LEHMKUHL 2002) wären zugleich wichtige Schritte zur Beseitigung des erstaunlichen, ja geradezu skandalösen Umstands, dass Hochschullehrer – selbst Dozenten prospektiver Pädagogen – hierzulande bislang pädagogisch-praktisch bedeutsame Kompe­tenzen weder ausnahmslos gezielt erwerben und systematisch trainieren noch auch nur deren Vorhandensein nachweisen müssen. Bis dahin wird weiterhin nicht in jedem Falle jenen Spöttern zu widersprechen sein, die da behaupten: „Who can, does. Who cannot, teaches. And who cannot teach, teaches how to teach“!

Literatur

Zur beruflichen Biographie WOLFGANG WIRSICHs

WIRSICH, W. (1989): Gedankenpuzzle zu meiner Berufsbiographie (unveröffentlichtes Manuskript, 18 S.).

WIRSICH; W. (1998): Zur Person – Ausbildungs- und Berufsweg (Manuskript, 6 S., enthält unter anderem ein Verzeichnis einiger seiner bis dahin verfassten Schriften).

Nachrufe und Erfahrungsberichte von Angehörigen, Freunden und Kollegen (2006).

Einschlägige Rechtsvorschriften für das berufspädagogische Studium an der TU Berlin um die Jahrtausendwende

1984, 1993 und 1995 beschlossene Änderungen der ersten Staatsprüfungen für die Berliner Lehrämter.

Studien- und Prüfungsordnung für den Diplomstudiengang Berufspädagogik im Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften der TU Berlin von 1997.

„Graue Papiere“

GREINERT, W.-D./ DÖRING, K. W./ WIRSICH, W. (o. J., wahrscheinlich 2005): Entwurf Modulares Masterkonzept „Technisch-Berufliche Bildung“ an der Fakultät I/Geisteswissenschaften, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre der Technischen Universität Berlin.

KRUMHOLZ, C. u. a. (2003): Berufsbiographische Orientierungs- und Handlungsmuster von Studierenden als Gegenstand des berufspädagogischen Studiums. Ansätze, Abläufe, Ergeb­nisse und Evaluation einer Lehrveranstaltung. Berlin. Unveröffentlichte Langfassung des Berichts über ein Studienprojekt/Hauptseminar des Seminars für berufliche Bildung und Arbeitslehre der TU, Franklinstraße 28/29, 10587 Berlin, die von dort bezogen werden kann.

Zitierte Veröffentlichungen

BAETHGE, M. u. a. (1988): Jugend: Arbeit und Identität. Lebensperspektiven und Interes­senorientierungen von Jugendlichen. Opladen.

BOURDIEU, P. (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M., fran­zösische Erstveröffentlichung 1980, deutsch erstmals 1987.

GEISSLER, K. A (2007): Alles Espresso. Kleine Helden der Alltagsbeschleunigung. Stutt­gart.

KONIETZKA, D. (1999): Ausbildung und Beruf: die Geburtsjahrgänge 1919-1961 auf dem Weg von der Schule in das Erwerbsleben. Opladen.

KRAUS; K. (2006): Vom Beruf zur Employability? Zur Theorie einer Pädagogik des Erwerbs. Wiesbaden.

KRUMHOLZ, C. u. a. (2004): Berufsbiographische Orientierungs- und Handlungsmuster von Studierenden als Gegenstand des berufspädagogischen Studiums. Ansätze, Abläufe, Ergeb­nisse und Evaluation einer Lehrveranstaltung (Abstract). In: Zeitschrift für Berufs- und Wirt­schaftspädagogik, 100, H. 1, 138-140.

LEHMKUHL, K. (2002): Unbewusstes bewusst machen. Selbstreflexive Kompetenz und neue Arbeitsorganisation. Hamburg.

LEMPERT, W. (1995): Forschungsbezogenes und selbstreflexives Lernen in erziehungswis­senschaftlichen Seminaren. Versuche zur theoriegeleiteten Aufarbeitung moralisch bedeut­samer beruflicher Erfahrungen. In: FISCHER, A./ HARTMANN, G. (Hrsg.): In Bewegung. Dimensionen der Veränderung von Aus- und Weiterbildung. Festschrift für Joachim DIKAU zum 65. Geburtstag. Bielefeld, 324-335.

LEMPERT, W. (2004): Berufserziehung als moralischer Diskurs. Perspektiven ihrer kommu­nikativen Rationalisierung durch professionalisierte Berufspädagogen. Baltmannsweiler.

LEMPERT; W. (2007): Vom „impliziten Wissen“ zur soziotopologisch reflektierten Theorie. Ermunterung zur Untertunnelung einer verwirrenden Kontroverse. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 103 (im Druck).

OEVERMANN, U. (2002): Professionalisierungsbedürftigkeit und Professionalisiertheit pädagogischen Handelns. In: KRAUL, M./ MAROTZKI, W./ SCHWEPPE, C. (Hrsg.): Bio­graphie und Profession. Bad Heilbrunn, 19-63.

SEKTION BERUFS- UND WIRTSCHAFTSPÄDAGOGIK DER DEUTSCHEN GESELL­SCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2003): Basiscurriculum für das universi­täre Studienfach Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Jena.

Social Science Citation Index (im Internet gespeichert und regelmäßig „updated“).

WIRSICH, W. (1992): Produzierend Lernen. Alternative Ausbildungsprojekte in Berlin. In: ARBEITSGEMEINSCHAFT PRODUKTIONSSCHULE (Hrsg.): Produktionsschulprinzip im internationalen Vergleich. Alsbach, 106-125.

WIRSICH, W. (1997): Ausbildungswerk Kreuzberg e.V.. Alternativprojekt der Jugend­berufshilfe in Berlin. In: GREINERT, W.-D./ WIEMANN, G. (Hrsg.): Produktionsschul­prinzip und Berufsbildungshilfe. Analyse und Beschreibungen. Baden-Baden, 154-178.

WITZEL, A./ KÜHN, T. (2000): Orientierungs- und Handlungsmuster beim Übergang in das Erwerbsleben. In: HEINZ, W. R. (Hrsg.): Übergänge – Individualisierung, Flexibilisierung und Institutionalisierung des Lebenslaufs. Beiheft der Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie. Weinheim, 9-29.

Aktuelle Publikationen zur quantitativen und qualitativen Entwicklung des Lehramts­studiums in der Bundesrepublik

BECK, K. (2007): Metaphern, Ideale, Illusionen? Kritische und konstruktive Anmerkungen zur Lehrerbildungsreform. In: In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 103, H. 2, 172-195.

SCHRÖDER, B./ BADER, R. (2007): Lehrerausbildung in konsekutiven Studiengängen. Neue BA-MA-Studiengänge ersetzen traditionelle Studiengänge, aber zurückhaltend – oder besonnen? In: Die berufsbildende Schule, 59, H. 6, 180-186.

TERHART, E. (2007): Wozu führt Modularisierung? Überlegungen zu einigen Konsequen­zen für die Praxis der akademischen Lehre. In: Erziehungswissenschaft, 18, 23-37.

 

Postskriptum

Wie ich versucht habe zu zeigen, war WOLFGANG WIRSICH ein außerordentlich vielseiti­ger Mensch. Fast alle, die ihn kannten, sahen ihn ein wenig oder sogar sehr anders: Sie hatten sich ihr eigenes Bild von ihm gemacht – je nach dem, was besonders sie mit ihm verband. Das gilt auch für mich als einem Kollegen, der bald nach unserer ersten Begegnung auch sein Freund geworden war. Deshalb habe ich eine erste Version des vorstehenden Textes drei Personen zu lesen gegeben, die ihn aus anderen Beziehungen kannten als ich, und sie um Ergänzungen und Verbesserungen gebeten: HEIDRUN NEUMANN, seiner Witwe, WOLF-DIERICH GREINERT, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Berufliche Bildung und Arbeitslehre an der TU Berlin, und STEFAN WOLF, einem Absolventen des berufspädago­gischen Diplomstudiengangs, der jener Arbeitsgruppe angehörte, die an der Entwicklung des Curriculums für ein Masterstudium beteiligt war, durch das das Diplomstudium abgelöst werden sollte. Außer ihnen hat GERT DOERRY, Emeritus für Erwachsenenbildung und Leiter vieler gruppendynamischer Selbsterfahrungskurse, meine Rohfassung gelesen und mit bewährter Akribie annotiert. Ihre Kommentare und Korrekturvorschläge haben mir sehr bei der Revision meines Manuskripts geholfen. Hierfür sei ihnen herzlich gedankt!