bwp@ Ausgabe 13 - Dezember 2007

Selbstorganisiertes Lernen in der beruflichen Bildung

Hrsg.: Karin Büchter & Tade Tramm

Über die Zweckentfremdung des selbstgesteuerten Lernens, Replik auf den Beitrag von Kirsten BARRE in bwp@ 13

Beitrag von Martin Lang & Günter Pätzold

1 Lernen und pädagogischer Konstruktivismus

Die Diskussion um konstruktivistische Ansätze von Unterricht ist breit gefächert. Von einer einheitlichen Theoriegrundlage kann nicht ausgegangen werden. Die Befürworter eines konstruktivistischen Unterrichts wenden sich gegen die traditionelle Auffassung, bei der die Gefahr besteht, lediglich „träges Wissen“ zu vermitteln, das bei der Lösung neuer Probleme nicht genutzt werden kann. Sie gehen davon aus, dass Handlungswissen nicht allein instruktionsorientiert durch eine Lehrkraft vermittelt werden kann. Insofern rückt der pädagogische Konstruktivismus das in den Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit, was der traditionelle Unterricht nicht selten vernachlässigt. Auch die Hirnforschung hat in den letzten Jahren bestätigt, dass Lernen ein aktiver Prozess der Wissensgenerierung ist und dass Wissen kein Abbild der Wirklichkeit ist, sondern eine aktive Konstruktion der Lernenden. Es geht um die Integration des neuen Lehrinhaltes in die vorhandene kognitive Struktur der Lernenden.

„Denken und Lernen sind Aktivitäten unseres Nervensystems, die von außen nicht ‚gesteuert’ oder ‚organisiert’ werden können, die aber auch nicht ohne ‚Koppelungen’ mit der Umwelt stattfinden. Die Welt gelangt nicht in die Köpfe durch einen Transport des Wissens von A nach B, nicht durch Wissen(schaft)stransfer, nicht durch Informationsvermittlung nach dem Sender-Empfänger-Modell, nicht durch Belehrungen, Aufklärungen oder Umerziehungsprogramme. Lernen ist eine selbstgesteuerte (= autopoietische) Konstruktion viabler Wirklichkeiten, die aber nicht isoliert, sondern in Kontexten stattfindet. Solche Kontexte können Seminare sein, aber auch neue Aufgaben am Arbeitsplatz, informelle Lernprojekte in der Freizeit etc. Gelernt wird, was in dem jeweiligen Kontext relevant und viabel ist, was biografisch ‚anschlussfähig’ ist, was von dem kognitiven System verarbeitet werden kann. Lernen ist ein selektiver Prozess des Konstruierens, Dekonstruierens, Rekonstruierens“ (SIEBERT 2003, 20).

Ebenfalls zentral ist das soziale Aushandeln oder auch Bewähren von Bedeutungen, das auf der Grundlage kooperativer Prozesse zwischen Lehrenden und Lernenden oder zwischen den Lernenden erfolgt.

„Im Paradigma des pädagogischen Konstruktivismus steht aktives Lernen in situierten Lernumgebungen im Vordergrund, bei dem die aktive Konstruktion des Wissens durch den Lernenden angestrebt wird. Lernen wird dabei nicht als reiner Wissenserwerb gesehen, sondern auch als ganzheitlicher Prozess der Enkulturation in einer ‚community of practice’“ (BÜSER 2003, 32).

Zur Reflexion des Lernhandelns ist der Einsatz von Metakognition ebenfalls zentral. Der Prozess der individuellen Wissensgenerierung muss im Unterricht selbst thematisiert werden. Nur so können die Lernenden reflektierte Lernstrategien und metakognitive Strategien entwickeln.

Konstruktivistisch zu lernen heißt nach dieser Auffassung situiert anhand authentischer, komplexer, lebens- und berufsnaher, ganzheitlicher Aufgaben in einem sozialen Kontext zu lernen. Die Rolle der Lehrenden kann dann nur darin bestehen, die Schüler zur Rekonstruktion ihres Wissens anzuregen, d. h., sie immer wieder mit neuen Perspektiven und Problemen zu konfrontieren, die sie herausfordern, ihre Sichtweise zu überprüfen und zu modifizieren - dies immer mit dem Ziel des Aufbaus einer fundierten, elaborierten Wissensbasis.

Wenn es um die Gestaltung von Lernumgebungen zur Förderung selbstgesteuerten Lernens geht, können diese Überlegungen bzw. konstruktivistischen Modelle einen theoretischen Rahmen bieten, wobei zwischen den Polen konstruktivistischer und instruktionaler Ansätze eine Balance herzustellen ist. Komplexe Lernaufgaben sind auf Vorerfahrungen und auf Interessen verwiesen. Gefühle und persönliche Identifikation sind ebenfalls erforderlich.

2 Diskussion der Thesen aus dem Beitrag von Kirsten BARRE

These 1: Die in unserem Beitrag (LANG/ PÄTZOLD 2006a) in Anlehnung an KRAFT gemachte Feststellung, dass Selbstbestimmung an sich noch keinen Wert darstellt, noch kein Qualitätsmerkmal für eine Handlung oder Lernen ist, fokussiere, wie BARRE meint, „vor allem den gesellschaftlichen Nutzen, welcher der Allgemeinheit aus individueller Bildung erwächst und nicht den individuellen Wert von Bildung. [Es] scheint … primär um materielle oder zumindest materialisierbare Werte zu gehen, um jenen Output von Bildung also, der als gesellschaftlich verwertbar gelten kann“ (BARRE 2008, 2).

Mit dieser Schlussfolgerung von Kirsten BARRE ist eine Fehlinterpretation unserer Ausführungen verbunden. Der Maßstab für die Qualität von Lehr-/Lern­prozessen ist keineswegs allein die Verwertbarkeit für die Allgemeinheit. Vielmehr geht es darum, den oft verklärten Blick der Selbstbestimmung auf die Intentionen und Inhalte von Lernprozessen zu lenken. Selbststeuerung (und noch mehr Selbstbestimmung) wird aus pädagogischer Sicht traditionell sehr positiv bewertet und gilt als pädagogisches Ideal. „Eine inhaltliche Präzisierung von Selbststeuerung … findet dabei meist nicht statt, sondern diese gelten an sich bereits als pädagogisch anstrebens- und wünschenswert. Problematisch ist dies v.a. deshalb, weil es Selbststeuerung … (des Lernens und des Arbeitens) in der Praxis jedoch keineswegs abstrakt und inhaltsunabhängig gibt, sondern immer nur kontextbezogen und inhaltsspezifisch“ (KRAFT 2000, 135). Eine Positionierung der Selbstbestimmung als a priori positiv und der Fremdbestimmung als a priori negativ – ohne Betrachtung der Qualität ihrer Zielsetzung, ihres Inhaltes und ihrer Modalität – ist laut HEID (1991, 268) der „schwerwiegendste Mangel vieler Programme einer Erziehung zur Selbständigkeit … Sie lassen die Frage nach dem Was und Wozu, nach der sachlichen und sittlichen Qualität der Inhalte eigenen versus fremden Wollens unberührt. Die Tatsache, dass ein (mit welcher Berechtigung auch immer) faktisch dazu Ermächtigter vorschreiben kann, was getan oder gewollt werden soll, verbürgt weder die Bedenklichkeit noch die Unbedenklichkeit des Inhalts der Forderung. Andererseits ist eine Handlung nicht schon deshalb richtig oder gut, weil der Handelnde – von ‚fremdem’ Wollen unbehelligt – selbst bestimmt, was er tut“. Für die berufliche Bildung steht dabei der Erwerb beruflicher Handlungskompetenz als Leitziel im Vordergrund, die Persönlichkeitsentwicklung aufnimmt, dabei explizit auch die ethisch-moralische Verantwortung des Einzelnen mit berücksichtigt.

Damit wird auch deutlich, dass die These 2: „Lerntheoretische Begründungen stehen im Vordergrund, wenn es darum geht, pädagogisch von der Notwendigkeit des selbstgesteuerten Lernens zu überzeugen. … Sie implizieren gegenüber bildungstheoretischen Ansprüchen keine moralischen Wertorientierungen wie z. B. der Forderung nach Solidarität“ (BARRE 2008, 4) so nicht haltbar ist. Hier stimmen wir HEID ebenfalls zu, dass bei der „Auswahl bzw. Bestimmung von Zielen, die für pädagogisches wie für jedes menschliche Handeln konstitutiv sind, … Werte und Normen als Auswahl- und Bestimmungskriterien eine zentrale Rolle“ spielen (HEID 2006, 37).

These 3: Der in unserem Beitrag verwendete Begriff der „Eigenverantwortlichkeit“ des Lernenden für seinen Lernprozess wird einerseits in „alleinige Verantwortung“ (BARRE 2008, 4) übersetzt und muss andererseits durch die Unterstellung, dass „jegliche Mitverantwortung Dritter für die Entwicklung des Einzelnen geleugnet“ werde und „jeder seines eigenen Glückes Schmied“ sei (BARRE 2008, 5) zynisch erscheinen. In unseren Ausführungen wird explizit auf die bedeutsame Rolle der Lehrenden im Lernprozess und die Notwendigkeit von Aushandlungsprozessen hingewiesen (LANG/ PÄTZOLD 2006a, 13; 16f.). Ein Zitat aus einer unserer Veröffentlichungen kann dies verdeutlichen: „Wie viel Verantwortung die Lernenden für den Lernprozess übernehmen oder wie stark die Steuerungsanteile der Lernenden sind, sollte sich dabei aus Aushandlungsprozessen zwischen den am Lehr-Lernprozess Beteiligten ergeben, in denen alle relevanten Aspekte des unterrichtlichen Geschehens verhandelt werden, und als deren Resultat ein von allen geteilter Rahmen selbstgesteuerten Lernens entsteht“ (LANG/ PÄTZOLD 2006b, 13). Wir vertreten auch nicht die Auffassung, dass Individuen in ihrem Denken und Handeln gar nicht gezielt von außen beeinflusst werden, wie Kirsten BARRE irrtümlicherweise vermutet (BARRE 2008, 6). Zwar kann jedes Individuum immer nur selbst lernen, allerdings kann der Lernprozess durch Lehrende angeregt, beeinflusst und unterstützt werden.

Damit wird auch bereits ersichtlich, dass die These 4: Das Paradigma eines radikalen Konstruktivismus sei „für Pädagogen angesichts subjektiv empfundener Überforderung in Unterrichtssituationen auch geeignet, eine entlastende Funktion zu erfüllen“ (BARRE 2008, 7f.), für unser Verständnis eines pädagogischen Konstruktivismus nicht relevant ist. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass selbstgesteuertes Lernen bedeutet, auf Lehrpersonen zeitweise oder gar dauerhaft verzichten zu können. Vielmehr haben wir in dem zitierten Beitrag ausführlich dargelegt, dass in selbstgesteuerten Lernprozessen Unterstützungsangebote nicht nur hilfreich, sondern notwendig sind und die pädagogischen Aufgaben der Lehrenden unter der Perspektive eines pädagogischen Konstruktivismus eher anspruchsvoller werden (vgl. LANG/ PÄTZOLD 2006a, 16f.; LANG/ PÄTZOLD 2006b, 15): sie sind aufgerufen, einen anregenden Unterricht zu gestalten, der die Lernenden zur selbstständigen Auseinandersetzung mit neuen Herausforderungen motiviert, sie müssen die Lernenden mit neuen Anforderungen konfrontieren, die am bereits vorhandenen Vorwissen anknüpfen, sie müssen die Relevanz und Anschlussfähigkeit dieser gezielten Impulse und Irritationen verdeutlichen und eine positive Lernatmosphäre schaffen, in der eigene Lernwege gegangen werden können. „Dies setzt aber voraus, dass die Lehrenden in der Lage sind, die bei den Lernenden bereits vorhandenen Kompetenzen und subjektiven Konstruktionen präzise zu diagnostizieren, um daran anknüpfend ihr aktuelles Handeln und Denken zu disäquilibrieren“ (LANG/ PÄTZOLD 2006a, 17). Von einer Entlastung des unterrichtlichen Handelns kann also keine Rede sein. Vielmehr sind sowohl die Grundlagen einer Lernkompetenz in formellen Lernprozessen aufzubauen als auch didaktisch aufbereitete Lernaufgaben für selbstgesteuerte Lernprozesse zu entwickeln bzw. entsprechend gestaltete Lernumgebungen bereit zu stellen, auch um die empirisch nachgewiesene Variationsarmut von Unterricht (vgl. PÄTZOLD u.a. 2003) zu überwinden.

These 5: Zur Modellierung des selbstgesteuerten Lernens werden in unserem Beitrag „vorherrschend“ systemisch-konstruktivistische Theorien herangezogen (BARRE 2008, 5). Dieser Vorwurf ist so nicht nachvollziehbar, da im entsprechenden Absatz „Modellierung des selbstgesteuerten Lernens“ (LANG/ PÄTZOLD 2006a, 17ff.) zum einen explizit die vielfältige Provenienz theoretischer Rahmenmodelle dargelegt und zum anderen für die Modellierung selbstgesteuerten Lernens das Drei-Schichten-Modell von Monique Boekaerts (1999, 449) verwendet wird, das mit Bezug auf Erkenntnisse der pädagogischen Psychologie die Gleichwertigkeit kognitiver, metakognitiver und motivationaler Komponenten des Lernprozesses betont. Ein Bezug allein auf „maßgeblich systemisch-konstruktivistische Theorien“ (BARRE 2008, 5) ist dabei nicht erkennbar.

3 Vor Missbrauch nicht gefeit

Ohne weiterführend über die Sinnhaftigkeit der Einführung des „neuen“ Begriffs „selbstbestimmtes Lernen“ – wie BARRE dies tut – zu diskutieren, ist doch deutlich hervorzuheben, dass selbstgesteuertes Lernen in unserem Sinne immer auch an den Erfahrungen und Interessen der Lernenden anknüpfen und den Gegenwarts- und Zukunftsbezug der Inhalte aufnehmen muss. Dem Konzept des selbstgesteuerten Lernens nun aber vorzuwerfen, es sei bloß an „quantifizierbare[n] Anteile[n] …, die in standardisierter Form als gesellschaftlich verwertbarer Output mess- und kalkulierbar sind“ orientiert (BARRE 2008, 10), scheint doch recht abenteuerlich und entbehrt jeglicher Grundlage.

Wenn der Vorwurf formuliert wird, berufliches Lernen sei an gesellschaftlich verwertbarem Output ausgerichtet, dann sind zunächst die institutionellen Bedingungen beruflicher Bildung zu diskutieren und nicht das lern- und bildungstheoretische Konzept des selbstgesteuerten Lernens. Dabei ist nicht auszuschließen, dass das selbstgesteuerte Lernen – wie jedes andere didaktische Modell auch – hier und da auch missbraucht werden kann, um allein solche Ziele zu verfolgen. Dies gilt es vehement zu kritisieren und dem entgegenzuwirken.

Literatur

BARRE, K. (2008): Wissenschaftstheoretische Monokultur bei der Begründung selbstgesteuerten Lernens. Über die Tragfähigkeit eines konstruktivistischen Fundaments für das selbstgesteuerte Lernen und sein Verhältnis zu Bildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 13. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe13/barre_bwpat13.pdf (17-07-2009).

BÜSER, Tobias (2003): Offene Angebote an geschlossene Systeme – Überlegungen zur Gestaltung von Lernumgebungen für selbstorganisiertes Lernen aus Sicht des Konstruktivismus. In: WITTHAUS, U./ WITTWER, W./ ESPE, C. (Hrsg.): Selbst gesteuertes Lernen. Theoretische und praktische Zugänge. Bielefeld, 27-41.

HEID, H- (2006): Werte und Normen in der Berufsbildung. In: ARNOLD, R./ LIPSMEIER, A. (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildung. Wiesbaden, 33-43.

HEID, Helmut (1991): Erziehungsziel „Selbständigkeit“. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 87, 4, 267-269.

KRAFT, S. (2000): Lernen im Betrieb: selbstgesteuert, kooperativ, motiviert? Kritische Anmerkungen zur Idealisierung betrieblicher Weiterbildung. In: HARATEIS, C./ HEID, H./ KRAFT, S. (Hrsg.): Kompendium Weiterbildung. Opladen, 131-142.

KRAFT, S. (1999): Selbstgesteuertes Lernen. Problembereiche in Theorie und Praxis. In: Zeitschrift für Pädagogik 45, 6, 833-845.

LANG, M./ PÄTZOLD, G. (2006a): Selbstgesteuertes Lernen – theoretische Perspektiven und didaktische Zugänge. In: EULER, D./ LANG, M./ PÄTZOLD, G. (Hrsg.): Selbstgesteuertes Lernen in der beruflichen Bildung. Beiheft 20 der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Stuttgart, 9-35.

LANG, M./ PÄTZOLD, G. (2006b): Selbstgesteuertes Lernen in der beruflichen Erstausbildung. In: LANG, M./ PÄTZOLD, G. (Hrsg.): Wege zur Förderung selbstgesteuerten Lernens in der beruflichen Bildung. Bochum, 9-27.

PÄTZOLD, G./ KLUSMEYER, J./ WINGELS, J./ LANG, M. (2003): Lehr-Lern-Methoden in der beruflichen Bildung. Eine empirische Untersuchung in ausgewählten Berufsfeldern. Beiträge zur Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Band 18. Oldenburg.

SIEBERT, H. (2003): Lernen ist immer selbstgesteuert – eine konstruktivistische Grundlegung. In: WITTHAUS, U./ WITTWER, W./ ESPE, C. (Hrsg.): Selbst gesteuertes Lernen. Theoretische und praktische Zugänge. Bielefeld, 13-25.